Beiträge von Tariq im Thema „Hannche“

    So, wie versprochen: letzter Teil vor dem Epilog. Er ist etwas länger als sonst, aber zu kurz zum Teilen. :)

    Falls jemand das Gefühl hat, das Ganze rutscht in Kitsch ab oder ist zu langatmig - willkommen im Club, ich denke das auch und wäre dankbar, wenn ihr mir überflüssige/schmalzige/kitschige Szenen nennt, die raus könnten.

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    Natürlich tanzen wir nicht wie Eberhard und Marianne. Die machen das richtig gut. Wir zwei stehen still auf der Tanzfläche. Doch Johannes wiegt sich dabei hin und her und lässt meine Hände nicht los. Eine schöne Illusion. Nur dass ich dabei zu ihm aufsehen muss, stört mich. Aber ich kann ja schlecht verlangen, dass er vor mir auf die Knie geht, um so auf Augenhöhe zu gelangen.
    Besorgt beobachte ich ihn. Er darf es nicht übertreiben. Ich will nicht, dass er morgen wieder das Bett hüten muss. Nach wenigen Minuten entziehe ich ihm meine Hand und wehre lachend ab.
    „Genug“, meine ich und lege leises Bedauern in meine Stimme, obwohl ich es nicht wirklich empfinde. Ja, es hat mir gefallen, aber die Sorge überwiegt. Ich kann es nicht genießen. Nicht so wie Johannes. In seinen Augen funkelt Freude, fast schon jugendlicher Übermut. Er ist achtzig geworden. Und er wirkt, als würde er am liebsten Bäume ausreißen.
    Stattdessen nickt er und bringt mich zurück an den Tisch. Dann geht er zu dem Alleinunterhalter und wechselt ein paar Worte mit ihm.
    Ob er sich ein bestimmtes Lied wünscht?
    Der Musiker dreht die Musik ab, ergreift das Mikrofon und bittet die Gäste um Aufmerksamkeit. Ah, das Geburtstagskind will eine kleine Rede halten.
    Johannes wehrt das ihm gereichte Mikrofon ab und geht zurück in die Mitte des Saales.
    „Liebe Gäste“, beginnt er, „ich blicke heute auf achtzig Lebensjahre zurück. Jahre voller Höhen und Tiefen, voll schöner und trauriger Momente, voller aufregender Ereignisse, ob nun gewünscht oder ungewünscht. Nun bin ich angekommen. Dieses Heim ist mein Zuhause geworden. Ich habe mich eingerichtet, mein Zimmer gefällt mir und Biene hat bei mir bleiben können. Große Veränderungen wird es nicht mehr geben.“ Er macht eine Pause und lächelt. „Das dachte ich“, fährt er fort, „bis ich im Frühling jemandem begegnete.“
    Sein Blick trifft mich und mein Herz macht wieder einen dieser albernen kleinen Hopser.
    „Hannah das erste Mal zu sehen, hat mich von jetzt auf dann in einen Teenager zurückverwandelt. Ihre Sturheit, die neue Situation einfach hinzunehmen und sich ihr anzupassen, begeisterte mich. Und ihr Humor, mit dem sie jeden neuen Tag und jedem neuen Problem ins Gesicht gelacht hat. Ich habe Karl“, er schaut kurz zu dem grinsenden Pfleger hinüber, „über jedes Detail ausgequetscht, das er wusste. Natürlich hat er mir nichts verraten. Durfte er ja nicht.“
    Ich höre Karls Lachen und ahne, dass Letzteres wohl nicht ganz ehrlich gewesen ist.
    „Ich wollte sie ansprechen und schimpfte mich gleichzeitig einen alten Narren. Was erhoffte ich mir denn davon? Ein nettes Gespräch. Nicht mehr. Aber das würde mir schon reichen. Und irgendwann habe ich die Gelegenheit beim Schopf und eine Kaffeetasse am Henkel ergriffen und bin mutig gewesen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mein Herz geklopft hat, als ich ihr den Kaffee brachte und mich dann vorstellte. Und wie ich mich freute, dass sie sich auf mich einließ. Ich fühlte mich wie beflügelt und als ich ihren Rollstuhl Minuten später an ihren Tisch brachte, hätte der zwanzig Kilometer entfernt sein können. Ich hätte die Strecke mühelos bewältigt. Im Laufschritt.“
    Gelächter brandet auf, vereinzeltes Klatschen ist zu hören.
    „Ich will euch nicht langweilen“, spricht Johannes weiter. „Die meisten von euch haben alles miterlebt und mich und meine Aufregung in dieser Zeit ertragen müssen. An der Stelle ein Dankeschön, ihr wart sehr geduldig mit mir.“ Er nimmt einen Schluck aus seinem Glas und schenkt mir dann ein kurzes Lächeln.“
    „Mein Leben hat sich verändert“, erklärt er leise und ich habe plötzlich Mühe, ihn zu verstehen. „Ich habe erkannt, dass ich meine letzten Jahre nicht allein verbringen will. Ich habe erkannt, dass mir das große Glück zuteilgeworden ist, jemanden zu finden, mit dem ich sie teilen möchte. Liebe Hannah.“
    Er dreht sich mir und schaut mich an. Mir wird plötzlich ganz heiß und in meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Er wird doch nicht etwa ...
    „Ich möchte dich fragen, ob du dir vorstellen könntest, meine Frau zu werden. Du sollst mir nicht sofort antworten. Ich bin mir klar darüber, dass das völlig unerwartet und überraschend für dich kommt. Deshalb bitte ich dich nur, darüber nachzudenken. Ich würde gern diese besagten letzten Lebensjahre mit dir verbringen und du würdest mich mit einem ‚Ja‘ sehr glücklich machen. So, und nun kann weiter getanzt werden.“
    Noch ein letzter, warmer Blick in meine Richtung, dann nickt er dem Musiker zu und verlässt die Tanzfläche, um sich an meine Seite zu setzen.
    Noch bevor er bei mir ankommt, setzt der Applaus ein. Karl und Jasmin, Frau Kehrer und Sammy, Ella, seine Jungs und die no nogo-Girls Marianne und Hertha – alle klatschen begeistert und Manni pfeift anerkennend. Sogar Johannes‘ Schwester Rosi, die an seiner linken Seite sitzt, legt ihm erst die Hand auf den Arm und umarmt ihn dann noch. Alle lachen. Alle bis auf Feodora. ich nehme es wahr, obwohl ich mich fühle, als hätte jemand die Zeit angehalten.
    Das war ein Antrag, wird mir klar. Das war ein echter Heiratsantrag. Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt und wurde eben gefragt, ob ich noch einmal heiraten will.
    Ich starre auf die blütenweiße Tischdecke und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

    Am nächsten Tag sitze ich voller Ungeduld in meinem Zimmer und schreibe. Helena hat mich nach dem Frühstück hierher zurückbringen müssen, obwohl draußen die Sonne scheint. Ihre Frage, warum ich nicht viel lieber in den Garten möchte, ist von mir nur mit einem vagen Schulterzucken beantwortet worden.
    Doch es gibt einen Grund, warum ich hier sein muss. Beate kommt in einer halben Stunde und ich habe noch nicht alles aufgeschrieben, was ich ihr erzählen muss.
    Meine Augen brennen und ich blinzle. Ich habe nur wenig und schlecht geschlafen. Nachdem der Abend gestern gegen Mitternacht beendet worden ist und Sammy mich aufs Zimmer und ins Bett gebracht hat, bin ich noch lange wach geblieben. Johannes‘ kleine Rede hat mir einen Schock versetzt. Umso mehr, da mir klargeworden ist, dass ich mir unbewusst gewünscht habe, diese Worte von ihm zu hören. Seit längerem schon. Eigentlich seit dem Morgen, an dem er mir den Kaffee aufs Fensterbrett gestellt hat. Ich habe sogar schon einmal darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn er und ich unser Leben teilen würden. Alberne Backfischträume, hatte ich mich dafür getadelt. Doch nie hätte ich damit gerechnet, dass er es genauso möchte und dass er sogar den Mut aufbringt und mich fragt.
    Mein erster Impuls war: Ja! Ja, ja, ja! Ich kann mir das nicht nur vorstellen, Johannes, ich möchte es sogar!
    Doch gesagt habe ich es nicht. Und das ist gut so.
    Natürlich habe ich ihm versprochen, darüber nachzudenken. Und in der Nacht ist dazu auch viel Gelegenheit gewesen. Doch nun bin ich an einem Punkt, an dem ich für jedes ‚Ja‘ mindestens ein ‚aber‘ nennen kann. Wo sollen wir wohnen? Würde Monika veranlassen, dass Frau Herzel ein eigenes Zimmer bekommt?
    Ich wende den Kopf und schaue hinüber zu meiner Mitbewohnerin. Sie ist vor drei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber trotz neuem Hüftgelenk weigert sie sich das Bett zu verlassen und lässt sich die Mahlzeiten hochbringen.
    Ich wäre nicht traurig, wenn sie ausziehen würde, aber ich wäre viel froher, wenn ich selbst hier herauskäme. Ein schönes Zimmer im Erdgeschoss, vielleicht sogar eines von denen, die eine eigene kleine Terrasse habe, von der man gleich in den Garten ...
    Ich rufe mich zur Ordnung und schreibe weiter.

    (musste dabei an meinen Hochzeitstanz denken. ach ja)

    Musste ich beim Schreiben auch. Das Drauftreten aufs Kleid hat bei mir mein Onkel übernommen, aber das Ratsch ist mir noch sehr lebhaft in Erinnerung. :rofl:

    Vielen Dank wie immer fürs Lesen und für deine netten Worte. Es folgt nächste Woche noch ein Teil. Dann kommt der Epilog. Wir nähern uns also dem Ende. :)

    Der Abend ist wundervoll. Jeder isst, bis er sich stöhnend den Bauch hält. Außer Königin Feodora. Die wahrt die Contenance und rülpst lediglich dezent hinter ihrem vorgehaltenen Taschentuch. Johannes ermuntert immer wieder, doch noch ein Dessert zu nehmen, aber die meisten winken nur müde ab und heben stattdessen die Hand, als er fragt, wer einen Kräuter zur Verdauung braucht.
    Der Alleinunterhalter macht seine Arbeit gut. Während des Essens hat er die Musik leise gehalten und ich habe das als angenehm empfunden, denn man konnte sich unterhalten. Jetzt dreht er ein wenig mehr auf. Und während die Damen vom Catering unauffällig umher huschen und das benutzte Geschirr abräumen, holt Karl Frau Kehrer zum Tanzen. Arno folgt ihnen mit Monika. Auch Eberhard steht auf und macht einen altmodischen Diener vor Marianne, was ihr ein verschämtes Prusten entlockt. Und nachdem sie ihm fast so huldvoll wie Feodora die Hand gereicht hat, zieht er sie auf die Tanzfläche.
    „Schau hin, jetzt kannst du was erleben“, höre ich Hertha neben mir. Und bevor ich fragen kann, was sie meint, sehe ich es.
    Marianne und Eberhard tanzen. Man könnte glatt übersehen, dass der weibliche Part im Rollstuhl sitzt. Die Harmonie zwischen den beiden schein perfekt, als hätten sie jahrelanges Training hinter sich. Es wirkt so leicht und mühelos und die beiden haben unverkennbar Spaß dabei. Die Musik im Dreiertakt lädt zum Schunkeln ein und ich schaue fasziniert zu. Marianne hat zwei gesunde Arme, zumindest merkt man nichts davon, dass einer ihr Probleme bereitet. Ihr Rollstuhl dreht sich im Kreis, ohne Eberhard dabei über die Füße zu fahren. Der hält Mariannes Linke fest und sie dirigiert den Stuhl mit der Rechten.
    Als die Musik endet, applaudieren alle. Dann beginnt ein neues Lied, langsamer, aber ebenfalls im Dreiertakt, und ich beginne schon wieder zu schunkeln.
    Plötzlich steht Johannes auf und wendet sich mir zu . „Wollen wir es auch einmal versuchen?“
    Mein Schunkeln bricht ab und ich starre ihn perplex an. Meint er etwa ...
    Ich kann tanzen, gut sogar. Das heißt, ich konnte es. Aber nach Siegfrieds Tod habe ich jedem Mann einen Korb gegeben. Die Erinnerung an die Tänze mit meinem Mann sollten ungeschmälert bleiben. Besonders die an unseren Hochzeitstanz.

    Tusch!
    Die Unterhaltungen der Leute erstarben langsam und die Köpfe der Hochzeitsgäste wendeten sich erwartungsvoll zu Siegfried und mir.
    Ich wurde flammend rot. Mit meinen neunzehn Jahren so im Mittelpunkt zu stehen, war sehr ungewohnt für mich. Als jüngstes Gehrsch-Kind hatte ich immer in der Masse mitschwimmen können. Nun sah ich unzählige Blicke auf mich gerichtet.
    Siegfried war schon aufgestanden und rückte mir den Stuhl zurecht beim Aufstehen. Die Spitze am Saum meines bodenlangen Kleides raschelte, als ich an seiner Hand zur Tanzfläche schritt. Ja, ich schritt. Ich wollte jede Sekunde genießen, denn ich fühlte mich wie eine Prinzessin. Großmutti, die mein Kleid geschneidert hatte, war es gelungen, irgendjemandem einen Petticoat abzuschwatzen, den ich darunter trug. Er war zwar nicht bodenlang, aber das sah man nicht, denn die alte Gardine, die Erna von Doktors mitgebracht hatte, bauschte sich so üppig darüber, dass sie den Übergang verbarg.
    Die Musiker, die geduldig warteten, bis wir die Mitte erreicht hatten, begannen einen Walzer. Unseren Walzer. Rosen aus dem Süden. Siegfried und ich waren nicht oft zum Tanzen ausgegangen. Zwei, drei Mal in Pretzberg und letztes Jahr zur Kirmes und zu Erntedank beim Lindenwirt. Aber der Walzer war immer dabei gewesen. Beim Erntetanz hatte Siegfried ihn von den Musikern erbeten. Und mir vorher seinen Antrag gemacht. Es war perfekt. Der Himmel auf Erden. Und während ich an Siegfrieds Arm an unseren Hochzeitsgästen vorbeitanzte, erinnerte mich an die neidischen Blicke von ehemaligen Klassenkameraden und an das begeisterte Klatschen von Getrud, die mit ihrem Freund am Rand der Tanzfläche gestanden hatte. Alle waren zur Seite gegangen und das abgetretene Parkett im Saal hinter der Gaststube gehörte uns und unserem Verlobungstanz
    .

    „Wie im letzten Herbst“, raunte Siegfried in mein Ohr, dann schwenkte er mich erneut im Kreis und – trat auf Doktors Gardine. Ratsch!
    Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen. Mein Kleid! Zerrissen! Nichts anderes konnte das Geräusch verursacht haben! Mein Hochzeitskleid!
    „Einfach weiter“, sagte Siegfried völlig gelassen. „Du brauchst es eh nur heute.“
    Fast automatisch ließ ich mich von ihm führen Nach ein paar Schritten hatte ich mich gefangen und konnte wieder lächeln. Was Siegfried gesagt hatte, war ein neues Bekräftigen seines „Ich will“ vor dem Standesbeamten in Pretzberg und seines „Ja, mit Gottes Hilfe“ vor dem Pfarrer in Ellerbach gewesen.

    Herthas Ellenbogen rammt meinen rechten Arm.

    „Los“, zischt sie. „Keine Sorge, er ist genauso gut wie Eberhard.“

    Ein fragender Blick von ihm, ein verlegenes Nicken von mir und er schiebt mich auf die Tanzfläche. Dort streckt er mir seine Rechte entgegen.

    Wenn du sie ergreifst, hast du keine Möglichkeit mehr, Sabber wegzuwischen, mahnt die Miesmacher-Stimme.

