DEAD END
von Der Wanderer
Heute
Ein trockener Ast brach
knackend unter Peters Wanderstiefel, als er sich schnaufend mit der
Hand den letzten Meter auf die Hügelkuppe hinaufzog.
Für einen Augenblick
stand er still, erschöpft und atemlos von dem steilen Aufstieg.
Gleichzeitig verspürte er ein Glücksgefühl beim Anblick des
verfallenen Gebäudes in der Talsenke unter ihm.
Gestern
Der alte Bahnhof mußte
seit Jahrzehnten verlassen sein. Peter hatte ihn eher zufällig
entdeckt, als er die verlassene Fabrik untersucht hatte, die etwas
abseits der Landstrasse darauf zu warten schien, daß Zeit und Natur
sie einstürzen liesse.
Ein sogenannter „Lost
Place“, von denen Peter schon viele besucht hatte, obwohl er es
nicht mochte, wenn man sie als „verlorene Orte“ bezeichnete.
Verlassen, das mochte
durchaus sein, aber nicht verloren. Früher, so hatte er in Erfahrung
bringen können, war die Fabrik ein Schlachthof gewesen, an welchen die
Besitzer der umliegenden Farmen ihr Vieh geliefert hatten gegen
damals noch gutes Geld.
Fast drei Jahrzehnte
hatten Schlachthof und Viehzüchter voneinander profitiert in diesem
weiten Land fernab der grossen Städte. Es hatte eine Bahnstrecke
gegeben, zuerst nur für den Fleischtransport. Und irgendwann auch
für den Bahnhof für Reisende, auch wenn es nie viele waren, die von
hier weg dorthin fuhren. Oder die anders herum herkamen. Meistens nur
neue Arbeiter für die Fabrik, angeheuert für die Saison. Ganz
wenige nur, die hier aufgewachsen waren und fortgingen, um ihr Glück
in den Städten zu versuchen, weil sie nicht wie ihre Väter tagaus,
tagein hinter dem Pflug auf die breiten Hintern der Zugochsen blicken
wollten, den Geruch des Kuhdungs und den feinen Staub des Ackers, der zum Niesen reizte.
Und irgendwann hatte es
dann aufgehört. Immer mehr Menschen brauchten immer mehr Fleisch.
Und die Farmer der Umgegend konnten nicht genug davon liefern.
Also starb die Fabrik.
Und mit ihr die Bahnstrecke aus dem Nirgendwo in die Städte. Und
auch der Bahnhof verfiel immer mehr.
Nachdem schließlich die
Gleise des Fahrdammes abgebaut wurden, um ihr Metall anderweitig zu
verwenden sorgte die Natur in kurzer Zeit dafür, daß der Bahnhof
vergessen wurde.
Bis Peter ihn wieder
entdeckt hatte, der Spur des wild überwucherten Dammes folgend, der
sich auf der Rückseite der verlassenen Fabrik im Wald verlor.
Er hatte fast zwei
Stunden gebraucht, sich durch das wild wuchernde Dickicht zu kämpfen,
ehe er den Bahnhof zum ersten Mal zu sehen bekam:
Ein etwa zwanzig Meter
langes, schlankes Gebäude mit einem Spitzdach aus schwarzen Ziegeln,
von denen etliche sich durch Zeit und Wind aus ihrem Platz gelöst
hatten und nun als zerborstene Trümmer auf dem schmalen Bahnsteig
lagen. Die meisten Fenster waren zerborsten, stumpf im Licht der
Abendsonne und ein Flügel der Eingangstüre, hing jämmerlich schief
im Rahmen.
Efeu hatte sich über die
Jahre am Gebäude emporgerankt und liess erahnen, was kommen würde,
wenn die Risse im Mauerwerk dem Druck der Wurzeln einmal nachgeben
würden.
