Dagons Erwachen
Dagon fuhr hoch.
Eine bleierne Schwere lag auf ihm. Benommen blinzelte er gegen den trüben Schleier an, der ihm die Sicht nahm.
Nur langsam klarte das Bild vor seinen Augen auf und er fand zu sich.
Kalte Böen peitschten über ihn fort (besser: hinweg?). Von Eis durchzogener Hagel prasselte auf ihn nieder (Hagel ist ja eigentlich Eis) und hatte ihn bereits unter einer weißen Schicht vergraben.
Was war geschehen? Wo war er?
Augenblicklich blitzten die Bilder vor seinen Augen auf, die das Grauen wiederkehren ließen:
Sein Sturz in die Verdammnis...Flammende Fangarme, die ihn festhielten, ihn dem Feuer zum Fraß vorwarfen, während sich die Zeit auflöste und ihm die Unendlichkeit den Verstand raubte...
Ihm schwindelte und die weiße Landschaft verschwamm mit dem nachtschwarzen Himmel zu einem Kaleidoskop (Ich bin mir nicht sicher ob sich Kaleidoskop nicht nur auf das gleichnamige Gerät bezieht) aus Schatten und Licht.
Schwarz und Weiß.
Weiß und Schwarz.
Hastig sog er die eiskalte Luft ein. Mit jedem Atemzug schlitzte sie ihm die Kehle auf (Das ist mir too much), als bestünde sie aus tausend messerscharfen Klingen.
Darum bemüht, in dem pulvrigen Schnee Halt zu finden, stieß er sich vom Boden ab, doch die Leichtigkeit seiner Bewegungen war der Trägheit eines beengenden Körpers gewichen. Stechender Schmerz durchfuhr ihn, als ramme ihm jemand ein glühendes Eisen in den Rücken.
Was im Namen Luzifers...?
Ein Blick genügte, die unausgesprochene Frage zu beantworten: Seine Schwingen.
Von verbrannten Stellen gezeichnet, hingen sie wie ein löchriger Lederumhang an ihm herab. Der Versuch sie zu bewegen, ließ ihn gequält aufstöhnen. Mit zusammengepressten Zähnen betrachtete er das Blut, das aus den Wunden unterhalb seiner Schulterblätter sickerte. Träge tropfte es neben ihm zu Boden und färbte den Schnee dunkel.
Die sich ausbreitende Schwärze auf dem hellen Grund verästelte sich, und erinnerte an das Geflecht aus Adern, das unter seiner blassen Haut hervorschimmerte. (Damit meinst du das Blut auf dem Schnee. Oder? "Heller Grund" hat mich stutzen lassen. Gibt es noch ein anderes Synonym für Schnee?)
Benommen verfolgte er die dunklen Linien auf seinem Unterarm. Sie schienen sich zu bewegen, dünnen Schlangen gleich, die sich an ihm hinaufwanden. (Bin mir nicht sicher was sich da bewegt. Die "dunklen Linien" sind Blut? Manchmal muß man eine Wortwiederholung einfach zulassen)
Sein Blick wanderte zu dem zerrissenen Hemd, das lose um seinen Oberkörper flatterte und blieb schließlich an der Narbe auf seiner Brust hängen: Ein schimmerndes Mahnmal, das aus der Dunkelheit hervorstach.
Bedächtig fuhr er mit dem Finger darüber.
Umgehend spürte er das warme Glühen in seinem Inneren, das wie ein monotones Pochen in ihm widerhallte. Schwerfällig und holprig, einem zweiten Herzschlag gleich, der nicht sein eigener war.
Fest presste er die Lider zusammen, atmete gegen die Enge in seiner Kehle an, bevor die Erinnerung ihn mit sich riss:
Als er die Augen aufschlägt, kniet er zwischen den Trümmern der Kapelle. Der Engel liegt mit verrenkten Flügeln nur wenige Schritte von ihm entfernt. Obwohl er sie nicht sehen kann, fühlt er ihre Anwesenheit. Langsam dreht er den Kopf zur Seite. Schwankend bewegt sie sich auf ihn zu, beide Hände um den Schaft des Schwertes geschlungen. Sie kann es kaum halten... es ist zu schwer für sie.
Sein Blick heftet sich auf die Waffe. Er erkennt sie sofort.
Der breite Griff mit der leicht geschwungenen Parierstange, die Schneide, die je nach Lichteinfall in einem bronzenen Ton leuchtet, und dem rechtmäßigen Besitzer den verschnörkelten Schriftzug offenbart: Jerameel.
