Kräuter und die Mondelfen

Es gibt 53 Antworten in diesem Thema, welches 2.375 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (11. Mai 2024 um 17:44) ist von 20thcenturyman.

  • Hallo, hier das erste Kapitel meiner angedrohten Geschichte über eine Stadt, in der der Glaube an Magie als Geistesverrirrung gilt. Oder gar als staatszersetzende Haltung.

    Nur wissenschaftliche Erklärungen werden akzeptiert. Um die Jugend in diesem Sinne zu erziehen, gibt es ein besonderes Schulfach. Den Vernunftunterricht. Leider haben sich in Teilen der Bevölkerung noch Reste des alten Aberglaubens gehalten. Was sich darin äußert, daß manche Häuser gemieden werden, weil es dort angeblich spuken soll. An solchen Orten findet die Abschlussprüfung statt. Die Lehrer präperieren die Gebäude mit allerlei Illusionstechnik. Täuschend echte Geisterrscheinungen werden den Schülern präsentiert. Wer schreiend davon rennt, ist durchgefallen. Erwartet wird, daß die Prüflinge den Phänomenen mit rationaler Kühle begegnen und sich nicht verunsichern lassen.

    Der Ich-Erzähler ist ein siebzehnjähriger Schüler. Sein Spitzname lautet "Kräuter". Mondelfen waren myhische Figuren, an die man im Dunklen Zeitalter geglaubt hatte. Vor der Aufklärung, die mit solchem Unsinn Schluss machte. Magie gibt es nicht. Mondelfen gibt es nicht. So will es die herrschende Doktrin.

    KRÄUTER UND DIE MONDELFEN

    1.Kapitel Mondelfen


    In den alten Tagen, vor dem Zeitalter der Vernunft, wollten die Leute nicht glauben, dass der Mond nur ein besserer Steinbrocken war, der noch nicht einmal aus eigener Kraft zu leuchten vermochte. Lieber erblickten sie am Nachthimmel die mystische Heimat der Mondelfen, welche bei Vollmomd auf Lichtstrahlen zur Erde ritten, wo sie, je nach Laune, die Sterblichen heimsuchten oder belohnten. Mit Milch und Keksen konnte man sie günstig stimmen. Dann machten sie Wünsche wahr. Wer ihnen ohne diese Gaben begegnete, den belegten sie mit tückischen Flüchen. Noch übler erging es jenen, deren Gebäck den Himmlischen nicht mundete oder deren Milch sauer geworden war. Sie wären besser daheim geblieben.

    Ich stellte mir vor, welches Bild sich dem Betrachter damals geboten haben musste. Lauter nervöse Menschen, hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Furcht, die Milchkannen und Keksschachteln mit sich trugen. Manche blieben vielleicht die ganze Nacht auf und warteten auf die Mondelfen. Andere, die ihren Backkünsten weniger vertrauten, machten, dass sie rechtzeitig vor Mondaufgang nach Hause kamen. Jahrhundertelang war das so gegangen, obwohl sich nie eines der Zauberwesen gezeigt hatte. Der Glaube kann eben stärker sein als jede Wissenschaft. Oder die Leute fanden den gesunden Menschenverstand damals einfach langweilig.

    "Milch und Kekse", sagte ich und wies auf den runden Felsen am Himmel, der, wie jedes Schulkind wusste, sein Licht von der Sonne bezog, welche zwar untergegangen, aber trotzdem noch da war. Jedenfalls behaupteten die Lehrer das. "Stell dir mal vor, jetzt würde eine Mondelfe erscheinen, und wir hätten nichts dabei."

    Schlichter sah mich genervt an. "So etwas solltest du noch nicht einmal im Scherz sagen", erwiderte er. "Das Schulamt verfolgt alles, was nach Förderung des Aberglaubens aussieht. Da wirst du schneller hinter Gittern oder gar im Narrenhaus landen, als du "Mondelfe" sagen kannst."

    Jetzt zeigte Schlichter auch auf etwas, und zwar auf das Gebäude, vor dem wir standen. "Was immer sie da für uns vorbereitet haben, lass dich bloss nicht davon beeindrucken und verkneife dir blöde Sprüche. Auf dem Mond werden keine Kekse geknabbert, und in diesem Haus geht auch kein Gespenst um. Bleib dabei. Es gibt für alles eine natürliche Erklärung!"

    Ich wusste, dass Schlichter dies wirklich glaubte, und teilte seine Überzeugung. Wir lebten im Zeitalter der Vernunft. Die Wissenschaft präsentierte immer neue Erkenntnisse. Zweifellos war der Glaube an Geister, Dämonen und Magie dämlich und von vorgestern, aber ich fand, daß das Schulamt seinen Kampf gegen die Reste des Aberglaubens ein wenig zu verbiestert führte. Sollte doch jeder glauben, was er wollte. Aber das Schulamt ließ nicht locker, und so mussten wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, um unser festes Vertrauen in die Vernunft beweisen zu dürfen.

    Unter den argwöhnischen Blicken der Lehrer. Wie würden wir uns machen, im unheimlichsten Spukhaus der Stadt, in dessen Nähe sich niemand freiwillig wagte, nicht einmal tagsüber? An aufgeklärten Lippenbekenntnissen mangelte es nicht. Nur ein paar Verrückte bekannten sich freimütig zum Glauben an Phantasiegestalten. Geisterhäuser gab es offiziell nur in Märchenbüchern. Aber inoffiziell...... Wurde jeder Handwerker plötzlich krank, wenn er an dem Gebäude Arbeiten verrichten sollte. Dabei sah es eigentlich ganz nett aus. Große Fenster ließen viel Licht in die Zimmer. Genug, um bei Vollmond lesen zu können, wie ich vermutete. Tagsüber musste es in den Räumen hell und freundlich sein. Es gab einen Balkon, und das Dach wurde von ein paar zierlichen Türmchen und einem Schornstein geschmückt. Ein harmloses Sommerhaus. Um das ich stets einen Bogen gemacht hatte. Warum eigentlich?

    Soße näherte sich mit einem Tablett, auf dem drei dampfende Becher standen. "Die Alte Mühle wäre mir lieber gewesen", sagte er. " Oder wenigstens das Mordhaus in der Brückenstrasse."

    "Da ist es auch nicht gespenstischer als hier", sagte Schlichter.

    "Weil es keine Gespenster gibt", stellte ich fest. "Aber diese Gemäuer haben wenigstens Ausstrahlung. Da ist es für die Schulmeister leichter, mit etwas Budenzauber für Stimmung zu sorgen. Mein Onkel hätte vielleicht ein bisschen Grusel aus diesem netten Häuschen herauskitzeln können. Aber der neue Lehrer......

    "Ist ein Langweiler", schloss Soße. "Eine öde Nacht steht uns bevor. Immerhin dürfte die Vernunftprüfung kein Problem sein."

    Mittlerweile war das Mondlicht noch fahler geworden. Der Wind frischte auf und heulte wie die Seelen der Verdammten, die ihre Verbannung aus dem Garten der Ahnen beklagten. An was für einen Quatsch sie früher geglaubt hatten! Das alles hätte ausreichen können, um bei empfindlichen Gemütern alte Ängste wieder aufleben zu lassen, so kindisch diese auch sein mochten. Aber nicht bei diesem lichten Sommerhäuschen. Unschuldig stand es da. Wenn ich ein böser Geist gewesen wäre, hätte ich mich dort nicht wohl gefühlt und wäre umgezogen. In die Alte Mühle oder in das Mordhaus, wo mein Onkel legendäre Spukveranstaltungen inszeniert hatte.

    Ich nahm mir einen der Becher, die Soße mitgebracht hatte, und trank dankbar die heiße Suppe. Schlichter holte seine Taschenuhr hervor.

    "Noch eine halbe Stunde", stellte er fest. "Wir sollten langsam zu den anderen gehen".

    Damit meinte er die übrigen Schüler unseres Jahrgangs, welche sich um den Suppenkessel versammelt hatten, den uns das Schulamt in seiner Großzügigkeit spendiert hatte. Gelächter brandete zu uns herüber. Was immer die Leute so erheitert hatte, musste nicht einmal besonders lustig gewesen sein. Während der Vernunftprüfung waren die Schüler immer etwas aufgedreht. Jeder gab sich fröhlich und sorglos, weil keiner zugeben wollte, dass er Angst hatte. Nicht vor mit Ketten rasselnden, Blut saugenden, ihren Gräbern entstiegenen Unholden, sondern vor der eigenen Schreckhaftigkeit. Die Lehrmeister, allen voran bis vor kurzem mein Onkel Bernie, legten nämlich einen beachtlichen Erfindungsreichtum an den Tag, wenn es darum ging, ihre Schützlinge mit allen Tricks der Illusionskunst in Panik zu versetzen. Und wehe dem, der sich sichtbar davon beeindrucken ließ, mädchenhaft aufschrie oder gar davon rannte. Das kam immer wieder vor. Die Unglücklichen, denen solches widerfuhr, fristeten den Rest ihres Daseins als Witzfiguren. Schlimmer noch, sie konnten auch in den Verdacht geraten, dem alten Aberglauben anzuhängen oder für diesen zumindest empfänglich zu sein.

    Wir setzten uns in Bewegung. Soße ging voran. Er war einen Kopf größer als ich, wesentlich breiter in den Schultern und erweckte den Eindruck, dick zu sein, obwohl das gar nicht stimmte. Vielleicht lag es an seinem runden Gesicht und dem Umstand, daß er der Sohn eines Gastwirtes war und schon den Ruf eines begabten Nachwuchskochs genoss, spezialisiert auf leckere Soßen. Er hatte sogar schon ein paar neue erfunden. Schlichter und ich folgten ihm. Unsere Umhänge flatterten im Wind, der leider keine wilde Jagd ruheloser Seelen darstellte, was viel faszinierender gewesen wäre als die kalten und warmen Luftströmungen, die, den Lehrbüchern zufolge, das Phänomen verursachten. Die warme Luft dehnte sich aus und kam der kalten ins Gehege. Das Ergebnis war Wind. Aber wieso machte die warme Luft das eigentlich? Was trieb sie an?

    Während ich noch darüber nachdachte, erreichten wir den Suppenkessel und das Pferdefuhrwerk, das diesen zu uns gebracht hatte. Die Schüler hatten sich dicht zusammengedrängt, denn es wurde langsam unangenehm kalt. Etwas abseits stand der Schuldiener Dietmar, scheinbar unbeeindruckt von dem rauen Wetter. Er mußte darußen bleiben, während wir bald hinein durften. Ins gemütliche Geisterhaus. In dem sich immer noch nichts rührte. Gerade als ich dachte, dass es nun wirklich Zeit wurde für Unheimliches, geschah etwas Banales. Das Licht ging an. Nicht im ganzen Haus, sondern nur in zwei Zimmern im ersten Stock. Rotes Licht. Aus zwei Fenstern, die eng beieinander lagen. Es war, als ob man von zwei Dämonenaugen angestarrt wurde.

    "Kein schlechter Effekt", sagte Lehrer, der noch kein Schulmeister war, aber unter Garantie einer werden würde. Er redete wie ein Lehrer, wusste immer alles, kannte sämtliche Schulbücher auswendig und erfreute sich trotzdem großer Beliebtheit, weil er jeden abschreiben ließ und außerdem die Kunst des Erklärens beherrschte. Selbst den schlichtesten Geistern vermochte er den Lehrstoff in einer Weise näher zu bringen, dass sie zumindest ansatzweise so etwas wie Verständnis entwickelten und sich dabei nicht allzu doof vorkommen mussten. Er war besser als die richtigen Lehrer.

    "Wieso flackert das Licht nicht?", wollte Schlichter wissen. "Rote Lampenschirme?"

    "Eher rotes Glas", antwortete Lehrer. "Genauer gesagt, Fensterscheiben aus rotem Glas, beleuchtet von bereit gehaltenen Öllampen, die alle gleichzeitig entzündet wurden." Das machte Sinn. Welche Farbe das Fensterglas hatte, war im Dunkeln nicht zu erkennen gewsen.

    "Was für ein Aufwand", sagte ich. Einer der anderen Schüler, dessen Vater Glaser war, weshalb wir ihn auch so nannten, pflichtete mir bei.

    "Das dürfte Goldrubinglas sein. Sehr teuer in der Herstellung, weil man dafür Goldstaub braucht, der bei der Glasschmelze hinzugegeben werden muss", erläuterte er. "So etwas können nur zwei Meister in der Stadt. Und bei denen wurde das nicht gemacht, sonst wüßte ich das."

    "Goldstaub", schimpfte Schlichter. "Für so etwas haben sie Geld, aber die Schule ist seit zwanzig Jahren nicht mehr renoviert worden."

    Das stimmte zwar, aber dieser Umstand änderte nichts daran, dass ich mich unter dem Blick der blutroten Augen äußerst unwohl fühlte. Der Eindruck, von etwas Boshaften tückisch belauert zu werden, ging auch dann nicht weg, wenn man sich nüchtern den Herstellungsprozess von Goldrubinglas und die Funktionsweise von Öllampen vor Augen führte. Alles Technik, alles Wissenschaft, und doch......

    Lehrer sprach es aus. "Diesmal meinen sie es wirklich ernst mit der Vernunftprüfung. Leute, bleibt gelassen und vertraut auf die Wissenschaft. Ich glaube, daß wir heute Nacht noch ganz andere Sachen erleben werden. Seid aufmerksam und sucht nach der natürlichen Erklärung!"

    "Mit ein paar roten Fenstern kriegen die uns nicht klein", machte sich Kleiner Mut, der so hieß, weil er mit über zwei Metern der Größte von uns war. Zustimmendes Murmeln war seine Belohnung, dem ich mich aber nicht anschloss, weil ich in diesem Augenblick zufällig nach oben gesehen hatte.

    Zum fahlen Mond. Der sich langam, fast unmerklich, aber unaufhaltsam, rot färbte. Ich wies zum Himmel und sagte: "Blutmond". Meine Stimme klang dabei unheilsschwanger wie die eine antiken Geisterbeschwörers, wie ich zu meinem Ärger feststellte. Trotz aller Vernunfterziehung, die ich seit frühester Jugend genossen hatte, spürte ich, wie sich der längst überwundene Aberglaube in mir regte. Das Schaudern vor dem Übernatürlichen. Zum Glück hielten die anderen meinen Ausruf für einen Witz und lachten.

    "Sehr lustig", meinte Lehrer. "Erkläre lieber mal, durch welche Naturkräfte so ein Blutmond zustande kommt. Das könnte durchaus in der Abschlussprüfung abgefragt werden."

    "Äh", sagte ich und kratzte mühsam die Wissensreste zusammen, die mir vom Unterricht geblieben waren. "Das Licht kommt von der Sonne und wird von den drei Leuchtkräften angetrieben. Rot, Grün und Blau. Und dann trifft es den Mond." Damit war mein Wissensvorrat erschöpft.

    "Und?", bohrte Lehrer. "Wieso wird der Mond dadurch rot?"

    Zur allgemeinen Überraschung meldete sich Kleiner zu Wort. "Wenn das Licht die Mondluft trifft, werden die grüne und die blaue Leuchtkraft zurückgehalten, weil sie schwächer sind als die rote. Die dringt durch, aber nur manchmal, wenn die Mondluft durch Stürme besonders viel Staub enthält", sagte er. Zwar hatte noch niemand den Mond besucht, um diese These zu bestätigen, aber so stand es nun mal in unseren Schulbüchern. Wer war ich, um dies in Zweifel zu ziehen, obgleich ich mich schon fragte, warum dann nicht auch die Erde gelegentlich rot wurde, wenn der Wind ordentlich Sand in den Himmel blies. Vielleicht war der Erdtrabant viel staubiger als sein Planet?

    "Schlichter", wandte sich Lehrer nun an meinen Nebenmann. " Wenn wir schon einmal dabei sind. Nenne die bekannen Naturkräfte!" Eigentlich hätte Lehrer gar keine Autorität ausstrahlen dürfen. Niemand entsprach dem Streberklischee so vollkommen wie er. Klein, schmächtig, mt gewaltigen Augengläsern ausgetattet, schaffte er es dennoch mühelos, einen Kerl wie Schlichter zu beeindrucken, den Richtersohn, der, lässig und ruhig, von allen anerkannt und imstande war, jeden Streit beizulegen und zu einer gerechten Lösung zu gelangen.

    Und so zählte Schlichter auch brav die Naturkräfte auf, die damals als der wissenschaftlichen Weisheit letzter Schluss galten. "Die drei erwähnten Leuchtkräfte natürlich", begann er und fuhr fort: "Dann die Warmkraft und die Kaltkraft, die stets im Streit stehen. Die Blitzkraft. Die Bewegungskraft, ohne die alles still stünde. Die Anziehungskraft, ohne die wir nach oben fliegen würden, die Klebekraft, ohne die alles auseinanderfiele, und schließlich die Lebenskraft, ohne die alles tot wäre."

    "Und nicht zu vergessen die Lachkraft, ohne die alles traurig wäre", fügte ich hinzu.

    Ich weiß nicht mehr, warum ich das von mir gegeben habe. Vielleicht, weil mir langsam flau im Magen wurde. Denn mittlerweile hatte der Mond dieselbe blutrote Farbe angenommen wie die beiden Fensteraugen. Exakt denselben Farbton. In diesem Licht sah das Haus gar nicht mehr harmlos aus. Nichtsdestweniger erntete ich mit der Bemerkung einen Heiterkeitsausbruch, der sich gewaschen hatte.

    Selbst Lehrer konnte sich nicht mehr beherrschen. Formvollendet verbeugte er sich vor mir. "Welche Ehre, den Entdecker einer neuen Naturkraft zu meinem Freundeskreis zählen zu dürfen! Aber du solltest doch bei deinen Tränken und Tinkturen bleiben, Kräuter." Das war mein Spitzname. Soße war der Sohn eines Kochs und Gastwirts, Schlichter entstammte einer Richterfamilie, und meine Tante war Obfrau des Heilerhauses, Kräutergelehrte und Trankmeisterin. Nicht nur wir drei, sondern auch die anderen waren auf dem besten Wege, das zu werden, was uns unsere Familien vorgaben. Warum fiel mir das jetzt zum ersten Mal auf?

    Lehrer, der natürlich einer Schulmeistersippe entstammte, holte seine Taschenuhr hervor. "Noch eine Minute", verkündete er. Dank der von mir neu entdeckten Lachkraft waren wir trotz Blutmonds und Dämonenaugen guter Dinge. Neugierig blickten wir auf die Tür. Mein Onkel Bernie hätte dafür gesorgt, daß sie sich, mit einem unheimlichen Knarren, ganz langsam geöffnet hätte. Blutrotes Licht hätte den Eingang erleuchtet und mit den Fenstern und dem Mond ein gruseliges Ensemble gebildet.

    Der neue Schulmeister pflegte einen anderen Stil. Die Tür stand plötzlich offen, ohne dass einer von uns hätte sagen können, wann und wie sich das vollzogen hatte. Und es war dunkel im Hauseingang. Pechschwarz.

    "Nett", sagte Schlichter.

    "Dann wollen wir mal", rief Lehrer und setzte sich in Bewegung. Wir folgten ihm, und als er das Gebäude betrat, wirkte es so, als ob es ihn mit Haut und Brille verschluckt hätte. Er verschwand in der Finsternis. Als auch ich durch den Eingang schritt, stellte ich fest, daß es wirklich fast stockdunkel war. Nur am Ende des Flurs schimmerte ein schwaches Licht, das uns immerhin davor bewahrte, über unsere eigenen Füße zu stolpern.

    Und als wir endlich in der Empfangshalle ankamen, erwartete uns das echte Grauen. In einer sehr speziellen Form.

    4 Mal editiert, zuletzt von 20thcenturyman (21. Februar 2024 um 17:56) aus folgendem Grund: Umbrüche

  • Hallo 20thcenturyman

    ich habe mal ein bisschen bei dir gelesen.

    Das ist eine interessante Idee und ich bin gespannt was du daraus machst.

    Mein erster Eindruck ist dass du es gerne etwas besser untergliedern solltest. Der Text besteht aus viel zu großen Blöcken und ist so nicht so gut lesbar. Ein paar Absätze würden die Lesbarkeit deutlich erleichtern. Am besten setzt du einen Absatz immer wenn ein neuer Sprecher auftritt. Zum Beispiel so: (Ich habe jetzt nur einen Teil herausgegriffen - der Rest sollte nach demselben Muster gegliedert werden)

    Das wäre mein Vorschlag.

    Jedenfalls behaupteten die Lehrer das.

    Das würde ich hier streichen. Denn es impliziert dass der Ich-Erzähler es ihnen nicht glaubt (und also ein Vernunft-Zweifler ist). Du willst aber wohl zunächst den Eindruck erwecken dass er Ich-Erzähler "im Prinzip" schon an die Ideologie der Vernunft glaubt?

    "So etwas solltest du noch nicht einmal im Scherz sagen", erwiderte er. "Das Schulamt verfolgt alles, was nach Förderung des Aberglaubens aussieht. Da wirst du schneller hinter Gittern oder gar im Narrenhaus landen, als du "Mondelfe" sagen kannst."

    Streichen - der Junge namens Streicher weiß dass der Ich-Erzähler das auch weiß. Er würde das nie in einem normalen Dialog sagen. Außerdem geht dasselbe auch aus dem folgenden Satz hervor.

    Jetzt zeigte Schlichter auch auf etwas, und zwar auf das Gebäude, vor dem wir standen.

    Er zeigte auf das Gebäude, vor dem wir standen.


    "Was immer sie da für uns vorbereitet haben, lass dich bloss nicht davon beeindrucken und verkneife dir blöde Sprüche. Auf dem Mond werden keine Kekse geknabbert, und in diesem Haus geht auch kein Gespenst um. Bleib dabei. Es gibt für alles eine natürliche Erklärung!" Ich wusste, dass Schlichter dies wirklich glaubte, und teilte seine Überzeugung. Wir lebten im Zeitalter der Vernunft. Die Wissenschaft präsentierte immer neue Erkenntnisse. Zweifellos war der Glaube an Geister, Dämonen und Magie dämlich und von vorgestern, aber ich fand, daß das Schulamt seinen Kampf gegen die Reste des Aberglaubens ein wenig zu verbiestert führte. Sollte doch jeder glauben, was er wollte. Aber das Schulamt ließ nicht locker, und so mussten wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, um unser festes Vertrauen in die Vernunft beweisen zu dürfen.

    Schleicher warnt seinen Freund. Die Warnung ist ebenfalls überflüssig denn der Ich-Erzähler weiß das alles genau. Ich spüre als Leser "aha das sagt er jetzt um den Leser zu informieren".

    Du solltest es nicht deutlich sagen. Es wirkt echter wenn die Info indirekt durch den Kontext rüberkommt. Das tust du ja später auch.

    "Ich wusste dass Schlichter das wirklich glaubte und teilte seine Überzeugung" ?

    Was ist das für ein komischer Satz?

    Schlichter glaubte das wirklich und ich auch.

    Würde auch niemand so sagen.

    Wenn du an etwas glaubst würdest du doch nicht nochmal extra erwähnen dass dein Freund daran glaubt und du auch? Du würdest es gar nicht erwähnen weil es so selbstverständlich ist.

    Dass das Schulamt einen Kampf gegen Aberglauben führt - musst du auch nicht erklären. Das geht alles aus der späteren Handlung (wenn sie in das Haus reingehen) ganz deutlich hervor.

    Also - diesen ganzen Absatz einfach streichen. Dann wirkt es echter und stärker.

    Ich würde daher einfach die Jungs zu dem Spukhaus gehen lassen und sie im Gegenteil prahlerische Sprüche machen lassen darüber was für ein Quatsch das ist dass man hier einen Aberglauben-Test machen muss und so.

    Der weitere Text wird langsam lockerer und lässt sich dann gut lesen. Wenn du ihn noch schöner gliederst wäre es noch besser.

    Gute Arbeit!

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Hallo Karisha,

    ich danke für die Mühe und die Ratschläge. Die Absätze habe ich, wie vorgeschlagen, aufgelockert. Auf dem großen Bildschirm kommen einem die Textblöcke vielleicht lesbar vor, aber nicht auf dem Smartphone. Das ist schon richtig.