„Whow!“
Mehr konnte Peter bei
diesem Anblick nicht sagen. Denn der alte Bahnhof war einer der
wenigen verlassenen Plätze, an dem vor ihm noch niemand gewesen war,
da war er sich sicher. Und er wurde in seiner Annahme auch nach der
Rückkehr in sein Motel bestätigt, in dem er sein Laptop gelassen
hatte. Denn wenn er auch vor Aufregung fieberte sank die Herbstsonne
zu schnell, um seine Entdeckung näher in Augenschein zu nehmen.
Die Fabrik, so fand er im
Motel heraus, war unter den Menschen, die seine Leidenschaft für
vergessene Orte teilten bekannt. Verschiedene Berichte darüber
konnte er abrufen. Aber nirgendwo wurde der verlassene Bahnhof
erwähnt.
Er würde der erste sein.
Heute
Unter
Peters Stiefeln knirschte alter Mörtel. Die Eingangshalle des
Bahnhofes war in blasses Licht gehüllt, das durch die stumpfen
Scheiben hereinfiel. Er sah sich um.
Rechts
von ihm zwei mit Rolläden verschlossene Theken, hinter denen früher
einmal Schalterbeamte mit ihren steifen Mützen gesessen hatten,
Fahrkarten verkaufend oder gelangweilt dasitzend für den Fall, dass
einer der seltenen Fahrgäste eine Frage an sie richten würde.
Geradeaus
ein Durchgang zum Gleis, das es nicht mehr gab.
Und
zur linken eine breite Tür, halb geöffnet.
„Scheisse,
was ist denn das?“ entfuhr es ihm, als er den Raum betrat, in dem
in langen Regalreihen Gepäckstücke lagen.
Ungläubig
betrachtete er die Taschen und Koffer, die Rolltrolleys und
Rucksäcke, die hier lagen.
Teils
staubbedeckt von vielen Jahren, teils blank, als wären sie erst vor
kurzem hierher gebracht worden.
An
manchen hingen Adressschilder, wie sie früher üblich waren, damit
der Reisende sein Eigentum wiedererkannte. Auf anderen fanden sich
Aufkleber zum selben Zweck, aber Peter konnte sie nicht entziffern.
Aus
irgend einem Grunde verhinderte es das fahle Licht, durch die
staubstumpfen Fenster hereinsickernd, daß er die Namen auf den
Schildern lesen konnte.
„Vielleicht
sollte ich hier besser abhauen, bevor...“ dachte Peter, als sich in
der Wand hinter den Regalen mit einem lauten 'KLACK' eine Türe
öffnete.
Er
trat näher, vorsichtig. Spähte hindurch.
EineTreppe
nach unten. Peter konnte nicht erkennen, wo sie endete. Gleichmässige
Stufen, die in ein Dämmerlicht führten. In einen Keller
wahrscheinlich. Aber wozu sollte ein alter Bahnhof einen Keller
benötigen?
Peter
überprüfte den Inhalt seines Rucksacks.
Wasser
in zwei Flaschen. Eine dünne Schnur, die man am Anfag irgendwo
befestigte, um später den Weg zurück finden zu können. Eine
Taschenlampe, voll aufgeladen. Und eine Bibel. Mitgenommen, weil sein
Grossvater mal gesagt hatte:
'Die
hilft vielleicht nicht jedem, aber schaden tut sie auch keinem.'
Peter
zog die Taschenlampe heraus und leuchtete hinunter. Soweit das Licht
reichte, nichts als staubbedeckte, steinerne Stufen in ein
unbekanntes Hinunter.
„Okay,“ sagte er in
die Stille hinein. „Dann mal los!“
Er trat durch die Türe
auf den Treppenabsatz.
KLACK.
Die Türe hinter ihm hatte si geschlossen.
Das Licht seiner
Taschenlampe offenbarte Peter zwei Dinge.
