Kräuter und die Mondelfen
19.Kapitel
Sellerie Selma und die Rote Witwe
"Reich mir doch mal den Fliegenpilzsud rüber", forderte ich Soße auf.
"Brauchst du auch noch etwas Met?", wollte Lehrer wissen. "Und noch etwas von dem Krötenschleim?"
"Nicht zu fassen, dass es Verrückte gibt, die an den Viechern lecken, um sich an ihrem Sekret zu berauschen", bemerkte Schlichter. "Es gab schon Tote. Dass man dieses Zeug für die Bereitung des Berserkertrankes braucht, hätte ich nie gedacht."
"Wenn man in Betracht zieht, dass bis auf Sigurd Yggdrasil keiner den Trank lange überlebt hat, ist das keine Überraschung", sagte Lehrer. "Die meisten Zutaten sind eben genauso gefährlich wie das Endprodukt. Bis auf den Met. Und selbst der hat es in sich!"
Ich nahm das Schälchen mit dem Fliegenpilzsud von Soße entgegen und träufelte etwas davon in das Gebräu, an dem wir seit mehreren Stunden in meinem geheimen Labor arbeiteten.
" Nein danke", beantwortete ich Lehrers Frage. "Noch mehr Met und Krötenschleim sind nicht nötig. Aber den Kirschsirup könntest du mir holen. Er steht auf dem Regal hinter dir. Ich denke, ein Spritzer reicht. Ich bin wirklich gespannt, wie dieser Stoff der Dame bekommt. Ein normaler Mensch würde nicht den kleinsten Schluck davon überleben."
"Falls sie dieses Erzeugnis deines Giftmischertalents verträgt, wird sie noch stärker sein, als sie es ohnehin schon ist," warnte Schlichter. "Sind wir so abhängig von ihr, dass wir dieses Risiko eingehen sollten? Wenn die Miliz die Marschkolonne der Schwarzen Witwe angreift und anschließend die Alte Mühle stürmt, haben wir doch auch ohne sie eine echte Chance, die Untoten zu erledigen, bevor sie an unsere Leute herankommen. Wir können nachts sehen und die Wandler an ihrem Geruch erkennen. Es sind nur zwanzig. Mischen wir uns unter die Soldaten, greifen uns die Wiedererweckten, was dank der Berserkerkraft und des geweihten Salzes nicht schwer werden dürfte, und überlassen die feindlichen Kämpfer der regulären Truppe. Mit etwas Glück wird niemand merken, dass wir überhaupt dort waren."
"Und die Alte Mühle?", fragte Soße. "Wir wissen nicht, was uns dort erwartet."
"Deshalb sollten wir heute Nacht, nach der Hauseinweihungsfeier, einen Erkundungseinsatz durchführen", schlug Schlichter vor. "Um genau das herauszufinden."
"Eines müssen wir dabei bedenken", fügte ich hinzu. "Die Gegenseite kennt mittlerweile unsere Möglichkeiten. Wir können nicht erwarten, stets mit den gleichen Tricks durchzukommen. Außerdem wird die Schwarze Witwe vor Ort sein. Unser leichter Sieg im Sommerhaus sollte uns nicht dazu verführen, sie zu unterschätzen."
Kaum hatte ich meinen kleinen Vortrag beendet, hörten wir Schritte über uns.
"Kann das die Frau von Meister Drud sein?", flüsterte Soße. "Um mal wieder sauber zu machen?"
Wer immer da oben umherging, blieb plötzlich stehen. Fast gleichzeitig öffnete sich die Klappe, die den Einstieg in unseren Raum verbarg. Wir zückten unsere Messer und kamen uns sogleich recht dumm vor, denn es war nicht die Schwarze Witwe, die uns einen Besuch abstattete. Eine andere alte Frau quälte sich ächzend und stöhnend die Treppe hinab. Wie immer trug sie ein graues Kleid, passend zu ihrem Haar.
"Sellerie Selma!", platzte ich heraus. "Schickt Euch die Rote Witwe?"
Endlich hatte die Frau ihren beschwerlichen Abstieg beendet und wandte sich mir zu. " So nennt ihr sie also. Aber sie hat einen Namen. Er lautet Frau Meg Tyr, falls euch das interessiert. Wollt ihr einer Dame nicht einen Stuhl anbieten?"