    Was die anderen Anmerkungen angeht, so wären sie größtenteils berechtigt, wenn es einen allwissenden Erzähler gäbe. Bei einem Ich-Erzähler kann das anders aussehen, abhängig von seiner Persönlichkeit. Kräuter ist nicht dumm, neigt aber zum Fachidiotentum. In seinem Wissensgebiet kennt er sich aus. In den anderen Unterrichtsfächern stellt er seine Ohren auf Durchzug. Deshalb kann er auch nicht nachvollziehen, wie die Sonne untergehen und trotzdem noch da sein und sogar den Mond beleuchten kann. Er zweifelt nicht an der Vernunftlehre, sondern hat schlicht keine Ahnung von Astronomie. Sein Freund Schlichter muss ihn auch vor lockeren Sprüchen und dem möglichen Ärger mit dem Schulamt warnen, weil Kräuter leichtsinnig ist und nie an die Folgen seines Tuns denkt.

    Ein wenig wie die Physiker bei Dürrenmatt. Im ersten Kapitel war es aber noch nicht machbar, ihn ausführlich zu charakterisieren. Das erfolgt dann später.

  • Was die anderen Anmerkungen angeht, so wären sie größtenteils berechtigt, wenn es einen allwissenden Erzähler gäbe. Bei einem Ich-Erzähler kann das anders aussehen, abhängig von seiner Persönlichkeit.

    Wenn es einen allwissenden Erzähler gäbe wären meine Anmerkungen meiner Meinung nach nicht berechtigt. Denn dieser Erzähler weiß ja alles und kann darum alles was ihm gerade einfällt dem Leser erzählen.

    Der personale Erzähler dagegen bleibt ganz streng in seiner Perspektive. Und der würde Sachen die für ihn selbstverständlich sind nicht erzählen. Nur dann wenn er sich so verhält wirkt er natürlich.

    Schlichter sah mich genervt an. "So etwas solltest du noch nicht einmal im Scherz sagen",

    Diesen Satz finde ich zum Beispiel passend. Hier warnt ihn Schlichter obwohl beide schon wissen dass Kräuter das nicht sagen sollte. (Und das würde als Warnung reichen.) Und ich denke das würde man als Freund auch so machen.

    Das Schulamt verfolgt alles, was nach Förderung des Aberglaubens aussieht.

    Das klingt hier allerdings nach einer Erklärung für den Leser. Das muss er Kräuter nicht erklären. Der weiß das. Auch der Leser braucht diese Erklärung gar nicht weil das später aus dem Kontext sowieso noch hervorgeht. Und gewarnt hat er ihn ja vorher schon.

    Deshalb kann er auch nicht nachvollziehen, wie die Sonne untergehen und trotzdem noch da sein und sogar den Mond beleuchten kann. Er zweifelt nicht an der Vernunftlehre, sondern hat schlicht keine Ahnung von Astronomie

    Das erste kommt in dem Text gut rüber. Gerade dieser Satz mit der Sonne und dem Mond zeigt das ja gut. Das zweite kommt eben nicht rüber. Dieser Satz

    Jedenfalls behaupteten die Lehrer das.

    bedeutet für mich dass der Erzähler das anzweifelt (die Lehrer behaupten es nur aber vermutlich ist es nicht so). Darum würde ich das streichen - wenn du willst dass ich als Leser davon ausgehe dass Kräuter an die Vernunftlehre glaubt.

    Übrigens gefallen mir die Namen der Schüler. Sie zeigen eine eigenwillige Denkweise und das finde ich gut.

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Kräuter und die Mondelfen

    2.Kapitel, Teil 1.

    Die Schüler betreten jetzt das Pseudo-Spukhaus. Da über 5000 Worte für das erste Kapitel wohl zu viel für einen Post waren, beschränke ich mich auf einen Teil des nächsten Kapitels.

    Kräuter und die Mondelfen

    Kapitel 2: Das echte Grauen.

    Teil 1

    Jede der wohlhabenden Sippen der Bergstadt nannte ein Ferienhaus im Grünen Tal ihr Eigen. Das Gebäude, in dem wir uns nun befanden, war die Sommerresidenz der Sverrig, einer der sieben alten Familien oder auch Gründerfamilien, wie sie seit der Aufklärung genannt wurden. Vorher hießen sie Aristokraten. Offiziell hatte man den Adel zwar abgeschafft, was aber nichts daran änderte, daß sie immer noch das Geld und die Macht hatten.

    Wir erreichten einen Raum, in dem früher Gäste empfangen worden waren. Von der edlen und vornehmen Einrichtung, wie sie in den Sommerhäusern der Reichen üblich war, sahen wir nichts mehr. Dafür bot sich uns ein Anblick, der selbst das robusteste Schreckgespenst problemlos in die Flucht geschlagen hätte.

    Die größte und geschmackloseste Ansammlung von Kitsch aller Zeiten. Die Wände waren lückenlos bedeckt von Gemälden, die ein drolliges, kleines, blondes Mädchen zeigten. Mal tanzte es im Sonnenschein auf einer Blumenwiese, mal knuddelte es ein niedliches Häschen oder Hündchen, streichelte ein Fohlen oder schlummerte friedlich in seinem Bettchen, beschienen von einem freundlich dreinblickenden Vollmond. Über die ganze Halle mehr als großzügig verteilte Lampen sorgten dafür, daß uns ja keine Einzelheit dieses fragwürdigen Kunstgenusses entging. Dagegen hatten der Blutmond, die Dämonenaugen und der dunkle Eingang keine Chance. Von der unheimlichen Stimmung, an der sie mit vereinten Kräften gearbeitet hatten, blieb nichts übrig.

    Stattdessen machte sich ungläubige Heiterkeit breit. Einige kicherten. Ich fragte mich, was der neue Lehrer, der in diesem Jahr die Vernunftprüfung leitete, vorhatte. Wollte er uns in ein Wechselbad der Gefühle tauchen? Zuerst Anspannung, dann Erleichterung, und wenn wir sorglos genug geworden waren, was folgte dann? Wachsamkeit war angebracht. So lächerlich dieses drittklassige Museum auch wirken mochte, das uns hier präsentiert wurde. Und als ob die Bilder als Zumutung nicht ausgereicht hätten, standen überall Tischchen und Kommoden herum, auf denen Figürchen aus Porzellan aufgestellt waren. Natürlich wieder das blonde Kind, tanzend, Musikinstrumente spielend, immer glücklich und vergnügt, umgeben von allerlei tierischen Freunden.

    Das echte Grauen. Zumindest für Kunstfreunde.

    Von diesem knallbunten Inferno in den Bann gezogen, dauerte es eine Weile, bis ich den neuen Lehrer entdeckte, der sich am anderen Ende des Raumes aufgestellt hatte. Unterrichtsstunden hatte ich bei ihm schon gehabt. Seinerzeit hatte er schwach und unsicher gewirkt. Einer, bei dem man sich viel erlauben konnte. Diesen Eindruck mußte ich jetzt revidieren. Selbstbewußt stand er da, schlank, ganz in Schwarz gekleidet. Und neben ihm gewahrte ich einen Gegenstand, der überhaupt nicht in dieses fröhliche Kinderzimmer passen wollte. Der Schulmeister klatschte in die Hände, und das Geschnatter, das eingesetzt hatte, als wir hereingekommen waren, verstummte.

    "Stellt euch mal in einem Halbkreis um mich auf", forderte er uns freundlich auf. Das taten wir, gespannt auf das, was nun folgen würde. Er trat ein paar Schritte vor, so dass ich ein Gemälde sehen konnte, welches er bislang mit seinem Rücken verdeckt hatte. Es zeigte nicht noch eine Version des penetrant gut gelaunten Kindes, sondern eine ernste, junge Frau, die dem Mädchen sehr ähnlich sah. Im Gegensatz zu den anderen Bildern, deren Schöpfer bestenfalls als nicht völlig unbegabter, aber von allen guten Geschmacksgeistern verlassener Freizeitmaler bezeichnet werden konnte, war dieses Werk sehr gut ausgeführt.

    "Was findet ihr hier ungewöhnlich?", fragte der Lehrer. Soße, der sich ernsthaft für Kunst interessierte, meldete sich. "Erst einmal natürlch das Bildnis der jungen Frau", sagte er. "Es passt überhaupt nicht zu dem übrigen Kitsch und erinnert an die Werke des alten Meisters Eckhard, weist aber auch Einflüsse der jüngeren Portraitistenschule auf." "Und die Ausführung lässt auf einen, wenn auch sehr talentierten, Anfänger schliessen", bemerkte Lehrer. Ich hatte zwar keine Ahnung von Kunst, konnte aber aus meinem Fachgebiet auch etwas beisteuern. "Die Gesichtsknochenstruktur des kleinen Mädchens gleicht der der jungen Frau so sehr, dass es sich um dieselbe Person handeln dürfte", sagte ich. "

    "Alles richtig", sagte der neue Lehrer. "Und was stellt das wohl dar?", fragte er und wies auf das Ding, das mir gleich zu Beginn aufgefallen war. "Kräuter, komm doch mal vor, sieh es dir genau an, und dann erkläre der Klasse, womit wir es hier zu tun haben".

    Es war ungewöhnlich, von einem Schulmeister mit dem Spitznamen angesprochen zu werden. Der Mann kam aber von weit her, aus Grenzstadt, wenn ich richtig informiert war. Vielleicht machten sie dort manche Dinge anders. Ich trat vor und sah mir den Gegenstand genauer an. Es handelte sich um einen rötlichen, quadratischen Stein, mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, dessen Oberseite eingesunken war und eine Mulde bildete. Ein so gut erhaltenes Exemplar hatte ich noch nie betrachtet. Man konnte sogar noch Inschriften erkennen.

    "Das", erklärte ich, "ist ein Opferstein aus dem Alten Reich. Sehr selten. Streng genommen, dürfte gar nicht von einem Stein gesprochen werden, weil er aus einem Metall beteht, das wie Kupfer aussieht, aber keines ist. Heutzutage kann es niemand mehr herstellen. Wie sie damals glaubten, soll das Material imstande gewesen sein, Blut aufzusaugen. Floss genug davon in die Mulde, und sprach man die richtigen, magischen Worte, erschienen Geister oder gar Götter." "Kein Wunder, dass das Alte Reich untergegangen ist,wenn sie solchen Blödsinn praktizierten", sagte Lehrer. "Dennoch", antwortete der Schulmeister, "wird uns Kräuter nun demonstrieren, wie man einen Geist herbeiruft. Und Heulen und Zähneklappern werden euch heimsuchen, und Gänsehaut!" Jetzt entwickelte der neue Lehrer auch noch komisches Talent, wenn auch auf meine Kosten. Mit dramatischer Geste wies er auf den Opferstein. Die Jungs lachten. "Dann zeig mal, was du kannst, Kräuter", sagte einer der Sverrig, von denen drei zu unserem Jahrgang gehörten. Sie führten keine Spitznamen. Dafür waren sie sich zu fein, wie alle aus den Gründerfamilien.

    Ich näherte mich dem Blutstein und zog mein Messer. Damals hatte jeder eines dabei, obwohl es in der Oberstadt völlig sicher war. Das ruhige Leben, das wir führten, verlangte wohl ein wenig Dramatik, damit es uns nicht zu öde vorkam. Später dachten wir mit Wehmut an diese Zeiten zurück. "Das Ritual erfordert", begann ich, " dass der Opfernde Blut auf den Stein tropfen lässt, und zwar exakt auf die eingeprägten Schriftzeichen. Dabei muss er die Zauberformeln rezitieren, während er die ganze Zeit den Mond ansieht. Ein kleiner Fehler, und schlimme Dinge geschehen!" "Dann sorge ich einmal für die passende Beleuchtung", kündigte der neue Lehrer an und schnippte mit den Fingern. Schlagartig erloschen die Lampen, die den Raum bisher mit ihrem Licht erfüllt hatten. Dafür schien der Mond auf einmal heller. Zumindest hatte es den Anschein, der vermutlich daher rührte, dass wir uns vorher mehr auf die Lampen konzentriert hatten. Das war geschickte Psychologie, weiter nichts. Dennoch musste ich zugeben, dass ich noch nie einen so riesigen Vollmond gesehen hatte. Sein rotes Leuchten erfüllte den Saal. Es war leicht, die Schriftzeichen auf dem Opferstein zu erkennen.

    Damit die anderen nicht den Eindruck gewannen, ich würde zögern, und mich womöglich für einen Feigling hielten, schnitt ich mir mit dem Messer in die linke Hand, ließ mein Blut auf das Metall tropfen und sprach die magischen Worte, immer den Blutmond im Blick.

    "Ablak gitterad lo", intonierte ich. "Ablak isferrat ra. Baal kmosch. Ablak isferrat!" Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was das bedeutete. Unsere Altertumsforscher hatten herausgefunden, für welche Laute die Schriftzeichen standen, aber nicht, was sie aussagten. Das änderte aber nichts an dem, was nach meinem Ausspruch geschah. Ein eisiger Luftstrom zog durch die Halle. Es wurde sehr kalt. Einigen von uns klapperten tatsächlich die Zähne. Gleichzeitig ertönte Glockenklang, der sich seltsam dumpf anhörte, weit entfernt, klagend, fast jenseitig. Noch nie hatte ich ein so spukhaftes Geräusch vernommen. Ich erinnerte mich an das alte Märchen von den Geisterglocken, die immer nur dann zu hören waren, wenn jemandem im Hause der Tod bevorstand. Manchmal läuteten sie nur für wenige Augenblicke, es konnte aber auch passieren, dass sie tagelang nicht verstummten. Bis der starb, der gemeint war.

    Der Klang schien von überall und nirgends zu kommen. Das waren wirklich gute Effekte. Nicht neu, aber sehr solide in die Tat umgesetzt. Wir würden das Haus gründlich durchsuchen müssen, um die Installationen zu finden, mit denen der Schulmeister die Erscheinungen fabriziert hatte. Ich hielt das für durchaus machbar. Mein Onkel Bernie hatte mit ganz ähnlichen Tricks gearbeitet und mich in einige seiner Geheimnisse eingeweiht. Wenn das alles war, was der neue Lehrer zu bieten hatte, verdiente er zwar durchaus Respekt, aber die Vernunftprüfung würde dennoch relativ leicht zu bewältigen sein.

    Dachte ich.

    Es überraschte mich nicht, dass der Opferstein plötzlich anfing, im selben Farbton wie der Blutmond zu glühen. Das war zu erwarten gewesen, ebenso wie der rötliche Dunst, der nun von dem Ding aufstieg. Gleich würde er sich zu Geistererscheinungen verdichten, ganz wie bei meinem Onkel, der Gruselvorstellungen dieser Art gerne bei Kindergeburtstagen zum Besten gegeben hatte. Bis Tante Meg ihn aus unserem Haus warf. Er mochte etwas übertrieben haben, doch musste man ihm zugute halten, dass er die Grenze zur absoluten Geschmacklosigkeit nie überschritten hatte. Anders als sein Nachfolger. Aus dem nebelartigen Zeug, das über dem Stein schwebte, formten sich die geisterhaften Gestalten von sieben Kindern. Kleinen, blonden Mädchen. Sie waren totenbleich. Blut tropfte aus durchgeschnittenen Kehlen auf ihre Leichenhemden. Die Gesichter waren von Todesangst gezeichnet, ganz so, als ob sie gerade eben ihre Verletzungen erlitten hätten und ihre letzten Augenblicke durchlebten, in dem Bewußtsein, dass sie nun sterben müssten.

    Mir wurde übel, so realistisch wirkten die Erscheinungen. Glücklicherweise schnippte der Schulmeister wieder mit den Fingern, und das Licht der Lampen vertrieb die Dunkelheit. Von den Kindern war nichts mehr zu sehen. Mir fiel auf, dass mein Blut, das auf den Opferstein getropft war, verschwunden war.

  • Kräuter und die Mondelfen

    Kapitel 2. Das echte Grauen

    Teil 2

    Während ich mechanisch Verbandszeug aus einer der Taschen meiner Jacke holte, um die Schnittwunde an meiner Hand zu versorgen, fragte der Schulmeister: " Wo hast du gelernt, die Worte der Alten Sprache so zu betonen?" "Von meinem Onkel Bernhard", antwortete ich. "Du warst oft mit ihm in den Wäldern, auf der Suche nach Altertümern", sagte der Lehrer. "Da hat er dich wohl Vieles gelehrt. Weißt du, daß es möglich ist, den Sinn der Schriftzeichen zu erfassen, wenn man die Inschriften mit der richtigen Aussprache laut vorliest?" Ich sah ihn verblüfft an. Er nickte und sagte: " Darüber reden wir später. Geh jetzt zurück zu deinen Kameraden. Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen."

    Unsere gute Laune hatte sich verflüchtigt. Einige der Jungs vermittelten den Eindruck, sich gleich übergeben zu wollen. Alle wirkten angewidert. Sterbende Kinder. Das war keine unterhaltsame Gruselschau mehr, sondern einfach nur abscheulich.

    "Ihr fragt euch, warum ich euch diese Scheußlichkeit zugemutet habe", sagte der Schulmeister. "Nun, der heutige Unterricht dient in besonderem Maße der Vernunftbildung. Ihr sollt lernen, daß wahrer Schrecken und wahres Grauen nicht von ausgedachten Fantasiefiguren herrühren. Nicht von Blutsaugern, Grabwandlern oder Mondelfen. Nein, all dies geht auf Menschen zurück. Ganz gewöhnliche Menschen. In diesem Haus sind entsetzliche Dinge geschehen, die lange Jahre vertuscht wurden. Es ist Zeit, daß endlich die Wahrheit ans Licht kommt!" Er legte eine Kunstpause ein. Dieser Mann war zuerst so unauffällig aufgetreten, daß ich mir nicht einmal seinen Namen gemerkt hatte. Dann hatte er die Autorität eine wahren Lehrers an den Tag gelegt, um schließlich zu klingen wie der Bürgermeister bei einer Wahlrede. Ein Verwandlungskünstler. Ich begann zu bezweifeln, daß er wirklich nur ein kleiner Schulmeister aus der Provinz war.

    Die Geisterglocken waren mittlerweile verklungen. Lehrer nutzte die Stille und meldete sich zu Wort: " Bei allem Respekt", sagte er, "wir wissen, was sich einst hier zugetragen hat. Deswegen sind wir ja hier, um dem Unsinn entgegenzutreten, der über dieses Haus verbreitet wird. Vor siebzehn Jahren verschwand Agnatha, die Erbtochter der Sverrig, nachdem sie hier übernachtet hatte. Man fand keine Spur von ihr. Kurz darauf berichteten abergläubische Narren von Geistererscheinungen. Agnatha wurde gesehen, wie sie an einem Fenster stand. Manchmal erschreckte sie harmlose Reisende auf der Straße. Möbel wurden von unsichtbarer Hand verrückt. Flüstern und Weinen waren zu vernehmen ....."

    "Alles Blödsinn", fügte Olaf hinzu, der Älteste der drei Sverrig. "Ich verstehe nicht", wandte er sich an den Schulmeister", warum Ihr diese alte Geschichte wieder aufwärmt. Meine Familie hat in den vergangenen Jahren genug gelitten. Wollt Ihr ernsthaft behaupten, Ihr wüsstest etwas über das Schicksal meiner Tante?" Das wäre in der Tat eine Sensation gewesen. Damals hatten nicht nur die Sverrig, sondern die ganze Stadt nach dem Mädchen gesucht, monatelang. Ohne jeden Erfolg. Kein Wunder, daß sich die Leute in Geistergeschichten geflüchtet hatten. Alles war besser als quälende Ungewissheit, selbst Gespenster.

    "Ich meine nicht das mysteriöse Verschwinden Agnathas", antwortete der Lehrer. "Du hast die Abbilder der sieben Kinder gesehen, die ich euch gezeigt habe. Um sie geht es, und darum, was ihnen widerfahren ist." "Die Vollmondmorde?", fragte ich verblüfft. "Ganz richtig", sagte er. "Ich nehme an, dass diese Verbrechen in deiner Familie oft zur Sprache kamen. Immerhin war dein Onkel Gerd an den Ermittlungen beteiligt". An Onkeln mangelte es mir damals nicht. Gerd war allerdings kein Blutsverwandter, sondern angeheiratet. Nach dem Tod meiner Eltern hatten er und Tante Meg mich aufgenommen. Er war so etwas wie ein Ersatzvater für mich geworden, und als Kommandant der Stadtmiliz hatte er beruflich viel mit Strauchdieben und Galgenvögeln zu tun. Manche Kinder mochten sich langweilen, wenn ihre Väter abends von der Arbeit erzählten. Das war für mich nie ein Problem gewesen. Wenn man vom Roten Viertel absah, wo gewisse Dinge toleriert wurden, herrschten damals aber im Wesentlichen Ordnung und Sicherheit in der Stadt. Gewaltverbrechen waren selten und wurden meist schnell aufgeklärt. Leider war Letzteres bei der Mordserie, auf die der Schulmeister anspielte, nicht der Fall gewesen.

    "Damals verschwanden Kinder", sagte ich. "Kleine, blonde Mädchen, alle sieben Jahre alt. Immer bei Vollmond, jeden Monat eines. Erst nach dem siebten Mord gelang es der Miliz, den Täter zu stellen. Er starb auf der Flucht, wenn ich mich recht erinnere." "Er ertrank im Bergfluss", ergänzte Soße. "Weil alle Kinder aus der Unterstadt stammten, glaubten die Leute dort, der Mörder käme aus der Oberstadt, vielleicht sogar aus einer vornehmen Familie. Das Gerücht machte sich breit, die Miliz und der Rat würden ihn beschützen. Eine wütende Menge versuchte, das innere Stadttor zu stürmen. Es hätte fast einen Bürgerkrieg gegeben. Zum Glück haben sie den Kerl dann doch noch erwischt."

    "Und wie praktisch, daß er aus der Unterstadt stammte", sagte der Schulmeister ironisch". "Sogar aus dem Roten Viertel. Ein Sittenstrolch, der mehrfach Kinder belästigt hatte. Befragt werden konnte er nicht mehr, doch da die Morde nach seinem Tod aufhörten, zweifelte niemand mehr an seiner Schuld. "So war es doch", sagte Schlichter. "Oder wollt Ihr etwas anderes behaupten?"

    Der neue Lehrer schwieg. Vielleicht, so überlegte ich, gehörte er zu den Bürgern, denen die offizielle Version nie eingeleuchtet hatte. Davon gab es gar nicht so Wenige. Selbst Onkel Gerd, immerhin der oberste Kriminalist der Stadt, hatte im vertrauten Kreis schon mehrfach eingeräumt, daß in diesem Fall so Einiges nicht zusammen passte. Öffentlich machte er seine Zweifel aber nicht.

    Dieses Eisen war ihm entschieden zu heiß.

    "Ich behaupte sehr wohl etwas anderes", wandte sich der Lehrer an Schlichter. "Nämlich, daß der angebliche Täter unschuldig war.

    Dass der wahre Täter davon kam und seitdem ein bequemes Leben führen darf. Hier, in diesem Haus, wurden die Kinder ermordet. Auf dem Opferstein wurde ihr Blut vergossen. Die Miliz und das Richterkollegium wissen das. Seit sieben Jahren belügen sie die Stadt und das Land. Das erkläre ich hiermit. Und ich kann es beweisen!" "Das sind schwere Anschuldigungen", erwiderte Schlichter. "Wer soll denn Eurer Meinung nach der wahre Mörder sein?"

    "Warum habe ich euch in diesen Raum geführt?", fragte der Schulmeister zurück. " Damit ihr den Wahnsinn mit eigenen Augen seht, der die Mörderin beseelte. Als die Erbtochter Agnatha vor siebzehn Jahren verschwand, konnte ihre Mutter den Verlust nicht verkraften. Sie zog sich in die Einsamkeit zurück, in dieses Gebäude, wo sie lange Zeit ganz alleine lebte. Schließlich begann sie zu malen und zu modellieren, damit sie wenigstens Darstellungen ihres Kindes vor Augen hatte, Wie im Rausch schuf sie ein Gemälde nach dem anderen. Und eine Porzellanfigur nach dem anderen. Bis es", er vollführte eine umfassende Geste, "hier so aussah. In diesem Zimmer verbrachte sie ihre Tage und Nächte. Die Bilder und die Figuren spendeten ihr Trost. Aber nicht für lange.