Zum einen konnte er
hinter sich keine Tür mehr ausmachen. Direkt hinter ihm erhob sich
eine glatte Wand. Zum anderen konnte er, sich der Treppe hinab
zuwendend erkennen, daß die Stufen völlig ausgetreten waren. So,
als hätten sich tausende Füsse in vergangener Zeit damit abgemüht,
die einzelnen Stufen zu betreten.
Und darüber hinaus: Die
Stufen hinunter wurden von irgendwoher schwach erhellt, so dass er er
nicht stolpern würde, beträte er sie.
Und so begann er, die
Stufen hinunter zu steigen. Wie ihm schien, Stunde um Stunde. Rechts
und Links hochaufragende Wände und wenn Peter den Blick nach oben
richtete, war da nur unbestimmte Schwärze.
Irgendwann setzte er
sich, müde, zog aus seinem Rucksack eine Flache Wasser hervor und trank
davon, obwohl er nicht wirklich ein Bedürfnis dazu hatte. Es
erschien ihm nur irgendwie nötig und richtig.
Er sah auf seine Armbanduhr. Viertel nach drei.
Unmöglich. Etwa gegen Viertel vor Drei hatte er den Bahnhof betreten. Jetzt war er in dem fahlen Licht wenigstens eine Stunde unterwegs gewesen, diese alte, ausgetretene Treppe hinab.
Er blickte auf das Zifferblatt. Die Uhr stand. Er schüttelte seinen Arm, betrachtete die Uhr erneut. Sie stand.
Müde trank er einen Schluck aus der Wasserflasche, verstaute sie wieder im Rucksack und erhob sich.
Er ließ den Schein der Taschenlampe hin und her wandern, Zuerst nach unten. Dann zurück, hinter sich. Und wieder zurück.
Fahles Licht, sonst nichts. Und die Treppe. Die Stufen, die er bisher heruntergestiegen war. Und die, welche noch vor ihm lagen, auch wenn das keinen Unterschied mehr machte. Die Wände, rechts und links. Und die Dunklheit über allem.
"Was soll's, " sagte er und erhob sich. Ging die endlose Treppe hinab, Schritt für Schritt, obwohl die Muskeln in seinen Beinen immer schwerer und steifer wurden.
"Manche Wege muß man gehen, auch wenn man sie nicht mag".
Hatte sein Großvater das nicht einmal gesagt?
Peter war sich nicht sicher, aber es war eigentlich auch nicht ganz so wichtig, hier und jetzt.
Irgendwann auf
dem scheinbar endlosen Weg in die Tiefe, in die die Treppe ihn
führte, vernahm Peter ein Geräusch:
„Tip – Clock, Tip –
Clock, Tip -Clock“.
Peter richtete den Schein
der Taschenlampe nach unten. Ein Schatten wurde sichtbar, formlos
zuerst. Die Stufen hinaufsteigend, die er hinabsteigen wollte, um
den Ausgang zu finden.
„Tip – Clock“
Dann die Kontur eines
alten Mannes. Ein scharf geschnittenes Gesicht, von unzähligen
Falten zerrissen, dessen Körper sich schwer auf den Stock aus durch
das Alter schwarzgewordener Eiche stützte, als er die Stufen der
endlosen Treppe unter Peter endlich erreichte.
Der alte Mann verharrte unter ihm,
abwartend.
„Ich möchte hier weg,“
sagte Peter müde. „Wie
lange muss ich noch hinabsteigen, um den Ausgang zu erreichen?“
„Welchen Ausgang suchst Du denn?,“ entgegnete der alte Mann und lächelte wissend.
"Unten gibt es keinen. Ich weiß es, denn ich komme von dort, sagte er.
"Aber oben gibt es auch keinen", entgegnete Peter. Und ein eisiger Hauch fuhr ihm über den Nacken.
"Deinen Rucksack," sagte der alte Mann und streckte seine knöcherne Hand aus. "Wenn Du ihn mir überlässt, wird sich vielleicht der nächste an Dich erinnern."
Einen alten Bahnhof gibt
es, der ein Geheimnis bewahrt...