So, wie versprochen: letzter Teil vor dem Epilog. Er ist etwas länger als sonst, aber zu kurz zum Teilen.
Falls jemand das Gefühl hat, das Ganze rutscht in Kitsch ab oder ist zu langatmig - willkommen im Club, ich denke das auch und wäre dankbar, wenn ihr mir überflüssige/schmalzige/kitschige Szenen nennt, die raus könnten.
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Natürlich tanzen wir nicht wie Eberhard und Marianne. Die machen das richtig gut. Wir zwei stehen still auf der Tanzfläche. Doch Johannes wiegt sich dabei hin und her und lässt meine Hände nicht los. Eine schöne Illusion. Nur dass ich dabei zu ihm aufsehen muss, stört mich. Aber ich kann ja schlecht verlangen, dass er vor mir auf die Knie geht, um so auf Augenhöhe zu gelangen.
Besorgt beobachte ich ihn. Er darf es nicht übertreiben. Ich will nicht, dass er morgen wieder das Bett hüten muss. Nach wenigen Minuten entziehe ich ihm meine Hand und wehre lachend ab.
„Genug“, meine ich und lege leises Bedauern in meine Stimme, obwohl ich es nicht wirklich empfinde. Ja, es hat mir gefallen, aber die Sorge überwiegt. Ich kann es nicht genießen. Nicht so wie Johannes. In seinen Augen funkelt Freude, fast schon jugendlicher Übermut. Er ist achtzig geworden. Und er wirkt, als würde er am liebsten Bäume ausreißen.
Stattdessen nickt er und bringt mich zurück an den Tisch. Dann geht er zu dem Alleinunterhalter und wechselt ein paar Worte mit ihm.
Ob er sich ein bestimmtes Lied wünscht?
Der Musiker dreht die Musik ab, ergreift das Mikrofon und bittet die Gäste um Aufmerksamkeit. Ah, das Geburtstagskind will eine kleine Rede halten.
Johannes wehrt das ihm gereichte Mikrofon ab und geht zurück in die Mitte des Saales.
„Liebe Gäste“, beginnt er, „ich blicke heute auf achtzig Lebensjahre zurück. Jahre voller Höhen und Tiefen, voll schöner und trauriger Momente, voller aufregender Ereignisse, ob nun gewünscht oder ungewünscht. Nun bin ich angekommen. Dieses Heim ist mein Zuhause geworden. Ich habe mich eingerichtet, mein Zimmer gefällt mir und Biene hat bei mir bleiben können. Große Veränderungen wird es nicht mehr geben.“ Er macht eine Pause und lächelt. „Das dachte ich“, fährt er fort, „bis ich im Frühling jemandem begegnete.“
Sein Blick trifft mich und mein Herz macht wieder einen dieser albernen kleinen Hopser.
„Hannah das erste Mal zu sehen, hat mich von jetzt auf dann in einen Teenager zurückverwandelt. Ihre Sturheit, die neue Situation einfach hinzunehmen und sich ihr anzupassen, begeisterte mich. Und ihr Humor, mit dem sie jeden neuen Tag und jedem neuen Problem ins Gesicht gelacht hat. Ich habe Karl“, er schaut kurz zu dem grinsenden Pfleger hinüber, „über jedes Detail ausgequetscht, das er wusste. Natürlich hat er mir nichts verraten. Durfte er ja nicht.“
Ich höre Karls Lachen und ahne, dass Letzteres wohl nicht ganz ehrlich gewesen ist.
„Ich wollte sie ansprechen und schimpfte mich gleichzeitig einen alten Narren. Was erhoffte ich mir denn davon? Ein nettes Gespräch. Nicht mehr. Aber das würde mir schon reichen. Und irgendwann habe ich die Gelegenheit beim Schopf und eine Kaffeetasse am Henkel ergriffen und bin mutig gewesen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mein Herz geklopft hat, als ich ihr den Kaffee brachte und mich dann vorstellte. Und wie ich mich freute, dass sie sich auf mich einließ. Ich fühlte mich wie beflügelt und als ich ihren Rollstuhl Minuten später an ihren Tisch brachte, hätte der zwanzig Kilometer entfernt sein können. Ich hätte die Strecke mühelos bewältigt. Im Laufschritt.“
Gelächter brandet auf, vereinzeltes Klatschen ist zu hören.