    "War Agnatha nicht schon siebzehn Jahre alt, als sie verschwand?", fragte ich. "Warum hat ihre Mutter sie dann als kleines Mädchen dargestellt?"

    Der Schulmeister nickte. "Ein guter Einwand", sagte er. "Daran zeigte sich schon der beginnende geistige Verfall der armen Frau. Sie fing sogar an, sich für okkulte Praktiken zu interessieren. Mit ihren finanziellen Mitteln fiel es ihr leicht, entsprechende Literatur zu erwerben und auch Gegenstände wie den Opferstein. Der Gedanke ergriff von ihr Besitz, dass es möglich sei, ihre Tochter aus dem Totenreich zurück zu holen. Aber dafür mussten Opfer gebracht werden. In einem der Bücher las sie von einem Ritual. Wenn sie sieben Kinder, die Agnatha in deren siebten Lebensjahr glichen, in sieben Vollmondnächten den alten Göttern darbrachte, dann würde das Mädchen zurück kommen." Er wies auf den Opferstein. " Genau hier", verkündte er, "schlachtete sie in ihrem Wahn die armen Kinder und sprach alte Worte der Macht, auf dass sich ihr Wunsch erfülle. Hier wurde sie endlich von der Miliz gefasst. Seitdem lebt sie im Narrenhaus, wohl behütet. Der Öffentlichkeit wurde ein Sündenbock präsentiert."

    Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte dieser Schulmeister aus der tiefsten Provinz wirklich gerade die Hohe Dame eines der Großen Häuser des Mordes beschuldigt? Des Massenmordes? An Kindern? Und das vor zwanzig Schülern, die diese Kunde sofort verbreiten würden, sobald sie wieder in der Stadt eingetroffen sein würden? Das war ungeheuerlich. Aus einer harmlosen Schulprüfung war bitterer Ernst geworden. Mit unabsehbaren Folgen. Die drei Sverrig traten vor. Langsam gingen sie auf den Schulmeister zu, die Hände an ihren Messern. Mir wurde klar, daß jetzt Blut fliessen würde. Die Sverrig hatten jedes Recht, diese Kränkung ihrer Sippe zu rächen. Niemand würde ihnen einen Vorwurf machen. Wer in aller Öffentlichkeit solche Anschuldigungen gegen die Mächtigen der Stadt vorbrachte, landete in der Regel gar nicht erst vor Gericht, sondern gleich auf dem Totenacker, und zwar in ungeweihter Erde. Deshalb ereigneten sich Vorfälle dieser Art auch ausgesprochen selten.

    Eigentlich hätte ich auf das Leben des Lehrers keinen Pfifferling gegeben. Drei gegen einen, um das mit heiler Haut zu überstehen, musste man schon ein sehr tüchtiger Krieger sein. So wirkte der Schulmeister nicht. Er war groß, aber auch schmal und feingliedrig. Mit einem Messer hätte er vielleicht eine Chance gehabt, doch er machte keine Anstalten, eine Waffe zu ziehen, als sich die Vettern drohend näherten. Ganz ruhig stand er da. Lässig, unbeeindruckt. Als ob er rein gar nichts zu befürchten hätte. Das schien die Sverrig zu beeindrucken. Zwei von ihnen blieben stehen. Der Älteste, Olaf, ging noch einen Schritt vorwärts, so dass er seinem Gegenüber direkt in die Augen blicken konnte.

    Dann sagte er: " Du bist tot!"

  • Kräuter und die Mondelfen

    2. Kapitel Das echte Grauen

    Teil 3

    Die drei drehten sich um und stürmten aus dem Zimmer. Wir anderen blieben ratlos zurück. Was immer jetzt auch geschehen mochte, die Vernunftprüfung war jedenfalls vorbei. Durchgefallen war ausgerechnet der Lehrer. Vernünftig wäre es gewesen, wenn er sich abgesetzt hätte, bevor die Hausmiliz der Sverrig auf den Plan trat. Aber er setzte in aller Ruhe seinen Unterricht fort.

    "So", sagte er und klatschte in die Hände. Ich will euch einen Hinweis geben, was während der Vernunftprüfung auf euch zukommen wird. Ihr werdet einen Blutsauger, Grabwandler und Mondelfen erleben. Aber ich will nicht, daß ihr auf kindische Abwehrzauber aus den Tagen des alten Aberglaubens zurückgreift, um euch zu verteidigen. Welche waren das noch mal?", wollte er wissen.

    Lehrer meldete sich, ohne auch nur im Geringsten zu zögern. Selbst auf dem Schaffott, schon unter dem Galgen, hätte er bereitwillig Wissensfragen beantwortet, um gute Noten ins Grab mitnehmen zu können. Das war einfach seine Natur. "Gegen Sauger hilft ein Spiegel, den man ihnen entgegenhält. Sie haben nämlich kein Spiegelbild, was sie so verunsichert, daß sie zurück schrecken", erläuterte er. "Angriffe von Grabwandlern pariert man mit geweihtem Salz. Und gegen Mondelfen helfen lustige Geschichten. Solange sie lachen, sind sie ungefährlich. "Und was ist mit Milch und Keksen?", fragte ich irritiert. "Da bestehen mehrere, verschiedene Überlieferungen nebeneinander", antwortete er. "Es handelt sich schließlich nur um albernen Hokuspokus. Vor der Aufklärung glaubten die Leute an alles Mögliche und auch das Gegenteil. Wie hätte man diesen Unsinn mit wissenschaftlicher Methodik überprüfen können?"

    "Ganz genau",pflichtete ihm der Schulmeister bei. "Ich erwarte von euch, dass ihr die Schreckensgestalten, denen ihr gleich gegenüber stehen werdet, mit kühlem Blick betrachtet als das, was sie wirklich darstellen. Erzeugnisse moderner Wissenschaft und Technik. Findet heraus, wie sie funktionieren. Dass mir keiner irgendwelchen Magiekram ausprobiert! Was dich betrifft, Kräuter", wandte er sich mir zu, "wenn es dir gelingt, die Inschrift auf dem Opferstein zu übersetzen, winken Extrapunkte. Eine kleine Ruhepause gönne ich euch. Dann folgt die Stunde der Bewährung!" Lässig klatschte er in die Hände und verschwand in einer Nebelwolke, die sich schnell ausbreitete und uns zum Husten und Niesen reizte. Als die Sicht wieder klarer wurde, war er natürlich weg. Nicht, dass mich dieser billige Trick beeindruckt hätte. Zu denken gab mir vielmehr die seltsame Sorglosigkeit des Schulmeisters. Begriff er denn gar nicht, in welche Lage er sich gebracht hatte?

    "Was machen wir jetzt?", fragte Lehrer. Schlichter trat vor. "Wir warten hier in aller Ruhe ab", sagte er. "Ich vermute, dass die Sverrig die Pferde genommen haben und auf dem Weg in die Stadt sind. Kleiner, Schönhaar, schaut mal draußen nach." Warum Schönhaar diesen Spitznamen traug, muss ich nicht näher erläutern. Wie er es schaffte, seine blonden Locken so in Form zu halten, verblüffte selbst die Mädchen, die sich für ihre Haarpflege bei ihm Rat holten. Nach wenigen Minuten waren die beiden wieder zurück. "Die Pferde sind weg, und Dietmar auch", berichtete Kleiner. "Nur der Wagen ist noch da". "Auf lahmen Zugpferden, die jeweils zwei Mann tragen, brauchen sie anderthalb Stunden bis zur Stadt", schätzte Schlichter. "Dann noch mal knapp eine Stunde, bis sie ihre Hausmiliz mobilisiert haben." "Die auf schnellen Reitpferden deutlich unter einer Stunde hier auftauchen wird", fügte ich hinzu. "Und dann jagen sie den Schulmeister", prophezeite Schlichter. "Der schon längst auf der Flucht sein dürfte, wenn er die Nacht in einem Stück überleben möchte. Wenn ihr mich fragt, ist er schon auf dem Weg zu den Flusslanden. Sucht euch besser einen bequemen Platz und ruht euch etwas aus. Denn bald wird es hier sehr interessant werden!".

    Die Leute folgten bereitwillig seiner Aufforderung. Glücklicherweise war der Boden der Empfangshalle mit dicken Teppichen ausgelegt. Diese waren zwar auch rot, passend zum Blutmond, aber wenigstenns eigneten sie sich sehr gut zum Sitzen oder gar zum Liegen. Schlichter, Soße und ich ließen uns auf ihnen nieder und lehnten uns mit dem Rücken gegen eine Zimmerwand.

    Ich kramte in meinen Taschen nach Essbarem. Oder vielmehr nach fast Essbarem. Tante Meg war nämlich eine entschlossene Kämpferin für gesunde Ernährung, was sich in einer Vorliebe für Gemüse und Körnerbrot ausdrückte, während Fleischgenuss in ihren Augen einem Selbstmordversuch gleich kam. Insbesonderer Geräuchtertes hielt sie für pures Gift. Daher war ich bestens mit Gurkenbroten und Äpfeln ausgestattet, die keinen wirklichen Ersatz für echte Nahrung darstellten. Zum Glück saß Soße neben mir. Wortlos reichte er mir ein paar geräucherte Würste. Dem Hungertod war ich also gerade noch entronnen. Mein Appetit litt aber etwas darunter, dass ich Schlichters Sorglosigkeit nicht teilen konnte. Ich bezweifelte, dass der Lehrer wirklich auf und davon war. Das hätte nicht zu dem Auftritt gepasst, den er bisher abgeliefert hatte. Es würde noch etwas folgen, ich spürte die drohende Gefahr geradezu.

    Lehrer gesellte sich zu uns. "Stimmt es eigentlich?", fragte er Schlichter. "Die Richter müssten doch Bescheid wissen, wenn die Hohe Dame der Sverrig tatsächlich diese Morde verübt haben sollte." "Das kann ich mir nicht vorstellen", antwortete der Richtersohn. "Mein Vater würde bei so etwas nicht mitmachen, und man könnte es auch nicht vor ihm geheim halten. Dieser Schulmeister ist schlicht übergeschnappt. Achtet nicht auf sein Gerede". "Und wenn er noch da ist?", gab ich zu bedenken. "Wenn er wirklich etwas auf uns los lässt, was wie Sauger, Grabwandler oder Mondelfen aussieht? Denkt an meinen Onkel Bernie und seine letzte Vorstellung. Die fliegenden Dämonen, die Feuer spuckten!" "Das waren Puppen, die an dünnen Drähten hingen", belehrte mich Lehrer. "Und die Flammen stellten sich als das Resultat einer raffinierten, aber einwandfrei erklärbaren chemischen Reaktion heraus." "Es gab aber ernsthafte Verletzungen", wandte ich ein. "Der Schulmeister scheint mir mindestens so verrückt zu sein wie Onkel Bernie. Es könnte durchaus noch etwas Bedrohliches auf uns zukommen."

    "Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?", fragte Schlichter. "Uns in kleine Gruppen aufteilen und das Haus durchsuchen? Gerade dadurch würden wir doch verwundbar. Nein, wir bleiben alle schön zusammen in diesem Raum, der gut zu verteidigen ist. Nicht mehr lange, dann werden auch die Sverrig hier sein." Ich dachte an die vielen Gruselgeschichten, die ich heimlich verschlungen hatte, während Tante Meg mich beim Lernen wähnte. Da gab es immer jemanden, der es für eine gute Idee hielt, den unheimlichen Geräuschen, die er vernommen hatte, allein auf sich gestellt nachzugehen und die schützende Gruppe zu verlassen.

    Man wollte ihm zurufen: "Lass das! Bleib bei deinen Leuten! Das wird böse ausgehen! " Aber Romanfiguren hörten nie zu und marschierten fröhlich in ihr sicheres Verderben. "Du hast recht", sagte ich zu Schlichter. "Also warten wir eben." Die anderen nickten zustimmend. Und so warteten wir. Die Zeit kroch dahin. Immer, wenn ich auf die Uhr sah, verging sie wie zum Hohn noch langsamer. Schließlich waren eineinhalb Stunden ins Land gegangen, ohne dass sich irgendetwas Gefährliches oder wenigstens Interessantes hätte blicken lassen. Die meisten von uns waren mittlerweile eingeschlafen. Ich beneidete sie um ihre Gelassenheit. Auch Soße schnarchte leise vor sich hin. Wenigstens waren Lehrer und Schlichter noch wach.

    "Die Sverrig müssten jetzt die Stadt erreicht haben", bemerkte Schlichter. "Sobald sie hier eingetroffen sind, dürfte es dem Schulmeister schwer fallen, noch etwas zu unternehmen. Falls er wirklich irre genug sein sollte, sich noch im Haus aufzuhalten".

    "Für alle Fälle habe ich ein paar meiner Elixiere mitgebracht", verkündete ich. "Ihr wisst ja, dass es besonders hoch bewertet wird, wenn man der Vernunftprüfung mit wissenschaftlichen Methoden begegnet." Ich griff in eine meiner Manteltaschen und förderte ein Fläschchen zu Tage. "Das hier zum Beispiel", erklärte ich, "erzeugt künstlichen Nebel. Viel dichter und länger anhaltend als das Zeug, das der Lehrer verwendet hat, und vor allem ohne Nebenwirkungen." "Und wozu soll das gut sein?", wollte Lehrer wissen. "So hätten wir uns gut verbergen können, wenn Onkel Bernie seine Dämonenpuppen auf uns los gelassen hätte", entgegnete ich. " Oder den angeblichen Geisterhund, den er damals mit fluoreszierender Leuchtfarbe angestrichen hat. Der hätte uns nicht gesehen!" "Aber wir könnten im Nebel doch auch nichts sehen",stellte Lehrer fest. Darauf hatte ich eine Antwort. Ich holte ein anders Fläschchen hervor. "Hier hätten wir eine Weiterentwicklung meiner Augentropfen, die das Sehvermögen im Dunklen, aber auch im Nebel spürbar erhöhen. Ich habe sie selbst ausprobiert. Sehen, aber nicht gesehen werden!" "Ist das etwa das Zeug, das du uns bei unserer ersten Nachtübung verabreicht hast?", fragte Schlichter entsetzt. "In der Tat hat es unsere Nachtsicht erheblich verbessert, aber dafür konnte ich wochenlang kein Sonnenlicht ertragen. Hat deine Tante dir nicht verboten, mit diesem Gebräu weiter zu experimentieren?"

    "Damals war ich elf Jahre alt", verteidigte ich mich. "Da kann so etwas schon einmal passieren. Aber jetzt habe ich alles im Griff. Tante Meg wird stolz sein, wenn ich ihr das Ergebnis präsentiere. Doch das ist noch gar nichts. Auf einem anderen Gebiet ist mir ein echter Durchbruch gelungen! Eine Ergänzung zum Berserkertrank! Wie ihr wisst, verleiht einem dieses Elixier zunächst übermenschliche Kräfte, führt aber auch dazu, dass später das Herz platzt oder zumindest schwer geschädigt wird. Dagegen hilft mein neues Mittel. Man nimmt es nach dem Berserkertrank ein, und, abgesehen von erheblicher Erschöpfung und einem erhöhten Schlafbedürfnis, kommt es zu keiner Gesundheitsbeeinträchtigung." "Du bist verrückt", stöhnte Schlichter. "Hast du das auch selber ausprobiert?" "Bisher nur an Kaninchen", gab ich zurück. "Es gab Anfangsschwierigkeiten, aber schließlich haben die überlebenden Exemplare die Kur gut überstanden. Natürlich ist es nicht leicht, von Kleintieren ausgehend, die richtige Dosierung für einen Menschen festzusetzen. Daher benötige ich eine lebensgefährliche Situation, in der ich vor der Wahl stehe, entweder draufzugehen oder den Berserkertrank zusammen mit meiner Ergänzung zu testen. Die Vernunftprüfung scheint mir hierfür eine gute Gelegenheit zu sein. Denkt nur an die Sache im Mordhaus vor zwei Jahren, als sich plötzlich die Wände auf die Leute zu bewegten und der Mechanismus, der das bewirkte, außer Kontrolle geriet. Übermenschliche Kräfte wären da sehr nützlich gewesen!"

    Onkel Bernie hatte die Schüler seinerzeit im letzten Moment gerettet. Das brachte ihm eine Galgenfrist ein, die abgelaufen war, als er sich die Sache mit den fliegenden Dämonen geleistet hatte. Der Schuldienst war für ihn gelaufen.

    "Hoffen wir mal, dass eine solche Lage nicht eintritt", sagte Lehrer und richtete sich ächzend auf. "Ich sehe mich hier noch ein bisschen um, bevor ich mich noch zu Tode langweile." Er schritt zu dem Gemälde, auf dem die junge Frau abgebildet war. Ich erhob mich ebenfalls und stellte mich neben ihn. Je länger ich das Bildnis betrachtete, desto mehr erinnerte es mich an die Werke meines Großvaters väterlicherseits, der die politische Führung seines Hauses meiner Großmutter überlassen hatte, weil er lieber malte. Er war auch viel gereist. Überall in der Familienfestung der Wasa hingen seine Bilder, die die fremdem Landschaften und Städte zeigten, die er gesehen hatte. Aber auch als Portraitmaler hatte er Bedeutendes geleistet. Lehrer schien meine Gedanken gelesen zu haben. "Soße liegt wohl daneben", meinte er. "Der Schöpfer dieses Gemäldes dürfte sich eher am Stil deines Großvaters Gustav orientiert haben. Aber dessen Meisterschaft erreichte er nicht ganz. Was kein Wunder gewesen wäre, wenn Agnatha selbst die Künstlerin gewesen sein sollte. Sie zählte schließlich erst siebzehn Jahre, als sie verschwand." "Du glaubst wirklich, dass sie so gut malen konnte?", fragte ich erstaunt. "Sie soll ein sehr begabtes Mädchen gewesen sein", antwortete Lehrer. "In Bildender Kunst die Beste ihres Jahrgangs. Mit siebzehn kann man durchaus schon Beachtliches leisten. Ich zum Beispiel bin auch nicht älter und doch schon der Verfasser unseres neuen Geometrieschulbuches. Und du hast neben all dem gefährlichen Unsinn, mit dem du deine Zeit vergeudest, durchaus ein paar nützliche Tränke und Salben entwickelt." Das stimmte. Meine Alles-Weg- Tinktur war eigentlich dazu gedacht, entzündete Wunden zu behandeln, wofür sie sich leider als unbrauchbar erwiesen hatte. Dafür beseitigte sie zuverlässig Falten, Narben und Muttermale sowie Hautunreinheiten jeglicher Art. Frauen, die sie anwandten, sahen fünf bis zehn Jahre jünger aus. Das Zeug fand reißenden Absatz. An die Einnahmen würde ich aber leider erst als Ewachsener herankommen. Aus unerfindlichen Gründen traute mir Tante Meg einen verantwortungsvollen Umgang mit so viel Geld einfach nicht zu.

    "Ein Selbstportrait also", überlegte ich. Dann war sie aber nicht sehr glücklich." Tatsächlich wirkte Agnathas Abbild ernst und nachdenklich, geradezu düster. Sie schien den Betrachter direkt anzublicken, als ob sie signalisieren wollte, dass man sie besser in Ruhe ließ. "Warum stellt sich jemand so dar?" "Sie ahnte vielleicht etwas", spekulierte Lehrer. "Kommendes Unheil. Was immer ihr widerfuhr, es war bestimmt nichts Gutes." "Wie oft wird ihre Mutter hier gestanden und das Bild angesehen haben", sinnierte ich. "So etwas kann einen schon in den Wahnsinn treiben." "Falls die Geschichte des Schulmeisters der Wahrheit entspricht", sagte Lehrer. "Immerhin behauptet er ja auch, man könne den Sinn der Symbole auf dem Opferstein entschlüsseln, indem man die Worte nur laut vorliest." Das brachte mich auf eine Idee. Ich schlenderte zu dem Metallblock, der eigentlich gar kein Stein war, und nahm die eingeprägten Schriftzeichen noch einmal in Augenschein.

    "Ablak glitterad lo", murmelte ich leise. "Ablak isferrat ra. Baal kmosch. Ablak isferrat."

    "Das ist doch wohl nicht dein Ernst", schalt mich Lehrer. "Als ob man so Texte übersetzen könnte!" "Systematik hat bislang nicht weiter geholfen", entgegnete ich. "Vielleicht geht es ja auch anders, mit Intuition. Was soll`s, irgendwie müssen wir die Wartezeit doch herumbringen. Schaden kann es ja wohl nicht." Selten hatte ich so daneben gelegen. Das konnte ich damals aber noch nicht wissen. Lehrer winkte ab und ging zum Fenster, wo schon Schönhaar stand und den Blutmond bewunderte. Schnell entwickelte sich ein Gespräch über Schweifsterne und Himmelssteine. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sich Schönhaar für etwas anderes als seine Frisur interessierte. Und dann kam mir die Erleuchtung. Ich war mir absolut sicher. Die Worte auf dem Opferstein bedeuteten in unserer Sprache: Blut Eins. Mond Eins. Jahrzentelang hatten sich die klügsten Gelehrten der Stadt an den Zeichen die Zähne ausgebissen. Woran sie gescheitert waren, hatte ich soeben geschafft. Oder auch nicht.

    Ablak glitterad lo. Ablak isferrat ra. Baal kmosch. Ablak isferrat.

    Das waren sieben verschiedene Worte. Wenn eines für Mond stand, ein anderes für Blut und ein weiteres für Eins, blieben noch vier übrig. Die vielleicht gar nichts bedeuteten. Oder Synonyme darstellten. Vielleicht war diese tote Sprache auch so fremdartig, dass unsere Regeln der Logik nicht auf sie angewandt werden konnten. Auf jeden Fall war es nicht ratsam, auf die Sprachforscher zuzugehen und ihnen zu eröffnen, dass ausgerechnet mir die Lösung des Rätsels auf geheimnisvolle Weise zuteil geworden war.

    Im nächsten Moment hätte ich mich zur Beobachtung im Narrenhaus wieder gefunden. Da wir im Zeitalter der Vernunft lebten, wurden die Irren nicht wie früher in dunklen Kerkern gehalten, wo man sie in Ketten legte und gegebenenfalls auch noch zusätzlich fesselte und knebelte. Offiziell hießen sie auch nicht mehr Irre, sondern geistig Erkrankte, und das Narrenhaus erfeute sich der amtlichen Bezeichnung "Haus der guten Gedanken". Trotzdem verspürte ich wenig Lust, dort den Rest meiner Tage zu verbringen.

    Dabei war ich völlig überzeugt von der Richtigkeit meiner Deutung. Blut Eins. Mond Eins.

  • Kräuter und die Mondelfen

    3.Kapitel

    Blutmond

    Immer noch stand der Blutmond am Himmel. Das Wetter hatte sich verschlechtert. Regen prasselte gegen das Fenster. Man konnte keine Sterne mehr sehen, aber die Wolken, die sie verdeckten, schienen den Mond zu meiden. Ich bekam eine Gänsehaut. Gerade, als ich mich entschlossen hatte, Lehrer und Schönhaar Gesellschaft zu leisten und an ihrer Unterhaltung teilzunehmen, setzte ein Höllenlärm ein. Als ob wir unmittelbar in einem Glockenturm gestanden hätten. Das Läuten dröhnte derart, dass ich mir instinktiv die Ohren zu hielt. Alle sprangen auf. Bevor jemand irgendetwas sagen konnte, verstummten die Glocken wieder.

    Schlichter reagierte sofort. "Abwehrkreis bilden!", befahl er. Wir zogen unsere Messer und stellten uns so auf, dass wir auf Angriffe von jeder Seite reagieren konnten. Der Drill in der Jugendmiliz machte sich bezahlt. In einer bedrohlichen Situation dachte man nicht lange nach, man handelte. Wie wir es gelernt hatten. Aber wo war die Gefahr?

