Thema 11: Märchen
Das Mädchen und der Einsiedlerkrebs
Es war einmal eine Fischerfamilie. Mutter, Vater und Tochter. Eines Tages fuhren sie aufs Ewige Meer hinaus, um ihrem Beruf nachzugehen. Doch wussten sie nicht, dass Ninim an jenem Tag sehr schlecht gelaunt war. Sie konnten nicht mal ihre Netze auswerfen, denn schon bald fanden sie sich in einem riesigen Sturm wieder. Meterhohe Wellen peitschten gegen das Schiff, das nebenbei von wilden Strudeln erfasst wurde. Verzweifelt versuchte der Vater das Schiff sicher durch den Sturm zu manövrieren. Doch Ninims Zorn war zu stark! Der Vater wurde von einer gigantischen Welle erfasst und ins offene Meer gestürzt. Durch die starken Strömungen wurde er unter Wasser gezogen und ertrank.
Nur wenige Minuten später kenterte das Boot schließlich und zog Mutter und Tochter ebenfalls mit in die Tiefe.
Doch war dies nicht das Ende der Geschichte.
Denn das Mädchen wurde wie durch ein Wunder an einen weiten Sandstrand angespült. Und Asin war gütig mit ihr gewesen, denn das Mädchen war noch am Leben. Nahezu unversehrt, wenn auch sehr erschöpft.
Als es irgendwann aufwachte, fand sie nichts vor außer das offene Meer, den weißen Sand und einen angrenzenden Urwalt. Doch bevor sie richtig realisieren konnte, wo sie genau war, lenkte sich ihr Blick auf einen gigantischen Vogel. Über zehn Meter Spannweite hatte er und er sah sehr wütend aus. Der Vogel scharrte mit seinen Krallen und pickte mit seinem Schnabel auf einem Stein herum. Zuerst fand sie das sehr merkwürdig. Warum sollte ein Vogel auf einem harten Stein herumpicken?
Doch als sie sich vorsichtig anschlich, erkannte sie, dass es kein Stein war, sondern ein Schneckenhaus.
Als das Haus sich dann bewegte, kam zu ihrem Erstaunen aber keine Schnecke herausgekrochen sondern ein Krebs.
Mit seinen großen Scheren versuchte er nach dem Vogel zu schnappen. Aber der wich gekonnt aus und hackte weiter auf das Haus ein.
Schwerfällig krabbelte der Krebs durch den Sand und hatte allerhand zu tun, den Vogel auf Abstand zu halten. Das Mädchen wusste nicht so recht, ob sie dem armen Krebs helfen oder doch lieber wegschauen sollte.
Sie entschloss sich, dem aufgescheuchten Krustentier zu helfen und suchte sich etwas, um dem Vogel die Stirn zu bieten.
Mit einem langen verzweigten Ast voller Seetang rannte sie auf die kämpfenden Tiere zu und stieß nach dem Vogel. Überrumpelt ließ der vom Krebs ab und flog davon.
Der Krebs drehte sich zum Mädchen um und schaute sie mit seinen langen Stielaugen an. Seine Fühler schlabberten.
„Ich danke dir vielmals, mein Kind“, gluckste der Krebs. „Ohne dich wär' ich vermutlich nicht mehr. Was machst du hier? So ganz allein.“
Sie erzählte ihm die Geschichte und er hörte gespannt zu.
Doch nahm es sie so sehr mit, dass sie völlig aufgelöst auf die Knie fiel anfing zu weinen.
Tröstend streichelte der Krebs ihr mit der kleineren Schere vorsichtig über den Kopf. „Kein Grund zu weinen, meine Kleine. Ich kann dir bestimmt helfen.“
„Wie sollst du mir denn helfen können?“, meinte sie betrübt.
