Hallo Drachenlady2001,
vielen Dank für deinen Kommentar. Bestimmt findest du in den hächsten Kapiteln, was dir bisher gefehlt hat.
Wieder sitzt der Patient auf einem
Stuhl, doch jetzt sind es nicht zwei, sondern fünf robuste Männer,
die in strammer Haltung wie Rekruten der Stadtwache hinter dem Stuhl
Aufstellung genommen haben. Das rechte Hosenbein des Patienten ist
bis weit übers Knie hochgekrempelt, das nackte Bein liegt
ausgestreckt über einem Hocker, der Unterschenkel schillert bis über
die Mitte hinauf in allen möglichen Farben, vornehmlich
schwarz-braun. Jetzt öffnet sich ein Vorhang, ein Mann tritt hervor,
in der Hand eine eiserne Bügelsäge: Der Chirurg. Er hält die Säge
hoch, zeigt sie dem Publikum; jetzt fährt er mit dem Daumen über
ihre Zinken und zieht eine Grimasse, um anzudeuten, wie scharf sie
sei. Nun dreht er sich um, seinem Patienten zu; sofort springen drei Gehilfen vor und halten den Mann mit kräftigen Händen fest, ein
vierter drückt das kranke Bein fest auf den Hocker.
Jetzt geschieht etwas Eigenartiges.
Der Patient begann lauthals zu singen, nein, es ist eher ein wüstes
Grölen, mit dicker verquollener Zunge mühsam röchelnd
hervorgebracht. Man hört Wortfetzen wie: „Da pa-patschem Dominä,
da-do-mee...“
Das Publikum – etwa zehn, zwölf
Erwachsene und ein paar Jugendliche – verharren in tiefstem
Schweigen. „Hat er den Verstand verloren?“, fragt Kevin in die
Stille hinein.
„Er ist schwer betrunken“,
flüstert Ursula, „er hat sich mit Branntwein so weit wie möglich
betäubt. Jetzt versucht er, das Lied des Glockenspiels vom
Rathausturm 'Da pacem domine' zu singen.“ Auch sie ist jetzt
ziemlich grün um die Nase.
Der Operateur setzt die Säge kurz
überm Knie an, er hält das eine, der fünfte Gehilfe das andere
Ende fest im Griff, und schon beginnen sie mit schnellen Bewegungen
ihr Werk. Ein Stöhnen geht durch die Zuschauer; deutlich ist zu
hören, wie der Patient mit den Zähnen knirscht. Jetzt bäumt er
sich auf, und statt des Gesanges dringen furchtbare Laute aus seiner
Kehle. Nun öffnet er den Mund und beginnt zu schreien; das Geschrei
schwillt zu einem entsetzlichen, infernalischen Gebrüll an – auf
einmal ist Ruhe – das Bein ist ab und der Mann offensichtlich
ohnmächtig. Sofort springen zwei Gehilfen herbei und schnüren den
blutenden Stumpf ab, ein weiterer beräuchert die offene Wunde und
reibr sie anschließend mit einer grauen Salbe ein; zum Schluss wird
der Stumpf in Tücher eingewickelt und der Mann hinter den Vorhang
gebracht, ebenso das abgesägte Bein. Der ganze Vorgang – sägen,
abbinden, räuchern, einreiben, verbinden – hat keine fünf Minuten
gedauert. Die Zuschauer klatschen in die Hände, einige nicken sich
zu; es fallen anerkennende Worte wie: „Meister Gotthard ist immer
noch der Schnellste!“ oder: „Keine zwei Minuten hat er
gebraucht, dann war´s ab!“
Auf den Gesichtern der Menschen liegt
milde Nachdenklichkeit gepaart mit dem Ausdruck der Freude, nicht
selbst unter der Säge gelegen zu haben, aber keineswegs tiefe
Betroffenheit oder gar Anzeichen von Mitleid oder Ekel. Die meisten
sind dergleichen Darbietungen gewohnt; schon steuern einige die
nächste Schenke an, um die Zeit bis zur nächsten 'Operation' bei
einem Krug billigem Krätzer zu verplaudern oder Meister Gotthards
Kunststück noch einmal gründlichst durchzuhecheln.
Ursula blickte sich um – Kevin
war verschwunden. Sie fand ihn weiter weg; den Kopf an eine Mauer
gelehnt und offensichtlich mit seinem Magen kämpfend.
„Hier, trink das“, sagte sie und
hielt ihm eine kleine, in Stoff eingebundene Flasche hin, „das wird
deinem Magen gut tun.“
Kevin beäugte das Teil argwöhnisch.