"Tyr?", fragte Lehrer, während er das erbetene Sitzmöbel herbeischaffte. "Ist sie etwa mit der Richterfamilie verwandt?"
"Nur angeheiratet", beeilte sich Schlichter zu versichern. "Außerdem wurde ihre Ehe nach ihrem angeblichen Tod annulliert. Das war damals möglich, so dass sie wieder ihren alten Mädchennamen zu tragen hat. Meg Bess."
"Das ist eine Lehrerfamilie", sagte Lehrer. "Damit ist sie mit mir verwandt."
"In der Stadt ist jeder irgendwie mit jedem verwandt", stellte ich fest. "Doch das sollte jetzt nicht das Thema sein. Frau Selma, welche Botschaft hat Euch Eure, äh, Freundin für uns mitgegeben?"
"Einen Augenblick mal", mischte sich Soße ein. "Eure Augen! Die sind schwarz und nicht grau!"
"Also auf meine Augen hat noch niemand geachtet", bemerkte die Angesprochene verblüfft. Auf mich traf das durchaus zu. Allerdings hatte ich bei ihr nicht so häufig eingekauft wie der Gastwirtssohn.
"Vorige Woche, am dritten Tage, welche Waren habe ich da bei Euch erworben?", fragte er.
"Wie soll ich das denn heute noch wissen?", wehrte sich die Gemüsehändlerin. "Ich habe viele Kunden".
"Ihr habt aber auch ein perfektes Gedächtnis. Genau wie ich. Vielmehr, Ihr solltet es haben, falls Ihr die wärt, als die Ihr Euch ausgebt. Aber das seit Ihr nicht. Ihr seit ....."
An dieser Stelle hätte Trommelwirbel ertönen müssen. Statt dessen rief Schlichter aus: "Die Rote Witwe! Was habt Ihr mit der echten Selma gemacht?"
Die falsche Marktfrau gab ihre gebückte Haltung auf und straffte sich. Alt wirkte sie jetzt nicht mehr. Und da war auch wieder diese kühle, ironische Stimme, als sie anfing zu sprechen.
"Also bitte. Was du mir alles zutraust, Richterjunge. Ich ziehe doch nicht wahllos mordend durch die Landschaft!"
"Da sagt Eure Akte aber etwas anderes", entgegnete Schlichter. "Besonders Euer Tagebuch. Es ist noch alles erhalten."
"Wirklich?", freute sich die Rote Witwe. "Da bin ich aber erleichtert. Bei der Niederschrift habe ich mir große Mühe gegeben. An jeder Formulierung habe ich gefeilt, manchmal tagelang. Ohne falsche Bescheidenheit meine ich, dass mir da ein kleines literarisches Meisterwerk gelungen ist. Ich würde gerne wieder einmal darin lesen."
"Es befindet sich im vielfach gesicherten Archiv des Justizpalastes", versuchte Schlichter ihren Hoffnungen einen Riegel vorzuschieben.
Sie lächelte mitleidig. "Sehr beruhigend. Und zu deiner Information. Frau Selma geht es gut. Im Augenblick gibt es sie sozusagen zwei Mal. Die Augen also, wie? Da werde ich mir etwas einfallen lassen müssen."
"Eure Darbietung war auch etwas übertrieben", ergänzte Soße. "So gebrechlich ist sie nicht."
"Danke für diese konstruktive Kritik", antwortete die Rote Witwe. "Doch nun zum eigentlichen Thema. Ihr habt mich gerufen. Wobei braucht ihr meine Hilfe?"
Das war geschickt formuliert. Sogleich befanden wir uns in der Rolle des Bittstellers, obwohl sie eigentlich etwas von uns wollte, den verstärkten Berserkertrank. Doch davon erwähnte sie nichts. Sie wusste, wie man verhandelte.
Schlichter nahm die Herausforderung an. "Wir wissen", begann er, "dass die Schwarze Witwe und ihr Anhang das Haus des alten Meisters Thing als Stützpunkt nutzen. Von dort aus wollen sie sich nach dem Tag der Jugend in Richtung der Alten Mühle absetzen. Greift die Miliz sie unterwegs an, unterstützen wir sie verdeckt, mit allem, was uns zur Verfügung steht. Da der Überraschungseffekt auf unserer Seite ist, werden wir zweifellos Erfolg haben. Falls Ihr etwas beizutragen habt, was den Vorgang beschleunigen könnte, dürft Ihr Euch gerne anschließen."