    Trotz erfasst mich. Na und? Dann sabbere ich eben beim Tanzen! Wen interessiert das? Ja, Königin Feodora vielleicht, denn so etwas würde ihr selbstverständlich nie passieren. Aber Karl lächelt ermutigend und Monika reckt den Daumen hoch, als sie an Arnos Arm an uns vorbeitanzt. Also lächle ich ergeben, schiebe mein Sabbertuch an mein Seite und ergreife Johannes‘ Rechte. Einen Moment muss ich an meinen Wunsch von vorhin denken, den Druck seiner Hand einmal zu spüren. Jetzt habe ich die Gelegenheit dazu.

    Johannes hat inzwischen auch meine im Schoß liegende Hand ergriffen und hochgehoben.

    Vielen Dank, Kirisha . Ich habe zu diesem Punkt viel im Internet gesucht und viele unterschiedliche Fotos gefunden. Unterschiedlich vor allem, was die Größe der Schultüten angeht. Über die Feiern selbst gab es nur wenig zu finden. Sie waren auch unterschiedlich, je nachdem, wo man 1955 lebte. Deshalb hab ich einfach geschrieben, was meine Eltern mir erzählt haben (meine Mutter wurde 1952 eingeschult).

    Beim achtzigsten Geburtstag bin ich grad beim Schreiben und es macht wirklich Spaß. Ich wünschte ich hätte dabei sein können bei der Mordsparty :rofl:

    Da ihr beide gelesen habt, geb ich noch ein kurzes Stück zu. Aber kein Stress, ich erwarte nicht bei jedem Post einen Kommi, das weißt du ja. :)

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    Mein Rollstuhl steht neben Johannes, der an der Tür der Cafeteria die ankommenden Gäste begrüßt. Marianne und Hertha sind schon da und sitzen an der langen Tafel. Manni und Eberhard haben ihre Rollstühle hereingeschoben. Ich höre Hertha hinter mir irgendetwas rufen, aber ich verstehe es nicht. Der Alleinunterhalter gibt uns bereits ordentlich was auf die Ohren.
    Während ich freundlich nickend Johannes‘ Sohn Hartmut und danach dessen Frau Feodora die Hand schüttle, mustere ich Letztere verstohlen. Du lieber Himmel, die Frau ist mit Schmuck behängt wie ein Weihnachtsbaum. Und ihre Parfumwolke lässt mich unwillkürlich die Nase krausen. Hoheitsvoll reicht sie mir ihre gepflegte, manikürte Linke. Okay, sie hat aufgepasst und gemerkt, dass meine Rechte für ein Händeschütteln nicht zur Verfügung steht.
    „Nett, Sie kennenzulernen“, säuselt die Frau und zeigt ein Lächeln. Es ist nicht echt. Ihre Augen mustern mich kalt. Was sie wohl sieht? Eine potentielle Bedrohung für die Erbschaft? So, wie sie auftritt, scheint sie die nicht nötig zu haben. Sie rauscht an der Seite ihres Hartmut an uns vorbei und schreitet zur Tafel wie eine Königin. Fehlt nur noch, dass sie dem Fußvolk huldvoll zuwinkt. Mit einer beiläufigen Geste dirigiert sie ihren Mann, der ein riesiges, in Folie gehülltes Blumengesteck trägt, zum Geschenketisch hinüber, damit er es abstellen kann. Johannes‘ Zimmer hat gar keinen Platz für so ein Monstrum. Ja, es sieht wundervoll aus, aber ich befürchte, es wird ab morgen den Speisesaal verschönern.
    „Ich mag sie auch nicht“, höre ich Johannes mit zusammengebissenen Zähnen knurren.
    Ich pruste beinahe laut und halte mir schnell die Hand vor den Mund. Er hat mein Befremden also bemerkt. Du bist ein mieser Schauspieler, Hannche, rüge ich mich. Nun ja, die Schwiegerkinder kann man sich nicht aussuchen, das habe ich damals begriffen, als Joachim mir Viola präsentiert hat.
    Feodora. Was für ein Name. Ich muss Johannes nach ihrer Familie fragen. Aber nicht heute. Ob sie von Adel ist? Normale Menschen heißen doch nicht so. Ich schaue noch einmal zu ihr hinüber und sehe, wie sie wartet, bis ihr Mann zurückkommt und ihr den Stuhl zurechtstellt. Also doch eine Königin.
    Ich beschließe sie zu ignorieren. Nach diesem Abend heute werde ich sie wohl nicht wiedersehen. Hoffe ich zumindest.
    Karl und Arno tauchen auf. Das erste Mal seit unserem Ausflug an die Außenalster, dass ich die beiden in Zivil sehe.
    Johannes beugt sich erneut zu mir herunter. „Es tut mir leid, dass ich vergessen habe, dir zu sagen, dass es ein paar mehr Gäste werden“, raunt er. Es klingt zerknirscht.
    Ich lache. Dass die lange Tafel mehr als dreizehn Gästen Platz bietet, habe ich schon beim Hereinkommen gesehen. Es ist sein Geburtstag. Er kann das ganze Heim einladen, wenn er will, samt Pflege-, Reinigungs- und Hausmeister-Personal. Und da in diesem Moment auch Sammy mit Monika und Jasmin, Frau Kehrer mit Ella und Emily und als Letzte Bienes Patin Jessica auftauchen, erkenne ich, dass ich mit meinem Gedanken gar nicht so falsch gelegen habe.
    Achtzehn Gäste zähle ich, mit Johannes neunzehn. Nachdem Jessica ihre Glückwünsche ausgesprochen und ihr Geschenk – einen Plüschhund, der Biene zum Verwechseln ähnlich ist – überreicht hat, bittet das Geburtstagskind zu Tisch. Dabei nimmt Johannes wie selbstverständlich meinen Rollstuhl und bringt ihn zu dem Platz neben seinem an der Stirnseite. Als er mich an dem mit weißem Damasttuch bedeckten Tisch an der kurzen Wand des Saales vorbeischiebt, staune ich. Das Team vom Catering hat still und ohne Hektik dort das Buffet aufgebaut. Da türmen sich Berge von lecker duftenden Speisen, als müssten ganze Völkerschaften verpflegt werden. Verschiedene Brotsorten, Platten mit kaltem und warmem Braten, diverse Salate, eine Suppenterrine, Käse- und Butter-Arrangements und Desserts in winzigen Schälchen.
    Genießerisch schnuppere ich und bin gleichzeitig ein wenig besorgt. Wer soll das alles essen? Irgendwann ist jeder mal satt. Was wird Johannes mit den Resten machen? Ich nehme nicht an, dass die Küche des Pflegeheimes ihm großzügig auf unbestimmte Zeit zwei Kühlschränke überlässt.
    Johannes bleibt so lange stehen, bis eine Mitarbeiterin des Caterings jedem ein Sektglas serviert hat. Dann ergreift er seines und hebt es hoch.
    „Ich danke euch allen, dass ihr gekommen seid. Ich danke für eure guten Wünsche und eure Geschenke. Jetzt lasst uns zusammen essen und feiern und einen schönen Abend genießen.“
    Rasch stelle ich mein Glas auf den Tisch, um wenigstens andeutungsweise mit den anderen applaudieren zu können.

    Eine Weile rührt Johannes versonnen in seiner Tasse. Das ist das Schöne, wenn wir beide zusammen sind. Wir müssen nicht reden. Es genügt, einfach die Zeit miteinander zu genießen.
    Ich beobachte ihn, weil er es nicht bemerkt. Heute hat er wieder einen guten Tag. Die ganze Woche war gut, im Gegensatz zum letzten Wochenende. Johannes hat es im Bett verbracht. Er ist nicht zu den Mahlzeiten in den Speiseraum gekommen. Das verrät, dass seine Schmerzen wirklich schlimm gewesen sind. Ich habe ihn besucht, nachmittags, für ein paar Minuten immer nur. Einmal hat Jasmin mich hingebracht, einmal Karl und am Freitag sogar Ella, als niemand anderes Zeit hatte.
    Mein Rollstuhl stand neben seinem Bett. Wir schwiegen. Nur das Radio spielte leise. Johannes mag Klassik, genau wie ich. Wegen der Medikamente hat er die meiste Zeit geschlafen und so nicht gemerkt, wie ich seine Hand, die von der Bettkante gerutscht war, ganz vorsichtig genommen, zurück auf die Matratze gelegt und dann nicht losgelassen habe. Ich hielt sie so behutsam, als könne sie sonst zerbrechen. Ich weiß ja nicht, wo er Schmerzen hat, wenn ein Anfall ihn ins Bett zwingt, und er spricht nicht darüber.
    Seine Hand war warm. Ich lächle, als ich an den Moment denke, und ich wünsche mir unwillkürlich, sie auch jetzt festhalten zu können. Richtig fest. Wie sich Ehepaare an der Hand halten. Ich will fühlen, ob er raue Handflächen hat und wie stark sein Druck ist.
    „Heute habe ich das letzte Telefonat erledigt“, verkündet Johannes in meine Träumereien hinein. „Es ist alles vorbereitet für morgen.“
    Morgen ist die Party. Nein, die Mord-Party. Johannes‘ achtzigster Geburtstag. Der Tag, an dem er das Leben feiern will.
    „Schön.“

    Ich freue mich wirklich für ihn, denn ich weiß, dass er aufgeregt ist. Er möchte, dass alles perfekt wird. Sein Sohn und dessen Frau sind bereits gestern angereist und haben heute einen Bummel in Hamburg unternommen. Am Abend gehen sie zu einem Musical und morgen erforschen sie den Hafen vom Schiff aus.
    „Rosi kommt am frühen Nachmittag mit dem Zug. Ich habe ihr ein Zimmer ganz in der Nähe organisiert, damit sie noch ein bisschen ausruhen kann.“
    „Gut.“ Ich lächle und nehme einen Schluck Kaffee.
    Rosi, seine Schwägerin, hat die längste Anreise. Sie wohnt im Allgäu und kommt mit dem ICE. Ihre Kinder bringen sie nach München, damit sie nicht umsteigen muss, und ein Taxi holt sie am Bahnhof ab.
    Johannes hat sich viel Mühe gegeben. All das habe ich mir bestimmt schon dreimal angehört. Ganz allein kümmerte er sich darum, ist in die Küche marschiert, hat seine Wünsche verkündet und mit den Damen dort über die Preise verhandelt. Er zahlt die drei Extrastunden für das Küchenteam am Abend und das Reinigungs-Team am nächsten Morgen und er hat einen Alleinunterhalter organisiert. Ich bin stolz auf ihn. Das muss einfach toll werden. Wenn er nicht wieder einen Anfall bekommt. Aber er ist zuversichtlich. So oft nacheinander kommen sie nicht, hat er gesagt, und er ist froh, dass er am letzten Wochenende im Bett gelegen hat. Zur Feier will er fit sein.

    Ich war zu meinem Schulanfang krank. Eine Katastrophe für mein sechsjähriges, lernbegieriges Ich. Schon ein paar Tage vorher begann ich zu husten und meine Brust schmerzte.
    Großmutti legte sich ins Zeug. Sie kochte mir ekelhaften, bitteren Tee, machte mir Brustwickel mit Kampfer und unser Haus roch nach Thymian und Honig, aus denen sie Hustensaft bereitete. Ich musste – vornübergebeugt mit dem Kopf über einer Schüssel und unter einem Badehandtuch verborgen – Dampfbäder machen und verlor doch meine Stimme. Der Husten verschlimmerte sich trotz aller Mühe und am Tag vor der Schuleinführung kamen das Fieber und Kopfschmerzen. Antibiotika gab es damals noch nicht. Ich schlief meistens, wenn der Husten es zuließ.
    Am Tag der Feier selbst wollte ich aber aufstehen und hingehen. Großmutti machte beim Frühstück ein bedenkliches Gesicht.
    „Das schaffst du nicht“, prophezeite sie. „Du wirst einfach umkippen, wenn du deine Schultüte bekommst.“
    Empört reckte ich das Kinn. „Ich halt sie schon fest“, widersprach ich krächzend.
    „Vielleicht solltet ihr gar nichts reinstecken, damit sie sie halten kann“, schlug Erna vor. Sie war schon fünfzehn und ihr Vorschlag sollte sicher sehr erwachsen klingen.
    Ich streckte ihr die Zunge heraus.
    „Gar nichts? Wie gemein. So etwas kannst auch nur du vorschlagen!“, zischte Gudrun, die sich wie so oft mit mir gegen die beiden älteren Schwestern verbündete.
    „Schluss.“
    Der Vater musste seine Stimme nicht heben, um unser Gezänk verstummen zu lassen. Ich starrte auf die Tischplatte und merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
    „Die Schultüte ist bereits gefüllt und in der Schule. Das weißt du, Erna, also spare dir deine boshaften Bemerkungen. Hannah bekommt sie und kann sie so lange tragen, wie sie möchte. Ich übernehme sie dann.“
    Dankbar strahlte ich ihn an. Der Schreck war mir gehörig in die Glieder gefahren. Eine leere Schultüte? Worauf sollte ich mich denn dann freuen? Und der Lehrer würde es merken und womöglich denken, dass ich nicht brav war!
    Vaters Worte hatten mich beruhigt. Die Feier am Vormittag lief problemlos. Ich merkte zwar, dass ich Fieber hatte, doch ich hielt durch. Als ich mit den anderen Kindern auf dem Schulhof stand mit meiner Tüte im Arm, hätte ich vor Freude und Stolz platzen können.
    Auf dem Heimweg wurde sie nicht von Vater getragen. Ich gab sie nicht her. Die Geschwister liefen vorneweg, aber ich musste sie immerzu ansehen. Dass sie abgenutzt und schon ein bisschen zerschrammt war, störte mich nicht. Immerhin hatte sie schon meinen Geschwistern den Schulbeginn versüßt. Und klein? Es war Krieg und manche meiner Mitschüler hatte eine noch kleinere.
    Großmutti hatte sich um das Mittagessen gekümmert, während wir alle in der Schule waren. Großvater lebte ja nicht mehr, ihn hatte im Hochsommer der fallende Baum erschlagen.
    Nach dem Essen musste ich noch einmal ihren bitteren Tee trinken, bekam einen Kampferwickel um die Brust und wurde ins Bett gesteckt. Und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf. Ich hatte meinen Festtag verschlafen. Die leckeren Kuchen, die in der Speisekammer auf den Holzbrettern auf das Kaffeetrinken gewartet hatten, die Geschenke von Großmutti und den Nachbarn, das Abendessen – all das hatte ich verpasst. Verschlafen.
    Den Sonntag über blieb ich noch im Bett und wurde mit den für mich aufgehobenen Resten meiner Feier gefüttert. Am Abend ging es mir schon wesentlich besser. Und am Montag konnte ich mit Ernas altem Schulranzen auf dem Rücken und mit Gertrud an meiner Seite in unsere kleine Dorfschule gehen, um meinen ersten Schultag zu erleben.