„Was ist das?“
„Ein Kräuterlikör nach einem
Rezept der Hildegard von Bingen.“
„Bist du mit der auch verwandt?“
Ursula lachte.„Nein. Wär´ ich
aber gerne! Nun trink schon!“
„Was ist denn da drin?“
„Getrocknete und pulverisierte
Stiele vom Hexenkraut, dreimal ausgezogene Natternköpfe, ein
bisschen Teufelsabbiss, ein wenig Frauenhaar –“
„Na wenn das nicht hilft!“,
lachte Kevin und nahm einen Spatzenschluck. „Hmm... schmeckt nicht
schlecht! Aber für´s erste reicht´s. Vielleicht später nochmal. – – Wo ist denn Taifan?“
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Taifan hatte inzwischen den Gaukler,
dessen leicht durchschaubare Künste ihr nicht zusagten, verlassen
und schlenderte über den Kirchplatz mit den alte Linden, die in
voller Blüte standen und herrlich dufteten. Auf einmal blieb sie
verwundert stehen und lauschte.
„Es hatt‘ ein Bauer
eine schöne Frau, die blieb so gerne zu Haus,
Sie bat oft ihren
lieben Mann, er sollte doch fahren hinaus,
er sollte doch fahren
ins Heu,
er sollte doch fahren ins hi, ha, ho, hü, ha, ha, Heu.“
Der Sänger stand auf
einer Holzbank, die Laute im Arm. Mit sanften Fingern bestrich er die
Saiten, als wär´ das Instrument der Körper einer Geliebten. Die
Töne wehten durch die Luft wie unsichtbar funkelnde Kolibris. Jetzt
fällt er aus dem Langsam-Bedächtigen ins Bewegte; er tritt mit dem
Fuß dazu, sich selber Takt und Maß gebend. Der Hund neben ihm
wittert mit weiten Augen und bebenden Nüstern; die Klänge vernimmt
er wohl, aber er weiß nicht, woher sie kommen.
Das Zwischenspiel ist
beendet, lautlos zieht der Sänger die Luft durch die Nase ein und
fährt mit wunderbar reiner Stimme fort:
„Der Mann, der dachte in
seinem Sinn: Die Reden, die sind gut!
Ich will mich hinter die
Haustür stell´n, will sehen, was meine Fraue tut.
Will sagen,
ich fahr´ ins Heu,
Will sagen, ich fahre ins hi, ha, ho, hü, ha,
ha, Heu.“
Taifan tritt näher und
stellt sich zu den Zuhörern, die um den Bänkelsänger verzückt
lauschend herum umstehen.
„Da kommt geschlichen
ein Reitersknecht zur jungen Frau hinein,
und sie umfängt gar
freundlich ihn, gab stracks ihren Willen darein:
Mein Mann ist
gefahren ins Heu
Mein Mann ist gefahren ins hi, ha, ho, hü, ha,
ha, Heu.
Er fasst sie um ihr
Gürtelband und schwingt sie wohl hin und her;
der Mann, der
hinter der Haustür stand, ganz zornig tritt er herfür:
Ich bin
noch nit fahren ins Heu
Ich bin noch nit fahren ins hi, ha, ho,
hü, ha, ha, Heu!
Ach, trauter,
herzallerliebster Mann, vergib mir nur diesen Fehl!
Will lieben
nur dich allein, will kochen Mus und mahlen Mehl.
Ich dachte, du
wärest ins Heu
Ich dachte, du wärest ins hi, ha, ho, hü, ha,
ha, Heu.
Und wenn ich gleich
gefahren wär ins Heu und Stroh,
so sollst du nun und nimmermehr
einen anderen lieben also.
Der Teufel mag fahren ins Heu
Der
Teufel mag fahren ins hi, ha, ho, hü, ha, ha, Heu!“
Der bärtige Sänger
verstummt, die Ballade ist beendet, die Laute sinkt herab. Er späht
in den Himmel über der Stadt mit den annähernd hundert Türmen,
doch es scheint, als nähmen seine Augen nichts wahr, weder den
Himmel über noch die Menschen vor ihm, die jetzt Beifall in
klingender Münze spenden. Doch seine Wimpern, aus denen Einsamkeit
wie schwarzes Licht leuchtet, zucken. Jetzt nimmt er den Blick
zurück und verbeugt sich, Zufriedenheit auf den geröteten Wangen.
Nachdenklich geht Taifan weiter.
Diese Stimme, diese wunderbar reine Stimme, dazu die sanften
Lautenklänge... Für einen Moment kommt ihr die Stimme bekannt
vor... ja, doch, solch eine ähnliche Stimme hatte doch dieser... wie
hieß er noch gleich... Der Name fällt ihr nicht ein, aber sie hört
ihn singen:
„Über
den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein...“
Doch sie hat keine Zeit, weiter über
den Sänger und seinen Doppelgänger nachzudenken, denn heftiges
Geschrei reißt sie aus ihren Gedanken.