„Ich will euch nicht langweilen“, spricht Johannes weiter. „Die meisten von euch haben alles miterlebt und mich und meine Aufregung in dieser Zeit ertragen müssen. An der Stelle ein Dankeschön, ihr wart sehr geduldig mit mir.“ Er nimmt einen Schluck aus seinem Glas und schenkt mir dann ein kurzes Lächeln.“
„Mein Leben hat sich verändert“, erklärt er leise und ich habe plötzlich Mühe, ihn zu verstehen. „Ich habe erkannt, dass ich meine letzten Jahre nicht allein verbringen will. Ich habe erkannt, dass mir das große Glück zuteilgeworden ist, jemanden zu finden, mit dem ich sie teilen möchte. Liebe Hannah.“
Er dreht sich mir und schaut mich an. Mir wird plötzlich ganz heiß und in meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Er wird doch nicht etwa ...
„Ich möchte dich fragen, ob du dir vorstellen könntest, meine Frau zu werden. Du sollst mir nicht sofort antworten. Ich bin mir klar darüber, dass das völlig unerwartet und überraschend für dich kommt. Deshalb bitte ich dich nur, darüber nachzudenken. Ich würde gern diese besagten letzten Lebensjahre mit dir verbringen und du würdest mich mit einem ‚Ja‘ sehr glücklich machen. So, und nun kann weiter getanzt werden.“
Noch ein letzter, warmer Blick in meine Richtung, dann nickt er dem Musiker zu und verlässt die Tanzfläche, um sich an meine Seite zu setzen.
Noch bevor er bei mir ankommt, setzt der Applaus ein. Karl und Jasmin, Frau Kehrer und Sammy, Ella, seine Jungs und die no nogo-Girls Marianne und Hertha – alle klatschen begeistert und Manni pfeift anerkennend. Sogar Johannes‘ Schwester Rosi, die an seiner linken Seite sitzt, legt ihm erst die Hand auf den Arm und umarmt ihn dann noch. Alle lachen. Alle bis auf Feodora. ich nehme es wahr, obwohl ich mich fühle, als hätte jemand die Zeit angehalten.
Das war ein Antrag, wird mir klar. Das war ein echter Heiratsantrag. Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt und wurde eben gefragt, ob ich noch einmal heiraten will.
Ich starre auf die blütenweiße Tischdecke und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Am nächsten Tag sitze ich voller Ungeduld in meinem Zimmer und schreibe. Helena hat mich nach dem Frühstück hierher zurückbringen müssen, obwohl draußen die Sonne scheint. Ihre Frage, warum ich nicht viel lieber in den Garten möchte, ist von mir nur mit einem vagen Schulterzucken beantwortet worden.
Doch es gibt einen Grund, warum ich hier sein muss. Beate kommt in einer halben Stunde und ich habe noch nicht alles aufgeschrieben, was ich ihr erzählen muss.
Meine Augen brennen und ich blinzle. Ich habe nur wenig und schlecht geschlafen. Nachdem der Abend gestern gegen Mitternacht beendet worden ist und Sammy mich aufs Zimmer und ins Bett gebracht hat, bin ich noch lange wach geblieben. Johannes‘ kleine Rede hat mir einen Schock versetzt. Umso mehr, da mir klargeworden ist, dass ich mir unbewusst gewünscht habe, diese Worte von ihm zu hören. Seit längerem schon. Eigentlich seit dem Morgen, an dem er mir den Kaffee aufs Fensterbrett gestellt hat. Ich habe sogar schon einmal darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn er und ich unser Leben teilen würden. Alberne Backfischträume, hatte ich mich dafür getadelt. Doch nie hätte ich damit gerechnet, dass er es genauso möchte und dass er sogar den Mut aufbringt und mich fragt.
Mein erster Impuls war: Ja! Ja, ja, ja! Ich kann mir das nicht nur vorstellen, Johannes, ich möchte es sogar!
Doch gesagt habe ich es nicht. Und das ist gut so.
Natürlich habe ich ihm versprochen, darüber nachzudenken. Und in der Nacht ist dazu auch viel Gelegenheit gewesen. Doch nun bin ich an einem Punkt, an dem ich für jedes ‚Ja‘ mindestens ein ‚aber‘ nennen kann. Wo sollen wir wohnen? Würde Monika veranlassen, dass Frau Herzel ein eigenes Zimmer bekommt?
Ich wende den Kopf und schaue hinüber zu meiner Mitbewohnerin. Sie ist vor drei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber trotz neuem Hüftgelenk weigert sie sich das Bett zu verlassen und lässt sich die Mahlzeiten hochbringen.
Ich wäre nicht traurig, wenn sie ausziehen würde, aber ich wäre viel froher, wenn ich selbst hier herauskäme. Ein schönes Zimmer im Erdgeschoss, vielleicht sogar eines von denen, die eine eigene kleine Terrasse habe, von der man gleich in den Garten ...
Ich rufe mich zur Ordnung und schreibe weiter.