    Der Schulmeister hatte Blutsauger, Grabwandler und Mondelfen angekündigt. Er würde sich kaum mit harmlosen Trugbildern und unheimlichen Geräuschen begnügen. Wer den eigenen Tod so bedenkenlos herausforderte wie er, von dem war Rücksichtnahme gegenüber anderen Menschen kaum zu erwarten.

    Etwas stach in meine Stirn. Ich hielt Ausschau nach einer Mücke oder Stechfliege, und dabei bemerkte ich, dass es den anderen ebenso erging. Einige schlugen um sich, als ob sie in einen ganzen Schwarm angriffslustiger Insekten geraten wären. Und dann hörte ich es. Ein leises Schlürfen. Etwas Widerlicheres hatte ich noch nie vernommen. Das Schlürfen wurde lauter. Es erfüllte den Raum wie zuvor der Glockenklang. Erneut wurde ich gestochen, diesmal in die rechte Wange. Blutrote Tropfen schwebten in der Luft und bewegten sich von mir fort, glitten auf den Mondstrahlen dahin, zum Fenster, durch dieses hindurch und zum Himmel hinauf. Zum Blutmond. Das war also der Sauger. Niemand schrie. Die Leute waren starr vor Grauen. "Deckung", kommandierte ich. "Werft euch auf den Boden! Mit den Gesichtern nach unten! Kapuzen hoch! Handschuhe an! Schützt eure Haut!"

    Ich hatte nie viel Autorität ausgestrahlt. Den Befehlston beherrschten Jungs wie Schlichter, Kleiner oder sogar Lehrer, aber meine Sache war das nicht. Bis jetzt. Auf einmal kam es mir ganz natürlich vor, dass alle meine Anweisungen befolgten, als ob ich der Kommandant der Stadtmiliz persönlich wäre. Genauso wie die anderen ließ ich mich fallen und schützte mein Gesicht und meine Hände. Tatsächlich ließ das Gefühl, gestochen zu werden, schnell nach. Vorsichtig hob ich den Kopf und sah mich nach allen Seiten um, vermied es jedoch, den Mond direkt anzuschauen. Schlichter kam auf mich zu gekrochen. "Wir müssen in den Gang zurück, durch den wir in den Empfangssaal gelangt sind", sagte er, pragmatisch wie immer. "Da erreicht uns das Mondlicht nicht." Plötzlich verspürte ich ein brennendes Gefühl am Rücken und bemerkte gleichzeitig, dass von Schlichters Mantel dünne Rauchfahnen aufstiegen. Die Mondstrahlen saugten uns nicht mehr das Blut aus, sondern brannten Löcher in unsere Kleider!

    "Zu spät", entgegnete ich und rief: "Unten bleiben! Jetzt kommt mein künstlicher Nebel!" Ich griff in eine meiner Taschen, holte das entsprechende Fläschchen hervor und schmetterte es gegen eine Wand, wo es eines der Portraits des kleinen, blonden Mädchens traf und zersplitterte. Was dann geschah, übertraf meine kühnsten Erwartungen. Eine milchige Substanz breitete sich aus und verdichtete sich zu einer massiven Nebelbank. Das lief ja viel besser als in meinen Experimenten. Man konnte rein gar nichts mehr sehen. Nicht einmal die eigenen Hände. "Du lieber Himmel", war Soße zu hören, dessen Stimme durch den Dunst ganz dumpf klang. "Wie kommen wir hier heraus? In welche Richtung sollen wir gehen?"

    "Das Brennen hat jedenfalls aufgehört", stellte Schlichter fest. "Vielleicht solltest du jetzt deine Augentropfen einsetzen", sprach er mich an. "Damit wenigstens einer von uns etwas in dieser Suppe sieht." Ich wollte wieder in eine meiner Manteltaschen greifen, doch dann fiel mir etwas ein. "Ich fürchte, bei diesen Sichtverhältnissen kann ich die Inschriften auf den Fläschchen nicht lesen", gestand ich. "Am Ende erwische ich noch den Berserkertrank". Soße hatte sich inzwischen, dem Klang meiner Stimme folgend, an mich heran gerobbt. "Das ist ja wieder mal typisch", bemerkte er. "Du denkst nie etwas zu Ende. Kannst du die Tinkturen denn nicht an ihrem Geruch erkennen?" Auf die Idee hätte ich auch selber kommen können. Schnell förderte ich einen der Behälter zu Tage, öffnete ihn und schnüffelte daran. "Gleich beim ersten Versuch", stellte ich fest. "Dann wollen wir mal". Langsam ließ ich etwas von der Flüssigkeit auf meine linke Hand tropfen und rief mir die Substanz vorsichtig in die Augen. "Das duftet ja nach Vanille", staunte Soße. "Wie hast du das hinbekommen? Dieses Aroma könnte ich sehr gut für einen neuen Nachtisch gebrauchen."

    "Vielleicht legt ihr mal einen Zahn zu", mahnte Lehrer. "Schaut mal nach oben". Ich folgte seiner Aufforderung und erblickte blutrote Mondstrahlen, die sich langsam durch den Nebel kämpften. Einer kroch direkt auf mich zu. Zum Glück fingen die Augentropfen an zu wirken. Das Bild, das sich mir nun bot, wies zwar einen leichten Grünstich auf, doch konnte ich genug sehen, um die Gesichter meiner Mitschüler erkennen und ihnen Anweisungen erteilen zu können. "Alle aufstehen", kommandierte ich. "Kleiner, einen halben Schritt nach rechts. Noch etwas, gut so. Jetzt geradeaus, weiter, halt. Links um, dann kommst du direkt in den Gang. Geh bis zum Ende, an die Tür. Der Nächste. Holzer!" Während ich eine unerwartete Freude am Befehlen entwickelte, lotste ich einen nach dem anderen in den schützenden Korridor und folgte ihnen schließlich, immer darauf bedacht, nicht von einem der Mondstrahlen erwischt zu werden. "Vorläufig sicher", sagte ich zu den dicht aneinander gedrängten Kameraden. "Falls der Mond nicht um die Ecke scheinen kann". "Hälst du das für möglich?", fragte Soße entsetzt.

    "Das ist kein normales Mondlicht", sagte Lehrer. "Das ist irgendetwas anderes, das von einer verborgenen Lichtquelle ausgeht, von einem Spiegel reflektiert und in unsere Richtung gelenkt wird." "Wenn das so ist", antwortete ich, "kann man es auch zurück spiegeln. Schönhaar, hol mal deinen Spiegel raus !". Selbstverständlich hatte der Mann immer einen dabei, um jederzeit den Sitz seiner Frisur überprüfen zu können. "Wann löst sich denn endlich diese Nebelsuppe auf", wollte er wissen, während er mir das gute Stück übergab. "Sei froh darüber", mischte sich Schlichter ein. "Ohne dieses Zeug wären wir schon alle gegrillt worden". "Hoppla, da kommen die Mondstrahlen", rief Soße dazwischen. Tatsächlich beschrieben drei der Strahlen einen Bogen und bewegten sich langsam auf uns zu.

    Jede hinreichend entwickelte Technologie sei von Magie nicht zu unterscheiden, sagte ein weiser Mann einmal.

    Alles, was wir an diesem Abend erlebt hatten, das Blut saugende Mondlicht, das sich plötzlich in Hitzestrahlen verwandelte, die sich um die Ecke schlängeln konnten, ließ sich auf unserem Wissensstand nicht mehr erklären. Magie gab es nicht. Jeder vernünftige Mensch wußte das. Also kamen hier Erzeugnisse fortgeschrittener Wissenschaft zum Einsatz, mit der verglichen wir nicht mehr darstellten als grunzende Höhlenmenschen. In unserem Heimatmuseum waren Steinbeile zu bewundern, die unsere frühen Vorfahren vor langer Zeit verwendet hatten. Eine moderne Schmiede wäre ihnen wie ein Wunder erschienen. So wie uns jetzt die unmöglichen Strahlen des Blutmonds. Aber wer verfügte über solche Möglichkeiten? Um gegen eine Gruppe von Schuljungs vorzugehen? Da solche Überlegungen im Augenblick nicht von Nutzen waren, beschloss ich, Lehrers Spiegeltheorie auszuprobieren. Falls das nicht funktionieren sollte, waren wir ohnehin erledigt. Ich ging auf einen der Strahlen zu und hielt Schönhaars Handspiegel so in der Hand, dass das Licht auf die Glasfläche treffen musste. Was es auch tat. Der Griff des Spiegels erhitzte sich. Der Schmerz war kaum noch zu ertragen. Doch dann veränderte sich die Farbe des Mondlichts. Aus einem dunklen wurde ein helles Rot und schließlich ein fahles Gelb, das sich immer mehr abschwächte. Fast gleichzeitig begann mein Nebel, sich aufzulösen.

    "Ich hatte recht", rief Lehrer begeistert. "Es hat funktioniert". Als ich mich ihm zuwandte, fragte er: "Was ist mit deinen Augen los? Die leuchten ja wie die einer Katze. Von wegen keine Nebenwirkungen!" Ein Blick in Schönhaars Spiegel zeigte mir, dass seine Beobachtung korrekt war. Diesen Effekt hatte ich nicht bemerkt, als ich die Augentropfen an mir selbst ausprobierte, "Sieht gar nicht schlecht aus", bemerkte Schönhaar. "Gibt dir was Geheimnisvolles. Kann ich meinen Spiegel zurück haben?" Schlichter klatschte in die Hände. "Wir müssen hier raus. Kleiner, Soße, ihr seid die Stärksten. Seht zu, dass ihr die Außentür aufbekommt!"

    "Das dürfte doch kein Problem sein, oder?", fragte Lehrer. Theoretisch teilte ich seine Meinung. Die Praxis entwickelte sich leider weniger günstig. Es fing damit an, dass Kleiner die Klinke herunter drückte und sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür warf. Ohne Erfolg. Dann versuchten Soße und er es gemeinsam. Zwei weitere Leute kamen hinzu. Aber nichts half, weder Schläge noch Fusstritte. Sogar Messerklingen brachen ab oder zerbrachen.

    "Das mag aussehen wie Holz", sagte Holzer, dessen Familie ein Sägewerk betrieb, "aber es ist keines. Eisen, würde ich sagen. Erstklassig geschmiedet." Mir kam eine Idee. "Einen Augenblick mal", sagte ich, ging in den Empfangssaal zurück, griff mir eine der geschmacklosen Porzellanfiguren und schmetterte sie gegen das Fenster, durch das man jetzt wieder den Mond in seiner gewohnten Gestalt erblicken konnte. Blass und klein. Das Wurfgeschoss hatte sein Ziel noch nicht erreicht, da kamen schon die nächsten Figuren geflogen. Die Jungs schnappten sich alles, was sie in ihre Hände bekommen konnten, und warfen das Zeug gegen das Fenster. Als das nicht wirkte, nahmen sie Stühle, Tische und Gemälde und droschen damit auf das Glas ein. Es hielt stand. Nicht ein Kratzer war zu sehen. Wir benötigten Glasers Expertenwissen nicht, um zu dem Schluss zu gelangen, dass dieses scheinbare Fensterglas keines war, auch wenn es sich so anfühlte. Wir waren eingeschlossen. Weder durch die Tür noch durch das Fenster gab es ein Entkommen.

    "Das gibt es doch alles gar nicht", sagte Lehrer nervös. "Unzerstörbares Holz und Glas, Blut saugende und sengende Mondstrahlen!

    Das ist doch nicht mehr vernünftig!" Es war nicht Feigheit, die aus ihm sprach. Wie wir alle hatte er bei vielen Gelegenheiten Mut bewiesen. Während der Überlebensübungen unserer Jugendmiliz ging es durchaus nicht ungefährlich zu. Schon Zehnjährige mussten beweisen, dass sie, in kleinen Gruppen, mehrere Tage und Nächte in der Wildnis überleben konnten. Zwar nur im Sommer und immerhin mit bescheidenen Vorräten und einigen Ausrüstungsgegenständen versehen, so dass weder Erfrieren noch Verhungern drohten. Gegen Letzteres hatten aber aber auch Bären und Wölfe etwas, von denen es in den Bergwäldern wimmelte. Dazu kamen Giftschlangen. Wildschweine zeichneten sich auch nicht gerade durch übertriebene Harmlosigkeit aus. In der Abschlussprüfung der Siebzehnjährigen ging es noch wesentlich ernsthafter zu. Selbstverständlich durften wir hierfür im tiefsten Winter antreten, ohne Vorräte, ohne Waffen und allein. Dass die Bären und die Schlangen Winterschlaf hielten, stellte nur einen geringen Trost dar, denn die Wölfe waren um so hungriger. Kaum ein Jahrgang kam ohne Verluste davon. Wir hatten drei Tote zu beklagen. Schwere Verletzungen und Erfrierungen galten als normal.

    Lehrer war es nicht besser ergangen. Was ihn jetzt aus dem Gleichgewicht brachte, war nicht die Gefahr für Leib und Leben. Sondern das Entsetzen über ein in sich zusammen stürzendes Weltbild. Gerade eben hatte er noch versucht, die um die Ecke kriechenden Mondstrahlen mit einem raffinierten Spiegeltrick zu erklären, aber es wurde ihm wohl langsam klaar, dass seine geliebten Schulbücher hier an ihre Grenzen gelangten. Falls sich seine aufkeimende Panik auf die anderen übertragen sollte, stand es schlecht um unsere Überlebenschancen. Während ich fieberhaft darüber nachdachte, wie ich ihn beruhigen konnte, fiel mir etwas ein. Ich nahm mein Messer, schritt auf den Opferstein zu und zog die Klinge über das rötliche Metall, ohne dass dies auf dem Artefakt auch nur die geringste Spur hinterließ. "Wie erklärst du dir das?", fragte ich Lehrer. "Sicher erinnerst du dich noch an Schulmeister Norists Naturkundeunterricht, als er allerlei Versuche mit einem Brocken dieses Materials aus dem Alten Reich anstellte? Er bearbeitete das Zeug mit Sägen und Vorschlaghämmern, übergoss es mit Säure, warf es ins Feuer einer Schmiede. Was kam dabei heraus? Nichts! So etwas konnten sie damals herstellen. Und in Geschichte haben wir gelernt, das sie auch über verheerende Waffen verfügten, die unseren weit überlegen waren. Damit vernichteten sie sich schließlich selbst. Schau dir den Stein an. Anders als Meister Norrists kleine Probe wirkt er wie neu. Was, wenn es irgend jemanden gelungen ist, die alten Texte zu entziffern? Sich so Wissen zu verschaffen, und auf dieser Basis den unzerstörbaren Stoff zu produzieren und auch die damaligen Waffen nachzubauen? Blut saugende und sengende Strahlen zum Beispiel? Glas und Holz, an denen jede Waffe abprallt?"

    Auf meinen Vortrag folgte betretenes Schweigen. Schlagartig wurde mir klar, dass ich genau das Gegenteil von dem getan hatte, was meine Absicht gewesen war. Ich wollte die um sich greifende Furcht bekämpfen und erzählte den Leuten etwas von unheimlichen Bösewichten, die schreckliche, aus dem gruseligen Alten Reich stammende Vernichtungswerkzeuge an uns ausprobierten! Lehrers Reaktion verblüffte mich. "Das kann durchaus sein", sagte er nachdenklich. "Der Schulmeister war sehr interessiert an deinem vermuteten Talent, die Schriftzeichen auf dem Blutstein übersetzen zu können. Sie haben wohl noch lange nicht alle Texte entziffert. Aber einige schon. Wahrscheinlich wirklich ausreichend für ein paar Waffenkonstruktionen." "Was die wohl sonst noch gebastelt haben?", überlegte Soße laut. Es klang unaufgeregt. Die drohende Panik hatte sich gelegt. Offenbar kamen die Leute mit den furchtbarsten Zerstörungsinstrumenten, so lange sie nur der Wissenschaft entstammten, besser zurecht als mit dem Verdacht, ihr aufgeklärtes Weltbild könnte womöglich Lücken aufweisen.

    "Und jetzt wird mir auch klar, wer hinter all dem steckt", fuhr Soße fort. "Die Untergrundmagier! Das ist genau ihre Handschrift. Sie beschwören Gefahren herauf, die wie Zauberei aussehen, und kommen den erschrockenen Bürgern dann mit angeblicher Magie zur Hilfe. Natürlich alles Schwindel. So bekämpfen sie unsere aufgeklärte Ordnung. Schaut euch nur an, wie der Schulmeister vorging. Er kündigt einen Sauger an, verbietet uns aber streng, diesen mit magischen Mitteln zu bekämpfen. Und dann sollen wir die trotzdem aufzählen! Gegen Sauger helfen Spiegel! Und was machen wir? Wir setzen einen Spiegel zur Abwehr der Mondstrahlen ein. So will er uns zu Anhängern seines verrückten Aberglaubens machen! Damit ist auch klar, was wir als Nächstes machen müssen. Wer Salz dabei hat, her damit!" Alle wussten sofort, was er meinte. Auf den Sauger würden Grabwandler folgen. Beziehungsweise das Werk fortgeschrittener Technik, das aussah wie diese Schreckensgestalten, denen wir dann natürlich mit alten magischen Rezepten entgegentreten sollten, sofern Soße mit seiner Vermutung richtig lag. Salz half gegen Grabwandler, so glaubte man im Dunklen Zeitalter. Wenn wir das jetzt einsetzten, würden die Untergrundmagier zufrieden sein und uns vielleicht vom Haken lassen. Es gab nur ein Problem. Schlichter sprach es aus, wenn auch nur an mich gerichtet und im Flüsterton.

    "Mein Vater sagt, dass die Untergrundmagier, über die er zu urteilen hatte, allesamt harmlose Spinner waren. Die meisten hat er mit geringen Strafen davon kommen lassen. Einige musste er ins Narrenhaus schicken. So etwas wie das hier hätten die niemals auf die Beine stellen können." "Onkel Gerd ist derselben Meinung", gab ich Schlichter recht. "Zwar gehen sie tatsächlich so vor, wie Soße sagt. Aber nicht auf diesem Niveau." Der Gastwirtssohn schien keinerlei Zweifel an seiner Theorie zu hegen. Nachdem er alles Salz eingesammelt hatte,das die Jungs dabei hatten, verstreute er es vorsichtig auf dem Teppich, so dass es einen Kreis bildete.

    "Muss es nicht geweihtes Salz sein?", fragte Kleiner. "Kein Problem", entgegnete Soße. "Wie ihr wisst, versehe ich den Ahnendienst für meine Familie. Ich darf also Salz segnen." Er vollführte eine entsprechende Geste. Dass sich echte Grabwandler, wenn es sie denn geben sollte, von solchen Ritualen beeindrucken lassen würden, bezweifelte ich stark. Im Dunklen Zeitalter waren die Menschen von all dem überzeugt. Als die Aufklärer an die Macht kamen, hätten sie auch mit diesem Aberglauben gerne endgültig Schluss gemacht, aber der Ahnenkult war im Volk zu tief verwurzelt.

    Also hatte man ihn uminterpretiert. Die Ahnen galten nicht mehr als übernatürliche Wesenheiten, die irgendwo existierten, sondern nur noch als ehrenwerte Verstorbene, derer mit Respekt gedacht wurde. Es war verboten, zu ihnen zu beten, und die Ahnentempel hießen nun Ahnenhäuser. Segensgeten und Salzopfer waren erlaubt, solange sie ausschließlich der Tradition dienten. Natürlich wusste das Schulamt, dass viele Bürger am alten Glauben festhielten. Das wurde, wenn auch widerwillig, geduldet, so lange die Leute nicht laut sagten, was sie wirklich dachten. Ich wusste nicht, wie ernst Soße seinen Ahnendienst nahm. Ohne echten Glauben wäre ein Segen wohl selbst im Dunklen Zeitalter als wirkungslos angesehen worden. Heute galt das erst recht. Soße erwartete offenbar, dass der neue Lehrer mit Wohlwollen registrieren würde, dass wir uns mit magischen Mitteln gegen die Grabwandler verteidigen würden, um diese dann zurück zu pfeifen. Ganz so, wie sich die Mondstrahlen von Schönhaars Spiegel beeindrucken ließen. Verrückter konnte ein Plan wohl kaum sein. Zu einer irren Situation passte er aber recht gut.

    "Los geht es", rief Soße gut gelaunt. "Alle rein in den Kreis. Neun Leute stellen sich in Richtung Fenster auf, und acht mit Blick auf den Ausgang". Offenbar entwickelte auch er Freude am Kommandieren. Nichts desto weniger kamen mir seine Anweisungen vernünfig vor. Also nahmen wir Aufstellung in dem Salzkreis. "Und wenn keine Grabwandler erscheinen?", fragte Kleiner. "Dann warten wir eben auf die Miliz der Sverrig", antwortete Schlichter. "Lange kann das nicht mehr dauern." Dieser Hoffnung schloss ich mich an. Mit etwas Glück waren die Reiter vor Ort, bevor der Schulmeister seine nächste Überraschung auf uns los ließ. Auf die ich nicht besonders neugierig war.

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    4.Kapitel Grabwandler

    Teil 1

    "Ich kann bald nichts mehr sehen", ließ sich Glaser vernehmen. In der Tat waren die meisten Öllampen heruntergebrannt. Nach und nach erloschen sie. Dank meiner Augentropfen machte mir das nicht viel aus, aber für die anderen würde es bald finster werden. Der Mond war hinter den Wolken verschwunden. Donnergrollen kündete ein Gewitter an, aber noch zeigten sich keine Blitze, die die Nacht hätten erhellen können. "Da wäre noch etwas von meiner Tinktur übrig....., begann ich. Bevor ich fortfahren konnte, erhob sich ein vielstimmiges Gemurmel. "Oh, danke, ich sehe noch ganz gut", war da zu hören, oder auch "Bald sind die Sverrig doch da", "Ich habe noch vom letzten Mal genug", und natürlich "Was ist mit den Nebenwirkungen?". Nur Schönhaar kam auf mich zu und fragte: " Werden meine Augen in der gleichen Farbe leuchten wie deine? In diesem Smaragdgrün?" Ich musste zugeben, dass ich mir da nicht ganz sicher war. "Bei dir könnte es eine andere Farbe sein", antwortete ich. Das schien erst recht sein Interesse zu wecken. "Gib mir etwas davon. Ich bin gespannt!"

    Wie sich herausstellte, ließen die Augentropfen Schönhaars Augen goldgelb schimmern. Während er zufrieden sein Spiegelbild bewunderte, trauten sich schließlich auch die anderen, mein Angebot anzunehmen. Wahrscheinlich fürchteten sie die Dunkelheit doch mehr als meine Trankbereitungskünste. Als sie wieder etwas sehen konnten, kam sogar eine ausgelassene Stimmung auf. Siebzehn funkelnde Augenpaare in den unterschiedlichsten Farbtönen. Besonders bewundert wurde Schlichter, dessen Blick ins Rötliche spielte. "Du bist jetzt doch nicht mit dem Blutmond im Bunde?", scherzte Soße. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, weil ich mir diesen Effekt nicht erklären konnte. Wenn die Leute so unterschiedlich auf das Mittel reagierten, waren unerfreuliche gesundheitliche Folgen vielleicht doch nicht ganz auszuschließen.

    "Seid mal ruhig", mahnte Schlichter plötzlich. Wir lauschten. Und hörten tatsächlich Schritte. In der gegenüber liegenden Wand erschien eine Öffnung, durch die eine kleine Gestalt trat und auf uns zueilte. Mit verborgenen Türen arbeiteten die Lehrer bei den Vernunftprüfungen traditionell gerne. Daran war nichts Übernatürliches. Die Frau, die sich uns näherte, war zwar schwarz gekleidet und tief verschleiert wie eine Witwe, bewegte sich aber ganz normal und wirkte nicht bedrohlich. Sie blieb sogar höflicherweise vor Soßes Salzbarriere stehen. Nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens entledigte sie sich ihres Umhangs und legte das Kleidungsstück sorgfältig über das verstreute Salz, woraufhin sie hurtig über ihre improvisierte Brücke schritt und in unseren Kreis vordrang. Soße keuchte überrascht. Genauso wie mir wurde ihm wohl in diesem Augenblick schlagartig klar, dass die Gruselgeschichten, die wir so gerne gelesen hatten, einen entscheidenden Mangel aufwiesen. Sie funktionierten nur, wenn sich die Unholde wie Idioten benahmen. Nie kam ein Blutsauger auf den Gedanken, den Romanhelden, der ihn mit einem Ast einer heiligen Eiche in die Enge trieb, einfach mit einer Fernwaffe zu erledigen. Einer Armbrust, zum Beispiel. Auch war es keinem Grabwandler je eingefallen, die Häuser, die er aufgrund magischer Beschränkungen ohne Einladung nicht betreten konnte, mit Feuerpfeilen in Brand zu setzen.