SEIN Schwert.
Das Schwert des Auserwählten!
Der Allmächtige selbst hatte es ihm überreicht in jener Nacht vor über dreitausend Jahren. Im himmlischen Feuer geschmiedet, so hieß es, sollte es nur für einen Zweck bestimmt sein:
Seinem Herrn zu dienen, um das Böse endgültig zu besiegen.
Die Ironie hinter dieser Erkenntnis lässt ihm ein Lächeln auf die Lippen treten, als sich das Mädchen Schritt für Schritt auf ihn zubewegt...Ihre Hände zittern...
Sie zögert. Er sieht, wie sie sich windet...mit sich kämpft ...
TU ES...!, hallt seine Stimme in ihm nach, mit der er sie auffordert, zu beenden, was beendet werden muss...
Der Schmerz reißt ihn entzwei, als sich Jerameel in seine Brust bohrt, sich das Licht Gottes durch seine Adern frisst...ihn verzehrt.
Das Letzte, was er sieht, sind braune Augen. Sie füllen sich mit Tränen...lassen ihn nicht los...bis er in Dunkelheit ertrinkt.
Sehr geil!
Ein Geräusch ließ ihn hochschrecken. Das dämmrige Licht war undurchdringlicher Schwärze gewichen.
Kurz rang er darum, die Orientierung wiederzuerlangen. Wie viel Zeit mochte vergangen sein?
Er lauschte seinem Herzschlag. Nur ganz leicht noch vernahm er das warme Glühen in seiner Brust. Stattdessen schien sich die Kälte mehr und mehr in ihm auszubreiten.
Mit jedem Augenblick der verging, spürte er, wie er schwächer wurde. Als seien die verbliebenen Reste seiner kläglichen Existenz ins tosende Meer geschüttet worden, wo sie von den Wellen hin- und hergetragen wurden, um zu verwässern... sich nach und nach aufzulösen.
Bei den Schwingen des Zeramons.
Wo auch immer er hier gelandet war, er musste zusehen, dass er von hier fortkam, und zwar schnell.
Er wollte sich vom Boden abstoßen, die Flügel entfalten, um sich in die Lüfte zu erheben, doch der Schmerz, der durch seine Glieder jagte, fesselte ihn an Ort und Stelle.
Darum bemüht, die Qualen auszublenden, die ihm sein geschundener Körper bescherte, kämpfte er sich Schritt für Schritt vorwärts. Er stolperte durch den kniehohen Schnee, fiel und rappelte sich mühsam wieder auf.
Ein plötzliches Grollen in der Ferne ließ ihn innehalten. Abrupt blieb er stehen, legte den Kopf schief und horchte.
Der Boden unter seinen Füßen vibrierte.
Schnee prasselte von den Bäumen auf ihn nieder.
Dann war es wieder still. Nur das Tosen des Windes war zu hören.
Langsam ging er weiter.
Mit den Händen schirmte er seine Augen ab, versuchte, in dem heillosen Chaos etwas erkennen zu können, doch dieser Ort schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Der Hagel ging in Schnee über. Wie eine undurchdringliche Wand wehten ihm die dicken Flocken nun entgegen und je weiter er voranschritt, desto tiefer versank er in den weißen Massen.
Nach und nach klarte die Sicht auf, der Wind wurde weniger und er konnte ein Ufer erkennen, das linksseitig von einer wabernden Wand umgeben war. Die Mauer aus purer Energie verlor sich in den Weiten des Waldes. Den Kopf in den Nacken gelegt folgte Dagons Blick dem mächtigen Schild, der sich bis weit über die Baumwipfel erstreckte, wo er sich in Form einer riesigen Kuppel über den Nachthimmel wölbte.
Überall dort, wo Blätter oder umherfliegende Äste mit dem magischen Wall in Berührung kamen, blitzte es auf und ein unheilvolles Knistern durchbrach die Stille.
Das kurze Zischen, das von einem verbrannten Geruch begleitet wurde, ließ erahnen, was ihn erwartete, sollte er es wagen, die Grenze überschreiten zu wollen.
Nun sah er auch die dunklen Schatten, die sich auf der anderen Seite abzeichneten.
Wächter...
Gezwungen, ihr dämonisches Dasein an dem Übergang zur ewigen Verdammnis zu fristen, geiferten sie danach, sich jeden noch so kleinen Funken Lebensenergie einzuverleiben.