„O über euch Toren!“, schreit
eine hohe Stimme, „bei der heiligen Dreifaltigkeit, beten sollt
ihr, beten! Mittelmäßig und bescheiden, wie der Papst in Rom! Es
ist erwiesen, dass die Gebete derer, die bescheiden sind, öfter
erhört werden als die der Fordernden! Weg also mit der Gier, mit dem
Geiz, weg mit der Maßlosigkeit, denn über die Welt werden sich
schreckliche, abscheuliche, bösartige, widerwärtige, ekelhafte
Krankheiten senken wie ein schwarzer stinkender Mantel...“
Der Schreihals, ein noch junger
Mann, in ein langes, schwarzes Gewand gehüllt, einen breitkrempigen
Hut aus dem Kopf, steht hinter einem Tisch, der mit Flaschen, Kannen,
Fässchen überladen ist. Auch unter dem Tisch stehen Fässer und
Kannen. Auf roh gezimmerten Staffeleien sieht man grob gemalte
Bilder, ein Mann, eine Frau, ein Kind, alle mit entsetzlich
entstellten Gesichtern. Die zahlreichen Gaffer, dicht gedrängt und
mit offenen Mündern, haben vom Zuhören lange Ohren bekommen.
„Die Welt wird aus dem Häuschen
sein“, schreit er mit sich überschlagener Stimme, „und niemand
weiß, wie das enden soll! Die Blinden werden noch weniger sehen, die
Tauben noch weniger hören, die Stummen noch weniger reden, die
Reichen werden sich noch elender fühlen als die Armen. Bei allen
Heiligen, ich zittere vor Angst, wenn ich daran denke, denn ich habe
sie gesehen, die Kranken, die Siechen, die Gebrechlichen, die
Nasenlosen, die Ohrlosen, und jene, die sich ohne Arme und Beine im
Staub wälzen! Infolge des vorjährigen Kometen und des Rücklauf des
Saturns wird ein schrecklicher Aufruhr über das Land kommen; was
oben war, wird unten sein, was unten oben. Die Bänke werden auf die
Schemel steigen, die Ochsen werden ihre eigenen Bratspieße drehen,
ihr werdet mit dem Hintern voran und mit dem Bauch zurück gehen, die
Toren werden zu Weisen, die Weisen zu Taugenichtsen. Der Kaiser wird
vom Papst, der Papst vom Herren der Unterwelt regiert. Die Menschen
werden maskiert gehen und ziellos wie die Narren durch die Straßen
irren.“ Er hält kurz inne, um seine Apokalypse wirken zu lassen.
Dann drischt er weiter: „Die Straßen werden gepflastert sein mit
Leichen, die Gosse angefüllt mit Eiter, die Luft durchtränkt mit
dem Gejammer verhungernder Waisen, irre Hunde werden mit den Resten
entfleischter Schädel spielen. Heerscharen von Wölfen und Bären
werden die Stadtmauern überwinden und sich auf die Lebenden stürzen,
und in der Hölle werden gewaltige Feuer lodern!“ Ein Stöhnen geht
durch die Menge, in den Augen des Redners blitzt es. „Doch noch ist
es nicht so weit!“, schreit er, „verzagt nicht! Es gibt eine
Möglichkeit, dem Inferno zu entkommen, ja, ihr Lieben, es gibt eine
Möglichkeit, nicht ganz billig zwar, jawohl, aber was bedeutet schon
Geld, wenn man damit sein Leben und das seiner Lieben retten kann!“
Der Mann hält eine schlanke Flasche mit einer braunen Flüssigkeit
hoch. „Das ist es, was jeden von euch vor dem Untergang bewahren
kann! Aqua vitalis, das Wasser des Lebens! In Maßen genossen ein
wahres Lebenselexier.“ Er weist auf die Schaubilder. „Seht, liebe
Leute, diese von der Seuche entstellten Gesichter... wie
entsetzlich! Und was noch entsetzlicher ist, das sind die Qualen, die
sie erleiden, was ihr nicht hört, sind die Schreie, die sie
ausstoßen, was ihr nicht riecht, das ist der Gestank ihrer
Geschwüre! Ha! Und so – “ er dreht die Tafeln um, zum Vorschein
kommen ähnliche Figuren mit gesunder Haut, und ein Ah! und Oh! der
Erleichterung geht durch die Menge – „so werden sie aussehen,
wenn sie das Wunderwasser, mein Aqua Vitalis, das Elexier des Lebens
aus eigener Fabrikation, eingenommen haben!“
Taifan wendet sich entrüstet ab.