"Hm,hm", machte die Rote Witwe und nickte. "Ihr habt also einen Plan entwickelt, wie man mit Wiedererweckten fertig wird, die den Berserkertrank zu sich genommen haben, den Meister Thing bereitet hat?"
"Der Trank ist für die Untoten?", rief Soße überrascht und ruinierte damit Schlichters Taktik des gespielten Desinteresses. "Wir dachten, für die Söldner und die Verbrecher."
"Oh, die Söldner haben sich verabschiedet. Offenbar wurden ihnen ihre Auftraggeber langsam unheimlich. Bleiben noch die gewöhnlichen Gauner und die Grabwandler. Letztere gewinnen natürlich durch die Einnahme des Trankes genauso an Kraft und Schnelligkeit, wie das bei mir der Fall ist, auch wenn ich nicht so gerne mit ihnen in einen Topf geworfen werden möchte. Ihr werdet es also nicht mehr mit den lahmen Kreaturen zu tun haben, die ihr auf dem Friedhof noch einschüchtern konntet. Sie werden die Milizsoldaten in Stücke reißen. Und euch ebenfalls, selbst wenn es euch gelingen sollte, ein paar von ihnen zu erledigen."
Damit hätten wir rechnen müssen. Warum sollte das Mittel bei den anderen mehr oder weniger Lebendigen nicht genauso wirken wie bei unserer undurchschaubaren Verbündeten? Mit vier Leuten gegen eine fünfache Übermacht, die sich ebenfalls das Elixier zunutze machte, zudem aber nahezu unverwundbar war, solange ihre Kämpfer nicht ihre Köpfe einbüßten oder in Flammen aufgingen? Unser Selbstbewusstsein löste sich in Luft auf. Mit wenigen Worten hatte uns Frau Meg Bess, wie sie wohl einst geheißen hatte, klar gemacht, dass wir auf Gedeih und Verderb von ihr abhingen. Oder doch nicht? Als mein Blick auf die Schale mit dem verstärkten Berserkertrank mit Kirscharoma fiel, kam mir eine Idee.
"Verwenden sie den gewöhnlichen Trank?", fragte ich. "Und wenn ja, würden sie auch die wirkungsvollere Variante vertragen, wie Ihr das wohl vermögt?"
Sie sah mich nachdenklich an. "Wohl eher nicht", vermutete sie. "Das dürfte zu viel für sie sein. Aber welchen Nutzen versprichst du dir von dieser Erkenntnis? Wie willst du ihnen das stärkere Mittel verabreichen?"
"Pfeile", meldete sich Lehrer zu Wort, dem bisweilen eine bemerkenswert destruktive Phantasie zu Gebote stand. "Wir tauchen Pfeile in das effektivere Zeug, in das wir noch geweihtes Salz mischen. Würde das ausreichen?"
Die Rote Witwe nickte anerkennend. "Das sind brauchbare Ideen. Seht ihr, wie gut wir uns ergänzen? Reiche mir doch einmal die Schale mit deinem neuen Trank herüber", sprach sie mich an. Diesem Wunsch kam ich nach, aber nicht als der großzügige Helfer, als der ich vor kurzem hätte auftreten können. Auf einmal tat sie mir einen Gefallen, indem sie sich netterweise bereit erklärte, mein Gebräu zu probieren.
"Seid aber vorsichtig", ermahnte ich sie. "Womöglich ist dieses Elixier auch für Euch zu heftig."
"Ist der Trank zu stark, bist du zu schwach", lächelte die Witwe und genehmigte sich ein Schlückchen. Ob sich ihre Haut rötete, war unter der grauen Schminke, die ihr das Aussehen der Gemüsefrau verlieh, nicht zu sehen. Ihre Augen nahmen jedenfalls einen intensiven Glanz an. Genießerisch schnalzte sie mit der Zunge.
"Fast perfekt", urteilte sie. "Wenn mir jemand die Flasche mit dem Kirschsirup reichen könnte? Danke. So, noch ein wenig mehr... " Sie probierte erneut und nickte zufrieden. "Genau das habe ich gemeint, mein kleiner Kräuterdoktor."