    Deshalb hatten es die heroischen Kämpfer gegen das Böse in den Fabeln so leicht. Wir hingegen hatten es mit einer möglichen Widersacherin zu tun, die offenbar nicht verblödet war. Noch schien sie aber keine Gefahr darzustellen. Ohne sich im Geringsten um uns zu kümmern, ging sie entschlossen auf den Blutstein zu und vertiefte sich in die Betrachtung der Symbole, welche auf diesem zu sehen waren. "Was machen wir jetzt?", flüsterte Soße. "Geht raus aus dem Salzkreis und verteilt euch besser über den Raum", antwortete Schlichter. "Behaltet die Tür im Auge. Und du, Kräuter, versuche einmal, mit der Frau zu reden. Der Blutstein ist ja wohl dein Metier".

    Vorsichtig gesellte ich mich zu der schwarzen Witwe. "Ihr interessiert Euch auch für das Alte Reich", fragte ich in dem Bemühen, ein zivilisiertes Gespräch in Gang zu setzen. Die Fremde ignorierte mich. Während ich darüber nachdachte, was ich als Nächstes sagen sollte, richtete sich die Frau plötzlich auf und sah mich an. Ich konnte ihren Blick durch den dichten Witwenschleier spüren. "Wie lautet deine Übersetzung?", wollte sie wissen. Diese heisere Stimme kam mir bekannt vor, es fiel mir nur nicht ein, wo ich sie schon einmal vernommen hatte. Ich beschloss, wahrheitsgemäß zu antworten. Vielleicht konnte man ja vernünftig mit ihr reden. Wer immer sie sein mochte. "Blut Eins. Mond Eins", sagte ich. Darüber schien sie nachzudenken. "Eure leuchtenden Augen, das ist dein Werk, oder?", fragte sie. "Dadurch wird es länger dauern. Das ist bedauerlich. Aber wenigstens scheinst du brauchbar zu sein. Du darfst weiter leben. Vorerst." Sie stieß einen schrillen Pfiff aus. Im gleichen Augenblick traten zwei weitere Gestalten aus der Öffnung in der Wand heraus. Ihre Bewegungen wirkten abgehackt, als ob es ihnen schwer fiele, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sobald sie uns nahe genug gekommen waren, konnte ich ihre Gesichter erkennen. Beide waren mir nicht unbekannt. Bei der Frau handelte es sich um Gisela, eine junge Krankenschwester, die für meine Tante im Heilerhaus gearbeitet hatte. Sie galt als die größte Frau der Stadt, wehalb man ihr auch den Spitznamen "Die Tanne" verpasst hatte. Der Mann hieß Gunnar und war viele Jahre als Gemüsehändler tätig gewesen. Ich hatte häufig bei ihm eingekauft. Gisela und Gunnar. Nette, hilfsbereite Leute. Geachtete Bürger. In allen Ehren zu Grabe getragen. Die Krankenschwester war bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Den Gemüsehändler hatte ein Schlaganfall dahin gerafft. Da waren sie also, die Grabwandler.

    Ich hatte die beiden oft genug zu Gesicht bekommen, um die Qualität der Masken beurteilen zu können, die die Grabwandlerdarsteller trugen. Bessere Arbeit konnte man nicht abliefern. Genauso hatten Gunnar und Gisela zu Lebzeiten ausgesehen, wenn man von der leichenblassen Hautfarbe ihrer Doppelgänger absah und dem Umstand, dass diese nicht blinzelten, sondern starr geradeaus blickten. So hatte ich mir die lebenden Toten aus den alten Sagen immer vorgestellt. Unsere Leute wichen ihnen aus, so dass sie ungehindert zum Blutstein gelangen konnten, wo sie innehielten. Die Schwarze Witwe wies mit einer Handbewegung auf mich und sagte: " Lasst den leben". "Und dem da", fuhr sie fort und deutete auf Schlichter", habe ich einen Ausweg gewiesen, aber er hat ihn nicht genommen. Meine Familienpflichten sind erfüllt. Alles Weitere hat er sich selbst zuzuschreiben."

    Schlichter gehörte zu den Menschen, die ein Leben lang mit einem Gesichtsausdruck auskamen. Ob ihn ein Gespräch interessierte oder nicht, ob ihm ein Mahl mundete, das konnten nur diejenigen beurteilen, die ihn sehr genau kannten. Auf alle anderen wirkte er stets gelangweilt und angeödet. Die Lehrer dachten, er höre nicht zu, und wenn er zum Essen eingeladen war, musste er die Speisen lautstark preisen, damit seine Gastgeber nicht beleidigt waren. Immer sah es so aus, als ob er das Mahl lustlos in sich hinein schaufelte. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Zum ersten Mal sah ich ihn zornerfüllt. Seine rötlich funkelnden Augen, die er meinen Kräuterkünsten zu verdanken hatte, ließen ihn sogar ausgesprochen bedrohlich wirken. "Was meint Ihr mit Familienpflichten?, herrschte er die Schwarze Witwe an. "Wen versucht Ihr darzustellen?". Die Alte drehte sich nicht einmal zu ihm um, als sie gelangweilt antwortete: " Du bist genauso dämlich wie dein Großvater. Und dein Vater. Die Männer in unserer Familie haben noch nie etwas getaugt. Ich habe dir die Krankheit geschickt, du hättest einfach nur im Bett bleiben müssen. Aber nein, pflichtbewusst, wie der junge Herr ist, will er bloß keine Unterrichtsstunde verpassen. Nun wirst du wie die anderen den Tod finden. Dummkopf!"

    Ich erinnerte mich daran, dass Schlichter vor ein paar Tagen tatsächlich krank geworden war. Magenschmerzen und Durchfall. Sehr unangenehm. Im Heilerhaus hatten sie ihm geraten, im Bett zu bleiben, bis er sich richtig erholt hatte. Aber Schlichter war zäh und stur. Also trat er unvernünftigerweise ohne Rücksicht auf seine Gesundheit zur Vernunftprüfung an und saß nun in der gleichen Falle wie wir. "Ihr wagt es", rief er wutentbrannt. "Ihr Schmierenschauspielerin! Ihr wagt es, als meine verstorbene Großmutter aufzutreten!" Frauen anzugreifen war ein Tabu in der Bergstadt. Aber Schlichter hatte sich so in seinen gerechten Zorn hinein gesteigert, dass er die Witwe an den Schultern packte. Die Alte reagierte blitzschnell. Mit einem einzigen Schlag traf sie ihn so hart, dass er gegen die Wand hinter ihm flog und dort zusammenbrach. Er rührte sich nicht mehr. "Los jetzt", befahl die Schwarzgekleidete. "Tötet die Überflüssigen!"

    Gunnar und Gisela setzten sich in Bewegung und gingen langsam auf den neben mir stehenden Holzer zu, der gar nicht daran dachte, dem Angriff auszuweichen. Er zog sein Messer und jagte es der großen Frau direkt ins Herz. Sie blieb nicht einmal stehen. Starr vor Entsetzen beobachtete ich, wie sie den Jungen am Genick packte und wie eine Puppe hin und her schüttelte. Ein knackendes Geräusch ertönte. Während Gisela, oder was immer sich hinter dieser Fassade verstecken mochte, den leblosen Körper zu Boden sinken ließ, näherte sich der falsche Gunnar dem Schüler, den wir seiner Haarfarbe wegen dem Rotfuchs nannten. Offenbar lähmte ihn der Schrecken, der von den angeblichen Grabwandlern ausging, genauso wie mich, denn er rührte sich nicht von der Stelle. Messer kamen geflogen und bohrten sich in die Augen der Angreifer. Das war klug gedacht, beeindruckte die Ungeheuer aber wenig. Mit verkleideten Menschen hatten wir es jedenfalls nicht zu tun, so viel war sicher. Mit Illusionen auch nicht. Die konnten nicht töten. Genau das drohte dem Rotfuchs. Keine Zeit zum Nachdenken.

    Im letzten Augenblick fiel mir ein, dass die Alte ihren beiden Gefolgsleuten befohlen hatte, wenigstens mich am Leben zu lassen. Also stürmte ich an Gunnar vorbei und stellte mich zwischen ihn und den Rotfuchs. Als ich daraufhin an der Kehle gepackt wurde, lernte ich, wie es sich anfühlte, wenn man sich richtig verkalkuliert hatte. Mein letzter Fehler, dachte ich. Doch ich hatte Glück. Der angebliche Gunnar schleuderte mich nur zur Seite, mit einer Wucht, die mich zunächst befürchten ließ, mir sämtliche Knochen gebrochen zu haben, als ich auf dem Boden aufschlug. Nicht töten, hatte seine Gebieterin gesagt. Verletzen und Verstümmeln waren aber noch im Angebot. Mühsam rappelte ich mich auf. "Kein Nahkampf! Behaltet eure Messer! Weicht ihnen aus! Sie sind langsam", rief Schönhaar. Das stimmte. Die beiden Grabwandler - die womöglich sogar echt waren, ich schloss gar nichts mehr aus - bewegten sich, als ob sie längere Zeit reglos auf dem Krankenbett verbracht hätten und nun wieder mühsam das Laufen lernen müssten. Es war leicht, ihnen auszuweichen. Als unsere Leute das erst einmal begriffen hatten, entwickelten sie schnell eine Technik, die es ihnen ermöglichte, den Angreifern immer wieder problemlos zu entkommen.

    Diejenigen, auf die Gunnar und Gisela zu marschierten, sprangen im letzten Moment zur Seite, woraufhin sich die beiden neuen Zielen zu wandten. So hatte jeder die Möglichkeit, sich zu erholen, bis er wieder an der Reihe war. Da wir jung und gut in Form waren, hätten wir das stundenlang durchhalten können. Es war fast zum Lachen. Zwei lahme Katzen, die versuchten, flinke Mäuse zu fangen. Aber für die Mäuse gab es keinen Ausweg, und die Katzen waren zwar langsam, aber unermüdlich. Wie Uhrwerke. Früher oder später würde sich Erschöpfung bei den Gejagten bemerkbar machen. Schließlich wurden die Mörder ihr nächstes Opfer erwischen, und dann wieder eines, bis zum letzten Mann.

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    4. Kapitel Grabwandler

    Teil 2

    Als Kinder hatten wir oft "Blinde Kuh" gespielt. Es war immer lustig gewesen, dem mit den verbundenen Augen beim orientierungslosen Herumstolpern zuzusehen. Doch obwohl Messer in ihren Augenhöhlen steckten, waren die Ungeheuer alles andere als blind. Nie hätte ich mir etwas so Grausames und gleichzeitig Groteskes vorstellen können. Und das Allerschlimmste war, dass ich zusehen musste, wie meine Freunde nach und nach sterben würden. Mir konnte nichts geschehen. Mir fiel aber auch nichts ein, was ich zu ihrer Rettung unternehmen konnte.

    Lehrer erschien an meiner Seite. "Es wird Zeit, dass du eingreifst", sagte er. "Wie denn?", fragte ich. "Du hast doch gesehen, was der Gemüsemann mit mir gemacht hat. Was immer diese beiden sind, gegen ihre Kraft haben wir keine Chance. Unverwundbar scheinen sie ja auch noch zu sein. Ja, wenn wir Schwerter hätten. Dann könnten wir ihnen die Arme und am besten gleich die Köpfe abhacken. Aber so? Mit den Messern können wir nichts ausrichten." "Dann muss es eben mit Handarbeit gehen", meinte Lehrer. Ich starrte ihn verständnislos an, während mir gleichzeitig die Absurdität dieses Gesprächs klar wurde. Hier standen wir, gemütlich plaudernd, während am anderen Ende des Saals Soße und Kleiner gerade damit beschäftigt waren, sich vor den lebenden Toten in Sicherheit zu bringen. Die ohne Augen sehen konnten. Denen ein Messer im Herzen nichts ausmachte. Hatte wirklich jemand die Leichen der Verstorbenen wieder belebt? Wie war so etwas möglich?

    "Sieh dir das an", riss mich Lehrer aus meinen Gedanken und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf unser aktuelles Überlebensproblem. "Unsere Leute werden immer kühner. Entwickeln sportlichen Ehrgeiz, warten bis zum letzten Augenblick, ehe sie zur Seite springen. Kindsköpfe! Lange geht das nicht mehr gut. Zeit für deinen Berserkertrank." Natürlich. Das war mir ganz entfallen. Der Berserkertrank! Seit zwanzig Jahren hatte es keiner mehr gewagt, dieses Mittel einzunehmen. Es gab aber genug Berichte aus dem letzten Krieg, als das Elixier des Öfteren zum Einsatz gelangt war. Ich hätte nichts davon geglaubt, wenn mir mein Onkel Gerd und andere Veteranen nicht entsprechende Geschichten erzählt hätten. Mit eigenen Augen hatten sie gesehen, wie sich die Berserker durch die feindlichen Reihen geschlagen hatten. Unempfindlich gegen Schmerz und Verletzungen, aus tausend Wunden blutend, waren sie in der Lage gewesen, feindliche Krieger in Stücke zu reissen. Buchstäblich. Meist hatte die Wirkung nur wenige Stunden angedauert, manche hielten aber auch tagelang durch. Bis sie zusammenbrachen. Mit schweren Herzschäden, früh vergreist. Kaum einer überlebte das länger als ein Jahr.

    Natürlich hatten unsere Trankmeister seit Jahrhunderten versucht, eine Medizin zu finden, mit der sich diese verheerenden Nachwirkungen vermeiden ließen. Das wäre von höchstem militärischen Nutzen gewesen. Doch hatte niemand Erfolg gehabt. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, diese Herausforderung anzunehmen, wenn ich in den Unterlagen meiner verstorbenen Mutter nicht die Grundlagen für einen Wirkstoff gefunden hätte. Darauf aufbauend, gelangte ich schließlich zu meiner eigenen Lösung. Die auch funktionierte. Zumindest bei Kaninchen.

    "Wann musst du das Gegenmittel schlucken, nachdem du den Berserkertrank zu dir genommen hast?", wollte Lehrer wissen. Ich hätte am liebsten geantwortet: "Bei Kleintieren fünf Minuten. Bei Menschen? Keine Ahnung!". Im Grunde grenzte es an reinen Wahnsinn, unter diesen Umständen einen Selbstversuch zu wagen. Früher oder später hätte ich es aber sowieso riskieren müssen, wollte ich jemals erfahren, ob meine Formel stimmte. Warum also nicht gleich, zumal Soße gerade um ein Haar der Tanne entkommen war. Daher sagte ich: " Nach fünf Minuten gibst du mir das Gegenmittel." Lehrer holte seine Taschenuhr hervor, während ich ihm das Fläschchen mit meiner Erfindung gab. Dann förderte ich den Berserkertrank zu Tage. "Achtung", sagte Lehrer. "Ich zähle hinunter von fünf. Bei "jetzt" gönnst du dir das Zeug und legst los!" "Überlebende Krieger hatten berichtet, wie es sich anfühlte, wenn das Gebräu zu wirken begann. Ein Brennen in der Kehle, gefolgt von heftigem Herzklopfen und Schweißausbrüchen. Eine rasende Wut. Das Gefühl, stark und unbesiegbar zu sein. Wahrhaftig lebendig. Um so schlimmer gestaltete sich dann allerdings der Zusammenbruch.

    Lehrer begann zu zählen: " Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins und...... Jetzt!

    Ich kippte den Trank hinunter. Und fühlte nichts von dem, was ich erwartet hatte. Die Flüssigkeit schmeckte wie lauwarmes Wasser. Mein Herz schlug nicht schneller. Schwitzen musste ich auch nicht. Lediglich eine gewisse Leichtigkeit war zu spüren, als ob ich mir ein oder zwei Gläser Wein genehmigt hätte. Einen Augenblick lang packte mich die Furcht, ich könnte versehentlich etwas anderes in das Fläschchen gegossen haben. Aber das war unmöglich. Ich konnte mich genau daran erinnern, wie ich den Berserkertrank bereitet und sorgfältig abgefüllt hatte. "Deine Augen flackern", sagte Lehrer plötzlich. "Wie, meine Augen flackern?" "Das Leuchten", erläuterte Lehrer. "Das smaragdgrüne Schimmern, das von deinen Augentropfen herrührt, wird unregelmäßig. Lässt die Wirkung nach, oder hat das etwas mit dem Berserkertrank zu tun?" Das war eine gute Frage. Siedendheiß fiel mir ein, dass sich verschiedene Heilmittel, wenn sie gleichzeitig eingenommen wurden, im menschlichen Körper gegenseitig beeinflussen konnten. In manchen Fällen verstärkte sich die Wirksamkeit beider Substanzen oder schwächte sie ab. Es kam auch vor, dass nur noch eines der Medikamente den gewünschten Effekt erzielte. Und schließlich konnten sich Folgen ergeben, an die kein Mensch gedacht hatte. Meine Augen leuchteten nicht mehr gleichmäßig. Sicherlich ein Effekt des Berserkertranks, auf den aber die Augentropfen ihrerseits einwirkten. Nur so war zu erklären, dass ich nicht dasselbe empfand wie seinerzeit die Soldaten. Ich verfluchte meine Gedankenlosigkeit. Das hätte ich berücksichtigen müssen.

    "Alles in Ordnung?", fragte Lehrer besorgt. "Sicher", antwortete ich mit falscher Zuversicht. In Wirklichkeit war gar nichts in Ordnung. Mein einziger Trost bestand darin, dass sich trotz meines flackernden Blicks die Nachtsicht nicht verschlechtert hatte. Nach wie vor konnte ich die Geschehnisse in dem Empfangssaal sehr genau wahrnehmen. "Dann an die Arbeit", sagte Lehrer. "Da drüben steht der Gemüsehändler". In der Tat hatte Gunnar aufgehört, meine Kameraden zu verfolgen, weil den Jungs ein neuer Trick eingefallen war. Schönhaar und Kleiner hatten sich so aufgestellt, dass sie von dem Grabwandler exakt weit entfernt waren, welchem es nun wie dem Esel in der Fabel erging, der verhungerte, weil er sich nicht für einen von zwei Heuhaufen entscheiden konnte. Er blieb einfach stehen. So wie Gunnar jetzt. Lange konnte das aber nicht mehr gut gehen, weil sich Gisela langsam auf Schönhaar zu bewegte. Ich stellte mich der Frau in den Weg und schlug ihr mit aller Kraft mit der geballten Faust ins Gesicht. Ohne dabei den Eindruck zu gewinnen, stärker als gewöhnlich zu sein.

    Daher überraschte es mich nicht wenig, dass meine Faust ihren Schädel durchdrang und auf der anderen Seite wieder herauskam. Als ob das gar nichts wäre. Vor Schreck zog ich meinen Arm wieder zurück. Trotz ihrer schweren Verletzung griff Gisela nach mir. Ich packte ihren rechten Arm und riß ihn ab. Auch das gelang mir ohne Anstrengung. Als ich ihr auch noch den linken Arm abtrennte, begann die Untote zu schwanken, blieb aber aufrecht stehen. "Den Kopf", mahnte Lehrer. "Reiß ihr den Kopf ab!" Mit einer Hand hielt ich die ehemalige Krankenschwester an der linken Schulter fest und packte sie mit der anderen an den Haaren.

    Ein Ruck, und ich hatte ihr Haupt in der Hand, während der restliche Körper zu Boden fiel. "Nicht schlecht", kommentierte Lehrer. "Du hast noch drei Minuten. Nun den Gemüsemann." Beschwingt schlenderte ich zu dem falschen - oder echten, aber toten - Gunnar hinüber und drehte ihm den Kopf auf den Rücken. Sein Genick brach. Noch ein paar Drehungen, und auch das war erledigt. "Kein Blut", bemerkte Lehrer mit wissenschaftlichem Interesse. "Noch zwei Minuten. Nicht nachlassen! Die Alte ist noch nicht außer Gefecht gesetzt".

    Immer noch studierte die Schwarze Witwe die Inschrift auf dem Opferstein. Meine Hoffnung, sie mit der gleichen Leichtigkeit besiegen zu können, wie die beiden anderen Angreifer, schwand, als sie sich langsam umdrehte und in meine Richtung blickte. "Du Narr", sagte sie. "Der Berserkertrank macht dich nicht stärker als mich. Aber er wird dich töten. Und ich töte deine Freunde". "Vielleicht auch nicht", sagte Soße. Er hatte ein Messer in der Hand und holte zum Wurf aus. Die Alte lachte nur und bemühte sich nicht im Mindesten, der Attacke auszuweichen. Selbst wenn Soße ihr Herz traf, würde ihr das genauso wenig ausmachen wie der Tanne, in deren Brustkorb immer noch Holzers Messer steckte. Eine Verzweiflungstat. Aber ich hatte den Gastwirtssohn unterschätzt. Genauso wie die Verschleierte, die die Waffe lässig aus der Luft fischte, wobei die Klinge ihre Handfläche durchbohrte.

    Sicherlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihre Hand Feuer fangen würde. Sie keuchte überrascht. Dann bohrte sich Soßes zweites Messer in ihren Körper. Flammen schossen aus der Wunde. "Ihr mögt dank Eures Manövers die Salzbarriere überwunden haben", erläuterte er ruhig. "Aber diese Messer habe ich mit geweihtem Salz eingerieben. Und nun stecken sie in Eurem Fleisch." Die Alte schrie auf und rannte brennend zu dem Eingang, durch den sie den Saal betreten hatte. So schnell, dass keiner von uns sie aufhalten konnte. "Haltet die Tür auf", sagte eine Stimme, die jemals wieder zu hören ich nicht zu hoffen gewagt hatte. "Glaser, Rotfuchs, los!" Schlichter, der die ganze Zeit über reglos am Boden gelegen hatte, rappelte sich mühevoll auf.

    "Dein Gegenmittel", erinnerte mich Lehrer und flößte mir den Trank ein, von dem ich gar nicht mehr zu sagen vermochte, ob und wie er wirken mochte. "Exakt fünf Minuten". Schlichter humpelte auf mich zu. "Fühlst du dich imstande, nach Holzer zu sehen?" Ich nickte. Aber leider war uns kein weiteres Wunder vergönnt. "Sein Genick ist gebrochen", stellte ich fest. "Er ist tot". Was dann geschah, mag heute befremdlich wirken. Wir stellten uns um den Gefallenen in einem Kreis auf und applaudierten. So war es Brauch. So wurden im Kampf umgekommene Helden verabschiedet. Holzer hatte nie zu den herausragenden Talenten unseres Jahrgangs gehört. Er war gutes Mittelmaß gewesen. Ein verlässlicher Kerl, dem es völlig ausgereicht hatte, dazuzugehören. Das große Wort mochten andere führen. Er hatte sich im Hintergrund wohl gefühlt, war aber immer zur Stelle gewesen, wenn er gebraucht wurde. Und nun lebte er nicht mehr, weil die Schwarze Witwe und der Lehrer ihre Spielchen spielen mussten. Eigentlich wäre jetzt eine Grundsatzdiskussion fällig gewesen. Geweihtes Salz wirkte? Leichen gingen umher? Aber wir befanden uns im Einsatz. Da wurde nicht debattiert. Man konzentrierte sich aufs Überleben und stellte alles andere zurück. Blendete es aus. Wir befanden uns nicht im Vernunftunterricht, sondern im Krieg.