    ‚Werkstatt‘ hat Theo ihn genannt und ich muss sagen – das ist nicht übertrieben. Sauber aufgereiht hängen unzählige Scheren, Zangen, Pinzetten, scharfe Messerchen und Drahtrollen an der Wand. In einem Karton auf dem Boden entdecke ich Beuteln mit flachen, farbigen Glassteinchen. Die gesamte linke Seite des Schuppens nimmt ein riesiger doppel-türiger Kühlschrank ein und an der langen Schuppenseite steht ein großer Tisch. Auf seinem Rand stapeln sich flache Schälchen und tiefere Schüsseln, langstielige Vasen, Amphoren ...
    Ich staune. Alles ist akribisch sauber, aufgeräumt und sortiert. Über dem Arbeitstisch hängt eine Lampe, die Theo anknipst. Geblendet kneife ich für einen Moment die Augen zu.
    „Gefällt es Ihnen?“, fragt er.
    Ich nicke, noch immer staunend.
    Er nimmt einzelne der kleinen Werkzeuge aus ihren Halterungen und erklärt mir, wofür sie benutzt werden. Doch das reicht mir nicht. Ich will es sehen, will beobachten, wie die Gestecke unter seinen Händen entstehen.
    „Zuschauen“, verlange ich und hoffe, dass er versteht, was ich meine.
    Wieder dieses Lachen, dann ein Blick zur Armbanduhr. „Jetzt sofort?“
    Energisch nicke ich. Was denkt er sich? Mir erst Appetit machen und mich dann mit einem bloßen Reinschauen abspeisen wollen? Nichts da. Ich will sehen, wie die Bärentatzen diese winzige Scheren handhaben können!
    „Gut. Eine Viertelstunde aber nur, dann muss ich weitermachen. Ich will heute noch fertig werden mit den Rabatten.“
    Das reicht mir. Zufrieden nicke ich und nehme noch einen Schluck Wasser. Ein Blick zu Biene zeigt mir, dass sie es sich auf einem alten Sack bequem gemacht hat und döst.
    Theo schiebt meinen Stuhl nahe an den Tisch heran. Dann öffnet er eine der beiden Kühlschranktüren und holt eine einzelne Gerbera heraus. Aus der anderen Tür zaubert er einen Zweig mit winzigen Blüten und Gräser hervor. Am Tisch legt er alles ab und beginnt zu erklären.

    In den nächsten Minuten entführt er mich in ein Wunderland. Staunend höre ich zu, als er mir von der japanischen Kunst des Blumensteckens erzählt. Ikebana. Ich erinnere mich, dass ich diesen Namen schon einmal gehört habe. So eine Leidenschaft für dieses nicht alltägliche Hobby und seine tiefe Liebe zur Natur und zu allem, was sie hervorbringt, hätte ich bei diesem Mann nie erwartet. Es fasziniert mich, wie behutsam er Zweig, Blütenstängel und Gräser kürzt, wie bedächtig er ein Schälchen auswählt, die einzelnen Komponenten darin arrangiert und fixiert.

    Ein neuer Blick zur Uhr und er richtet sich auf.
    „Eine Stunde!“, entfährt es ihm. „Lieber Himmel, das schaffe ich heute nicht mehr!“
    Er verfrachtet das halbfertige Kunstwerk in die rechte Kühlschrankhälfte. „Aufräumen muss ich später“, murmelt er und ich vermute, dass es nicht mir gilt.
    Kurz darauf steht mein Rollstuhl wieder neben dem Hochbeet. Ich atme auf, weil die Sonne hinter dem Dachfirst verschwunden ist und hier wohltuender Schatten herrscht.
    Es ist halb vier. Jedenfalls sagt das meine Armbanduhr. Wie schnell die Zeit vergangen ist.
    Schritte hinter mir lassen mich den Kopf wenden. Biene, die schon wieder gedöst hat, kommt auf die Füße und wedelt mit dem Schwanz.
    „Ich habe Kaffee im Pavillon.“
    Johannes‘ Hände schließen sich um meine Schultern.
    „Und Kuchen auch“, fährt er fort. „Wie wäre es mit einer Pause?“
    Ich lächle. „Ja“, seufze ich, denn Kaffee war das, woran ich eben sehnsuchtsvoll gedacht habe.
    Johannes bringt den Rollstuhl zu der überdachten Sitzgruppe, die von Büschen so umgeben ist, dass sie wie eine Laube wirkt. Er hat sogar an ein feuchtes Handtuch gedacht, damit ich meine Hände säubern kann.
    „Hattest du einen schönen Nachmittag?“, will er wissen.
    Wir duzen uns schon eine Weile. Ich weiß gar nicht mehr, seit wann. Einmal ist mir versehentlich ein ‚Johannes‘ herausgerutscht, wahrscheinlich weil ich ihn in der Unterhaltung mit Marianne und Hertha so nenne. Er war erfreut. Sehr sogar. Und bevor ich ‚Entschuldigung‘ sagen konnte, hat er gefragt, ob er mich Hannah nennen und duzen darf. Es fühlt sich gut an. Wir zwei alten Zausel haben danach gekichert wie Teenager nach dem ersten zaghaften Kuss. Und inzwischen ist es so normal, dass wir uns benehmen wie ein altes Ehepaar. Johannes ist ein vollendeter Gentleman. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eberhard ihn übertrifft.
    „War schön.“ Ich mustere das Tablett mit den beiden Tassen, der himmelblauen Thermoskanne und den zwei Kuchentellern und erkenne Emily Vorbereitung. „Theo“, schiebe ich noch nach.
    „Du warst beim Gärtner?“
    Ich nicke und nehme die Tasse entgegen.
    „Hat er dir seinen Schuppen gezeigt?“
    Wieder nicke ich.

    „Fühle dich geehrt. Das macht er nicht bei jedem. Nur bei denen, die ihre Liebe zum Gärtnern zeigen. Er war in Japan und hat dort die Kunst des Ikebana gelernt.“

    Ein drittes Nicken von mir. Langsam komme ich mir dumm vor.

    Wieder einmal sitze ich im Garten des Pflegeheimes. Jessica hat den Rollstuhl neben das Hochbeet am Springbrunnen gestellt und ich zupfe Unkraut. Das Plätschern des Wassers hinter mir ist beruhigend und fast einschläfernd. Biene, die neben dem Beet liegt, hat sich davon einlullen lassen und träumt wohl von tausend unerreichbaren Leckerli, denn sie fiept leise und bettelnd im Schlaf.
    Ich wollte heute keine Mittagsruhe im Bett. Das Wetter hat mich abgehalten. Und der Garten.
    Meine schmutzige Linke sinkt in meinen Schoß und ich lehne mich aufatmend zurück. Mit einem Lächeln lasse ich meinen Blick über die schöne Anlage schweifen. Der Juni geht schon in seine letzten Tage und das zarte, frische Grün des Mais hat sich bei den Kastanien in ein dunkles und herrlichen Schatten spendendes verwandelt. Besonders intensiv ist es hinten an Bienes Zwinger, nahe der Mauer. Selbst an den heißesten Tagen – und wir hatten schon etliche davon – ließ es sich dort gut aushalten.
    An den Rabatten blühen verschwenderisch duftende Rosen und entlang der Mauer wechseln sich Palmlilien, Rittersporn und Malven in einem Feuerwerk aus Farben ab.
    In einem dieser Beete steht Theo und schneidet verblühte Zweige ab. Theo ist der Gärtner des Heimes, der damals bei meinem ersten Ausflug ins Freie mit dem Rasenmäher unterwegs war. Inzwischen tauschen wir Grüße aus, wenn wir uns begegnen. Wie Kollegen halt. Er schiebt seine Schubkarre an mir vorbei und nickt mir stumm zu, und ich nicke zurück, mein Unkrautzupfen oder Lesen oder Biene-Streicheln kurz unterbrechend.
    Eine Weile bin ich noch faul, aber das Hochbeet säubert sich nicht allein. Zumindest nicht, seit ich die Pflege dafür übernommen habe. Energisch drücke ich das Kreuz ein wenig durch, murmele ein paar wenig freundliche Worte, den gestrigen Mattensport betreffend, und wische mir mit dem Handrücken über die Stirn. Es ist heiß und das vorgebeugte Sitzen anstrengend, besonders wenn einen Muskelkater plagt. Blinzelnd hebe ich den Kopf und schaue nach der Sonne.
    „Ein Wasser?“
    Ich fahre zusammen. Selbst Biene neben mir schreckt aus dem Schlaf und blafft kurz.
    Theo steht neben mir und reicht mir eine kleine Mineral-wasserflasche. Verdutzt greife ich danach, während ich ein heiseres „Danke“ krächze.
    Er nickt nur. Wie immer. Der Mann lacht nicht, redet nicht. Ein Klotz, sowohl körperlich als auch vom Benehmen her. Hat er überhaupt Emotionen?
    Doch, hat er. Ihm ist nicht entgangen, dass mir heiß ist, und er hat mir ein Wasser gebracht. Vom anderen Ende des Gartens. Und die Flasche ist schon offen. Offenbar ist ihm ebenfalls nicht entgangen, dass ich meine rechte Hand nicht benutze.
    Ich trinke fast die Hälfte auf einmal aus und schimpfe gleichzeitig auf meinen Leichtsinn, bei der Wärme das Haus ohne Getränk zu verlassen. Aber da ist dieser ewig plätschernde Springbrunnen und ich will die Funkklingel wirklich nur im Notfall ...
    „Möchten Sie vielleicht meine Werkstatt einmal sehen?“, fragt Theo, als er die Flasche, die ich ihm zurückreichen will, abwehrt.
    Erstaunt sehe ich ihn an. Er hat eine unerwartet schöne Stimme, volltönend und tief. Hörspiele sollte er damit sprechen oder Synchronsprecher sein. Aber vielleicht macht er das ja schon?
    Ich muss nach seiner Frage nicht sonderlich begeistert ausgeschaut haben, denn er lächelt. Wirklich, er lächelt. Tatsächlich habe ich noch nach Worten gesucht, um höflich abzulehnen. Nur den Kopf zu schütteln, ist etwas, was ich mir schon seit ein paar Wochen nicht mehr erlaube.
    „Keine Sorge, ich habe keine Sammlung von historischen Harken oder Heckenscheren, die ich Ihnen unbedingt zeigen möchte. Aber wenn Sie möchten, können Sie mir zusehen, wie eins dieser Blumengestecke entsteht.“
    „Blumengestecke?“
    „Die, die ich freitags immer bringe.“
    Mein Blick reicht, um mein Staunen zu zeigen, denn jetzt lacht Theo sogar.
    „Ja“, bestätigt er und wirkt ein wenig verlegen. „Das ist mein Hobby.“
    Ich mustere ihn. Wie alt mag er sein? Wie Karl? Älter? Eher älter, denn sein Vollbart ist schon grau. Er trägt in der Nachmittagshitze nur ein schwarzes Unterhemd und so kann ich seine breiten Schultern bewundern. Die kräftigen Oberarme sind beidseits tätowiert und er hat Hände wie Bärentatzen. Die sollen Blumengestecke arrangieren? Diese filigranen Gebilde, die ich immer ehrfürchtig bewundere?
    „Gern.“ Ich strahle ihn an und er freut sich, ich kann es in seinem Gesicht sehen.
    „Darf ich?“
    Er wartet meine Antwort nicht ab und packt meine Rollstuhlgriffe. „Biene, komm“, fordert er und der Hund steht sofort auf. Hechelnd läuft er neben uns her. Sicher hat er auch Durst. Wenn ich zwei gesunde Hände hätte, würde ich mir Wasser in die Handfläche geben und Biene genüsslich schlabbern lassen.
    Doch ich sorge mich umsonst. Nachdem Theo meinen Rollstuhl über die Schwelle seines Werkstatt-Schuppens bugsiert hat, füllt er als erstes eine Schüssel mit Wasser und stellt sie auf den Boden. Biene stürzt sich förmlich darauf und ich nehme mir erneut vor, Wasser mitzunehmen, wenn ich das nächste Mal in den Garten gebracht werde.
    Mein Blick wandert über die Inneneinrichtung des Schuppens.

    :danke: für eure Likes, Der Wanderer , Tom Stark und Kirisha

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    Am Nachmittag regnet es in Strömen. Ich sitze im Speiseraum und schaue aus dem Fenster, sehe zu, wie eine verstopfte Dachrinne überläuft und wie Krähen und Spatzen einträchtig nebeneinander ihren trockenen Platz unter dem Dach des Pavillons genießen.

    Emily hat mir mit einem verschmitzten Grinsen meinen Kaffee auf die Fensterbank gestellt. Die Tasse dampft noch und ich warte, bis er ein wenig abgekühlt ist. Mein Blick fällt auf eine Frau, die auf der Straße hinter der Parkmauer ihre Hunde ausführt. Ihr scheint der Regen nichts auszumachen. Sie trägt ein blaues Cape und rote Gummistiefel. Gefällt mir! Es bringt mich zum Lächeln.
    Ihre Hunde sind eine bunte Mischung, was die Größe angeht. Der größte scheint ein Schäferhund zu sein, der kleinste ist nicht zu erkennen.
    Heute Vormittag habe ich Amelie kennengelernt, besser gesagt Amelie, Lady und Basti. Lady ist ein Golden Retriever und Basti eine Mischung aus Handfeger und Blitzknaller. Amelie, das dazugehörige Frauchen, hat den temperamentvollen Burschen im Wohnbereich gelassen, als sie mit der sanftmütigen Lady in die Zimmer der Schwerkranken gegangen ist. Basti scheint trotz seines Charakters für sie so zuverlässig zu sein, dass sie ihn ohne Aufsicht zurücklässt.
    Ich sitze mitten in der Gruppe und beobachte den kleinen, braungelben Vierbeiner. Unwillkürlich muss ich wieder an Benny, den Stromer aus meiner Kindheit denken. Basti hat ihm etwas voraus: Er lässt sich streicheln. Nicht nur das, wenn jemand die Hand ausstreckt, wirft er sich auf den Boden, präsentiert seinen Bauch und kneift vor Wonne die Augen zu, wenn man dort kräftig rubbelt. Bei Manfred scheint er es besonders zu genießen. Und Herr Fischer hat sogar Leckerli für Basti dabei. Wir lachen, als der Hund bettelnd Männchen macht. So vertreiben wir uns die Zeit, bis Amelie mit Lady von ihren Einzelbesuchen zurückkommt.
    Sie setzt sich in unseren Kreis und plaudert. Ab und zu steht sie auf und bringt die freundliche Lady zu jemandem, dem der quirlige Basti keinen Blick schenkt. Sie hilft beim Streicheln und schmuggelt dann und wann Leckerli in die streichelnde Hand.
    Auf einmal steht sie vor mir, stellt einen winzigen Klapphocker auf, den ich gar nicht bemerkt habe, und lässt sich darauf nieder.
    „Wir kennen uns noch nicht“, stellt sie lächelnd fest. „Ich bin Amelie.“
    Ich bin Hannah Benedict, würde ich jetzt gern sagen. Aber ich kann wiedermal nicht aus meiner Haut.
    „Hannah“, murmele ich und erwidere das Lächeln, muss mir aber schnell den Sabber abwischen.
    Amelie scheint es nicht bemerkt zu haben. „Mögen Sie Hunde?“, will sie wissen.
    Ich nicke begeistert.
    „Lady, komm.“
    Der Hund mit dem herrlichen Fell folgt ihrer Aufforderung sofort.
    Amelie schiebt auch mir drei Leckerli in die Hand.
    „Streicheln Sie sie ruhig“, ermuntert sie mich.

    Ja wie denn? Sie hat mir eben drei Leckerli in die Linke gegeben, die festgehalten werden müssen, und die Rechte ist noch viele Trainingsstunden davon entfernt, zu tun, was sie soll.

    Ich hebe die Linke. Lady, die geduldig wartet, kneift erwartungsvoll die Augen zu.
    „Nein, nein“, korrigiert Amelie und ergreift meine Rechte. „Wir nehmen die hier.“ Langsam öffnet sie die gebeugten Finger und legt sie Lady dann auf den Kopf.

    Ich sehe zu, wie Amelie mit meiner Hand streichelt, während sie sie führt und festhält. An den Fingerspitzen spüre ich das weiche Hundefell. Immer wieder.

    Irgendwann bemerke ich, dass sie meine Finger losgelassen hat und nur noch mein Handgelenk hält. Und sie haben sich nicht wieder gekrümmt! Die Hand ist fast ausgestreckt!

    Wie geht das? Ich kann dem nutzlosen Ding nicht befehlen, etwas festzuhalten, aber das schafft sie?
    Atemlos sehe ich zu, wie sie wieder und wieder über Ladys Ohren fährt, bis ich erkennen muss, dass die Finger sich wieder krümmen.
    Auch Amelie sieht es wahrscheinlich, denn mit einem leisen „Das reicht für heute“ legt sie mir meine Hand wieder in den Schoß.