Die Barriere ohne brauchbaren Plan, noch dazu in seiner jetzigen Verfassung, überwinden zu wollen, hieße, von der Übermacht jener Kreaturen in Stücke gerissen zu werden.
Wäre er im Vollbesitz seiner Fähigkeiten, er hätte es umgehend versucht. Aber so, wie die Dinge jetzt standen, konnte er von Glück reden, wenn er dieser Atmosphäre (Hier habe ich gestutzt. Meinst du wirklich "Atmosphäre"?) noch eine Weile standhielt.
Es muss einen anderen Weg geben...
Er sah sich um.
Bläulich schimmernd hoben sich die Reflektionen der Barriere von der spiegelglatten Oberfläche des Sees ab, welcher wie ein ausgebreitetes samtschwarzes Tuch vor ihm lag.
Im Schein des Lichtes glitzerte das Weiß des Schnees als bestünde es aus tausenden von Diamanten, doch die friedvolle Idylle vermochte ihn nicht zu täuschen. Lediglich ein Narr würde annehmen, dass auch nur irgendetwas an diesem Ort echt wäre.
Vorsichtig näherte er sich dem See. Das von Raureif überzogene Laub, raschelte unter seinen Füßen. Feine Eiskristalle bedeckten das Ufer, doch das Wasser schien sich den eisigen Temperaturen nicht beugen zu wollen.
Du kennst die Gesetze nicht, die hier herrschen...Bleib wachsam!
Beim Wetter bin ich mir nicht sicher. Es scheint mir manchmal zu stürmen und dann wirkt es wieder windstill mit glitzerndem Schnee.
Kräuselnde Wellen stießen sanft gegen seine Fußspitzen, als er sich herunterbeugte.
Unscharf zeichneten sich die Umrisse seines Spiegelbildes vor ihm ab.
Das nachtfarbene Haar, von Schneeflocken durchzogen, kräuselte sich in seinem Nacken und aus dem blassen Gesicht sahen ihm ein paar Augen entgegen, die wie flüssiges Silber aus der Dunkelheit hervorblitzten. Hell und strahlend...
Wie die Klinge Jerameels.
Übelkeit stieg in ihm hoch und er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. In einem Anflug angewiderten Entsetzens griff er nach einem Stein und warf ihn in das Wasser. Tropfen spritzten in alle Richtungen und sein Spiegelbild löste sich auf. Noch bevor es sich wieder zusammensetzen konnte, stieß er sich vom Boden ab und atmete in heftigen Zügen die eiskalte Luft ein, die sich unerbittlich in seine Lungen fraß.
Den Kopf mit den Händen fest umklammert, stolperte er am Ufer entlang. Als könne es ihm gelingen, damit den rasenden Gedanken Einhalt zu gebieten, die ihn wie feige Angreifer aus dem Nichts attackierten.
Du bist besonders, Dagon! ...
Du verrätst nicht nur die Menschen, sondern dein eigenes Reich ebenso...
Die Worte, die der ´Allmächtige` an ihn gerichtet hatte, hallten in ihm wider. Wie Säure fraß sich die Erinnerung an seine letzte Aussprache mit dem sogenannten Schöpfer über den Himmel und die Erde durch seine Eingeweide und verschmolzen mit dem Schmerz der pochenden Narbe auf seiner Brust.
„Du hast keine Macht mehr über mich...“, presste er mühsam hervor, darum ringend, sich an das Letzte zu klammern, was ihm geblieben war. Sein Stolz.
Unbarmherzig blies ihm der Wind entgegen, während ihm die eisige Kälte ins Gesicht schnitt, als wolle ihn der Zorn Gottes persönlich in seine Schranken weisen.
Das unheilvolle Grollen, welches sich nun aus der Ferne näherte, ließ seine Annahme zu einer schaurigen Realität werden.
Die Erde erzitterte, als würde sich etwas Großes durch den Wald bewegen und dabei die Bäume zur Seite pflügen.
Holz splitterte und Äste brachen. Irgendetwas schob das Totholz beiseite.
Hektisch blickte er sich um. Versuchte in der Schwärze des in Dunkelheit liegenden Forstes etwas zu erkennen. Seine beeinträchtigten Sinne arbeiteten nur langsam, weshalb es einen Moment dauerte, bis er die Gefahr lokalisieren konnte.
Doch dann sah er es.
Ein seltsam flimmernder Schatten der direkt auf ihn zukam und die Landschaft verschluckte.