    Ich empfand kalte Wut. Der Applaus verebbte. "Wir müssen hier sofort raus", sagte Schlichter. "Kleiner, wirf dir Holzer über die Schulter. Wir lassen ihn nicht hier. Die anderen in einer Reihe aufstellen, immer zwei nebeneinander. Schönhaar und ich gehen voran. "Wie geht es dir?", wandte er sich an mich. "Du siehst erschöpft aus." "Ich fühle mich, als ob ich drei Tage lang ohne Pause Bäume gefällt hätte", entgegnete ich. "Total erledigt". "Kein Wunder nach der Kraftanstrengung", bemerkte Lehrer und hielt den Kopf des Gemüsehändlers hoch. "Kann ich den mitnehmen?", fragte er Schlichter. "Ich würde ihn gerne untersuchen. Im Alten Reich sollen sie lebensechte Puppen konstruiert haben, die im Krieg eingesetzt wurden. Das dürften welche gewesen sein." Ich bewunderte seinen Glauben an die Wissenschaft. "Von mir aus", gab Schlichter zurück. "Soße, stütze Kräuter, damit er nicht umkippt. Und jetzt Abmarsch!" Als der Richtersohn seine Position an der Spitze unserer Kolonne erreicht hatte, setzten wir uns in Bewegung. Vorsichtig schritten wir durch die Öffnung in der Wand und stießen auf eine Treppe, die sich durch alle Stockwerke zog und uns schließlich auf den Dachboden führte.

    Niemand griff uns an. Kein Laut war zu hören. Es war schon fast zu einfach. "Ausschwärmen, immer zu zweit.", befahl Schlichter. "In dem Gerümpel kann sich alles Mögliche versteckt halten. Schaut euch um und werdet nicht leichtsinnig." Diese Warnung war durchaus berechtigt, denn hier stapelten sich die unterschiedlichsten Gegenstände. Möbel, Teppiche, Gemälde und Werkzeuge, aber auch Waffen. An einer Wand lehnten Lanzen, Wurfspieße und Schwerter. Mit diesem Arsenal hätte man uns einen heißen Empfang bereiten können. Doch kein Feind ließ sich blicken. Stattdessen fand der Alte Mann eine Leiter, mit der wir bis zur Dachluke hinauf gelangen konnten. Den Spitznamen hatten wir ihm verpasst, weil er bereits unvorstellbare neunzehn Jahre zählte.

    Infolge eines schweren Unfalls hatte er zwei Schuljahre versäumt, weshalb er in unserem Jahrgang gelandet war. Wenigstens, so dachte ich, würde er vermutlich diese Nacht in einem Stück überleben, falls uns das Glück weiterhin hold sein sollte.

    Langsam begann sich Müdigkeit bei mir bemerkbar zu machen. Ich gähnte, und im nächsten Augenblick spürte ich, wie mir jemand eine Ohrfeige verpasste. "Komm zu dir", rief Schlichter. "Vielleicht hilft kaltes Wasser", mutmaßte Soße und schüttete mir den Inhalt seiner Feldflasche ins Gesicht. Ich prustete. "Schlafanfälle", sagte ich. "Das muss eine Nebenwirkung des Berserkertranksergänzungsmittels sein. " Sag lieber Gegenmittel", riet Lehrer. "Das klingt einfacher. Und das Zeug ist eben kein Zaubertrank. Es setzt Kraft frei, aber danach brauchst du Erholung." "Keine Zeit verlieren!", mahnte Schlichter. "Komm hoch". Mühsam rappelte ich mich auf. Durch die geöffnete Dachluke, unter der die Leiter stand, fielen dicke Regentropfen auf uns herab.

    "Auf dem Dachboden befanden sich nur noch Schlichter, Soße, Lehrer und ich. Den Abmarsch der anderen hatte ich verschlafen. "Wir hauen über das Dach ab", sagte Schlichter. "Immer zwei Mann. Am Schornstein festhalten, dann vorsichtig über den Dachfirst kriechen und an der Rückwand des Hauses herunter klettern. Im Garten sammeln. Weiter zur Straße. Schaffst du das?" "Klar", antwortete ich. Lehrer bestieg als Erster die Leiter. Es folgten Soße und ich. Schlichter blieb hinter mir, um mich auffangen zu können, falls ich wieder schlapp machen sollte. Als hilfreich erwies sich der kalte Regen, der mir ins Gesicht klatschte, nachdem ich mich durch die Dachluke gequetscht und ein halbwegs sicheres Plätzchen am Schornstein gefunden hatte. Während Lehrer und Soße bereits vorsichtig auf allen Vieren über den Dachfirst krabbelten, zog sich Schlichter hinter mir hoch und schloss die Luke hinter sich, damit uns irgendwelche, möglicherweise noch in dem Bau verborgenen Gruselgestalten auf diesem Wege nicht folgen konnten. Wie immer dachte er an alles. Ächzend setzte er sich neben mich und lehnte sich ebenfalls an den Schornstein.

    Ich erwachte dank weiterer Ohrfeigen. "Wie lange war ich weg?", fragte ich. "Diesmal nur zwei Minuten", antwortete er. Höchstens. Beim ersten Mal waren es über zehn." "Dann wird es besser", bemerkte ich. "Ich fühle mich auch nicht mehr so benommen. Vielleicht noch ein oder zwei Schwächeanfälle, und die Sache ist ausgestanden. "Herzlichen Glückwunsch", sagte Schlichter. "Sie werden dir einen Orden verleihen. In Zukunft werden wir Beserker haben, die den Rest ihres Lebens nicht als Schwerkranke dahinsiechen müssen, sondern nach einer kurzen Erholungspause weiter kämpfen können. Allerdings ...."

    "Wenn ich über dieses rutschige Dach robbe, kann ich mir keine Ohnmacht leisten", stellte ich fest. "Und wenn sie noch so kurz wäre. Du könntest mich nicht halten. Am besten bleibe ich erst mal hier. Kommt in der nächsten Stunde kein weiterer Anfall, riskiere ich es und folge euch. Aber du musst jetzt los. Die Leute brauchen deine Führung. Ich hole euch schon ein. Irgendwann sollte ja auch die verdammte Sverrigmiliz endlich auftauchen." Schlichter sah mich prüfend an. "Du bist wohl auf Beifall aus. Doch es reicht, dass wir Holzer verloren haben. Wir brauchen keinen weiteren Heldentod". "Du vergisst, dass sich hier irgendwo noch der neue Lehrer und die Alte herumtreiben könnten", sagte ich. "Die sind in erster Linie an mir interessiert. Töten wollen sie mich wohl nicht. So viel riskiere ich also nicht. Aber ihr. Macht, dass ihr von diesem Haus weg kommt. Es fehlt noch eine angekündigte Überraschung. "Die Mondelfen", erinnerte sich Schlichter. "Was immer sich als solche ausgeben mag. Na schön. Es geht wohl nicht anders. Eine Stunde. Dann brichst du auf!" Ich nickte. Da wir rührselige Abschiedsszenen als Mädchenzeug betrachteten, drehte sich Schlichter ohne ein weiteres Wort um und verschwand schnell im strömenden Regen. Ich blieb allein zurück. Auf dem Dach eines berüchtigten Spukhauses. Im Licht eines Mondes, der mir beinahe das Blut ausgesaugt hätte. Die Stiche spürte ich immer noch. Falls ich diese Nacht überleben sollte, war ich wirklich gespannt auf die wissenschaftlichen Erklärungen des Schulamtes.

    Vielleicht würde man das eine oder andere Lehrbuch ein wenig umschreiben müssen.

  • Kräuter und die Mondelfen

    5.Kapitel. Und noch einmal Mondelfen

    In das Rauschen des Regens mischte sich ein anderes Geräusch. Es klang, als ob jemand in die Hände klatschte. Jemand, der auf der anderen Seite des Schornsteins saß. "Applaus, Applaus", hörte ich eine mir nur allzu bekannte Stimme sagen. "Sehr eindrucksvoll. Der Held, der sich tapfer für seine Kameraden aufopfert." Die Alte lebte also noch, sofern man ihren Zustand als "Leben" bezeichnen konnte. "Ich kann dich beruhigen", fuhr sie fort. "Die anderen lohnen den Aufwand nicht, ihnen nachzujagen. Wir haben dich. Du könntest dich tatsächlich als nützlich erweisen. Das halte ich nicht für ganz unmöglich."

    "Ihr behauptet ernsthaft, Schlichters verstorbene Großmutter zu sein?", fragte ich. "Eine echte Grabwandlerin, wie aus dem Märchen?" Die Alte lachte. "Und warum soll das nicht denkbar sein?", gab sie zurück. "Weil ich auf Eurer Beerdigung war", sagte ich. "Ich sah Eure Leiche. Einbalsamiert. Mausetot." "Ich war ein lebendiger Mensch", antwortete sie. "Und dann eine Leiche. Wenn sich eine solche Verwandlung in eine Richtung vollziehen kann, warum dann nicht in die andere? Kann eine zerbrochene Uhr nicht repariert werden, so dass sie wieder funktioniert?"

    Das war nicht so abwegig, wie es mir zunächst vorkam. Ein Rädchen innerhalb des Zeitmessers zerbricht. Der Mechanismus

    steht still.

    Ein Herz hört auf zu schlagen. Der Mensch rührt sich nicht mehr. Das Augenlicht erlischt.

    Nur dass die defekte Uhr jahrelang im Keller liegen und doch wieder zum Laufen gebracht werden kann, sobald ein neues Zahnrad eingefügt wird. Weil sie aus stabilem Material besteht. Ein Körper hingegen, mit Ausnahme des Skeletts und der Zähne, setzt sich aus gibberigem Zeug zusammen, das schnell zerfällt. Hirnmasse, Blut, schleimige Eingeweide. Solche unschönen Dinge hatte ich dank der Unfallopfer, die immer wieder einmal ins Heilerhaus eingeliefert wurden, schon gesehen. Allerdings, wie die Geburt jedes Säuglings bewies: All dies konnte auch neu entstehen. Einfach aus der Nahrung, die die Mutter zu sich nahm. Die Natur selbst erschuf Hirne, Organe, Blut, ganze Menschen. Warum sollte die Wissenschaft das nicht auch ereichen? Eines Tages?

    "Ihr meint", fragte ich, "wenn man den Bauplan eines Menschen hätte und die erforderlichen Teile in gleicher Ausfertigung herbeischaffen könnte und alles zusammenfügte und dann noch Lebenskraft hinzutäte, lebt der Verstorbene wieder? Wer kann so etwas bewerkstelligen?" "Frage lieber, was", sagte die Schwarze Witwe. "Die Wissenschaft, die sie euch in der Schule einflössen, schafft das nicht." "Magie", stellte ich fest. "Darauf wollt Ihr hinaus".

    Die Frau antwortete nicht. Wir schwiegen. Offenbar wollte sie, dass ich über ihre Worte nachdachte. Dafür hatte diese Nacht genügend Anlass geliefert. Die Blut saugenden, sengenden Mondstrahlen, die beiden lebenden Leichname und eine längst Verstorbene, die Feuer fing, wenn sie mit geweihtem Salz in Berührung kam. Phantastischer war es in den Geschichten und Sagen aus dem Dunklen Zeitalter auch nicht zugegangen. Wenn das unser alter Vernunftlehrer Sigmar noch erlebt hätte! Vernunft, so hatte er gemeint, ist die Anerkennung der Wirklichkeit. Wirklich ist, was dich beißen kann. Und das vermochte die Schwarze Witwe, vielleicht nicht nur im übertragenen Sinne. Was war sie? Das musste ich herausfinden.

    "Seid Ihr die Art von Grabwandlern, an die die schlichten Seelen früher geglaubt haben?", fragte ich. "Es hieß damals, nur unbestrafte Mörder könnten nach ihrem Tod dem Grabe entsteigen. Wen habt Ihr denn umgebracht?" Das war frech. Doch die Alte ließ sich nicht provozieren. "Meinen idiotischen Ehemann natürlich", sagte sie. "Der Kerl hat es fertig gebracht, mich gleichzeitig zu Tode zu langweilen und mir auf die Nerven zu gehen. Wieso habe ich das nur so lange ausgehalten? Bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr? Ich hätte ihn schon viel früher loswerden sollen!"

    "Richter Tyr ist doch die Treppe herunter gefallen", erinnerte ich mich. Schlichters angebliche Großmutter lachte meckernd. "Gefallen worden", korrigierte sie mich vergnügt. "Die Trottel von der Stadtmiliz schöpften nicht den geringsten Verdacht. Sie sprachen mir ihr Beileid aus. Mein Sohn trat unser Haus an mich ab. Endlich frei! Leider war es viel zu früh damit zu Ende. Neunundsechzig ist doch kein Alter! Aber dann vernahm ich den Ruf. Und erwachte zu neuem Leben, besser und stärker, als ich es je war. Du wirst mir recht geben, wenn du es erst selbst erlebst."

    "Ich soll also einen Mord begehen, anschließend sterben und dann wieder auferstehen?", fragte ich. "Wie kommt Ihr darauf, dass ich da mitmache? Außerdem kann ich nicht glauben, dass Schwester Gisela und Gunnar unbestrafte Mörder gewesen sein sollen." Die Witwe schnaubte verächtlich. " Das waren doch nur wandelnde Leichen, ohne Verstand und Persönlichkeit. Ich hingegen stelle etwas ganz anderes dar, eine Wiedererweckte. So lautet die korrekte Bezeichnung, die du bitte in Zukunft verwenden wirst. Ich finde, ein bisschen Höflichkeit steht mir zu."

    Ich erhob mich vorsichtig. "Ich gehe jetzt", verkündete ich. "Haltet mich auf, was schwierig werden dürfte, wenn Ihr mich nicht töten wollt. Und falls Ihr mich doch angreift, wird einer von uns vom Dach fliegen, und das muss nicht unbedingt ich sein." "Schau mal nach oben", sagte die Alte ruhig. "Zum Mond". Er war immer noch da, der große Steinbrocken, der die Erde umkreiste. Im Naturkundeunterricht hatten sie behauptet, der Erdtrabant würde uns stets dieselbe Seite zuwenden, weil sich unser Planet in vierundzwanzig Stunden einmal um seine Achse drehte, wofür der Mond aber siebenundzwanzig Tage benötigte. Mir hatte das nie ganz eingeleuchtet. Warum erblickten wir dann nicht immer ein neues Siebenundzwanzigstel der Mondoberfläche, sobald eine weitere Erdumdrehung vollendet war? Ich hatte mich aber gehütet, Verständnisfragen zu stellen. Verständnisfragen waren gefährlich. Sie konnten bei den Lehrern nur allzu leicht zu dem Verdacht führen, dass Wissenslücken vorlagen. Dann hagelte es womöglich Nachfragen, mehr Hausaufgaben und schlechte Noten. Deshalb hatte ich es stets vorgezogen, die auswendig gelernten Lehrbuchtexte herunterzubeten und mich ansonsten zurückzuhalten. Das war sicherer.

    Während ich den Mond beobachtete, fiel mir etwas auf. Lichtpunkte, die sich offenbar auf der Oberfläche des Himmelskörpers befanden und etwas heller leuchteten als ihre Umgebung. Als ob dort oben Leute mit Laternen standen. Ich dachte an den Mann im Mond. In den Märchenbüchern, aus denen mir meine Mutter vorgelesen hatte, war nie klar gestellt worden, in welchem Verhältnis er zu den sagenhaften Mondelfen gestanden hatte. War er ihr Vorgesetzter? Oder der Hausmeister?

    Langsam lösten sich drei der leuchtenden Funken von ihrem Hintergrund.

    Sie kamen näher, wie Sternschnuppen. Nein, nicht wie Sternschnuppen. Dafür bewegten sie sich zu koordiniert. Eher wie Vögel, die in Formation flogen. Oder wie Schiffe. Luftschiffe! Einige unserer Gelehrten vertraten die Meinung, dass es im Alten Reich Gefährte gegeben hätte, mit denen man durch die Luft oder gar bis zum Mond fliegen konnte. Beim Schulamt hatte diese kühne These natürlich Argwohn hervorgerufen. Fliegende Schiffe! Das roch förmlich nach Magie! Zum Glück war es den Wissenschaftlern gelungen, ihren Standpunkt mit Vernunftargumenten zu untermauern. Dass sich Vögel in die Lüfte erheben können, ist schließlich keine Zauberei. Warum den Vogelflug nicht nachahmen? Tüftler hatten sich schon an künstlichen Flügeln versucht, mit eher ernüchternden Ergebnissen, und auch nicht ohne bedauerliche Todesfälle. Das bedeutete aber nicht, dass das Alte Reich in dieser Hinsicht ebenfalls erfolglos gewesen sein musste.

    Die Lichtpunkte nahmen Fahrt auf. Wie weit der Mond von der Erde entfernt war, vermochte niemand zu sagen. In manchen Nächten gewann man den Eindruck, ihn mit Händen greifen zu können, aber das täuschte natürlich. Dass die Berge und Täler, die es auf dem Erdtrabanten gab, nur mit dem Fernrohr zu erkennen waren, ließ auf eine erhebliche Distanz schließen. Mindestens so weit bis zu den Flusslanden. Auf einem guten Pferd benötigte man zehn Tage, um dorthin gelangen zu können. Die Himmelslichter bewegten sich viel schneller als Reiter. Ganz klar, das mussten Luftschiffe sein. Es war immer ein Rätsel gewesen, warum das Alte Reich untergegangen war. Als Ursache wurden mörderische Bruderkriege vermutet. Doch wenn die Alten einfach ausgewandert waren? Zum Mond? Und nun zurückkamen, um ihr früheres Herrschaftsgebiet wieder in Besitz zu nehmen? Eine Invasion! Das steckte hinter all dem, was in den vergangenen Stunden geschehen war.

    Keine schwarze Magie, nichts Verrücktes. Nur ein ganz gewöhnlicher Angriff, wie wir ihn schon früher erlebt hatten, zuletzt vor zwanzig Jahren, als die Armee der Flusslande vor unseren Mauern aufmarschiert war. Damals hatten wir gewonnen. Gegen Angreifer, die über Flugmaschinen verfügten, dürfte sich eine erfolgreiche Verteidigung etwas schwieriger gestalten, aber auch sie waren nur Soldaten. Und Soldaten konnten besiegt werden, selbst wenn sie überlegene Waffen zum Einsatz brachten. Vielleicht würden wir auch unterliegen, unter Fremdherrschaft geraten, in die Wälder fliehen müssen, aber wenigstens würde die Welt so bleiben, wie wir sie kannten, und sich nicht in einen Ort verwandeln, in dem dunkle, für den menschlichen Verstand nicht fassbare Kräfte herrschten. Ich empfand Erleichterung. Es kam sogar so etwas wie Hoffnung auf. So unerfreulich die Ereignisse in dem angeblichen Geisterhaus auch gewesen waren, womöglich beruhten sie auf einem Missverständnis, und man konnte mit den Fremden reden. Sie mussten ja nicht alle so sein wie die Schwarze Witwe.

    Während ich mich diesen angenehmen Überlegungen hingab, kamen die drei Lichtpunkte immer näher. Schon konnte ich ihre Konturen erkennen und Einzelheiten ausmachen. Ich sah die Umrisse menschlicher Körper, die von innen zu leuchten schienen. Wallende Gewänder, lange, weiße Haare, die im Wind flatterten. Genauso wurden die Mondelfen in den alten Erzählungen beschrieben. Mit den nackten Füßen voran schwebten sie langsam zu mir herab. Sie waren groß und sehr schlank. Die Gesichter zu schmal, die Augen zu katzenartig, um menschlich zu wirken. Fremd. Während ich bis auf die Haut durchnässt war, schien der strömende Regen sie nicht zu berühren.

    Mondelfen!

    Dafür gab es keine wissenschaftliche Erklärung. Mir wurde klar, dass die Lehrer uns nur Unsinn erzählt hatten. Die Welt war ganz und gar nicht so, wie sie sich das Schulamt vorstellte. Blutsauger, Grabwandler und Mondelfen waren real. Und vielleicht noch Vieles mehr. Einhörner? Geister? Drachen? Warum nicht!

    Die drei Frauen waren etwas größer als ich. Ihre Augen schimmerten in den Farben, in denen der Mond in dieser Nacht geschienen hatte. Weiß, gelb und natürlich blutrot. "Greift ihn euch und bringt ihn zur Residenz", machte sich die Schwarze Witwe bemerkbar, die sich immer noch hinter dem Schornstein verborgen hielt. Aber die Elfen achteten nicht auf sie. Eine von ihnen, die mit den Blutmondaugen, beugte sich zu mir herab und sah mich direkt an. Etwas an mir schien sie zu interessieren. Leuchtende Augen. Natürlich! Da ich in der dunklen, vom Mondlicht nur spärlich erhellten Nacht hervorragend sehen konnte, mussten meine Augentropfen noch wirken. Und auch meine Augen mussten noch grünlich flackern. Womöglich, so überlegte ich, hatten sie so etwas bei Menschen noch nicht gesehen, so daß sie mich für einen Artgenossen hielten. Oder zumindest für einen Verwandten. Dieser günstigen Umstand sollte nicht ungenutzt bleiben.

    Ich kramte in meinen Taschen und förderte einen zerbröckelten Keks zu Tage, den ich dem Wesen entgegen hielt. "Milch habe ich leider nicht dabei", sagte ich. "Aber ihr könnt diesen Keks haben." Hoffentlich lag Lehrer mit seiner Theorie von den lustigen Geschichten falsch. In dieser Lage wollte mir einfach keine einfallen. Die Mondelfen lächelten. Dann nahm mir die Gelbäugige vorsichtig das Gebäck aus der Hand. "Und nun", wagte ich zu fragen, "würdet ihr mir einen Wunsch erfüllen und mir von diesem Dach helfen?" Die Elfen betrachteten eingehend mein Geschenk. "Gewährt", sagten die drei wie aus einem Mund. Sie sprachen gleichzeitig, mit überraschend kultivierten Stimmen. Es war schwierig, ihre fremdartige Mimik zu deuten, aber wenn ich mich nicht sehr irrte, schienen sie belustigt zu sein. Das fand ich beruhigend. Wer sich amüsierte, stellte in der Regel keine gruseligen Sachen an.

    "Du Narr!", kreischte die Schwarze Witwe. "Ist dir nicht klar, was du dir da gewünscht hast?". Während ich noch darüber nachdachte, was die Alte wohl mit diesem Ausruf meinte, packte mich die Elfe mit den roten Augen blitzschnell am Kragen und schleuderte mich mit übermenschlicher Kraft in die Höhe. "Narr", rief die Schwarze Witwe noch einmal, und sie hatte recht. Ich erkannte meinen Fehler. In all den Geschichten über die Mondelfen hatte es kein Autor versäumt, darauf hinzuweisen, dass bei der Äußerung von Wünschen gegenüber den Himmelswesen größte Vorsicht geboten war. Man musste sorgfältig seine Worte wählen. Für Missverständnisse oder Interpretationen durfte es nicht den geringsten Spielraum geben. Denn die Mondelfen hegten eine Vorliebe für grobe Scherze. Nicht, weil sie bösartig gewesen wären. Das war einfach ihre Art von Humor.

    "Helft mir vom Dach". Diesem Ansinnen konnte in der Tat in mehr als einer Weise entsprochen werden. Klugerweise hätte ich Begriffe wie "lebendig", "in einem Stück" und "mit heilen Knochen" verwenden sollen. Da ich dies versäumt hatte, flog ich nun mit beachtlicher Geschwindigkeit durch die Luft, dem Mond und den Sternen entgegen. Einen Augenblick lang befürchtete ich, tatsächlich dort oben zu landen. Der Schwung, den sie mir verliehen hatten, reichte aber nicht aus, um mit der Anziehungskraft der Erde fertig zu werden. Als ich den höchsten Punkt meines Fluges erreichte, begann ich zu fallen. Magische Wesen hatten mich auf die Reise geschickt. Dennoch wäre es kein Problem gewesen, nach den Regeln der Mathematik die Flugkurve exakt zu berechnen. Für jemanden, der im Unterricht aufgepasst hatte, als die Parabel durchgenommen wurde. Wissenschaft und Magie - in einer Welt. Nebeneinander existierend, oder sich sogar ergänzend?