„Wenn du mein Gehäuse schön sauber putzt, dann erzähle ich dir von einem geheimen Ort, von dem nur ich weiß!“
Skeptisch schaute sie ihn an. „Ich verstehe nicht, wie mir das weiterhelfen soll. Vielleicht sollte ich lieber die Insel erkunden.“
„Wozu?“, wollte der Krebs wissen. „Ich bin hier schon seit Jahrzehnten und noch nie bin ich einem anderen Menschen vor dir begegnet. Außerdem: Was das du schon zu verlieren?“
Völlig verzweifelt war sie. Immer mehr Tränen schossen ihr aus den Augen. „Das glaube ich dir nicht!“
„Glauben musst du mir das auch nicht“, blubberte er und wackelte mit seinen langen Stielaugen „Aber können diese Augen lügen?“
Sie war im Zwiespalt. Wenn das stimmen sollte, was der Krebs gesagt hatte, dann würde sie vermutlich nie wieder einen Menschen sehen. Dann müsste sie für immer auf dieser Insel bleiben. Und bis auf den Krebs hatte sie keine Gesellschaft. Lieber ein Krustentier als gar niemanden.
Mehrere Stunden lang verbrachte sie damit, den Krebs zu säubern. Und er erzählte ihr von diesem geheimen Ort.
Von einem Ort, mit gewaltigen Bäumen, die reichlich Früchte tragen. Mit einem See und einem Wasserfall. Fische und andere Tiere und auch Menschen. Tempel aus purem Gold. Niemand musste dort hungern oder dürsten. Niemanden fehlte es an irgendwas. Es war um so vieles besser als ihr zuvoriges Leben. Niemand musste dort arbeiten, niemand musste irgendwas machen, worauf er keine Lust hatte. Alles war im Überfluss vorhanden. Ein Paradies für Jedermann!
Doch das Mädchen äußerte Skepsis. „Irgendwie klingt das nicht echt. Irgendwie glaube ich dir nicht.“
Der Krebs war empört. „Sehe ich so aus, als würde ich Lügen erzählen?! Können diese Augen lügen?!“
Das Mädchen überlegte und wollte ihm noch eine Chance geben. In keinem Fall wollte sie ihn verärgern, hatte sie offenbar wirklich nur ihn als einzigen Freund. „Angenommen, ich würde dir glauben, dürfte ich dann auch dort hin?“
„Natürlich darfst du das, ob du es glaubst oder nicht!“, druckste er perplex. Jeder darf das! Aber bis auf mich weiß niemand, wo er zu finden ist.“
„Würdest du ihn mir zeigen?“, fragte sie weiter. „Würdest du mich dort hinbringen?“
Der Krebs nickte und zeigte mit seiner großen Schere zur Felsenklippe. „Schau! Dort oben, da ist das Vogelnest! Besorge mir ein Ei und ich gebe dir das Versprechen, dich zum Paradies zu bringen!“
„Aber da komme ich doch nie hin!“, jammerte sie beim Anblick des zerklüfteten Steilhangs.
„Rede keinen Unsinn“, erwiderte der Krebs. „Das schaffst du schon. Ich stecke mein vollstes Vertrauen in dich.“
Nach kurzem Überlegen entschied sie sich doch, seine Aufgabe anzugehen. Sie nahm ihren Ast und machte sich auf dem Weg. Zu Anfang hatte sie noch leichte Bedenken, wie sie es nach oben schaffen sollte, aber schon bald merkte sie, dass der Weg zum besagten Nest gar nicht so gefährlich war. Durch das dichte Geäst ging sie den steilen Hang hinauf, hielt sich dabei an Bäumen und Sträuchern fest und war nach kurzer Zeit oben angekommen. Sie musste nur noch ein paar Felsen überwinden.
Im Nest war der Vogel nicht, also suchte sie den Himmel nach diesem Ungetüm ab. Aber auch dort war er nicht zu sehen. Das bedeutete, dass er nicht in der Nähe war, oder sich gut versteckt hatte.
Sie nahm all ihrem Mut zusammen und rannte los.
Ohne drüber nachzudenken schnappte sie sich ein Ei und rannte wieder zurück. Da das Ei aber zu schwer war, musste sie den Ast zurücklassen und beide Arme nehmen. Also hatte sie im Notfall nichts mehr, um sich zu verteidigen.
Zu ihrem Erstaunen war der Vogel aber nicht rechtzeitig zurückgekommen und sie verschwand so schnell wie sie gekommen war wieder zwischen den spitzen Felsen.
Völlig erschöpft kam sie unten an und überreichte dem Krebs das Ei.
Und er stürzte sich mit Freuden auf jenes. Mit der großen Schere schlug er die dicke Schale ein und verkroch sich mit seinem Kopf im glibberigen Inhalt. Sein ganzes Maul mit klebrigem Eigelb verschmiert schmatzte er vergnügt. Konnte er es so dem gemeinen Vogel richtig heimzahlen.