Das darf doch nicht wahr sein! Ein Scharlatan! Der Kerl macht den
Leuten die Hölle heiß, um ihnen gefärbtes Wasser für viel Geld
anzudrehen!
Kevin kam angerannt, hinter ihm
Ursula. „Mein Gott, Taifan! Wo steckst du bloß? Wir haben dich
schon überall gesucht!“
„Ist er tot?“
„Wer?“
„Na der Mann bei dem... na, ihr
wisst schon... Sein Gebrüll war bis zur Kirche zu hören!“
Ursula schüttelte den Kopf. „Warum
sollte er tot sein? Die Operation war eine Meisterleistung! Es ist
alles tadellos gelaufen! Auch die anderen Patienten können sich
nicht beklagen! Die Frau lässt sich ein Gebiss aus Holz anfertigen,
damit kann sie zwar nicht essen, aber wenigstens sparsam lachen, der
Mann kann auf einem Auge wieder sehen und eigenhändig seine Wechsel
fälschen, und der Kerl ohne Bein... nun ja... er bekommt irgendwann
eine Holzprothese und kann sich wieder zu den Verruchten Frouwen
schleichen! Die Lüneburger Medizin befindet sich auf der Höhe der
Zeit!“
„Mannomann, wie du redest!“,
sagte Kevin, „wie ´ne alte... wie ´ne alte...“
„Wie die Tochter eines
freischaffenden Narren“, sagte Ursula lachend.
Taifan: „Sag mal, Ursula, was war
das da eben für ein Schreihals? Wollte den Leuten einreden, sein
gefärbtes Wasser könne Krankheiten heilen. So ein verdammter
Scharlatan! Macht den Leuten Angst, damit sie sein Zeug kaufen.
Verstehe nicht, warum ihm der Rat noch nicht die Lizenz entzogen
hat.“
„Wahrscheinlich, weil der Rat gut
mitverdient.“ Kevin.
„Ach der! Ein Aquavit-Verkäufer.“
Ursula.
„Aquavit?“
„Ja, gebrannter Wein,
hochprozentiger Alkohol.“
„Ziemlich trinkfreudig, das
Völkchen hier.“
„Wie überall. Aber darum geht es
nicht. Aquavit ist eine Art Allgemeinmedizin und wird gegen alle
möglichen Krankheiten genommen, sogar gegen die Pest.“
„Und das soll helfen?“
„Hm, nun ja... Mal mehr, mal
weniger, mal überhaupt nicht.“
„Trotzdem.“ Taifan. „Was der
Mann da macht, finde ich nicht okay. Macht Heilungsversprechen, die
er nicht halten kann, nur um sein Zeug wahrscheinlich stark
überteuert zu verkaufen. Ziemlich unanständig, das.“
„Na ja, zugegeben, er übertreibt.
Aber die Leute lieben das... Sie lieben die Gänsehaut, die ihnen die
Schreckensvisionen über den Rücken jagen... dann die Aussicht, noch
einmal ungeschoren davon kommen zu können... Außerdem lieber so,
als dass sich die Leute ihren Schnaps selber brennen! Ihr glaubt ja
gar nicht, wie viele Alkohol-Blinde es hier gibt! Und der Mann
versteht sein Handwerk. Und überteuert... Na ja... der Mann hat eine
große Familie zu ernähren, und das Brandrecht ist auch nicht gerade
billig.“
„Hey, ich weiß auch garnicht,
warum du dich so aufregst, Schwesterherz“, meinte Kevin, „bei uns
sieht es doch auch nicht anders aus! 'Kommen Sie zu uns in die
Dingsbums-Klinik, und nach einer Woche werfen Sie Ihre Krücken weg!'
oder 'Neues Wundermittel gegen Rückenschmerzen nach Prof.
Quatschmichtot'. Wo ist denn da der Unterschied? Die Leute hier
wollen´s eben nur etwas drastischer.“
„Wovon redet ihr da gerade?“,
fragte Ursula.
„Ach, nur so...“, lenkte Kevin
ab, „du erwähntest eben die Pest, den Schwarze Tod, die Geißel
des Mittelalters. Gibt es denn in Lüneburg schon Pestkranke?“
„O ja!“
„Und wo sind die?“
„Im Leprosorium zu Bardowick.“
„Hmmm...“ Kevin blickte Ursula
fragend an.
„Auf keinen Fall! Erstens kämen
wir nicht hinein, denn das Kloster ist weiträumig abgeriegelt,
zweitens ist die Pest hoch ansteckend und ich möchte nicht, dass ihr
sie mit nachhause nehmt, und drittens zeige ich euch jetzt meinen
Vater und
meine Geschwister. Ist nicht weit. Gleich um die Ecke, auf
dem Sand.“
Forts. folgt