Sie erhob sich. "Soße", kommandierte sie. "Fülle mir den Trank bitte in ein Fläschchen. Kräuter, ich brauche deinen Geruchssinnverstärker, die Augentropfen für die verbesserte Nachtsicht und die Substanz, mit der sich Jäger einreiben, um ihren Körpergeruch zu unterdrücken. Hast du das alles da?"
"Klar".
"Gut, alles abfüllen. Lehrer, hilf ihm. Und Kräuter, braue so viel von dem stärkeren Berserkertrank, wie du nur kannst. Pfeile besorge ich. Morgen treffen wir uns am siebzehnten Meilenstein, eine Stunde nach Mitternacht. Dunkle Kleidung, volle Bewaffnung, alle Tränke, Geräuschdämpfung, wie bei einer Kundschaftermission. Zwei von euch nehme ich mit bis in Sichtweite der Alten Mühle, damit ihr seht, was der Feind dort aufgefahren hat. Die beiden anderen bleiben in Reserve. Ihr wählt aus. Und noch etwas".
Sie griff in eine der Taschen ihres Kleides und holte einen eiförmigen Gegenstand hervor, der aus Metall zu sein schien. EIn Stift ragte aus dem Ding hervor.
"Ein Feuerei!", rief Lehrer
"Du weißt, was das ist", fragte Soße erstaunt. "Woher?"
"Aus einem Buch", lautete die wenig überraschende Antwort. "Es stand in der Kimderbibliothek und trug den Titel "Legendäre Waffen aus alten Zeiten". In solchen Konstruktionen steckt das unlöschbare Feuer. Es brennt sogar auf dem Wasser. Man zieht den Stift und hat dann nur wenige Augenblicke, das Ei von sich zu schleudern, bevor ein alles verschlingender Glutball entsteht."
"Was bei euch alles in der Kinderbücherei zu finden ist", bemerkte die Rote Witwe missbilligend. "Aber es stimmt alles, was du gesagt hast, abgesehen davon, dass diese Kampfmittel auch heute noch hergestellt werden. In der Alten Kaiserstadt. Es bedarf großer Kraft, um den Stift herauszuziehen. Damit es nicht versehentlich geschieht. Wartet, ich habe noch mehr dabei. Zwei für jeden."
Sie breitete die Mordinstrumente auf dem Tisch aus und sammelte anschließend die verlangten Elixiere ein. "Dann bis morgen Nacht", verabschiedete sie sich
"Einen Augenblick noch", bat ich. "Woher wisst Ihr von diesem Keller?"
"Von früher", entgegnete sie. Mit diesen Worten erklomm sie mit schnellen und sicheren Schritten die Stufen der Leiter und war auch schon verschwunden.
Wir sahen ihr nach. "Ist euch etwas aufgefallen?", fragte Soße. "Sie hat Schlichter völlig ignoriert. Ihm übertrug sie keine Aufgabe."
"Weil er unser Anführer ist", vermutete Lehrer. "Das will sie sein."
"Dann sollte er zu ihren beiden Begleitern gehören, bei der Erkundung der Alten Mühle", schlug ich vor. "Sie soll sehen, dass wir nicht so leicht zu kontrollieren sind."
"Gut", antwortete Schlichter. "Dann kommst du auch mit. Soße und Lehrer, ihr seid die Einsatzreserve." Vorsichtig nahm er eines der Feuereier in die Hand. "Ich gebe es zu", meinte er. "Sie hat etwas zu bieten. Wir aber auch. Los, machen wir mehr von dem neuen Trank. Das kann sie offenbar nicht."
"Sie kennt den Keller von früher", sinnierte Lehrer. "Meint sie damit ihre Zeit, vor achtzig Jahren? Wer mag sich hier verborgen haben? Magieanhänger? Oder noch früher, Aufklärer?"
"Jedenfalls müssen wir in Zukunft vorsichtiger sein", mahnte Schlichter. "Hätten wir den Lügentrank eingenommen, wäre es uns dank des verstärkten Geruchssinns leicht gefallen, die Rote Witwe schon von weitem zu wittern. Sie hätte uns nicht täuschen können. Ich traue ihr nicht. Aber ohne ihre Informationen wären wir in den sicheren Tod marschiert, hätten wir an unserem alten Plan festgehalten."
"Sie braucht uns, im Moment", schloss Lehrer. "Hoffentlich merken wir rechtzeitig, wenn das nicht mehr der Fall ist."