    Jetzt darf ich Lady ihre Leckerli geben.

    So, nachdem ich Hannche wegen des Rings sträflich vernachlässigt habe, kommt hier ein neuer kleiner Happen.

    Es wird aber (noch) nicht wieder regelmäßig gepostet. Der Ring geht vor. Und Hannche ist das Spaßprojekt. Trotzdem - vielen Dank allen, die noch dabei sind, fürs Lesen und Treubleiben.

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    Zehn Minuten später sitze ich mit Sammy in meinem Zimmer. Amüsiert gleitet mein Blick über sie, während sie einschenkt. Sie strahlt noch mehr als Heinz vorhin nach der Prüfung.
    Mit glänzenden Augen reicht sie mir eines der beiden Gläser.
    „Zum Wohl“, sage ich leise, „und herzlichen Glückwunsch.“
    Meine längste Rede seit dem Schlaganfall. Sie ist gar nicht so schlimm geworden. Natürlich läuft mir jetzt wieder Sabber aus dem Mundwinkel, aber ich habe leider den Sekt in der einzigen brauchbaren Hand und mein Taschentuch liegt auf meinem Schoß. Unauffällig wische ich mit dem Ärmel über die Lippen, bemüht, nichts von dem sprudelnden Inhalt des Glases zu verschütten.
    „Danke.“ Es ist Sammy anzusehen, dass sie glücklich ist. Und stolz. Sie platzt fast deswegen. Darf sie auch sein.
    „Erzähl!“, fordere ich sie auf.
    Zuerst lacht sie. „Alles?“, vergewissert sie sich und als ich nicke, erfahre ich detailliert, wie eine solche Prüfung abläuft.
    Heiliger Strohsack, denke ich zwischendurch, das ist allerhand, an was sie denken und auf was sie achten muss.
    „Die Schneider ist und bleibt ein Miststück“, endet sie und seufzt, um gleich danach ihr Glas zu leeren und den zweiten Piccolo zu öffnen. „Sie ist Heinz fast in den Mund gekrochen, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich keine Zähne hat, die ich putzen müsste.“ Sie kichert und muss innehalten beim Einschenken. „Heinz hat sie angehaucht, vielleicht dachte er, sie will seinen Atem riechen. Die Schneider ist zurückgeprallt, als hätte sie sich verbrannt!“
    Unser Lachen muss bis auf den Gang zu hören gewesen sein, denn Jasmin streckt den Kopf zur Tür herein.
    „Seid ihr beschwipst?“, fragt sie misstrauisch und zieht eine Augenbraue hoch.
    Sammy winkt ab. „Nur lustig“, gibt sie zurück. „Geh weiterarbeiten!“ Grinsend wedelt sie die Kollegin mit der Hand zur Tür hinaus.
    „Na toll“, brummt Jasmin. „Kaum Prüfung bestanden, kommandiert sie andere herum.“ Doch auch sie lacht. „Ich wünschte, ich könnte jetzt auch heimgehen wie du. Ich musste letztes Jahr nach meiner Prüfung meine Schicht ganz normal beenden.“
    „Tja, du hattest halt Pech, weil Monika nicht da war.“ Sammy zuckt mit den Schultern. Ein letzter Schluck aus dem Glas, dann stellt sie es ab.
    „Ich muss los“, meint sie entschuldigend. „Bin schon spät dran. Vielen Dank, Frau Benedikt.“
    „Hannah“, korrigiere ich.
    Ihr Lächeln freut mich. „Vielen Dank, Hannah, das war sehr lieb von Ihnen.“ Sie nimmt die Topfpflanze auf und späht in die papierne Umhüllung. „Eine Orchidee! Und so eine schöne!“
    Völlig unerwartet beugt sie sich herab und umarmt mich. Für einen kurzen Moment möchte ich dasselbe bei ihr tun, aber ich habe immer noch das Glas in der Hand und der rechte Arm liegt nutzlos im Schoß, zusammen mit dem zerknüllten Taschentuch. Und bevor ich Bedauern oder gar Zorn darüber spüren kann, ist Sammy zur Tür hinaus.

    „Sammy“, stoße ich hervor und wie immer, wenn es um was Wichtiges geht, wird es viel lauter als beabsichtigt. Aber mein Ziel erreiche ich damit: ich hab klargestellt, dass ich hier auf sie warten will. Hoffe ich zumindest. Aber auch Marianne und Hertha wollen noch sitzenbleiben und warten. Helena fügt sich.
    Mein Blick wandert zu der großen Uhr über der Eingangstür des Speisesaals. Es ist schon neun. Wann kommen diese Hunde? Halb zehn? Um zehn? Das war doch am Montag, oder verwechsle ich jetzt was?
    Ich könnte fragen, aber meine stimmliche Entgleisung von vorhin lässt mich zaudern. Na ja,selbst wenn es halb zehn losgeht, bleibt mir immer noch eine halbe Stunde Zeit, Sammy meine Blumen zu geben und mit ihr anzustoßen.
    Aber vielleicht darf sie während der Schicht gar keinen Alkohol trinken? Vielleicht will sie ihn lieber mit nach Hause nehmen? Und hat Frau Kehrer überhaupt welchen mitgebracht? Vor dem Frühstück habe ich sie noch nicht gesehen, aber sie putzt ja immer, während ich hier im Saal bin. Nur ... Frau Herzel ist im Moment nicht da, vielleicht kommt Frau Kehrer deshalb später, weil ja das Öffnen des Fensters zur Zeit kein Problem ist.
    Es ist zum Verrücktwerden. Ich merke, dass sich Unruhe in mir breitmacht. Ich sehe meinen schönen Plan ins Wanken geraten. Beinahe hätte ich doch die Hand gehoben, als Helena das nächste Mal in den Speiseraum kommt, um einen Rollstuhlfahrer zu holen, da sehe ich unsere freundliche Putzkraft hinter ihr auftauchen. Sie hat eine in Papier gehüllte Topfpflanze in der einen und zwei Sektgläser in der anderen Hand. Kurz hebt sie beides hoch, damit ich es sehen kann, dann ruckt ihr Kinn in Richtung des Ganges, in dem mein Zimmer ist.
    Die Gute. Sie hat dran gedacht, sogar an Gläser. Jetzt geht’s mir schon viel besser.

    Ich war vierzehn, als ich das erste Mal Sekt trinken durfte. Einen Schluck Bier hatten wir Geschwister alle schon bei Martin kosten dürfen und es widerlich gefunden. Mein Bruder war immerhin sechs Jahre älter als ich und galt mit dem Beginn seiner Maurerlehre in Pretzberg als erwachsen. Und Bier wurde auf dem Bau ab dem ersten Arbeitstag getrunken.
    Sekt war auch ein Erwachsenengetränk, aber ausschließlich hohen Festlichkeiten wie Hochzeiten und runden Geburtstagen vorbehalten. Als ich den ersten Schluck kosten durfte, hatte ich Konfirmation. Natürlich war man mit vierzehn noch ein Kind, aber an diesem Tag wurde manche Ausnahme gemacht für den Konfirmanden. Fleischers Maxe zum Beispiel hat bei seiner Konfirmation zum ersten Mal an der Zigarre seines Großvaters ziehen dürfen. Zu Martin sagte er später, dass er geglaubt hatte, sterben zu müssen. Keine gute Idee, das einzugestehen, denn danach war ihm der Spott meines Bruders und der Lindenwirt-Söhne sicher gewesen.
    Ich erzählte Getrud am nächsten Tag in der Schule von meinem Test-Schluck und hörte von ihr, dass auch sie mal nippen durfte, da sie ja auch Konfirmation hatte. Wir waren uns einig, dass das Zeugs nichts für uns war.
    Ich weiß noch, dass wir am Nachmittag in unserem Baumhaus saßen und über unsere Geschenke sprachen. Eigentlich hätten wir zu dritt sein müssen, aber Marthchen, die Tochter vom Lindenwirt und fester Bestandteil unserer Mädelsbande, war im Dezember, drei Tage vor Weihnachten, an Diphterie gestorben. Wir hatten es gar nicht fassen können, so schnell war es gegangen. Diese Weihnacht zählte zu den traurigsten meines Lebens, denn mit dreizehn begreift man die Endgültigkeit des Todes sehr wohl.
    Inzwischen hatte der Frühling Einzug gehalten und es herrschte ungewohnt mildes Wetter. Die April-Sonne schien zu den Fensteröffnungen unseres Häuschens herein, während Getrud und ich eine Weile in Erinnerungen an den zurückliegenden Tag schwelgten. Aber irgendwann kamen wir auf Marthchen zu sprechen. Sie fehlte uns.
    Plötzlich nahm Getrud eine Kordel-Kette von ihrem Hals und griff dann unter ihren Rocksaum. Zum Vorschein kam eine Flasche.
    Ich erkannte sofort, was meine Freundin – mit der Kordel um den Hals vorm Abstürzen beim Klettern gesichert – ins Baumhaus gebracht hatte.
    „Trudi!“, stieß ich bestürzt hervor. „Wo hast du die her?“
    „Die war übrig.“ Sie zuckte unbekümmert mit den Schultern und zauberte aus ihren Schürzentaschen zwei Blechbecher. „Ich hoffe, dass niemand sie vermisst.“
    Automatisch nahm ich ihr den Becher, den sie mir hinhielt, ab, immer noch die Flasche anstarrend.
    „Du willst das ernsthaft trinken?“, vergewisserte ich mich, weil ich immer noch nicht glauben konnte, was ich da sah.
    „Natürlich“, konterte sie. „Wir müssen auf Marthchen anstoßen. Weil sie nicht mehr bei uns ist.“
    Wir stießen auf Marthchen an. Und auf die Alte, die im Schusterhaus oben gewohnt hatte. Die war an Silvester gestorben. Der Tod des Pfeifenschnitzers vor zwei Wochen musste auch begossen werden. Bei seiner Beerdigung hatte ich die Orgel gespielt, weil der Kantor krank gewesen war.
    Und so tranken wir auf jeden Toten aus Ellerbach, der uns einfiel. Anfangs noch schüchtern und nur zaghaft nippend, wurden wir bei jedem Namen lockerer. Irgendwann war die Flasche leer und der Abend gekommen.
    „Wir müssen heim, sonst kriegen wir Ärger“, stellte ich fest und merkte, dass meine Zunge meinem Gedanken nicht hinterherkam. Der Satz brauchte ungewöhnlich lange, bis er endlich raus war.
    Gertrud hickste. „Ja, da hast du Recht.“
    Sie stand auf und blieb einen Augenblick bewegungslos stehen, den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet.
    „Alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt.
    „Steh auf, dann hast du die Antwort“, gab sie zurück und wandte sich dem Eingang zu. Um die Strickleiter zu erreichen, musste man auf die Knie gehen und rückwärts rauskrabbeln.
    Ich kam auf die Füße und sofort begann der kleine Holzraum sich um mich zu drehen.
    „Hoppla“, murmelte ich und griff hastig nach einem der Regale, die wir selbst gezimmert hatten. „Sei vorsichtig, wenn du runter-“
    Ja. Meine Warnung war zu spät gekommen. Getruds Fuß musste bereits die erste Sprosse verfehlt haben. Ich hörte einen erschrockenen Schrei, dann einen dumpfen Plumps und anschließend nichts mehr.
    Atemlos lauschend stand ich oben. Ich wagte nicht, den Kopf aus dem Eingang zu stecken und nach unten zu schauen. Mit Sicherheit war Getrud tot, lag zerschmettert am Fuß der dicken Linde, die unser Baumhaus trug. Die zweite Freundin, die ich zu Grabe tragen musste!

    Irgendwie bin ich runtergekommen, dreifach langsam und übervorsichtig, nachdem ich erleichtert hörte, dass Gertrud nach mir rief. Sie hatte sich den Fuß verstaucht und konnte nicht aufstehen.

    Was dann folgte, war einer der schwersten Gänge meines damals noch jungen Lebens. Ich musste zu Knauers Molkerei gehen, heulend, auf nicht sicheren Füßen, und Getruds Vater holen. Natürlich merkte er, was der Sekt mit mir angestellt hatte, und verpasste mir eine saftige Backpfeife, die mich noch viel mehr heulen ließ. Zu Recht. Getrud erhielt ebenfalls eine, nachdem er seine Tochter erreicht hatte. Dann hob er sie auf die Arme und trug sie nach Hause.

    Ich schlich ebenfalls heim. Einen Vater, der mir mindestens eine gewaltige Strafpredigt halten würde, hatte ich auch. Aber die traurigen Augen, mit denen mich meine Mutter ansehen würde, die fürchtete ich noch viel mehr.

    „Wissen Sie schon, dass nächste Woche Musikabend ist?“, höre ich ihn hinter mir fragen.
    Ich schüttle den Kopf. Hat mir keiner gesagt.
    Herr Fischer bleibt mit dem Rollstuhl auf dem Gang stehen.
    „Hier“, meint er und klopft mit dem Knöchel an die Wand. „Hier stehen unsere Veranstaltungen.“
    Ich wende den Kopf und schaue nach oben. Er hat gar nicht gegen die Wand geklopft, sondern gegen den Rahmen einer Pinnwand.
    Leider ist sie so weit oben, dass ich aus meiner Perspektive nichts lesen kann.
    „Montags kommt Amelie mit den beiden Hunden. Dienstags hält der Verkaufswagen am Wirtschaftseingang.“ Seine Hand deutet nach draußen, wo der Park ist und noch weiter hinten die Außenalster, und ich nicke verstehend.
    „Mittwochs ist Sport mit Kerstin, donnerstags ist gärtnern, kochen, Handarbeit angesagt. Wer Lust hat, kann auch zum Mattensport, das haben Sie ja schon kennengelernt. Freitags wird Wochenrückschau gehalten und am Sonntag Messe.“
    „Messe?“, echoe ich und mein Blick muss sehr kritisch wirken, denn Herr Fischer lacht.
    „Das möchte sein, denn schließlich ist unser St. Martin-Heim eine katholische Einrichtung“, erklärt er. „Abends gibt’s keine festen Veranstaltungen außer am Samstag, da ist Männerstammtisch mit Skat.“
    Ich schaue noch einmal zur Pinnwand. Der Wochenplan ist mit Bildern gestaltet, man muss gar nichts lesen, um zu wissen, was wann dran ist.
    „Hunde?“ Was bedeutet ‚Amelie mit den Hunden‘?
    Herr Fischer hat den Rollstuhl wieder auf Kurs gebracht und wir biegen in den Speisesaal ein.
    „Therapiehunde“, ist seine Antwort. „Speziell ausgebildet, überaus geduldig und verspielt. Wally und Heinz sind vollkommen vernarrt in die zwei.“
    Ich nicke. Viel mehr bleibt mir nicht übrig. Therapiehunde. Was es alles gibt. Wie sie wohl therapieren? Ich kann es mir ja morgen mal anschauen.
    Die neue Woche hat schon wieder Ziele. Ich will jeden Tag beim Vormittagsprogramm dabei sein. Vielleicht gibt es ja noch ein solches Hochbeet, bei dem ich Unkraut zupfen kann. Kochen wird nichts werden, dazu braucht man zwei Hände. Missmutig starre ich auf meine Rechte hinab. Das nutzlose Ding. Nur noch da, damit Fingernägel geschnitten werden können. Selbst die Armbanduhr trage ich am anderen Arm.
    Du musst sie trainieren, flüstert die Mutmachstimme. Sie braucht Kraft.
    Ich brauche die Miesmachstimme gar nicht für eine bissige Entgegnung, das bittere Lachen kommt von ganz allein.
    Egal. Jetzt gibt’s erstmal Abendessen. Und morgen sehen wir weiter.