    Der Boden kam näher. Gleich würde ich den Preis für meine Dummheit bezahlen müssen. Niemand konnte einen derartigen Sturz überleben. Im Mondlicht glitzerte etwas. Eine Wasserfläche! In der Gegend gab es viele Seen. Vielleicht hatte ich ja doch noch Glück. Ich musste nur die Luft anhalten. Soviel davon wie möglich in meine Lungen saugen. Die Augen schliessen. Den Schock des Aufpralls überstehen und dann schnell empor zur Oberfläche tauchen. Nur nicht bewusstlos werden! Mit dem Kopf voran schlug ich auf. Kein fester Grund. Wirklich ein Gewässer, stellte ich erleichtert fest. Bis der Schock mich traf wie ein eiserner Hammer. Das Wasser war kalt. Eisig. Es raubte mir den Atem. Ließ mich erstarren. Lähmte meine Gedanken. So kalt .................

  • Hallo, 20thcenturyman

    Ich habe die Erlebnisse der bunten Truppe bis hierher verfolgt und bin gespannt, wie es weitergeht. Dein Schreibstil gefällt mir sehr. Die Unterhaltungen der Jungen sind flüssig und man merkt, dass du dir sehr viel Gedanken um die Story gemacht hast. Unterhaltsam fand ich die Gruseleffekte, obwohl man sie ja aus diversen Filmen kennt. Aber es ist schon beeindruckend, wie die Jungen immer noch versuchen, das alles mit irgendwelchen physikalischen oder chemischen Arrangements zu erklären.

    Kann gerne weitergehen. :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Kräuter und die Mondelfen

    6. Kapitel

    Im Garten der Ahnen

    Ich hatte nie an ein Leben nach dem Tode geglaubt. Da die Körper der Verstorbenen letztendlich zu Staub zerfielen, brauchte man dafür eine Seele, die weiter existierte. Nur so war eine Fortdauer dessen denkbar, was einen Menschen ausmachte. Die Persönlichkeit. Die Erinnerungen. Das Bewußtsein von sich selbst. Doch wo sollte diese Seele denn sein? Während meiner Heilerausbildung hatte ich viele Leute verarztet, die sich ernsthafte Kopfwunden zugezogen hatten. Im Gegensatz zu unseren Vorfahren aus dem Dunklen Zeitalter glaubten wir nicht an Krankheiten bringende Dämonen oder Hexenflüche, sondern an natürliche Ursachen für Schäden an der Gesundheit. Uns war auch bekannt, dass nicht das Herz den Sitz der Denkfähigkeit darstellte, sondern das Gehirn.

    Wurde es verletzt, konnte dies die unterschiedlichsten Auswirkungen nach sich ziehen, je nach dem, welcher Teil des Organs betroffen war. Es gab Patienten, die nicht mehr sprechen konnten, obwohl Zunge, Stimmbänder und Kehlkopf völlig unversehrt waren. Andere verloren ihr Gedächtnis und erkannten selbst engste Angehörige nicht mehr. Ein Hammerschlag auf den Kopf, und Gedanken erloschen, Begabungen schwanden, und selbst die kostbarsten Erinnerungen versanken im Nichts. Die gleichen Verheerungen konnte ein Schlaganfall anrichten. Oder einfach das Alter. Die Persönlichkeit meines Großvaters Gustav zerfiel schon seit seinem sechzigsten Lebensjahr, jeden Tag mehr.

    Was bedeutete das für eine mögliche, jenseitige Weiterexistenz? Blieb die Seele von all dem unbeeindruckt, so daß Gustav Wasa gleich nach dem Sterben als reiner Geist wieder da war, mit all seinen intellektuellen Fähigkeiten? Oder zerbröckelte auch die Seele, wenn das Gehirn Stück für Stück zugrunde ging ? Wenn man mit einem geschädigten Denkorgan als Persönlichkeit nicht mehr da war, dann sah es ohne Gehirn sicherlich nicht besser aus.

    Der Seelenglaube machte also keinen Sinn, besonders, wenn man sich vor Augen führte, dass früher außerdem noch die Überzeugung herrschte, dass es einen Garten der Ahnen gäbe, in welchem diejenigen Aufnahme fänden, die einen anständigen Lebenswandel vorweisen konnten. Grüne Wiesen, schattige Bäume und herrlich duftende Blumen warteten dort angeblich auf die Glücklichen. Da stellte sich die Frage, wie die Seelen an all den schönen Rosen schnuppern konnten, so ganz ohne Nasen. Körper hatten sie ja nicht mehr. Waldspaziergänge gestalteten sich auch schwierig bei fehlenden Beinen. Im Vernunftunterricht hatten uns die Lehrer dazu ermuntert, über derlei Phantastereien herzhaft zu lästern. Für die besten Witze gab es Zusatzpunkte und Freistunden.

    Aus all diesen Gründen konnte es überhaupt nicht sein, dass ich in dem kalten Tümpel ertrunken war und mich jetzt in einem Jenseits befand. Vielleicht sogar wirklich im Garten der Ahnen. Und trotzdem lag ich hier, nur Augenblicke nach meinem Sturz. Auf dem Bauch. Die Sonne brannte auf meinem Rücken. Schreie von Vögeln ertönten. Dazu kam ein seltsames Rauschen, wie ich es noch nie vernommen hatte. Es war heiß. Ich begann zu schwitzen, was ich begrüßte, denn Geister schwitzten wohl nicht. So profan würde es in einer spirituellen Welt nicht zugehen. Offenbar lebte ich noch, und es war höchste Zeit, aufzustehen und herauszufinden, wie es in meiner Umgebung aussah. Also, hoch mit dir und Augen auf, Soldat! Was ich erwartet hatte, war, mich am Ufer des Sees wiederzufinden, in den ich eingetaucht war. Zwar vermochte ich mich an nichts zu erinnern, was nach diesem Ereignis geschehen war, aber ich vermutete, dass ich es irgendwie geschafft haben musste, mich an die Wasseroberfläche zu kämpfen, Luft zu holen und an Land zu gelangen.

    Und tatsächlich, da war ein See. Aber was für einer! Vor mir erstreckte sich eine riesige Wasserfläche, die bis zum Horizont reichte. Gewaltige Wellen brandeten geräuschvoll an einen Strand, der aus feinem, weißen Sand bestand. Etwas hundert Schritte von mir staksten rosa Vögel auf langen, dünnen Beinen durch die Fluten. Rosa Vögel! Und das Wasser schimmerte grünlich. Ich wandte mich um. Der Strand reichte bis an einen hoch aufragenden, dicht bewaldeten Berg. Einige der Bäume gehörten Arten an, die ich kannte. Pappeln zum Beispiel, auch Weißtannen. Andere wirkten völlig fremdartig. Es waren Gewächse zu sehen, die eher riesenhaften Farnen glichen als dem, was man gemeinhin unter Bäumen verstand. Mir wurde schwindlig. Vorsichtig setzte ich mich auf den Boden und dachte nach.

    Eine Geisterwelt war das hier nicht. Dafür fühlte sich alles zu wirklich an. Der Wind, der meine Haare zerzauste, und die Sonne, die mit ihren Strahlen nach mir stach und mir alsbald einen Hitzschlag zufügen würde, wenn ich nicht bald machte, dass ich in den Schatten kam. Weißen Sand hatte ich zwar noch nie erblickt, aber die ungewöhnliche Farbe machte ihn nicht zu etwas Übernatürlichen. Sand war Sand. Kein Phantomstoff aus dem Märchen. Und das grünliche Wasser..... Ich stand auf, ging auf den See zu, beugte mich zu den Wellen herunter und schöpfte mit der hohlen Hand etwas von der Flüssigkeit. Seltsamerweise wirkte sie nicht mehr grünlich, als ich sie mir aus der Nähe ansah. Sondern klar, wie normales Wasser. Ich probierte einen Schluck. Und spuckte das Zeug sofort wieder aus, Es war total versalzen! Mein Rachen brannte. Wer, bei allen Ahnen, schüttete Salz in ein Gewässer? Zum Glück fand sich in meinen Manteltaschen eine Feldflasche, mit deren Inhalt ich mir sorgfältig den Mund ausspülte.

    Da ich nicht glauben wollte, dass dieser riesige See ganz und gar verdorben war - über so viel Salz verfügte niemand, schon gar nicht, um es auf diese Weise zu verschwenden -setzte ich mich in Bewegung und marschierte ,an dem seltsamen Ufer entlang, auf die rosa Vögel zu.

    Die Tiere schienen mich nicht als Bedrohung einzustufen. Gefährlich wirkten sie aber auch nicht. Ein paar von ihnen glotzten mich für eine Weile neugierig an und widmeten sich dann wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung, nämlich dem Untertauchen ihrer Köpfe und Hälse in der grünlichen Brühe. Offenbar suchten sie nach Fischen. Und zwar nach versalzenen Fischen, denn wie ich beim zweiten Versuch feststellen musste, schmeckte das Wasser an dieser Stelle auch nicht besser. Es war ungenießbar für mich. Logischerweise würde das auch für die Fische gelten, die darin schwammen, und weiterhin für die Vögel, die sich von diesen ernährten. Alles versalzen. Das durfte doch nicht wahr sein!

    Uralte Ängste stiegen in mir hoch. Ein Kindermädchen, noch dem Aberglauben ergeben, hatte mir von einem Ort erzählt, der auf unartige Kinder nach ihrem Tod wartete. Die Hölle! Dort mussten die Seelen der Bösewichte in alle Ewigkeit Durst und Hunger leiden. Besonders die Kinder, die ihren Brei zu Lebzeiten nicht brav aufaßen. In der Verdammnis gab es zwar Getränke und Speisen, aber alle waren sie - versalzen.

    Zudem landete jeder Schurke in seinem eigenen Gefängnis. Einsamkeit gehörte zu den Bestrafungen. So betrachtet, war es kein Wunder, dass ich hier noch keine Menschenseele erblickt hatte. Doch so böse war ich doch gar nicht gewesen! Zugegeben, des Öfteren hatte ich eine Krankheit vorgespiegelt, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Dafür hatten die von mir entwickelten Kotztropfen gute Dienste geleistet. Andererseits hatte ich mit der nützlichen Erfindung großzügig meinen Klassenkameraden freie Tage verschafft. Tante Meg hatte ich zwar ständig angelogen, wenn es um die Exkursionen mit Onkel Bernie in den Bergwald ging, und ihr versichert, wir würden die gefährlichen Regionen jenseits der Brücke meiden. Dafür hatte ich sie aber auch bei der Entwicklung eines Mittels gegen den Knochenbrecherhusten unterstützt, was vielen Kindern das Leben rettete. Vom Bürgermeister persönlich hatten wir dafür eine Auszeichnung entgegen genommen. Mir wurde klar, dass auf jede gute Tat, die ich mir auf die Fahnen schreiben konnte, immer auch eine von eher zweifelhafter Moral kam.

    Keine guten Aussichten für eine Platzkarte im Paradies. Einer der Vögel hatte schließlich einen silbrig glänzenden Fisch erwischt. Er würgte seine Beute in einem Stück herunter. Das wirkte so natürlich, dass es zu einem jenseitigen Ort einfach nicht passte. Ich befand mich doch noch im gewohnten Leben. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, wo genau. Um der Sonne zu entkommen, verließ ich den Strand und setzte mich in den Schatten eines seltsamen Baumes, der aus einem sehr glatten, ästelosen Stamm und einer Krone bestand. Dort hingen Früchte, die großen Nüsse ähnelten. Vielleicht waren die ja essbar. Hunger verspürte ich noch nicht. Ich dachte nach. In welcher Gegend konnte es so fremdartig aussehen? Irgendwo auf der Erde? Oder gar auf dem Mond? Hatten mich die Mondelfen aus dem Tümpel gefischt und in ihre Heimat verschleppt? Dass es auf einem anderen Himmelskörper eigenartig aussah, überraschte nicht wirklich. Grünes, salziges Wasser und rosa Vögel, warum nicht? Vom Mond aus müsste man die Erde sehen können, fiel mir ein. Ein atemberaubender Gedanke! Welcher Anblick sich da bieten würde! Den ich aber nur würde genießen können, falls ich mich auf der dunklen Seite des Trabanten befand, von der aus unser Planet nicht sichtbar war, wo aber trotzdem die Sonne scheinen konnte.

    Ich blickte nach oben. Da sich der Mond viel gemächlicher um die eigene Achse drehte als die Erde, würde die Sonne deutlich langsamer über den Mondhimmel wandern als bei uns. Das tat sie aber nicht, wie ich feststellte. Als ich hier gelandet war, befand sich die Sonne im Zenit. Mittagszeit. Die Stunden vergingen, und mit ihnen veränderte sich der Sonnenstand, genauso, wie es sich gehörte. Ohne Zweifel, ich war noch zu Hause, falls man den Begriff sehr großzügig auslegte. Womöglich erblickte ich hier die andere Seite des Globus. Albert der Weise hatte den Erdumfang auf 40 000 Meilen geschätzt. Wie er das gemacht hatte, mit Hilfe eines Stocks, der einen Schatten war, war mir zwar nicht ganz klar, aber so viel hatte ich begriffen. Dass der Planet verdammt groß und vielfältig war, was Landschaften, Tiere und Pflanzen betraf. Und Seen. Undeutlich entsann ich mich einer Unterrichtsstunde, in der die Rede von einem gewaltigen Gewässer weit im Westen war. Welches ich wohl gerade entdeckt hatte. Wahrscheinlich hatte es irgendwann eine Überschwemmung gegeben, die eine Saline erwischt und das ganze Salz mit sich gerissen hatte. Schon wieder eine Frage geklärt.

    Allerdings saß ich hier nicht im Vernunftunterricht, wo man vor sich hin philosophieren und auch kühne Ideen vorbringen durfte, zumindest bei den liberalen Schulmeistern. Soße zitierte einmal aus den Memoiren eines Onkels , der die wissenschaftliche Völkerkunde begründet hatte. Mehrer Jahre lang lebte der Mann bei den Bergstämmen und erforschte deren Blitzkult. Blitze, so glaubten diese Wilden, kamen von ihren Göttern als Gunstbeweise. Sobald ein Gewitter heraufzog, rannten sie aus ihren Hütten, winkten zum Himmel und riefen: "Hier sind wir!" Wer getroffen wurde, erhielt entweder ein Blitzgrab, das fortan als heiliger Ort galt, oder genoß, falls er überlebte, Verehrung als weiser Erwählter. Selbst wenn er vorher der Dorftrottel gewesen war. Wir wussten, wie Blitze entstanden. Das glaubten wir zumindest.Die Magie der Stämme war unsere Wissenschaft. Und die Magie der Mondelfen womöglich unsere zukünftige Wissenschaft.

    Sollte ich überleben und die Heimat wiedersehen, würde ich solche Themen gerne weiter erörtern. Doch nicht jetzt. Milizdenken war gefragt statt interessanter Debatten. Magie oder Wissenschaft, diese Begriffe bedeuteten nichts in meiner augenblicklichen Lage. Mein Auftrag lautete: Überleben, möglichst viele Informationen über den Feind sammeln und mich zu meiner Einheit durchschlagen. Was immer mir hier begegnete, war ausschließlich nach ganz anderen Gesichtspunkten zu beurteilen. Gefährlich oder nützlich. Unter die erste Kategorie fielen mit Sicherheit die Mondelfen. Auch im Wald und dem See konnten sich Bedrohungen verbergen. Während die großen Nüsse als Proviant in Frage kamen.

    Zufällig blickte ich nach links. Eine Gestalt trat zwischen den Bäumen hervor, etwa zweihundert Schritte von mir entfernt. Eine große, schlanke Frau, in einem blauen Kleid, mit langen, blonden Haaren. Entschlossen ging sie auf mich zu. Als ich sie schließlich erkannte, wurde mir klar, dass ich dringend eine neue Kategorie benötigte. Das war Agnatha, die verschwundene, tot geglaubte Erbtochter der Sverrig. Um keinen Tag gealtert. Wie aus ihrem Gemälde ausgeschnitten. Eine Unmöglichkeit.

    Wo immer ich hier gelandet war, es handelte sich ohne Zweifel nicht um einen Ort, dessen Existenz das Schulamt anerkannt hätte.

  • Kräuter und die Mondelfen

    7. Kapitel

    Agnatha

    1.Teil

    Das Mädchen, das auf mich zuging, sah genauso aus wie die Sverrigtochter. Aber etwas stimmte nicht. Es lag an ihrer Ausstrahlung, die viel besser zu einer älteren Frau gepasst hätte. Ein wenig fühlte ich mich an Tante Meg erinnert. Mit ihr von gleich zu gleich zu reden, war für junge Leute ein Ding der Unmöglichkeit. Entweder verteilte sie Arbeitsaufträge ( oft ), oder Tadel ( fast so oft), Lob ( eher selten), oder sie überfiel ihre Opfer mit Wissensfragen, gerne auch außerhalb der Schule. Niemand wußte, woher sie die Zeit dafür nahm, aber neben ihrer aufreibenden Tätigkeit als Obfrau des Heilerhauses unterrichtete sie auch noch an mehreren Schulen der Stadt. Eine Aura der Autorität und des Besserwissens gehörte genauso zu ihrer Erscheinung wie die blonden Haare und die blauen Augen. Genau das ließ sich auch über diese Agnatha sagen, wie ich sogleich zu spüren bekam.

    "Da ist er ja, der Esel!", sagte sie. "Wie oft habe ich ihn gerettet! Als er damals in die Höhle stürzte. Wer hat ihm den Weg nach draussen gezeigt? Wer hat ihm eingeflüstert, besser seine Elixiere zur Vernunftprüfung mitzubringen? Bildet sich auf seinen Zusatz zum Berserkertrank etwas ein. Denkt, er wäre der grösste Trankmeister aller Zeiten! Mehr Glück als Verstand! Keine Ahnung, dass man erst die Augentropfen anwenden muss und dann den Trank und das Gegenmittel. Reines Glück, dass er noch lebt. Denkt nie nach, bevor er etwas tut. Und zu den Mondelfen sagt er: "Helft mir vom Dach". Dämlack! Wenigstens ist er zäh."

    Nach dieser wenig schmeichelhaften Ansprache deutete sie eine kurze Verbeugung an und sagte förmlich: " Im Namen des Hauses Sverrig biete ich dir Gastfreundschaft, Gustav aus dem Hause Wasa". Irritiert glotzte ich sie an. "Keine Manieren", kommentierte sie. "Typisch Wasa". Wie lautete noch einmal die korrekte Erwiderung? Während ich mich ebenfalls verbeugte, sagte ich: "Ich akzeptiere freundlich". Damit lag ich offenbar daneben. "Mit Dank", korrigierte sie und sah mich zum ersten Mal direkt an. "Mit Dank, meinst du wohl", wiederholte sie. "Hat viel zu lange unter den Gemeinen gelebt", fügte sie hinzu. "Wenn ich nur Zeit hätte. Dann könnte ich ihm vielleicht etwas Schliff verpassen!" "Bist du wirklich Agnatha?", fragte ich. "Die vor siebzehn Jahren spurlos verschwand? Wo sind wir hier? Haben uns die Mondelfen an diesen Ort gebracht? Oder die Schwarze Witwe?"

    Sie hörte gar nicht zu. Stattdessen kommandierte sie: "Los, mir nach!". Ohne sich zu vergewissern, ob ich ihr wirklich folgte, setzte sie sich in Bewegung. Begeistert war ich von der groben Art meiner neuen Schicksalsgenossin nicht. Doch immerhin machte sie keinen feindseligen Eindruck. Und sie kannte sich hier wohl besser aus als ich. Also schloss ich mich ihr an. Nach einer Weile gelangten wir zu einer hölzernen Treppe, die offenbar hinauf zum Gipfel des Berges führte. Leichtfüssig nahm Agnatha Stufe um Stufe, während ich keuchend versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Sie hielt ihr Tempo ohne sichtbare Anstrengung. Mir erging es wesentlich übler. Meine Füsse schmerzten, der Schweiß rann meinen Rücken hinunter. Körperlicher ging es gar nicht. Also war ich kein Geist und auch nicht im Jenseits. Nur ziemlich weit weg von zu Hause.

    Schließlich erreichten wir das Ende der Treppe. Vor uns erstreckte sich eine Lichtung, und auf dieser war zu sehen - das Sommerhaus der Sverrig, von dem ich gerade eben geflogen war. Harmlos stand es da, im Sonnenlicht. Aus hellem Stein und weißem Holz. Große Fenster, ein Balkon, zierliche Türmchen und der mir wohlbekannte Schornstein. Jedes Detail stimmte. Im Dunklen Zeitalter, als die Leute noch an ein Leben nach dem Tod geglaubt hatten, waren einige Optimisten so kühn gewesen, von persönlichen Paradiesen zu träumen. Welche man, erst einmal im Jenseits angekommen, beliebig nach eigenen Wünschen gestalten durfte. Eine ideale Welt als Belohnung für ein tugendhaftes Leben. Agnatha liebte also das Sommerhaus ihrer Familie und überdimensionale Gewässer mit weißen Stränden. All dies hatte sie hier erschaffen, nachdem sie gestorben war. Falls sie gestorben war.

    "Sind wir tot?", fragte ich. "Wie erkläre ich ihm das?", überlegte die Frau. "Bilder sind am besten. Dann begreift er es eher". Mir wurde klar, dass sie es sich in den vergangenen Jahren angewöhnt haben musste, ihre Gedanken laut auszusprechen. Zweifellos hatte sie nicht viel Gesellschaft gehabt. Vielleicht gar keine. Siebzehn Jahre Einsamkeit. Ein Wunder, dass sie nicht verrückt geworden war. "Zwischen Tod und Leben gibt es viel", sprach sie mich direkt an. "Ich erkläre dir später alles. Jetzt habe ich noch etwas zu erledigen. Einen Gefallen kannst du mir aber noch tun. Übersetze das hier." Sie deutete auf ihr blaues Halsband, das mir bislang nicht aufgefallen war. Auf diesem erblickte ich Schriftzeichen aus der Alten Sprache. Die meisten Leute mieden aus einer fast abergläubischen Scheu heraus alles, was mit dem Alten Reich zu tun hatte. Ein paar Wissenschaftler befassten sich zwar mit der Materie, unter strenger Aufsicht des Schulamtes. Symbole dieser Art als Modeaccessoire waren mir aber noch nicht untergekommen. Ich wollte das, was dort geschrieben stand, gerade laut aussprechen, als sie mir auch schon Einhalt gebot. "Das ist gefährlich!", warnte sie. "Entferne dich bitte von mir und sprich leise, damit ich es nicht höre. Sag mir nur, was es bedeutet." "Ist es denn für mich nicht gefährlich?", wollte ich wissen. "Bei dem kommt es nicht mehr darauf an", sagte Agnatha zu sich selbst. "Du verkraftest das schon", beruhigte sie mich.

    So sicher war ich mir da nicht, aber bitte. Die zwei Worte würden mich wohl nicht umbringen. Oder nochmal umbringen. "Tak ulik", lauteten sie. Mehrmals flüsterte ich die fremdartigen Laute vor mich hin. Dann hatte ich den Sinn. "Sturm Tochter", rief ich Agnatha zu. Sie nickte. "Im Haus wartet ein Gastzimmer auf dich. Im ersten Stock, die Treppe hoch, gleich links." "Diesen Bau betrete ich garantiert nicht noch mal", erwiderte ich. "Wenn du Angst hast, dann schlafe eben im Garten", sagte sie. " Gefahren drohen dir hier nicht. Auch keine Mondelfen, die dir gerne vom Dach helfen. Bis nachher." "Sturm Tochter", wiederholte sie nachdenklich, während sie davon schritt. Diese Sprache kannte wohl nur bedrohliche Ausdrücke. Ein Glück, dass das Alte Reich nicht mehr existierte. In meiner Lage stellte dies aber nur einen schwachen Trost dar. Misstrauisch nahm ich das Sommerhaus in Augenschein. Es konnte nicht auf natürliche Weise entstanden sein. Wer sollte denn hier Bauarbeiten verrichtet haben? Mein Eindruck, dass hier Einiges nicht stimmte, verstärkte sich noch, als ich mich in Agnathas Garten umsah. Dort begegnete mir die bemerkenswerteste Ansammlung von Pflanzen, die je ein Mensch erblickt haben dürfte.