Die hochgewachsenen Tannen kippten beiseite, zerfielen zu Staub, der vom Wind davongetragen wurde. Anstelle von Eiskristallen rieselten jetzt dicke Ascheflocken herab. Wie angekokeltes Papier (Stilbruch: verbranntes Pergament?) flogen sie durch die Luft und fielen träge auf seine Schultern.
Die weißen Massen schmolzen dahin, legten den darunterliegenden Furchen durchzogenen Boden (holprig) frei.
Er strauchelte und landete auf dem Weg. Kochende Hitze stieg aus dem Erdreich empor.
Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen, betrachtete seine Handfläche, die von Brandblasen übersäht waren.
Schwerfällig stützte er sich gegen einen nahestehenden Baumstumpf, bevor er sich davon abstieß und sich erneut in Bewegung setzte.
Was auch immer es war, das sich da aus dem Wald näherte. Er würde nicht abwarten, um es aus der Nähe zu betrachten.
Über seine eigenen Füße stolpernd schleppte er sich den Pfad zurück, den er entlanggekommen war. Der See blubberte und warf schäumende Blasen. Schwüler Dunst hing in der Luft. Risse gruben sich immer tiefer in den steinigen Untergrund, die sich wie kleine Rinnsale mit schwelender Lava füllten.
Das Grollen hinter ihm kam näher.
Beinahe schon glaubte er, den heißen Atem der Verdammnis in seinem Nacken spüren zu können.
Endlich näherte er sich der Stelle, an der er vorhin zu sich gekommen war.
Er erkannte die Bäume, die mit ihren eigenwillig verformten Ästen unter einer dicken Eisschicht vergraben gewesen waren. Nun, da der Schnee weggeschmolzen war, ragten deren Kronen wie ineinandergeschlungene Arme gen Himmel. Der Wind ließ sie hin- und herschaukeln, wodurch es aussah, als seien sie zum Leben erwacht.
Höllenglut und Dämonenasche..
Einen zweiten Blick riskierend, stellte sich heraus, dass dies mehr als nur eine optische Täuschung war.
Mit schaurigem Entsetzen nahm er zur Kenntnis, wie die Rinde aufplatzte und das morsche Holz nachgab. Teile des Baums wurden regelrecht weggesprengt und darunter kamen klauenbesetzte Schwingen zum Vorschein. Kurz darauf zeichnete sich ein spitzer Schnabel ab, der zu dem Schädel eines mit Schuppen gepanzerten Körpers gehörte.
Eine Serpyie ... Nein! ... Viele davon...
Wild und ungestüm tobte das Krächzen der geflügelten Kreaturen über die Anhöhe. Immer mehr davon gruben sich aus den hölzernen Riesen und erhoben sich, nach Beute geifernd, in den Nachthimmel, wo sie sich brennenden Fackeln gleich entzündeten.
Ihre flammenden Schwingen zuckten wie ein Funkenregen über das sternlose Firmament und zogen einen Schweif orange-roten Lichts hinter sich her.
Es blieb ihm keine Zeit den Flug der Serpyien weiter zu verfolgen.
Der Boden unter ihm brach auf. Glühende Bäche schossen darunter hervor, verbanden sich in Sekundenschnelle zu einem brodelnden Feuermeer.
Er rannte. So gut in seine wackligen Beine tragen konnten. Sprang über die Abgründe, welche den steinigen Untergrund aufspalteten. Rutschte ab. Fing sich wieder.
Mühsam rettete er sich auf ein Felsplateau, das ein Stück hervorragte, bevor es von dem kochend heißen Strom umspült wurde. Immer mehr Gesteinsbrocken lösten sich und die Insel schrumpfte zusehends unter dem steigenden Pegel der vernichtenden Fluten.
Das Geschrei der Serpyien hallte in seinen Ohren. Von überall her drang es wie ein tosendes Echo auf ihn nieder.
Sie hatten ihn entdeckt.
In wilder Verzweiflung sah er sich um. Die sengende Hitze brannte in seinen Lungen. Von Schweiß durchtränkt, klebte das Hemd auf seiner Haut, als wolle es damit verschmelzen. Schmerz fraß sich durch seine Glieder.
Der von lodernder Glut durchzogene Fluss rauschte an ihm vorbei und stürzte ein Stück weiter in den Abgrund, welchen das Beben in das Erdreich gerissen hatte.
Ein halb entwurzelter Baum stand an der Klippe. Die Wurzeln tief in einen etwas höhergelegenen Felsvorsprung gegraben, war er bislang noch nicht der Lava zum Opfer gefallen. Mit seinen morschen Ästen ragte er über den Rand der Schlucht, an der Dagon ein helles Leuchten ausmachen konnte.