    Ich habe nicht gut geschlafen. Wahrscheinlich vermisse ich Frau Herzels Schnarchen. In der gestrigen Nacht, in der ich das erste Mal seit meinem Einzug hier durchgeschlafen habe, war mein Verstand wohl noch zu verblüfft über die plötzliche Ruhe.
    Wie es meiner Bettnachbarin wohl geht? Komisch, obwohl sie so abweisend zu mir ist und mich wohl am liebsten aus dem Zimmer schmeißen würde, muss ich oft an sie denken. Hoffentlich kommt sie wieder auf die Beine. So ein Bruch ist sicher nicht einfach in dem Alter und ich schätze sie auf gut zehn Jahre älter als ich.
    Aber nicht nur an Frau Herzel, auch an Sammy muss ich denken. Sie hat heute Prüfung, wahrscheinlich jetzt in diesem Augenblick, in dem ich am Kaffee nippend zusehe, wie sich Wally mit dem Zipfel der Tischdecke den Mund abwischt. Beinahe landet ihr Teller dabei auf ihrem Schoß.
    „Nimm die Serviette, Wally“, rügt Marianne und Hertha, die neben Wally sitzt, reicht ihr eine aus dem Spender.
    „Ich habe gehört, Samantha hat heute endlich ihren großen Tag“, verkündet sie dann und Marianne hebt interessiert den Kopf.
    „Ach, heute? Na das wird Zeit. Sie war ja schon ganz hibbelig. Bei wem denn?“
    „Keine Ahnung.“ Hertha hebt die Schultern.
    „Heinz.“
    Es ist heraus, bevor ich lange nachdenken kann, ob ich mich einmische oder nicht.
    Mariannes Blick schwenkt zum Männertisch, synchron mit dem von Hertha. Die drei Stühle sind besetzt: der Gentleman Eberhard, der Casanova Manni und Herr Fischer. Der vierte Platz, der ohne Stuhl, gehört Heinz und seinem Rollstuhl. Und er ist leer.
    Also läuft die Prüfung wohl noch. Arme Sammy ...
    Als ich eine halbe Stunde später noch immer vor meinem Frühstückstisch sitzend zusehe, wie Emily das Geschirr abräumt, werden Stimmen auf dem Flur laut. Lachen und übermütiges Kichern ist zu hören. Und bevor ich weiß, wer da solchen Lärm macht, sehe ich Jasmin mit Heinz in den Speisesaal kommen., Unsere FSJlerin Helena und Ella, das kroatische Mädchen für alles, die Chefin Monika und Schwester Isabell folgen ihnen munter schwatzend.
    „Sieht aus, als wäre die Prüfung vorbei“, erklärt Marianne.
    „Und der Heinz lebt immer noch“, stellt Hertha trocken fest.
    Ich starre sie an. Wie meint sie denn das?
    Marianne lacht. „Nun schau nicht so, Hannah, das war Spaß. Heinz ist immer das Opfer bei Prüfungen. Schon letztes Jahr bei Jasmin. Und jedes Mal denken wir beide, dass er es nicht überlebt, dieses Übermaß an Fürsorge und Pflege und das ganze Gewese, das an diesem Tag beim Waschen und Anziehen um ihn gemacht wird. Wo es doch sonst immer schnell gehen muss.“
    Hertha nickt bekräftigend. „Und jedes Mal übersteht Heinz die Sache. Nicht nur das: Schau selbst, sieht er nicht zehn Jahre jünger aus?“
    Ich tue ihr den Gefallen, schaue und nicke. Und das ist nicht mal gelogen.
    Heinz glänzt. Anders kann man es nicht nennen. Er trägt ein frisch gebügeltes Oberhemd, ist sorgfältigst rasiert und als er an unserem Tisch vorbeigeschoben wird, rieche ich Rasierwasser. Oder ist das sogar Parfum? Dazu strahlt er wie ein beschenktes Kind und sein zahnloser Mund lacht selig.
    „Ja“, schiebe ich meinem Nicken nach und schaue dem Rollstuhl hinterher, den Jasmin am Männertisch abstellt. Dann wandert mein Blick zur Tür. Wo bleibt Samantha? Warum kommt sie nicht? Ist irgendwas schiefgegangen und sie sitzt irgendwo und heult sich die Augen aus?
    Hertha tut mir den Gefallen und fragt nach. „Und? Hat sie bestanden?“, kräht sie durch den Saal.
    Monika, die sich heute etwas verspätet mit ihrem Medikamententablett zwischen den Tischen durchschiebt, nickt eifrig. „Aber sicher. Unsre Sammy fällt doch nicht durch.“
    „Welche Note hat sie bekommen?“
    Eberhard hat diese Frage gestellt. Es ist das erste Mal, dass ich seine Stimme höre. Ein angenehmer Bass, der einem das Zwerchfell vibrieren lässt.
    „Erfährt sie erst, wenn das Auswertungsgespräch vorbei ist“, gibt Jasmin zurück. „Erstmal noch inoffiziell. Kann aber auch sein, dass die Prüferin sie im Dunkeln tappen lässt. Immerhin ist es die Schneider.“ Sie zieht ein Gesicht, als wäre das der Name für einen ekligen Ausschlag, und verschwindet aus dem Saal.
    „Ja, diese Prüferin ist etwas ... schwierig“, bestätigt Monika und reicht Marianne ihr Medizinschälchen. „Ich war schon bei Auswertungsgesprächen mit ihr dabei.“ Sie rollt vielsagend mit den Augen.
    Helena kommt in den Saal und will meinen Rollstuhl rausbringen, doch ich wehre energisch ab.
    „Sammy“, stoße ich hervor und wie immer, wenn es um was Wichtiges geht, wird es viel lauter als beabsichtigt. Aber mein Ziel erreiche ich damit: ich hab klargestellt, dass ich hier auf sie warten will.

    Hoffe ich zumindest.

    Herzlichen Dank, liebe Kirisha

    Korrektur

    Heut muss ich kurz etwas geraderücken: Mir ist leider passiert, dass ich einen Namen zweimal verwendet habe. Das will ich aber nicht. Also heißt die Schwester, die Hannche bei ihrem ersten Bad im Heim mit dem Lift in die Badewanne gesetzt hat, nicht mehr Jessica, sondern Jasmin. Jessica bleibt der Name für Bienes Patin.

    „Gibt es sonst irgendwas, was du brauchst, Mama?“
    Beate bringt den Strauß zurück und stellt ihn mitten auf den Tisch. Zum Glück ist Frau Herzel nicht da. Dieser Tisch gehört in ihren Herrschaftsbereich, genau wie der daneben stehende Sessel und das Fenster darüber.
    Während ich meine Tochter beobachte, rattert es in meinem Gehirn. Was brauche ich? Ich bin mir sicher, dass es im Lauf der Woche etliches gegeben hat, worum ich Beate am Wochenende bitten wollte. Jetzt fällt mir natürlich nichts ein.
    „Leckerli!“, stoße ich geistesgegenwärtig hervor.
    Beate starrt mich verdaddert an. „Mama, ich hab dir drei Tafeln ...“
    „Hund“, verbessere ich. „Für Hunde.“
    Hätte ich mir einen Tag in diesem berühmten Disneyland gewünscht, sie hätte nicht verwirrter aussehen können.
    „Für einen Hund?“
    „Biene.“
    „Hundeleckerli für Bienen?“
    Ich seufze. Warum ist das mit dem Sprechen so schwer? Und warum klingt meine Sprache so furchtbar. Wo ist die Stimme hin, wegen der ich in der Schule immer zum Vorlesen ausgewählt worden bin und sie später im Kirchenchor herausgestochen hat?
    „Biene ist ... ein Hund.“
    Verstehen malt sich auf ihrem Gesicht. „Ah, jetzt! Also Leckerli für Biene. In Ordnung, ich denk dran.“
    Sie packt schon wieder zusammen, registriere ich fast panisch. Etwas wollte ich ihr noch sagen. Was um alles in der Welt war es?
    „Rollstuhl!“
    Beate fährt herum, so laut habe ich das Wort gesagt.
    „Rollstuhl?“, fragt sie und beäugt meinen Mercedes kritisch. „Was ist damit?“
    Himmel, wie soll ich das erklären?
    „Auto“, beginne ich.
    Sie schlägt sich mit der Hand vor die Stirn. „Ach ja, richtig, das hat Schwester Monika auch am Telefon gesagt. Freitag Nachmittag hat sie übrigens angerufen, ein Glück, dass ich noch in der Firma war.“ Kopfschüttelnd stellt sie die letzten beiden Duschbäder in das oberste Schrankfach und schließt die Tür.
    Wer’s glaubt! Beate ist doch dort zu Hause, ist diejenige, die zuletzt geht. Und zwar an jedem Tag, also auch freitags. Ich wette, das Handy hat mitten in einer wichtigen Besprechung – sie nennt das Meeting - oder während eines Kundengespräches geklingelt. Kein Wunder, dass sie Monikas Anliegen vergessen hat.
    Sei nicht ungerecht, weist mich die nette Stimme im Kopf zurecht. Sie hat ein Leben und du bist ein Teil davon. Ein kleiner, zugegeben, aber dass sie jeden Sonntag kommt, beweist, dass sie dir was bedeutet.
    Natürlich bedeutest du ihr was, kontert ihre Gegnerin. Du bedeutest einen Vormittag, an dem sie sich nichts anderes vornehmen kann. Du bedeutest, dass sie Dinge kaufen muss, die sie sich selbst nie kaufen würde wie Süßes oder Blumen. Sonst hätte sie nicht diese atemberaubende Figur, die –
    Schluss!, befehle ich mir. Besser gesagt den beiden Stimmen. Es ist, als ob Engelchen und Teufelchen auf meinen Schultern sitzen und streiten. Ein Zeichen, dass ich langsam senil werde? Oder eine gespaltene Persönlichkeit besitze?
    „... kümmere mich drum, irgendwann diese Woche.“
    Beate hat weitergesprochen, während ich den Stimmen in meinem Kopf zugehört habe, und ich muss mich einen Augenblick besinnen, worum es ging.
    Der Rollstuhl, richtig. Sie kümmert sich.
    „Danke.“ Ich lächle erfreut und ich meine es ehrlich. Sie muss das nicht machen, aber sie will. Und ich kenne sie: Wenn sich Beate etwas vorgenommen hat, dann zieht sie es durch. Ohne Kompromisse. Die Leute bei der Krankenkasse, die ihr Steine vor die rosa lackierten Zehennägel legen wollen, müssen sich warm anziehen.
    „Mach ich gern, Mama.“ Sie umarmt mich, dann nimmt sie ihr Rucksäckchen vom Bett, greift nach der Tasche und sieht mich an.
    „Ich freue mich, dass du so tolle Fortschritte machst. Anfangs war ich sehr in Sorge, dass du dich aufgibst, und es ist schön zu sehen, dass du immer noch die tatkräftige und starke Frau bist, die du vor dem Schlaganfall warst. Bis nächste Woche.“
    Spricht‘s und ist zur Tür hinaus.
    Ich bleibe sprachlos zurück. Also im wahrsten Sinne des Wortes, denn sogar die beiden Stimmen in meinem Kopf schweigen verdutzt.
    Was war das denn? So sentimental kenne ich meine Tochter gar nicht.
    Siehst du, meldet sich die nette Stimme, die sich wohl als erste von ihrer Überraschung erholt hat.

    Den Sonntagnachmittag verbringe ich mit Gertrud Weiß. Wir sitzen im Wintergarten. Sie erzählt mir von der Beerdigung ihres Mannes am Dienstag, von der Familie. Tochter, Schwiegersohn, drei Enkel. Sie wohnen nicht weit weg und haben sie gestern Nachmittag besucht, als ich mit den anderen im Alstercafé gewesen bin.
    Am kommenden Wochenende wird sie abgeholt, verkündet sie. Die Kinder wollen mit ihr zum Friedhof fahren und das Grab bepflanzen. Keine Trauer schwingt in den Worten mit, im Gegenteil: Ihr Lächeln dabei hat etwas Schelmisches.
    „‘Was soll der Firlefanz‘, würde Erich sagen“, gluckst sie. „‘Blumen gehören zu Lebzeiten verschenkt. Wer tot ist, hat nichts mehr davon‘. Das war sein Standpunkt. Und er hat ja Recht. Das hat er übrigens auch so praktiziert und mir oft Blumen mitgebracht.“
    Ich muss an Siegfried denken. Mein Mann war ein nüchterner Mensch. Blumen gab es nur zu Anlässen wie Geburtstagen und natürlich zum Hochzeitstag. Den hat er nie vergessen. Zu unserem zehnten wollten wir uns einen kurzen Urlaub gönnen. Nur ein paar Tage in Zinnowitz, wie damals bei unseren Flitterwochen.
    Er hat ihn nicht mehr erlebt. Und bis zum Sommer vierundachtzig, in dem mir Joachim und Viola verkündet haben, dass ich Großmutter werde, brachte ich an unserem Hochzeitstag Blumen zu seinem Grab. Die Geburtstage waren mir egal. Für mich zählten die Hochzeitstage.
    Das Grab habe ich im darauffolgenden Herbst einebnen lassen. Zwanzig Jahre Ruhezeit, die für mich quälend langsam vergangen und in Wirklichkeit verflogen sind. Inzwischen sind es bald fünfzig Jahre, die ich ohne Siegfried verbringe.

    Die Erinnerung bei Getrud Weiß ist noch frisch. Sie erzählt kleine Episoden und Anekdoten und wir lachen viel. Dass es schon Zeit fürs Abendessen ist, merken wir erst, als Schwester Jasmin kommt, um uns zu holen.

    „Na, in welchem Jahrzehnt waren Sie denn unterwegs, wenn Sie die Rückkehr ins Hier und Jetzt so überrascht?“, fragt sie.

    Gertrud Weiß winkt ab. „Da waren Sie noch gar nicht geboren“, gibt sie zurück und lacht.

    Das stimmt. Jasmin mag knapp über die Zwanzig sein, ein junger Hüpfer, hätte man früher gesagt. Aber sie hat ihre Ausbildung beendet, das verrät das Wort „Pflegefachkraft“ über ihrem Namen auf dem Schild an ihrem Shirt.

    Sie nimmt Frau Weiß‘ Rollstuhl, parkt geschickt und ohne irgendwo anzustoßen aus und macht sich auf den Weg zum Speisesaal. Ich richte mich drauf ein, zu warten, bis sie zurückkehrt.
    Doch anstelle von Jasmin kommt Herr Fischer.
    „Darf ich Sie in den Saal bringen?“, fragt er höflich.
    Ich nicke. Wahrscheinlich wirkt es, wie wenn eine Königin ihrem Diener huldvoll ein Anliegen gewährt. Fehlt nur noch der hochmütige Gesichtsausdruck und diese typische wedelnde Handbewegung dazu.
    Eigentlich möchte ich nicht, dass er meinen schweren Stuhl andauernd schiebt. Er hat es schon beim Frühstück getan und mich nach dem Mittagessen hierher in den Wintergarten gebracht. Wahrscheinlich wartet er schon vor meiner Tür, bis mich die Schwester in den Mercedes bugsiert hat. Immerzu muss ich an seine Krankheit denken und dass er Schmerzen hat, auch wenn sie heute wohl nicht mehr so schlimm sind wie am Freitag. Und ich weiß, dass ich kein Leichtgewicht bin, um es mal nett zu formulieren.

    Lieben Dank, liebe Kirisha :love:

    Die Fehler habe ich verbessert, nur das erste Zitat, das ist richtig so. Ich meinte nämlich nicht Herrn Fischer, sondern Biene. Ich habe jetzt den Namen eingefügt, damit es kein Missverständnis gibt. Danke nochmal.