Das Mädchen dagegen war sehr angewidert von diesem Anblick. Erst jetzt erkannte sie, dass es dem Krebs weniger darum ging, seinen Hunger zu stillen als um die Demütigung des Vogels.
Sie verachtete das Krustentier. Aber ebenso verachtete sie sich selbst, darauf reingefallen zu sein.
Spürbar genervt wurde das Mädchen grimmiger. Wirst du mich nun zum Paradies bringen?“
„Hab Geduld, meine Kleine!“, gluckste die Krabbe genervt. Ich habe gesagt, ich werde es dir mein Versprechen geben. Und ich halte immer meine Versprechen!“
„Aber wann bringst du mich denn zum Paradies?!“
„Zuerst brauche ich noch ein neues Haus“, antwortete der Krebs nüchtern und zeigte zum anderen Ende des Strands. „Dort hinten liegen immer viele Muschelschalen und Schneckenhäuser herum.“
„Warum habe ich es dann überhaupt erst gesäubert, wenn du es eh loswerden willst?“, wollte das Mädchen wissen.
„Ich habe es nie verlangt, dass du mein Haus putzen sollst. Du hast es freiwillig getan.“
Da hatte der Krebs nun mal recht.
„Also gut. Wenn ich dir ein neues Haus besorge, dann bringst du mich garantiert zum Paradies?“
„Und dann bringe ich dich garantiert zum Paradies!“
Diese Aufgabe empfand sie als weniger anstrengend und gefährlich.
Während sie am Strand entlangging, schaute aufs offene Meer hinaus. Sie fragte sich, ob all das hier die Mühe wert sein würde. Vielleicht war das Paradies gar nicht so schön, wie der Krebs es behauptet hatte. Vielleicht existierte das Paradies ja überhaupt nicht und er wollte sie nur ausnutzen. Andererseits war er der einzige, der ihr etwas Hoffnung gab. Und wie falsch konnte schon ein sprechender Krebs sein? Bestimmt nicht viel falscher als so manch anderes Tier. Und wenn schon Ninim selbst auf sie wütend war, dann war es vielleicht doch nicht so verkehrt, sich ihm anzuvertrauen.
Eifirg suchte sie in dem felsigen Gelände die bunten Muschelschalen und Schneckenhäuser nach einer geeigneter Behausung für den Krebs ab. Viele waren bereits zerbrochen oder viel zu klein. Fast bis zu Holonns Nachtzeit suchte sie, bis sie endlich doch ein Schneckenhaus gefunden hatte, das ausreichend groß war und noch intakt.
Bis tief in die Nacht verbrachte sie damit, das Schneckenhaus mit ihren bloßen Händen aus dem nassen Schlick und Sand freizubuddeln. Und genauso lang brauchte sie, um es dann am Strand entlang zum Krebs zu rollen.
Als sie ankam, war ein neuer Tag angebrochen. Er schlief noch, aber als sie das schwere Haus vor ihm platziert hatte, wachte er sofort auf und glotzte sie erwartungsvoll an. Nach kurzer Inspektion verkündete er durch lautes Glucksen, dass er mit der neuen Behausung sehr zufrieden war.
Kaum hatte er es sich darin bequem gemacht, wandte er sich dem Mädchen zu.
„Spring auf!“, meinte er. „Es wird ein langer Weg bis zum Meeresgrund.“
„Meeresgrund?“, fragte das kleine Mädchen verwundert. „Ich dachte, es ist auf einer Insel.“
„Ist es ja auch“, bestätigte der Krebs ihr. „Aber wie soll ich dir sonst den Weg zeigen? Krebse können nun mal nicht schwimmen oder fliegen.“
Genervt von ihrer Naivität hockte sie sich in den Sand und schmollte. Sie hätte es doch ahnen müssen, dass der Krebs sie die ganze Zeit über an der Nase herumgeführt hatte. Es war doch zu offensichtlich gewesen, dass der Ort unerreichbar war, als der Krebs behauptete, dass niemand außer er den Ort kennen würde.