Es schwebte auf der Stelle und durchbrach mit seinen Strahlen die Dunkelheit, als wolle es ihm den Weg zeigen.
Kurz zögerte er. Dann breitete er, einer inneren Stimme folgend, seine Schwingen aus und stieß sich mit letzter Kraft ab. Nur zwei Flügelschläge, zu mehr war er nicht imstande. Doch der Schwung reichte aus, ihn über die brodelnden Massen zu dem Baum hinüberzutragen. Der Ast, an den er sich klammerte ächzte unter seinem Gewicht, während die Lava an ihm vorbei in die Tiefe stürzte.
Unter ihm rumorte und blubberte es. Flammen stiegen aus dem Graben empor, formten sich in dem dunstigen Qualm zu dämonischen Fratzen, die sich auf dem Weg nach oben auflösten.
Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass das Felsplateau, auf dem er zuvor noch gestanden hatte überschwemmt worden war.
Es gab keinen Weg zurück.
Mit einem unerwarteten Ruck gab der Baum nach und rutschte ein Stück über den Abhang. Es fehlte nicht mehr viel und die Wurzel würde endgültig nachgeben. Das bedrohliche Ächzen des Astwerks ließ ihn einen Moment den Atem anhalten. Dann sah er die lodernde Gestalt des herannahenden Flugdämons, der im Sturzflug auf den Baum zusteuerte. Ein zweiter näherte sich von der Seite. Schon bald würden sie ihn erreicht haben.
Plötzlich wurde er sich wieder des Lichtes gewahr. In einiger Entfernung schwebte es die gegenüberliegende Felswand entlang, die von Concarven überwuchert war. Wie schlangenartiges Getier wanden sich die schwarzen Schlingpflanzen mit ihrem giftigen Blattwerk an dem rauen Stein empor.
Als sich der pulsierende Schein des Lichtes näherte, wich das rankende Gewächs zurück und gab den Blick auf eine Spalte frei, die unter dem wuchernden dunklen Teppich verborgen gewesen war.
Das war die Chance. Seine einzige womöglich.
Begleitet von einem hohen Schrei landete die erste Serpyie in der Krone des Baums und entzündete das trockene Holz, aus welchem augenblicklich orange-gelbe Flammen emporzuckten. Kurz darauf gab die Wurzel endgültig nach und der Stamm kippte nach vorne über
den Abhang.
Er fiel. Stürzte ein Stück in die Tiefe, bevor er seine Schwingen entfaltete und sich im Gleitflug bis zu der kleinen Höhle tragen ließ.
Gegen den kantigen Stein schlitternd, prallte er von dem Eingang ab und konnte sich eben noch an den Ranken festhalten, die ihm augenblicklich die Haut verätzten. Ein Knurren entstieg seiner Kehle, als er sich daran hochzog, um das letzte Stück bis zu dem Felseingang zu überbrücken. Endlich hatte er es geschafft. Stöhnend ließ er sich auf den kühlen Boden sinken. Von außen hörte er das heillose Gekrächze der Serpyien. Ihre Versuche, ihm zu folgen scheiterten an den Concarven, die ihr Territorium zurückerobert und ihre Ranken binnen weniger Augenblicke wieder zu einer undurchdringlichen Wand verwoben hatten.
Kraftlos wandte er seinen Blick ab und schloss erschöpft die Augen, bevor ihn eine Welle der Wut und des Zorns überkam.
Es hieß, wenn Engel fallen, dann fallen sie unter Qualen. Denn sie haben das Antlitz Gottes gesehen und werden es nie wieder zu Gesicht bekommen. Doch wenn gefallene Engel erneut fielen...was war dann? Verzehnfachte sich ihre Qual? Oder verhundertfachte sie sich gar?
Sein markerschütternder Schrei hallte durch die Höhle, verzerrte sich zu einem grausamen Echo, das von allen Seiten auf ihn niederging.
Zitternd richtete er sich auf, stützte sich an der Wand ab, um auf die Knie zu kommen.
„War das schon alles, VATER?“, schleuderte er seine Worte voller Abscheu heraus. „Sag mir! ... War das schon alles?“
Ungewollt kippte er zu Seite. Die Wände rückten näher. Alles drehte sich. Stille legte sich wie ein bleierner Vorhang über ihn, bevor er zusammenbrach und er sich seiner Erschöpfung hingab.