    ___________________________________________

    „Werden Sie kommen?“
    Herrn Fischers Frage reißt mich – wieder einmal – aus den Erinnerungen. Es hat nicht drängend geklungen, eher bittend, als wäre es ihm wirklich wichtig.
    „Gern“, antworte ich.
    Mords-Party ...
    Nun ja, der Versuchung auf dem Tisch zu tanzen, werde ich schon mal nicht nachgeben können. Und wie lange soll das gehen? Bis tief in die Nacht? Mit Alkohol? Und lauter Leuten, die ich nicht kenne?
    Du meine Güte, ich denke schon wie Erna!, realisiere ich entsetzt. Mein Pflichtbolzen von Schwester, die auf gutes Benehmen und Contenance mehr Wert legte als auf schöne gemeinsame Momente, hätte genau dieselben Bedenken gehabt und sie auch laut ausgesprochen.
    „Wer noch?“
    Mit klopfendem Herzen warte ich auf die Antwort auf meine Frage. Jetzt werde ich erfahren, wie groß seine Familie ist.
    „Mein Sohn mit seiner Frau. Meine beiden Enkel leider nicht, sie sind in Kolumbien.“ Er hebt bedauernd eine Hand und lässt sie dann wieder in den Schoß fallen. „Dann meine Schwägerin. Mein Bruder lebt nicht mehr. Außerdem Manni, Eberhard und Fred, meine Tischnachbarn im Speisesaal. Patente Burschen, Sie werden sehen. Und selbstverständlich sind auch die Mädels dabei.“
    Verständnislos schaue ich ihn an. Die Mädels?
    Er muss meinen verwirrten Blick bemerkt haben. „Die Gogo-Girls aus dem No NoGo-Club “, erklärt er.
    „Ah ja.“

    Mehr bringe ich nicht heraus. Aber mein Gesicht muss Bände sprechen, denn Herr Fischer lacht aus vollem Halse.
    „Entschuldigen Sie, aber das musste sein. Ich wollte Ihre Miene sehen, wenn ich das sage. Nein, selbstverständlich keine Gogo-Girls. Die Mädels sind Marianne und Hertha.“ Er lacht noch einmal, diesmal leiser. „Außerdem Karl, Bienes Patin Jessica und Anton, unser allround-Hausmeister. Und das waren jetzt wirklich alle.“
    „Dreizehn“, murmele ich. Das sind nicht viele, wenn er eine Mordsparty plant. aber nun ja, die Mischung macht’s wahrscheinlich.
    „Ich freue mich, dass Sie die Einladung angenommen haben. Vielen Dank.“ Er legt kurz seine Hand auf meine und drückt mir leicht die Finger. Sie ist warm, aber fest. Ich drücke zurück.
    Erst als wir wieder auf dem Weg ins Haus sind, weil es Zeit für das Mittagessen ist, merke ich, dass es meine rechte Hand gewesen ist.

    „Es tut mir leid, Mama, ich bin spät dran.“
    Die Tür aufreißen, hereinkommen und diese Worte heraussprudeln hat Beate nicht einmal eine Sekunde gekostet. Mit ihr weht ein Hauch teuren Parfums herein. Sie drückt mir einen Blumenstrauß in die Linke, wirft ihren kleinen schicken Rucksack aufs Bett und stellt die größere, vollgepackte Einkaufstasche auf den Boden. Dann gibt sie mir einen angedeuteten Kuss auf die Wange. Keine Umarmung. Sagte ich schon, dass sie nicht der Typ für Zärtlichkeiten ist?
    Ich nicke mein Hallo, während sie sich einen Stuhl heranzieht und dabei das leere Bett bemerkt.
    „Wo ist Frau Herzel?“
    „Krankenhaus.“
    „Oh. Was Schlimmes?“
    Sie setzt sich nicht, sondern stellt die Tasche auf den Stuhl.
    Ich merke, dass sie gar keine Antwort erwartet, denn obwohl sie weiß, dass ich nicht spreche, sieht sie mich nicht an, um eine eventuelle Erklärung mit Zeichensprache zu erhalten. Ich wette, sie hat Frau Herzel in dem Moment vergessen, in dem sie ihre Frage fertig ausgesprochen hat.
    Flüchtig gleitet mein Blick über sie, während sie mehr und mehr Sachen auf den Tisch packt. Sie trägt einen weißen Pullover mir winzigen rosa Punkten und Jeans, die ihr zu kurz sind. Dazu einen pinken Gürtel, flache weiße Sandalen und rosa Lack auf den Finger- und Fußnägeln.
    Irgendjemand sollte das Mädel daran erinnern, wie alt sie ist. Offensichtlich hat sie es vergessen.
    „Schwester Monika hat mich diese Woche angerufen“, erzählt Beate zwischendurch, während sie Kekse, Schokolade und Saftflaschen in meinen Kleiderschrank räumt. Ihre Bewegungen sind energiegeladen, fast hastig. Sie schafft es mühelos, den Frieden des Sonntagvormittags zu zerstören. „Sie hat mir geraten, einen Sprachcomputer für dich zu beantragen, und mir gleich die Nummer deiner Logopädin gegeben. Die wird einen Therapiebericht erstellen. Du müsstest dir dann nur noch ein Rezept von einem HNO-Arzt besorgen und ich reiche beides bei der Krankenkasse ein.“
    Okay. Das ging mir zu schnell.
    „Sprachcomputer?“ Es gelingt mir, dem Wort den Klang zu verleihen, der es zu einer Frage macht. Und ich bin stolz.
    Beate nickt, während sie die Blumen in die viel zu kleine Vase zwängt und ins Bad zum Waschbecken geht.
    Ärgerlich runzle ich die Stirn. Hab ich dir denn gar nichts beigebracht, Mädel? Diese Blumen gehören gekürzt und außerdem in eine andere Vase!

    Resigniert unterdrücke ich einen Seufzer. Ich werde Frau Kehrer morgen früh darum bitten.

    Danke fürs Weiterlesen, liebe Kirisha :thumbsup: Den Fehler hab ich verbessert.

    ____________________________________________

    Wir drehen eine Runde durch den Pflegeheimpark und weil das so schön gewesen ist, gleich noch eine zweite. Als wir wieder zurück sind, hält Herr Fischer vor einer Bank neben dem Hundezwinger an, die ich vorhin gar nicht wahrgenommen habe. Er parkt meinen Rollstuhl daneben und zeigt dann mit dem Finger auf die Wiese davor. Sofort legt Biene sich hin, bettet den Kopf auf die Vorderpfoten und schließt die Augen.
    „Ich habe diesen Ausflug mit einem Hintergedanken gemacht“, meint Herr Fischer, während er sich neben mir niederlässt. „Wie Sie vielleicht gemerkt haben, war ich gestern nicht im Speisesaal.“ Er schaut mich fragend an und ich nicke.
    „Es ging mir nicht besonders“, fährt er fort. „Das liegt an meiner Krankheit.“
    Mit wenigen Worten erklärt er, was Fibromyalgie bedeutet. Ich bin verblüfft, wie unaufgeregt das Ganze aus seinem Mund klingt. Als würde er erzählen, dass er gern Eintopf isst oder blaue Hemden mag. Alte Leute reden gern und viel über ihre Krankheiten. Hertha und Marianne bilden da keine Ausnahme, obwohl beide nicht in Selbstmitleid baden. Aber viele andere tun es und können dann nicht verstehen, dass ihnen nicht von allen Seiten riesige Wellen von Mitgefühl und Anteilnahme entgegenbranden.

    Die alte Lene in Ellerbach war so eine. Sie erzählte jedem, der das Pech hatte, ihr über den Weg zu laufen, von ihren Gebrechen. Wenn man sie jammern hörte, konnte man meinen, sie sei nicht mehr in der Lage, sich morgens aus dem Bett zu erheben.
    Da Lene mit einem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis ausgestattet war, lief sie den ganzen Tag im Ort herum, um den Menschen im Konsum, an der Bushaltestelle, sogar auf dem Friedhof ihr schweres Los zu klagen. Sie verschonte weder den Fleischer noch Knauers Molkerei. Die Leute wechselten die Straßenseite oder verließen den Laden, wenn sie auftauchte. Doch wer nicht schnell genug entkam, den verfolgte sie mit einer Agilität, die ihre Klagen Lügen strafte. Am schlimmsten war die Postfrau dran. Lene hängte sich quasi an deren großer Tasche fest und folgte ihr schwatzend auf Schritt und Tritt durch den Teil des Dorfes, in dem die Häuser so eng standen, dass sich das Aufsteigen auf das schwere Postrad nicht lohnte. Und die arme Postfrau hatte dann keine Möglichkeit, ihr zu entkommen, bis sie endlich zu ihrem Fahrrad zurückkehren und fliehen konnte.
    Die Einzige, die Lene nicht oder besser nicht mehr mit ihrer Leidensgeschichte beglückte, war Großmutter. Und das hatte seinen Grund.
    Ein einziges Mal hatte die am meisten leidende Frau des Ortes den schweren Fehler begangen, unserer Großmutti über den Gartenzaun aufzuzählen, unter was sie alles litt.
    „Das Rheuma ...“, jammerte sie damals und presste mit wehleidigem Blick die Hände auf ihren verlängerten Rücken.
    „Sammle dir Arnika und Heublumen, trockne sie und bade in dem Aufguss“, entgegnete meine Großmutti mitleidlos, ohne aufzusehen, und beugte so Lenes näheren Erläuterungen der Beschwerden vor. „Und aus Brennnesseln und Birkenblättern kochst du dir Tee. Allerdings müsstest du dann für eine Weile damit aufhören, alle Leute mit deinem Geschwätz zu nerven, und raus in die Heide gehen, um die Pflanzen zu finden. Obwohl ...“, sie überlegte kurz, „Brennnesseln gibt es bei mir im Garten genügend. Dort hinten, hinter dem Komposter. Ich überlasse dir gern ein paar, kostenlos, nur pflücken musst du sie selbst.“
    Ich weiß noch, dass meine Mutter, die neben ihr Bohnen ernetete, sich erst höflich abwendete und dann die Hand vor den Mund presste, um nicht laut herauszuprusten, als sie Lenes verdatterte Miene sah. Offenbar wusste diese nicht, ob die Vorschläge ernst gemeint waren und wirklich Linderung verhießen. Zumindest konnte man an ihrem Gesicht ablesen, dass sie nie und nimmer vorhatte, in die Heide zu gehen. Und auch dass sie keine Brennnesseln in unserem Garten holen würde.
    Lene hat Großmutti danach nie wieder ihre Leiden aufgezählt.

    Herr Fischer hat die Erklärung zu seiner Krankheit kurz und schmerzlos gehalten. Ha, schmerzlos! Was für eine unpassende Formulierung in diesem Zusammenhang! Jetzt wartet er, dass ich etwas sage.
    Ich weiß, dass er weder ,Das tut mir leid' noch ,Sie Ärmster' hören will. Sein letzter Satz, dass die starken Schmerzen öfter kommen und nun auch öfter mal über Tage anhalten, fällt mir ein. Und mir ist klar, was er von mir hören möchte.
    „Ich besuche Biene“, verspreche ich.
    Drei Worte! Hannah, du wirst immer besser! Und deshalb setze ich gleich noch einen drauf. „Schön hier.“
    Er hat versonnen auf Biene hinuntergeschaut. Als ich das gesagt habe, hebt er den Kopf und sieht mich an.
    „Sie sind eine wirklich patente Frau, Frau Benedikt, wissen Sie das?“, meint er und lächelt.
    Mein Herz macht einen albernen kleinen Hüpfer.
    „Nein“, gebe ich trocken zurück.
    Wir lachen beide und dann schweigen wir eine Weile.
    „Karl hat den Zwinger für Biene durchgesetzt“, verkündet er unvermittelt. „Er war mein stärkster Fürsprecher, als es darum ging, dass ich den Hund mit ins Heim bringen kann.“ Er beugt sich hinab und streicht Biene über den Kopf. „Ich hatte sie mitgebracht, als ich mir das Haus ansah, damals, vor meinem Einzug hier. Mich von ihr zu trennen, kam nicht in Frage. Entweder ein Heim mit Haustiererlaubnis oder gar keins. Biene hat Karl im ersten Moment um den Finger gewickelt. Dabei war es Zufall, dass sie einander begegneten, denn die Heimleitung führte mich im Erdgeschoss herum und Karl gehört ja in den dritten Wohnbereich.“ Er lacht leise. „War wohl Schicksal. Jedenfalls verdanken wir beide ihm, dass wir zusammen hier sein können. Ihm und Anton, denn der Hausmeister hat Bienes Zwinger in seiner Freizeit gebaut.“
    Anton, das ist der Fahrer, der uns gestern Nachmittag zum Alster-Café gebracht hat. Ich rufe mir den Mann ins Gedächtnis: ein untersetzter, kräftiger Kerl mit Stirnglatze, der zupacken kann und nicht viel redet.
    Also hat Karl erst die Heimleitung und dann den Hausmeister überredet, einen Hundezwinger zu bauen. Ich wette, sogar das Baumaterial hat er beschafft. Und mit geholfen sicher auch gleich noch. Sagte ich schon, dass Karl eine Perle ist? Solche Menschen gibt es nicht viele auf der Welt.
    „Biene hat eine Patin“, verkündet Herr Fischer in dem Moment.
    Erstaunt sehe ich auf.
    „Patin?“, wiederhole ich.
    Er nickt. „Jessica. Sie ist Studentin an der Hochschule für Musik und Theater und wohnt hier gleich hier um die Ecke.“
    Biene hebt bei der Nennung von Jessicas Namen den Kopf und sieht Herrn Fischer erwartungsvoll an. Er lacht.
    „Heute Nachmittag, Biene, heute Nachmittag kommt sie.“ Lächelnd tätschelt er ihr den Kopf und ich verspüre leisen Neid.
    Das Kind in mir zieht einen Flunsch, stampft mit dem Fuß auf und schreit wütend: ‚Ich will auch einen Hu-hund!‘ Es wirkt so real, dass ich schmunzele. Manche Dinge ändern sich eben nie.
    Herr Fischer hat von der kleinen egoistischen Entgleisung in meinem Kopf natürlich nichts mitbekommen.
    „Möchten Sie sie kennenlernen, die Jessica? Sie kommt halb drei, holt Biene ab und geht mit ihr auf die Hundefläche drüben an der Außenalster. Ein schöner Platz, ich bin selbst schon dagewesen. Da kann Biene mit anderen Hunden zusammen sein, toben und rennen. Letzteres natürlich nur kurz, denn immerhin hat sie ihre vierzehn Jahre auf dem Buckel und ist damit rein rechnerisch so alt wie ich.“
    Ich habe keine Ahnung von der Umrechnung von Hundejahren in Menschenjahre. „Wie alt?“, frage ich ihn geradeheraus.
    Er sieht mich an, grübelnd, wie es scheint.
    „Lassen Sie uns einen Handel abschließen“, meint er anstelle einer Antwort. „Ich möchte ab sofort immer mindestens drei Worte am Stück von Ihnen hören und Sie dürfen sich dafür etwas von mir wünschen.“
    Konsterniert starre ich zurück. Drei Worte? Das ist Erpressung! Sicher steckt er mit Karl unter einer Decke! Der muss ihn aufgehetzt haben, mich zum Sprechen zu animieren.
    Doch die Stimme in meinem Kopf, die für Mutmachen und Motivation zuständig ist, schaltet sich ein. ‚Selbst wenn es so ist“, entgegnet sie, ,du hast dir heute Morgen vorgenommen, mit dem Sprechen anzufangen, damit du irgendwann mal ganze Sätze bilden kannst. Also reg dich jetzt nicht auf, wenn es drei Worte sein sollen, die du sagst!‘
    Pikiert presse ich die Lippen zusammen. Doch Herr Fischer lässt mich zappeln. Er wartet geduldig, bis ich meine Frage stelle.
    „Wie alt sind Sie?“, quetsche ich heraus.
    Sein Lächeln lässt mein Herz erneut diesen albernen kleinen Hüpfer machen.
    „Vielen Dank“, sagt er und ich sehe Freude in den Augen hinter den Brillengläsern aufleuchten. Die Lachfältchen um sie herum bilden einen Kranz. Sein Lächeln ist ansteckend.
    „Neunundsiebzig“, verkündet er nun. „Im Sommer feiere ich meinen Achtzigsten. Und das wird eine Mords-Party.“
    Ich starre ihn schon wieder an. Das war ja wohl ein Scherz. Eine Mords-Party? Im Pflegeheim?
    Doch sein Blick verrät mir, dass er es ernst meint.
    „Es ist alles schon gebucht. Die Cafeteria wird an dem Abend mir und meinen Gästen gehören. Musik und Catering sind gebucht, ebenso Übernachtungsquartiere für Gäste von auswärts. Sogar ein Feuerwerk hat mein Sohn organisiert. Und weil wir einmal dabei sind – ich würde Sie gern mit dabeihaben bei dieser Feier, Frau Benedikt.“
    Ich schlucke. Das trifft mich vollkommen unvorbereitet. Wann habe ich das letzte Mal eine Feier besucht? Das muss letztes Jahr gewesen sein, als meine Schwiegertochter Fünfzig wurde. Das Event – so hatten Joachim und Viola das Ereignis genannt – fand in einem Hotel in Berlin statt, in demselben, in dem sie geheiratet haben. Und ich weiß noch, dass ich mich dabei, genau wie bei der Hochzeit damals, wie ein Fremdkörper gefühlt habe.