Dann kam ihr eine zündende Idee. „Und wenn ich ein Floß baue, das uns beide trägt?“
„Und wie soll ich dir dann den Weg zeigen?“, wollte der Krebs wissen. „Ich kenne den Weg nur unter Wasser.“
„Ich kann aber nicht unter Wasser atmen!“, erwiderte das Mädchen.
„Das ist natürlich schlecht“, war seine Antwort, woraufhin er sich in sein neues Haus verkroch.
Sie hatte sich mehr davon erhofft.
Kehrte sie ihm den Rücken zu und wollte sich gerade in Richtung des Waldes begeben, da kam der Krebs wieder raus und rief nach ihr. „Halt, ich hab' eine Idee! Ich werde dir eine große Luftblase fangen, in der kannst du dann atmen.“
„Das kriegst du hin?“, fragte sie äußerst skeptisch. Das klang zu absurd. Sogar zu absurd für einen sprechenden Krebs.
„Können diese Augen lügen?“, kam wieder seine Gegenantwort, die nur so voller Falschheit strotzte. „Vertraue mir, ich werd' dir eine Luftblase bringen.“
Viel länger wollte sie die abstrusen Ideen des Krustentier nicht mehr ertragen. Irgendwas sagte ihr, dass er falsch war.
Warte genau hier auf mich“, sprach der Krebs. „Ich werde bald zurückkommen, dann werden wir gemeinsam ins Paradies reisen.“
Aber sie sagte: „Nein! Ich vertraue dir nicht! Du lügst!“
„Ich habe dir mein Versprechen gegeben, dass ich dich ins Paradies bringen werde!“, wurde auch er nun aggressiver und schnappte mit den Scheren nach ihr.
Mit einem großen Satz nach hinten wich sie ihm aus.
„Und ich halte meine Versprechen immer!“, wiederholte er seine Standardfloskel. „Können diese Augen lügen?“
Das Mädchen hatte keine Lust mehr auf ihn. Er raubte ihr offensichtlich die Zeit. „Ich erkunde jetzt die Insel!“
„Dann wirst du wohl oder übel auf dieser Insel auf deinen Tod warten müssen“, erwiderte er ganz trocken. „Ich habe dir bereits gesagt, dass es hier keine anderen Menschen gibt.“
Dem Mädchen war es egal. Sie wollte nicht glauben, dass sie von ihm abhängig war.
„Höre zu, Kind!“, gurgelte er mit so viel Boshaftigkeit, dass selbst Ninim an ihrem schlechtesten Tag sanfter klang: „Ich jetzt die Luftblase holen! Und wenn du dann nicht mehr am Strand bist, wenn ich zurück bin, werde ich NICHT auf dich warten! Dann hast du niemanden mehr!“
„Dann wird das so sein!“, war ihre letzte Antwort.
„Dann frohes Sterben, du undankbares Kind!“ Mit diesen Worten kehrte er ihr den Rücken zu und krabbelte ins Meer.
Und sie kehrte wiederum ihm den Rücken zu und erkundete die Insel.
Aus Stunden wurden Tage und aus Tagen wurden Wochen.
Gewissensbisse plagten sie. Immer mehr zweifelte sie an ihrer Entscheidung. Hätte sie vielleicht doch am Strand bleiben sollen? Vielleicht sagte der Krebs ja wirklich die Wahrheit und sie war tatsächlich allein auf dieser Insel. Und vielleicht war er wirklich dabei gewesen, sein Versprechen einzulösen. Andererseits hatte er sie nur ausgenutzt. Wer weiß, was er noch alles von ihr verlangt hätte.
Dennoch konnte sie nicht leugnen, seine Gesellschaft genossen zu haben.
Jeder Tag wurde für sie zu einer Mutprobe, am Ende nicht durchzudrehen.
Was ihr der dichte Dschungel aber nicht einfacher machte.
Nach über einem halben Jahr kam sie am anderen Ende der Insel an und traute ihren Augen nicht. Sie fand Holzhütten und kleine Fischerboote. Und Menschen.
War das etwa das Paradies, von dem der Krebs ihr berichtet hatte?
Schnell rannte sie zu den Menschen hin und fragte sie, ob das hier das Paradies sei.
Diese verstanden sie nicht. Vielmehr amüsierten sie sich über ihre Äußerung.
Denn sie waren einfach nur Fischer, die auf dieser Halbinsel lebten und ihrer Arbeit nachgingen.