    Sagte ich schon, dass es momentan gut läuft bei "Hannche", Kirisha :) ?

    Ich bring dir mal den nächsten Teil. Und wie immer - kein Stress, fühl dich nicht gedrängt zu lesen oder gar zu kommentieren.

    ____________________________________________

    „Ja.“

    Meine Antwort kommt ohne Zögern und das Lächeln dabei ebenfalls. Ja, ich mag Hunde sehr. Besonders Schäferhunde. Deutsche, Böhmische oder Belgische. Hauptsache solche wie Parek.

    Als Mädchen hatte ich mir immer einen Hund gewünscht. Das tut wahrscheinlich jedes Kind, aber bei mir war dieser Wunsch mehr gewesen. Eine echte Sehnsucht nach einem vierbeinigen Begleiter, der nur mir gehörte und der ein so treuer Freund wie Gertrud war.
    Natürlich kam das nicht in Frage. Wenn bei uns zu Hause über einen Hund geredet wurde, dann nur ein Familienhund, auf den alle dasselbe Anrecht hatten. Und genau das wollte ich nicht. Und außerdem wurde sowieso keiner angeschafft.
    Ja, es gab Hunde im Dorf. Den Fiffi, ein nicht mal kniehohes, kläffendes Wesen, das der Frau Bürgermeister gehörte. Und Bredo, den Boxer vom Fleischer. Das liebenswerteste Wesen auf der Welt, das sich sogar einmal von Dieben, die in die Kühlkammer der Fleischerei eingestiegen waren, mit einer Wurst bestechen ließ und ihnen zum Dank dafür die Schuhe nass schlabberte. Bredo war als Wachhund der totale Versager und Fleischers Maxe, der ihn gern als blutrünstige Mörderbestie gesehen hätte, hasste ihn dafür.
    Dann war da noch Benny. Ein grau-weißer Mischling mit wuscheligem Fell. Er gehörte niemandem. Den ganzen Tag stromerte er durch das Dorf und den Wald, immer auf der Suche nach Abenteuern und nach einer kleinen Leckerei. Benny war der fast perfekte Hund. Er hatte nur einen großen Fehler: Er ließ sich nicht anfassen und deshalb auch nicht streicheln. Wahrscheinlich hatte er mal schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, denn er tobte zwar mit uns Kindern über die Wiesen, hielt aber immer Abstand.
    Nein, Benny kam zwar nahe an das heran, was ich mir wünschte, aber die Verkörperung meiner Sehnsucht war Parek. Seine Augen hatten mich bei unserem ersten Blickkontakt gefangen genommen. Ich war damals an der Brisse, dem kleinen Flüsschen neben Ellerbach, entlanggelaufen. Keine Ahnung, warum ich allein unterwegs war. Und plötzlich hatte dieser schwarz-braune Hund mit dem herrlichen Fell und den klugen, braunen Augen vor mir gestanden. Nur für Sekunden, denn auf einen scharfen Pfiff hin schoss er davon.
    Ich weiß, dass ich wie verzaubert gewesen war. Dieser Hund besaß alles, was ich mir wünschte. Und für einen kurzen Moment hatte ich mich der Hoffnung hingegeben, dass er niemandem gehörte und ich ihn mit nach Hause nehmen durfte.
    Dieser Pfiff löschte die Hoffnung aus wie ein Eimer Wasser die Glut eines Lagerfeuers. Fast hätte ich zu weinen begonnen, so weh tat es.
    Beim Weitergehen traf ich dann auf Hinrich, den Schäfer, der die Schafe der umliegenden Dörfer hütete. Und ich entdeckte, dass der Hund zu ihm gehörte, denn gerade als ich im Vorbeigehen grüßend die Hand hob, stieß der einen Pfiff aus wie den, den ich vorher gehört hatte. Und der schwarz-braune Hund schoss vom Ufer herauf und legte sich neben ihn.
    Ich weiß noch, dass Hinrich mich einlud, mich zu ihm zu setzen. Da er mir schon öfter bei meinen kleinen Wut- oder Jammerausbrüchen zugehört hatte, wusste er auch von meiner Sehnsucht, einen Hund zu besitzen.
    Der Schwarzbraune war ein zum Hüten ausgebildeter Böhmischer Schäferhund, erklärte er mir. Parek, wie er ihn genannt hatte, sei der Nachfolger von Jirak, der im Winter gestorben war. Hinrich kam aus der Tschechei, deshalb wunderten mich die seltsamen Namen nicht. Ich fragte ihn lediglich, was sie auf Deutsch bedeuteten.
    Parek hieß auf Deutsch Würstchen.


    Unvermittelt muss ich lachen. Nun ja, denke ich, das ist auch nicht unbedingt geistvoller als Biene.
    „Darf ich fragen, was Sie so amüsant finden?“ Herr Fischer schaut mich erwartungsvoll an.
    Ich schüttle lächelnd den Kopf. Das wäre wohl doch ein bisschen viel verlangt, ihm von der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem Mädchen und dem Schäfer Hinrich zu erzählen, der wundervoll zuhören konnte und dabei genüsslich blaue Wolken aus seiner Pfeife paffte. Und von Parek, seinem Schäferhund, der meine große Liebe war.
    Vielleicht werde ich irgendwann einmal so weit sein, ganze Sätze zu sprechen, sogar mehrere am Stück. Aber bis dahin dauert es noch.
    Ich zeige auf die braune Biene hinter dem Zaun.
    „Raus?“, krächze ich und setze eine bittende Miene auf.
    „Das ist der Plan.“ Herr Fischer lacht. „Um diese Zeit machen wir immer unseren kleinen Spaziergang. Was meinen Sie: Wenn ich Ihren Stuhl schiebe, würden Sie dann die Leine halten?“
    Er hat während des Sprechens die Tür im Zaun geöffnet und eine Leine aus der Hosentasche geholt. Biene kommt zu ihm und lässt sich artig anleinen.
    Er führt sie heraus und schließt die Tür wieder.
    Die Hündin sieht mich an, dann schaut sie zu Herrn Fischer und legt den Kopf schief, um gleich darauf den Blick wieder auf mich zu richten, als wolle sie sagen: „Wer ist das, he? Wen hast du da mitgebracht?“
    Ich strecke die Hand aus und lasse sie riechen.

    Biene setzt die Vorderpfoten auf die Decke über meinem linken Bein, leckt meine Finger und drängt dann, wie vorhin bei ihrem Herrchen, den Kopf in meine Handfläche. Zack – Freundschaft geschlossen. So einfach ist das. Ich bin akzeptiert.

    Herr Fischer reicht mir die Leine. „Wollen wir?“, fragt er.
    Ich nicke begeistert. Dieser Tag wird immer besser.

    Spoiler anzeigen

    Böhmische Schäferhunde wie Parek ^^

    Vielen lieben Dank dir, Kirisha

    Antwort

    Ich weiß noch dass die dortigen Kinder ganz scharf auf "Bravo"-Zeitschriften waren. Erinnerst du dich an die? Foto-Comic-Teenie-Geschichten über Petting und halbwegs anzügliche Dinge. Ich fand die Zeitschrift ziemlich langweilig aber weil es die in der DDR nicht gab fanden meine Großkusinen sie supercool.

    Mein Opa hat uns auch Pakete geschickt, aber nie "Bravo"s. Dafür waren wir damals noch zu jung (ich als Zweitälteste süße 9 Jahre, als er starb). Und danach kamen keine Pakete mehr. Aber in der Schule später waren die Blätter das heiß begehrte Objekte und nicht selten saß in den Pausen eine Traube Mädchen um die Eigentümerin herum, die sich getraut hat, eine Zeitschrift mit in die Schule zu bringen. Natürlich musste besagte Zeitschrift immer augenblicklich unter der Bank verschwinden, wenn ein Lehrer das Klassenzimmer betrat. Deshalb hatte in den meisten Fällen eine von uns Schmiere zu stehen. :D Und jaaaaa - wer kannte ihn nicht, den Doktor Sommer, der uns das wirklich Wichtige auf dieser Welt in einfachen Worten erklärte und unsere nie gestellten Fragen beantwortete :rofl:

    Den Fehler verbessere ich und stimmt: zu viel Kaffee ist auch nicht gut. ^^

    Edit: "Erichs Krönung" hieß wirklich so, aber du hast Recht. Das muss nicht unbedingt mit drin sein. :)

    Liebe Kirisha ,

    ich bin gerade wieder mal im Flow bei "Hannche", deshalb lass ich dir schon mal den nächsten Part da. Fühl dich aber nicht gedrängt, zu kommentieren. Dein Like sagt mir, dass du es liest, und das reicht mir. :) Wenn ich zu schnell werde oder wenn du beim Lesen etwas entdecken solltest, was dich stört oder was du nicht nachvollziehen kannst o.Ä., dann sag einfach Bescheid. :)

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    Karl, der Gute, hat meinen Rollstuhl wieder in den Garten gebracht und ist dann verschwunden. Meine Linke tastet kurz nach der Notklingel. Die glatte Rundung des kleinen Knopfes gibt mir Sicherheit. Zur Toilette muss ich am Vormittag sicher nicht. Ich habe extra nur eine Tasse Kaffee getrunken zum Frühstück.
    Versonnen lächle ich, während ich in die Sonne blinzle. Kaffee trinken zu können, so viel man will, ist ein unbeschreiblicher Luxus.

    Sieben Jahre nach Kriegsende heiratete mein Bruder Martin und zog an die Ostsee. Jutta, seine Frau, stammte aus der Gegend von Kiel. Ihre Familie besaß einen Bauernhof und er hatte eingewilligt, mit ihr dort zu leben. Es ging ihnen gut, denn Lebensmittel selbst produzieren und verkaufen zu können, war eine einträgliche Einnahmequelle in den Fünfzigerjahren. So kurz nach dem Krieg, als die ostdeutsche Wirtschaft noch am Boden lag, erschienen uns die kleinen Pakete, die Jutta schickte, wie direkt aus dem Himmel geliefert. Martins Frau war eine Seele von Mensch. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, uns richtig gut kennenzulernen, weil sie nur eine Woche in Ellerberg, wo die Hochzeit stattfand, zu Besuch gewesen war. Aber ihre Päckchen enthielten genau die Dinge, die uns Freude bereiteten. Für Vater waren es Zigarren und für mich Strümpfe, Kosmetikartikel und Parfum, manchmal sogar ein Buch.
    Mutter bekam immer Bohnenkaffee. Bei jedem Päckchen, das wir öffneten, war er das das Erste, was man roch. Richtig guter. Nicht der, mit dem die Russen uns anfangs noch versorgt hatten, oder der, den die DDR danach selbst herstellte, geschweige denn der ungenießbare Mix, den es nach der Erhöhung der Preise aufgrund der Kaffeekrise gab. Diese noch nicht gemahlenen Bohnen hielten, was ihr Duft versprach. Nicht nur beim Öffnen der Packung, sondern auch beim Mahlen in der hölzernen Handmühle, die mein Vater dabei zwischen die Knie klemmte, und beim Aufbrühen mit kochendem Wasser. Und wir wussten bei jeder Tasse, bei jedem Schluck, dass Jutta Nachschub schicken würde. Deshalb sparte Mutter auch nicht. Es gab ja nur noch uns drei zu Hause. Ursel, Martin und Gundula waren verheiratet, Erna lebte in Berlin, Großmutter in Bamberg und Herbert war bei der Armee. Für ihn, der nur ganz selten mal nach Ellerbach kam, hatte Jutta immer Zigaretten und Nassrasierer mit Klingen in den Paketen.
    Aber wir hatten Kaffee, den Mutter großzügig mit uns teilte.

    „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
    Ich fahre zusammen, so sehr überrascht mich die Stimme.
    Herr Fischer steht neben der Bank und sieht mich zerknirscht an.
    „Entschuldigen Sie, ich habe Sie erschreckt.“
    Verlegen winke ich ab und deute dann auf die Bank neben meinem Rollstuhl. „Nicht schlimm“, flüstere ich, meiner guten Vorsätze vom Frühstück gedenkend.
    Er lächelt und nimmt Platz. So wie ich vorhin hebt er das Gesicht in die Sonne und schließt für einen Moment die Augen.
    Das gibt mir Gelegenheit, ihn einmal gründlicher zu betrachten. Bisher ist mir das noch nicht möglich gewesen. Seine Augen ... Ja, die sind im Augenblick geschlossen, aber sonst schauen sie immer irgendwie traurig. Tief liegen sie in den Höhlen, haben dicke Tränensäcke darunter, aber auch unzählige Lachfältchen an den äußeren Augenwinkeln.
    Er trägt eine Brille mit einem messingfarbenen Metallgestell, aber sie sitzt ziemlich weit vorn auf der Nase. Und von dieser ziehen sich tiefe Falten hinunter zu den Mundwinkeln. Die Lippen hat er zu einem winzigen Lächeln verzogen, das Kinn ist ausgeprägt und glattrasiert.
    Mein Blick wandert wieder höher. Herrn Fischers Kopf hat oben keine Haare mehr. Der schneeweiße und fluffige Rest hinten und an den Seiten wirkt so weich, dass ich einen Augenblick versucht bin, mit den Fingern hindurchzufahren.
    Himmel, was ist denn los mit mir?
    „Ich möchte Sie gern mit Biene bekanntmachen“, verkündet er unvermittelt, öffnet die Augen und schaut mich an.
    Ertappt wende ich den Blick ab. Biene? Wer soll das sein?
    „Darf ich Sie hinbringen?“, fügt er an.
    Wieso hinbringen? Wo wartet diese Biene denn auf ihn?
    Unsicher nicke ich und Herr Fischer steht auf.

    „Sie ist mein Lebensinhalt“, verkündet er und umfasst meine Rollstuhlgriffe.

    Einen Moment bin ich versucht, mit der Linken die Bremse anzuziehen. Lebensinhalt? Ich habe keine Lust, seine Frau kennenzulernen! Mir egal, ob er sie Biene oder Hummel nennt! Wahrscheinlich ist sie bettlägerig, denn er kommt ja immer allein in den Speisesaal.
    Doch meine Hand bleibt ruhig im Schoß liegen und die Rollstuhlbremse unberührt. Es scheint ihm wichtig zu sein. Also gut – soll er mich reinbringen und seiner Biene vorstellen, auch wenn ich lieber noch ein bisschen in der Sonne bei den richtigen Bienen sitzen geblieben wäre.
    Er schiebt mich den sauber geharkten Weg entlang und schweigt dabei. Mich wundert das ein bisschen, denn wenn ich im Begriff wäre, jemandem meinen Lebensinhalt vorzustellen, dann würde ich vorher wohl ein paar einleitende Worte sagen.
    Doch Herr Fischer sagt nichts. Und er bringt mich auch nicht ins Foyer. Der Rollstuhl fährt an der wegen des schönen Wetters offen stehenden Hintertür des Heims vorbei und biegt dann auf den Weg ab, der zu den hohen Bäumen auf der Nordseite des Pflegeheimgartens führt. Ihr Schatten nimmt uns auf und ich schließe kurz die Augen, um tief einzuatmen. Für einen Moment gebe ich mich der Illusion hin, im Wald zu sein.
    „Schön hier“, murmele ich und höre ihn leise lachen.
    „Da haben Sie vollkommen Recht“, meint er. „Ich bin auch sehr gerne an diesem lauschigen Plätzchen. Nicht nur wenn ich Biene besuche. Es ist so schön ruhig hier. Man merkt kaum, dass man mitten in Hamburg lebt.“
    Schon wieder diese Biene. Wo zum Kuckuck ist die überhaupt? Hier unter den Bäumen?
    Ich könnte mich ja dazu durchringen, die Augen zu öffnen und mich umzuschauen, aber das hieße die Wald-Illusion zu zerstören. Deshalb lasse ich es sein.
    „Wir sind da.“
    Der Rollstuhl bleibt stehen und ich höre seltsame Geräusche. Ein Japsen, Quietschen, …. Winseln ?
    Jetzt zwinge ich die Lider auseinander. Mein Blick fällt auf einen Maschendrahtzaun. Und dahinter zeigt ein brauner Hund seine Freude über unsere Ankunft, indem er wie verrückt hin und her springt und nun auch fröhlich bellt.
    Verblüfft schaue ich Herrn Fischer an, der sich neben mich gestellt hat.
    „Das ist Biene?“, frage ich und nenne mich im gleichen Augenblick eine Idiotin. Seine Frau! Wie konnte ich nur denken, dass es um einen Menschen geht?
    Wahrscheinlich weil Hunde im Pflegeheim nicht zum Standard gehören, giftet die böse Stimme in meinem Kopf.
    Herr Fischer nickt.
    „Mein altes Mädchen“, erklärt er, „und seit dem Tod meiner Frau meine große Liebe.“ Er steckt die Hand durch den Zaun und streichelt den Hundekopf, den Biene winselnd in seine Handfläche schmiegt. „Mögen Sie Hunde, Frau Benedikt?“

    Die alte Kaffeemühle

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    Quelle: Pinterest

    So, liebe Kirisha , ich habe die vermurksten Textstellen gestern noch ausgebessert. Der Part ist jetzt etwas kürzer, aber die Schilderungen über die Zustände in der DDR, die dir gefallen haben, sind noch drin.

    Und dann hab ich gleich ein bisschen weitergeschrieben. Nicht viel, aber ich muss erst wieder in die Gänge kommen.

    ___________________________________________

    Keine fünf Minuten später sitze ich im Speisesaal. Mein Blick wandert suchend über die Tische. Einige Bewohner fehlen, aber die meisten sind da.
    „An solchen Tagen wie heute lassen sie diejenigen, die beim Essen keine Hilfe brauchen, etwas länger schlafen und bringen ihnen dann ihr Frühstück aufs Zimmer“, erklärt mir Marianne, die bemerkt haben muss, wie ich mich umschaue. „Das ist einfacher.“
    Hertha nickt. „Zimmer-Service“, fügt sie mit wichtiger Miene hinzu und reckt den Daumen hoch. „Wie im Hotel.“
    „Es kommt zum Glück nicht so oft vor, dass man unterbesetzt ist“, meint Marianne schulterzuckend. „Und man sollte annehmen, dass wir alle dann unsere Ansprüche an das Personal ein bisschen zurücknehmen, denn die Schwestern haben nun mal nur zwei Hände. Aber es gibt immer Ausnahmen.“ Sie sieht vielsagend zum Nachbartisch, an dem eine mürrische Dame Emily nun schon zum zweiten Male zum Fenster schickt, weil die es nicht nur schließen sollte, sondern nun auch noch die Gardine zuziehen muss. Schließlich scheint ja die Sonne direkt in das Gesicht der Ärmsten.
    „Manche behandeln das Personal wie Dienstmädchen“, kräht Hertha. Dass nicht nur die Frau vom Nebentisch es hört, ist dabei scheinbar volle Absicht. Und natürlich starrt besagte Dame erbost herüber, doch Hertha sieht nicht hin. Und Marianne hebt ihre Kaffeetasse und versteckt ihr Lächeln dahinter.
    „Schön, dass du es geschafft hast, hier zu sein“, sagt sie und nimmt einen Schluck.
    Ich schaue sie an und verspüre ein kleines, warmes Glücksgefühl im Bauch, das sich zu dem nach meinem selbständigen Waschen und Anziehen gehobenen Ego gesellt. Marianne freut sich wirklich, dass ich da bin. Gern würde ich ihr von meinem sportlichen Morgen erzählen, aber meine Stimme ...
    Ich winke also nur schmunzelnd ab und sehe zu, wie Isabell Waltrauds Rollstuhl an den Tisch bringt. Es ist bereits Viertel nach acht Uhr, doch Wally ist das egal. Sie greift schon nach den fertigen Brötchenhälften, als die Schwester noch dabei ist, die Bremsen am Stuhl zu arretieren.
    Wieder gleitet mein Blick über die Tische, bis er beim Männertisch ankommt. Mein Herz macht einen nervösen, kleinen Hüpfer.
    Herr Fischer ist wieder im Saal. Was auch immer ihn gestern im Zimmer bleiben ließ – es scheint weg zu sein.
    Er schaut in meine Richtung und als hätte er darauf gewartet, dass ich zu ihm hinübersehe, hebt er grüßend eine Hand.
    Ich nicke und lächle schon wieder. So viel Freude am Morgen ist wirklich ungewohnt für meine Gesichtsmuskeln.
    „Johannes ist wieder da, hast du gesehen?“, fragt Marianne in dem Moment und ich merke, dass auch sie ihm gewinkt hat. „Es geht ihm also wieder besser. Der Ärmste, manchmal kommt er drei, vier Tage nicht aus dem Bett.“
    Ich schaue sie fragend an. Vielleicht erzählt sie mir ja, was mit ihm los ist. Dann muss ich Karl nicht fragen. Marianne hat da sicher keine Skrupel. Wenn sie es überhaupt weiß ...
    „Er hat Fibromyalgie“, verkündet sie in dem Moment.
    Ich muss wohl ein sehr dummes Gesicht zeigen, denn sie lacht. „Mach dir nichts draus, ich habe das Wort vorher auch noch nie gehört. Deshalb hab ich Karl gefragt. Und er hat gesagt, dass das eine Erkrankung der Muskeln ist. Eine chronische und sehr schmerzhafte. Aber Johannes lässt sich davon nicht unterkriegen.“
    Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Wie wird das behandelt? Kann man das heilen? Stirbt man daran?
    Wieder bremst mich mein Vorsatz, nicht zu reden, aus und ich beiße mir auf die Unterlippe. Die gute Laune ist wie weggewischt. Ich bin ärgerlich auf mich selbst, auf meinen Stolz, der mich daran hindert, mit meiner ungewohnten Stimme Worte zu sprechen. Damit schließe ich mich aus vielem aus. Ich kapsele mich förmlich ab.
    Das hat heute ein Ende, nehme ich mir vor. Heute ist der Tag X. Der unterbesetzte Tag wird mein Neubeginn. Ich werden anfangen zu sprechen und ich werde mich irgendwann mit Herrn Fischer über seine Krankheit unterhalten können. Ich möchte mitreden, wenn andere von ihrer Vergangenheit erzählen, und ich möchte mit Marianne und Hertha lästern können, wenn sie über andere Heimbewohner herziehen. Ich möchte das ‚Guten Morgen‘ der Schwestern erwidern können und ich möchte irgendwann mit Beate oder auch Joachim telefonieren. Ich möchte so vieles. Alles Dinge, die ich erreichen kann.

    Und deshalb fange ich heute damit an.

    „Oh weh", murmele ich.

    Na gut, das geht noch besser. Aber ich will ja nur meine Betroffenheit zum Ausdruck bringen und keine Rede halten.

    Noch nicht.

    =O =O =O

    Ich habe eben gemerkt, dass ich einen großen Part entfernen muss. Schade, denn ich mochte ihn. Aber was ich

    hier geschrieben habe

    „Und am Sonntagabend stand Joachim plötzlich in der Tür“, schließe ich meinen Bericht. „Man hatte ihn am Samstag mitten in der Nacht aus der Haft entlassen und er war – diesmal gar nicht widerwillig – zu Erna gegangen. Er musste eine Kontaktperson angeben und aus irgendeinem Grund erschien sie ihm als die bessere Wahl als seine Schwester. Mittags stieg er in den Zug nach Pretzberg und kam dann mit dem letzten Bus nach Ellerbach.“

    ...

    „Das alles ist so lange her“, sage ich entschlossen. „Jetzt ist Mai, die Vögel singen, die Sonne scheint, der Flieder duftet und unser Kaffee wird kalt. Lasst uns das Thema beenden.“

    ... ist schlichtweg Blödsinn, also weg damit. Ich muss es irgendwie anders rüberbringen.

    Entschlossen greife ich mit der Linken nach der zweiten Sprosse meiner Galgenleiter. Ich muss mich ein wenig aufrichten dafür und meine Bauchmuskeln beklagen sich.
    „Selber schuld“, zische ich, während sich meine Finger um das geschliffene Holz schließen.
    Na wunderbar. Jetzt hänge ich zwischen Himmel und Erde. Zumindest mit dem Oberköper. Ich merke, wie meine Finger beginnen abzurutschen. Verflixte Schwäche! Ich will aber nicht loslassen. Verbissen packe ich fester zu und ziehe mich höher. Ich kann aus dem Fenster sehen! Grauer Himmel, war ja klar.
    Mein Arm fängt an zu zittern. Mir fehlt einfach die Kraft. Langsam lasse ich mich zurück sinken und löse den Griff. Mein Rücken fällt ins Kissen und ich könnte vor Wut auf irgendetwas einschlagen. Vielleicht, wenn ich etwas weiter oben liegen würde?
    Ich verschnaufe ein paar Sekunden. Dann schnappe ich mir die Holzsprosse erneut und winkle gleichzeitig das linke Bein an. Das Abstemmen von der Matratze gelingt nicht so wie erhofft, aber ein paar Zentimeter habe ich gewonnen. Ich merke es daran, dass ich Baumwipfel vor dem Fenster erkennen kann, bevor ich wieder zurückfalle.
    Noch immer kommt niemand zum Waschen. Um acht ist Frühstück und ich möchte gern im Speisesaal sein. Schon um zu wissen, ob Herr Fischer heute wieder da ist.
    Die Tür öffnet sich, ohne Klopfen. Also hat es jemand eilig. Und richtig: Schwester Isabell steckt den Kopf herein.
    „Dauert noch ein bisschen, Frau Benedikt, wir sind unterbesetzt heute“, verkündet sie knapp und ist sofort wieder verschwunden.
    In Ordnung. Das erklärt alles. Ich warte also geduldig. Irgendwann kommt schon jemand.
    Zehn Minuten später ist Isabell zurück. Sie richtet mich auf, zieht die Schuhe an und hebt mich geschickt auf den Toilettenstuhl, der neben meinem Bett steht. Gleich darauf stehe der – mit mir darin – im Bad vor dem Waschbecken.
    Isabell möchte Wasser einlassen, doch ich schiebe ihre Hand weg. „Nur Kleidung“, murmele ich und greife selbst nach dem Wasserhahn.
    Ihr Erstaunen währt nur einen Augenblick, dann verschwindet sie kurz und kehrt mit meinen Sachen über dem Arm zurück, die sie auf den Toilettendeckel legt.
    „Für unten rum komme ich dann wieder, in Ordnung?“
    Ich nicke lächelnd und scheuche sie mit einer wedelnden Handbewegung hinaus.
    Dann sitze ich vor dem gefüllten Waschbecken und starre mein Spiegelbild darüber an. Die Brille liegt auf dem Nachttisch, alles ist ein bisschen verschwommen.
    Auf geht’s, Hannche, fordere ich mich selber auf, jetzt zeig mal, aus welchem Holz du geschnitzt bist!
    Und es geht. Es geht tatsächlich. Ich kann mich oben herum allein waschen! Den Rücken lasse ich für Isabell. Oder nein, der kann heut mal ungewaschen bleiben.
    Als ich fertig bin, strahlt mich eine saubere, gekämmte Hannche mit eingesetzter Zahnprothese an. Sogar angezogen habe ich mich selbst. Es sitzt alles ein bisschen schief und der BH ist noch offen, aber – voila!
    Ungeduldig warte ich auf Isabell. Ich will ihr staunendes Gesicht sehen. Ich will die Erleichterung über die eingesparte Zeit darauf entdecken können.
    Als sie kommt, hämmert mein Herz vor Aufregung. Und ich genieße den Moment, höre ihr Lob und winke großzügig ab, als sie Beine und Füße waschen will. Jogginghose, Socken, Schuhe, das reicht heute. Bin ja nicht dreckig.

    Jetzt kommt ein kritischer Augenblick, denn bisher musste immer eine zweite Schwester helfen, damit ich aufstehen und mir der Po gewaschen werden konnte. Doch mein Experiment mit der Sprossenleiter hat mich mutig gemacht. Ich deute mit der Linken erst auf mich und dann auf die Haltstange neben der Toilette.
    Isabell begreift, was ich vorhabe, und zieht die Augenbrauen hoch. „Sie wollen allein aufstehen und sich festhalten?“
    Ich kann ihre Skepsis nachvollziehen, aber sie war an meinem sportlichen Morgen nicht dabei. Energisch nicke ich.
    Mit sorgenvollem Blick bugsiert sie den Toilettenstuhl zur Haltstange. Ich beuge mich vor, meine Linke packt zu. ‚Höher‘, befehle ich mir selbst, ‚du musst dich doch hochziehen!‘
    So weit oben wie möglich umklammere ich das dunkelgrün lackierte Metall, Isabell schiebt ihre Hände unter meine Achseln.
    „Uuund hoch!“, kommandiert sie.
    Ich ziehe und drücke gleichzeitig das linke Bein durch. Isabell hält mich und ich kann mit der Hand noch ein Stück höher rutschen.
    „Geht’s?“, fragt sie zögernd.
    Ich nicke. Los, Mädel, mach hin, ewig lange kann ich mich nicht halten.
    In Nullkommanichts bin ich unten herum gewaschen, die Einlage ist eingelegt, die Jogginghose hochgezogen. „Könnten Sie sich kurz auf die Toilette setzen?“, fragt Isabell. „Dann hole ich schnell den Rollstuhl und Sie kommen noch rechtzeitig in den Speiseraum.“
    Na wenn das keine lohnenden Aussichten sind! Ich nicke und sie hilft mir. Auf dem Thron hockend sehe ich zu, wie sie den Toilettenstuhl nach draußen bringt und mit meinem Mercedes zurückkehrt. Das Badezimmer ist eng, aber Frauen können einparken, auch wenn Männer oft das Gegenteil behaupten. Noch einmal muss ich aufstehen und mich ein bisschen drehen. Wie ein nasser Sack plumpse ich in den Rollstuhl, erschöpft und mit zitterndem Arm und Bein, aber glücklich. Ich habe es geschafft. Heute Morgen bin ich über mich hinausgewachsen.
    Jawohl, du jammernde und schwarzseherische Hannah, das lass dir mal gesagt sein: Hannche ist wieder da! Die alte Hannche. Die alles erreichen kann, wenn sie nur will.