    In Blumenbeeten blühten Krokusse und Schneeglöckchen einträchtig neben Herbstastern und Edelweiss. Narzissen und Gänseblümchen, Sonnenblumen, Tulpen, Veilchen, Rosen.... An diesem Platz fanden wohl die vier Jahreszeiten gleichzeitig statt. Noch mehr hatten die Obstbäume und die Gemüsefelder zu bieten. Man konnte hier nicht nur nach Herzenslust Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen pfflücken -bei uns in den Bergen heimische Früchte-, sondern auch Orangen und Zitronen, Obstsorten aus weit entfernten, südlichen Gefilden. Dazu Erdbeeren, Stachelbeeren und Heidelbeeren, Kartoffeln, Zwiebeln, Lauch, sogar Spargel, alles reif und erntefertig. Das konnte durchaus als Garten der Ahnen durchgehen. Für Bauern. Oder Tante Meg, die sich aus Überzeugung nur von Grünzeug ernährte. Ich probierte die Erdbeeren. Zu meiner Erleichterung waren sie nicht versalzen. Also keine Hölle. Oder nur eine gemäßigte, falls sich hier nirgendwo Wurst und Schnitzel finden ließen. Meine gewohnte Welt, auch Diesseits genannt, war das hier jedenfalls nicht. Ich entsann mich eines Gesprächs mit Großvater Gustav, der gerne metaphysische Fragen zur Sprache brachte, wobei er die vom Schulamt gezogenen Grenzen gelegentlich überschritt. Ohne Konsequenzen. Als Künstler ohne politische Ambitionen gewährte man ihm eine gewisse Narrenfreiheit.

    "Stell dir vor, du landest nach deinem Tod im Jenseits", hatte er mich aufgefordert. "Ich warte schon auf dich. Du staunst. Ein Jenseits! Dass es so etwas gibt! Und ich sage: Warum staunst du? Über das Diesseits, aus dem du kommst, hast du dich doch auch nicht gewundert. Dabei hattest du nicht die geringste Ahnung, woher es kam. Warum gibt es etwas, und nicht vielmehr nichts? Das weißt du nicht. Die Wissenschaft hat nichts dazu zu sagen. Was war also dein Diesseits? Eine Welt ungeklärten Ursprungs mit dir darin. Und das Jenseits? Noch eine von der Sorte, wieder mit dir darin. Vielleicht anders, aber doch sehr ähnlich. Regelhaft, sonst könnten Menschen dort nicht denken. Warum nicht? Es kann viele Welten geben. Dieser Gedanke ist ohne Weiteres mit der Wissenschaft vereinbar!" Das Schulamt mochte das anders sehen, aber ich war geneigt, dem Großvater Recht zu geben. Dennoch änderte das nichts daran, dass es jetzt in einer anderen Welt eine Leiche gab. Kalt und tot. Meine Leiche. Tante Meg würde trauern Als strikter Anhängerin der Vernunftlehre würde ihr der Trost verwehrt bleiben, den ihr ein Glaube an ein Fortleben der Seele geboten hätte.

    Aber hatte Agnatha nicht gesagt, dass es Vieles gäbe zwischen Leben und Tod? Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung? Ich getand mir ein, dass ich nur deswegen im Garten herum trödelte, um den Augenblick der Wahrheit hinauszuzögern. Das Sommerhaus. Ich musste es betreten, wenn ich Antworten finden wollte.

    Wieder stand ich vor der Eingangstür, die diesmal geschlossen war. Ich öffnete sie und durchschritt den dunklen Korridor, bis ich in der Empangshalle stand. Bilder hingen auch hier an den Wänden. Aber genau die Art von Gemälden, wie man sie in einem Sitz einer großen Familie erwartete. Portraits von Vorfahren. Ausgeführt in demselben Stil wie das Bildnis Agnathas im eigentlichen Sommerhaus. Offenbar hatte sich Agnatha die Zeit mit Malen vertrieben. So musste es in dem Raum ausgesehen haben, bevor die Hohe Dame der Sippe übergeschnappt war. Falls der neue Lehrer die Wahrheit gesagt hatte. Dort, wo sich im originalen Haus eine verborgene Öffnung befunden hatte, erblickte ich eine Tür.

    Jetzt würde es sich auszahlen, dass ich meinen Onkel Gerd ein paar mal begleiten durfte, als er die Häuser von Verdächtigen durchsucht hatte. Ich wusste, wie man ein solches Vorhaben systematisch anging. Mit dem Erdgeschoss fing ich an, wo in aller Regel die Küche, die Vorratskammern und die bescheidenen Unterkünfte der Bediensteten gelegen waren. So auch hier. Nur, dass ich weder Vorräte erblickte noch Menschen antraf. In der Küche fanden sich immerhin Töpfe, Pfannen, Geschirr, Besteck, Kerzen und Gewürze. Einen wohl als Esszimmer genutzten Raum gab es auch. Weiter ging es zum ersten Stock, wo ich zunächst das Zimmer inspizierte, das mir Agnatha zugewiesen hatte. Der Unterschied zu den Dienerquartieren war nicht allzu groß. So wurden Gäste niedrigen Ranges untergebracht, die gerade noch wert befunden wurden, bei den großmächtigen Sverrig logieren zu dürfen.

    Eine solche Behandlung war ich gewohnt. Selbst meine eigene Familie väterlicherseits pflegte mich bei gesellschaftlichen Anlässen ganz unten in der Tischordnung zu platzieren, neben den ländlichen Vettern und den Angeheirateten. Dabei war mein Vater Erbsohn des vornehmsten aller Häuser gewesen, der Wasa. Doch da er den Familienrat ausgetrickst und unter Ausnutzung einer Gesetzeslücke eine Frau geheiratet hatte, die ihm nicht zugeordnet war, landete er nicht nur in der Verbannung, sondern wurde darüber hinaus von der Erbliste gestrichen. Mit Wirkung auch für seine Nachkommen. Aus der Familie hatten sie ihn aber nicht geworfen. Deshalb war ich immer noch ein Wasa, aber mit minderen Rechten. Ganz unten am Tisch. Nicht, dass mich das störte.

    Tante Meg sagte immer, wenn die Abfallsammler über Nacht verschwänden, würden wir das sofort merken und sie vermissen. Auf die Hohen Häuser hingegen könnten die Stadt und das Land leicht verzichten. Dass sie nicht mehr da wären, würde man nur daran merken, dass die Luft schlagartig besser würde.

    Ganz unten am Tisch. Sogar im Jenseits! Das ging mir nun doch eindeutig zu weit. Wie ich Agnatha einschätzte, würde sie sich natürlich die Ehrengemächer im obersten Stockwerk gegönnt haben, wo der jeweils Ranghöchste der Dynasty residierte. Was sich als zutreffend herausstellte. Allerdings sah es dort ganz anders aus, als ich es erwartet hatte. Die wenigen Möbel, darunter ein einfaches Bett, spielten nur eine bescheidene Nebenrolle, gemessen an hohen Bücherregalen. Die Frau lebte in einer Bibliothek. Falls der Begriff "Leben" auf unser Dasein hier passte. Ich griff mir ein Buch heraus.

    Und las auf einem schwarzen Einband: "Vom böhsen Monde und seynen tückschen Lichtgeistern". Das Werk musste vor der Rechtschreibreform entstanden sein, die die Aufklärer kurz nach ihrer Machtübernahme durchgesetzt hatten. Der Autor schien ein Experte für Mondelfen gewesen zu sein und hielt wohl nicht viel von ihnen. "Nicht traue ihren Schwühren, o Sterblicher", warnte er. "Nicht Opfer, nicht fein Verse ihre Herzen rühren! Betrogen wirst du seyn, und bitterlich Tränen weinen. Weiche dem böhsen Mondenscheine. Nicht verführen dich lasse!" In diesem Stil ging es seitenlang weiter. Offenbar vertrat der Verfasser die Auffassung, die Wünsche, die die Lichtgeister erfüllten, würden stets zu einem üblen Ende derer führen, die sich mit ihnen einließen. Was mir nicht so abwegig vorkam.

    Zustimmend zitierte er daher eine Verordnung des Stadtrates aus dem Jahre 780 nach der Unabhängigkeit. Das war 150 Jahre vor der Aufklärung gewesen. Vor 230 Jahren. Die Oberen hatten damals angeordnet, dass sich alle Bürger bei Vollmond in ihren Häusern aufzuhalten hätten. Die Fenster seien zu verhängen, die Lichter zu löschen. Wer sich vom Gesang der Himmelswesen verzaubern ließ, war mit Gewalt daran zu hindern, ins Freie zu gehen. Eine ausgestorbene Stadt im Lichte des Vollmonds. In der böse Kreaturen umgingen. Keine Milch, keine Kekse und erst recht keine lustigen Geschichten, sondern das blanke Entsetzen. Davon hatte ich in den Werken unserer Historiker nichts gefunden. Überhaupt wurde die Epoche vor der Aufklärung im Schulunterricht kaum behandelt. Man sprach lediglich vom Dunklen Zeitalter oder den Jahren der Unwissenheit. Ich fragte mich, was damals wirklich geschehen war.

    Nachdenklich stellte ich das Buch wieder ins Regal zurück und griff mir ein anderes Exemplar, dessen Titel, in altertümlichen Lettern niedergeschrieben, da lautete:

    "Wiesieschlürffenauchsaugnindengrüfften". Offenbar stammte das Werk aus einer Ära, in der sie nicht einmal die Worte voneinander getrennt hatten. Dadurch wurde die Lektüre zu einer echten Herausforderung. Wie es schien, handelte die Abhandlung von "Vampyren". So nannten sie wohl seinerzeit die Sauger. All die Bücher, die Agnatha gehortet hatte, beschrieben übernatürliche Unholde, die es offiziell nicht gab. Ich hatte gerade die umfangreichste okkulte Untergrundbibliothek aller Zeiten entdeckt. Seit der Aufklärung war nicht nur die Vernunft zersetzende Propaganda verboten, sondern auch der blosse Besitz von Schriftgut, in dem die Existenz von Magie behauptet wurde. Immer wieder kam es zu Hausdurchsuchungen bei Leuten, die das Schulamt als unbeirrbare Anhänger der alten Irrtümer verdächtigte. Vor fünf Jahren hatten sie bei Meister Drud, ausgerechnet einem Vernunftlehrer, dreißig antike Zauberbücher gefunden. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie sie ihn mitten aus dem Unterricht geholt hatten. Schließlich war er im Narrenhaus gelandet. Agnathas Sammlung übertraf die Meister Druds bei Weitem. Unerreichbar für die Vernunftwächter. Wie sie sich dies alles wohl zurechterklären würden?

    2 Mal editiert, zuletzt von 20thcenturyman (12. Januar 2024 um 17:04) aus folgendem Grund: Vergessene Anführungszeichen

  • Ich muss sagen, deine Geschichte gehört für mich zu den spannendsten im Forum. Ich bewundere deine Fantasie und ich finde den Plot sehr interessant. Das ist mal was absolut Neues, das ich so noch nie gelesen habe.

    Kräuter ist ein Prota, der es mir als Leser leicht macht, an seiner Seite zu bleiben und seine Abenteuer (oder was auch immer das ist, was Kräuter gerade durchlebt) mitzuerleben. Mir gefällt dabei sein Sarkasmus genauso wie sein Pragmatismus und seine Bereitschaft, die jeweils aktuelle Situation schulterzuckend anzunehmen. :D

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Kräuter und die Mondelfen

    7.Kapitel

    Agnatha

    Teil 2


    Über zu wenig Erklärungsbedarf konnte ich mich aber auch nicht beschweren. Erste Hypothese: Ich befand mich immer noch in der Welt, die wir Realität nannten. Das war gerade noch am Rande des Möglichen. Agnathas jugendliches Aussehen? Vielleicht das Resultat eines neuartigen Elixiers. Das Sverrighaus konnte sie zwar nicht allein errichtet haben. Doch womöglich hatte sie Hilfe gehabt. Zweite Hypothese: Eine andere Wirklichkeit, deren Gesetzmäßigkeiten ich noch herausfinden musste. Eher wahrscheinlich. Nicht auszuschliessen war auch, dass sich alles, was ich hier erlebte, nur in meiner Einbildung abspielte. Zwar hatte ich noch nie von Halluzinationen gehört, die sich so lebensnah anfühlten. Trotzdem gab es so etwas vielleicht. In diesem Falle hatte ich mich wohl mit letzter Kraft aus dem eiskalten Tümpel gekämpft und lag jetzt vielleicht bewusstlos am Ufer, wo ich mir langsam, aber sicher eine Lungenentzündung zuzog. Und vor mich hin fantasierte.

    Da das Tageslicht langsam schwächer wurde, verließ ich Agnathas Gemach und stieg hinunter zum Erdgeschoss. Dort hörte ich meine Gastgeberin im Esszimmer rumoren. Sie war dabei, einen Tisch zu decken, der eher einer festlichen Tafel glich. Edles Geschirr, silbernes Besteck, als ob jemand Geburtstag hätte. Agnatha bemerkte mein Eintreten und sah mich an. "Immer noch läuft er in seinen alten Sachen herum", sagte sie. "Stil und Feingefühl hat er noch nie gehabt. Wahrscheinlich hat er sich noch nicht einmal gewaschen!" Es war durchaus von Vorteil, wenn das Gegenüber stets seine Gedanken laut aussprach. "Was ich fragen wollte", antwortete ich. "Gibt es hier eine Gelegenheit, sich zu säubern? Und vielleicht frische Kleider? Nicht, dass ich dir zur Last fallen möchte." Ihr verblüffter Gesichtsausdruck entschädigte mich für Einiges. "In deinem Raum", erwiderte sie leicht irritiert. "Dort findest du alles". Mir fiel auf, dass sie sich umgezogen hatte. Ein roter Rock und eine grüne Bluse. Das waren die Farben der Sverrig.

    Eine attraktive Frau wie Agnatha konnte fast alles tragen, doch hier stieß sie eindeutig an ihre Grenzen. Zumal sie das blaue Halsband immer noch nicht abgelegt hatte. Eigenartig. Eine dunkle Ahnung stieg in mir auf. Was für eine Ausstattung sie für mich vorgesehen hatte, war leicht vorauszusehen.

    Und tatsächlich. Meine neuen Sachen waren in den Farben der Wasa gehalten. Weiße Stiefel, grüne Hosen, ein weiß-grün gestreiftes Hemd und auch noch ein weißes Halstuch. Ich sah aus wie ein farbenblinder Jäger. Wieder einmal dankte ich dem Schicksal dafür, dass es mich von der Pflicht befreit hatte, mein Haus als Ersterbe zu vertreten. Meinen Vetter Lars hatte dieses harte Los getroffen. Bei offiziellen Anlässen musste er in dieser Tracht erscheinen, wofür ich ihn aufrichtig bedauerte. Dank Agnatha ging es mir nun auch nicht besser. Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Dennoch wurde es nicht dunkel. Eine Kuppel aus Licht wölbte sich über dem Haus, bestehend aus unzähligen, leuchtenden Sternen. Mit Hypothese Eins war das gerade noch vereinbar. Vor dem Krieg, als es noch möglich gewesen war, zu reisen, hatten abenteuerlustige Mitbürger ferne Gegenden erkundet. Falls man ihren Geschichten Glauben schenken wollte, wartete das Firmament auf der anderen Seite der Erdkugel mit ganz anderen Sternbildern auf. Mit so einem Spektakel hatte ich allerdings nicht gerechnet.

    Kerzen wären nicht erforderlich gewesen, um in Agnathas Speiseraum für ausreichende Helligkeit zu sorgen. Trotzdem beleuchteten sie die Festtafel noch zusätzlich. Ich sollte wohl sehen, welche Mühe sie sich gegeben hatte, um ein zivilisiertes Mahl auf die Beine zu stellen. Vielleicht war ich der erste Mensch, der ihr seit ihrem Verschwinden Gesellschaft leistete. Deshalb empfahl es sich, ihr das kleine gesellschaftliche Ereignis zu gönnen. Eine hochrangige Sverrig und ein Wasa mit minderen Rechten. Sicherlich nicht ihr Ideal, aber besser als gar nichts. Sie machte eine einladende Geste. Ich setzte mich und fragte: "Welches ist der Anlass dieser Feier?" "Unser Geburtstag", gab sie zurück. "Hast du den denn ganz vergessen?" Das hatte ich allerdings. Tatsächlich hätte ich am Tag nach der Vernunftprüfung mein siebzehntes Wiegenfest begehen können, wenn ich nicht gestorben wäre. Wer hätte gedacht, dass das auch nach dem Tode möglich war. Falls Hypothese Zwei zutraf. "Wir nehmen für den Anfang eine Gemüsesuppe zu uns", verkündete die Erbtochter und griff zu einer Schöpfkelle, mit der sie zuerst für mich und dann für sich selbst einen tiefen Teller fühlte. Damit begann die Speisefolge. Was bedeutete, dass von nun an erst einmal nur noch über das Essen gesprochen werden durfte. So wollten es die guten Sitten. Der Gastgeber ließ sich über Zutaten und Zubereitung aus, während der Eingeladene lobende Worte von sich gab und sich nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel von den angebotenen Speisen nahm.

    Festmähler in der Bergstadt glichen eher Ritualen als einer vernünftigen Sättigung. Mir war dieses Getue stets auf die Nerven gegangen. Agnatha hingegen zählte offenkundig zu den Anhängern der alten Bräuche. Also kämpfte ich mich durch die sieben Gänge, die sich aber allesamt als durchaus schmackhaft erwiesen. Leider nichts Gekochtes, kein Fleisch. Dafür Salate und Suppen aus verschiedenen Obst- und Gemüsesorten. Daran konnte man sich zur Not gewöhnen. Immer noch besser als das versalzene Zeug, mit dem die Verdammten in Hypothese Zwei zurechtkommen mussten.

    "Er hat sich erstaunlich zivilisiert verhalten", sagte Agnatha zu sich selbst. "Er brennt wohl darauf, endlich seine Fragen zu stellen. Dann will ich ihn mal erlösen. "Du hast sicherlich viele Fragen", wandte sie sich an mich. "Äh, ja", antwortete ich. "Du sagtest "unser Geburtstag". Haben wir den gemeinsam?" "Sonst hätte ich mich ja kaum so ausgedrückt", gab sie im typischen Tonfall höherer Töchter zurück. Ihr minimaler Respekt für mich, zu dem sie gerade gefunden hatte, schien sich wieder in Dunst aufzulösen. Zum Glück fiel mir eine Gegenstrategie ein. "Du musst meine Eltern gut gekannt haben, als sie noch jung waren", sagte ich. "Es hieß immer, sie hätten eine Gesetzeslücke genutzt, um heiraten zu können. Aber Genaueres habe ich nie erfahren. Kannst du mir sagen, was damals geschehen ist?" Ihr Gesichtsausdruck hellte sich auf. Bot sich doch gerade eine Gelegenheit für sie, auf das Lieblingsthema aller Bergstädter, tot oder lebendig, zu sprechen zu kommen. Familienskandale! In dieser Hinsicht hatten sich Mutter und Vater in spektakulärer Weise hervorgetan.

    "Das war unglaublich", sagte Agnatha lebhaft. "Dein Vater wurde einer Yggdrasil zugesprochen.Deine Mutter einem jungen Mann aus der Heilergilde. Jeder erwartete natürlich, dass daraus Ehen würden. Denn so war es gesetzlich vorgeschrieben. Dachten wir zumindest. "War es denn nicht so?", fragte ich. "Nicht ganz", erwiderte sie vergnügt. "Dass der Familienrat die Paare bildet, stand im Gesetz. Aber die darauf folgende Hochzeit nicht. So hatte man es einfach immer gemacht. Jeder hatte angenommen, es gäbe eine entsprechende Regel. Deine Eltern fanden heraus, dass das nicht zutraf. Und so ließen sie ihrer Zugesprochenen einfach sitzen und heirateten. Die Kunde schlug ein wie ein Blitz. Wochenlang gab es kein anderes Gesprächsthema. Natürlich erwarteten viele eine strenge Bestrafung deiner Eltern. Die aber ausblieb. Schließlich hatten sie kein Gesetz gebrochen." Die Frau wirkte ausgesprochen schadenfroh. Wie jeder von uns fürchtet sie den mächtigen Familienrat. Immerhin bestimmte dieses Gremium allein darüber, wer wen ehelichen durfte. Während die meisten Ämter in der Stadt Männern vorbehalten waren, bestand der Rat nur aus Frauen. Niemand wusste genau, wer überhaupt dazu gehörte. Oder wie neue Mitglieder rekrutiert wurden.

    "Wieso mussten meine Eltern dann in die Verbannung gehen?, wollte ich wissen. "Wenn sie keine Regeln verletzt hatten?" "Es war nur eine Sippenverbannung", erläuterte Agnatha. "Das Mindeste, was deine Großmutter tun musste, um den Familienrat zu besänftigen. Zusammen mit der Streichung deines Vaters von der Erbliste, natürlich. Ich hatte aber nicht den Eindruck, als ob er darunter übermäßig gelitten hatte". Davon hatte ich damals auch nichts bemerkt, zumal sie uns ausgerechnet nach Kirschgarten geschickt hatten. Den angenehmsten Ort im Land. Ein Tal, das von hohen Bergen vor den eisigen Winterwinden geschützt war. Es gab auch heiße Quellen. Netter konnte man es in der kalten Jahreszeit nicht haben. "Wir durften sogar Besuch empfangen", erinnerte ich mich. "So oft und so viel, wie wir wollten. Mutter reiste ständig hin und her zwischen der Stadt und dem Tal." "Sie war ja auch nicht verbannt worden", sagte Agnatha. "Sie hat deinen Vater freiwillig begleitet. Eure glimpfliche Behandlung dürfte wohl auf einen Kuhhandel zwischen dem Haus Wasa und dem Rat zurückzuführen sein. Das haben damals viele geglaubt."

    "Da fällt mir ein", bemerkte ich, "du musst doch auch den Krieg miterlebt haben. Wie alt warst du damals? Vierzehn?" "Ich habe sogar mitgekämpft", erwiderte sie stolz. "Das hast du nicht gewusst, nicht wahr? Dass auch Frauen an der Front waren?" In der Tat war davon in den Geschichtsbüchern nichts zu lesen gewesen. Kein Wunder. In den offiziellen Heldenmythen wurden wir stets als überlegen dargestellt. Wie verzweifelt musste die Lage in Wirklichkeit gewesen sein, dass sogar Frauen kämpfen mussten! "Bogen schießen galt damals als die einzige Leibesübung, die für Mädchen erlaubt und gleichzeitig im Gefecht brauchbar war", fuhr Agnatha fort. "Und wir hatten bei Weitem nicht genug Bogenschützen, um die Mauern zu besetzen. Aus dem Westen rückte die Armee der Flusslande heran, 50 000 Mann stark. Vom Osten her nahten die Krieger der Bergvölker, noch einmal mindestens 10 000 Krieger.

    "Aber wir wussten, dass die Bergstämme uns verraten hatten", stellte ich fest. "Wovon die wiederum nichts ahnten. Ihre Soldaten kamen nicht in Kampfformation anmarschiert, weil sie uns in Sicherheit wiegen wollten, in Erwartung offener Tore und einer arglosen Stadt. Einmal innerhalb der Mauern, hätten sie auf einen günstigen Augenblick gewartet, um uns hinterrücks abzuschlachten. Doch sie liefen ins offene Messer. So erzählen es die Veteranen". "Das ist nicht falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit" sagte die Erbtochter. "Dein Vater hatte einen genialen Plan erdacht. Damit die Kämpfer der Bergvölker wirklich glaubten, dass wir nicht im Mindesten an ihren guten Absichten zweifelten, stellte er nur Frauen auf die Mauern. Wir trugen unsere besten Kleider, waren herausgeputzt und frisiert wie zum Tanz. Lächelten und winkten, warfen ihnen Kusshände zu und ließen Blumen auf sie herab regnen. Sie waren begeistert. Hatten Augen nur für uns. Fühlten sich völlig sicher. Ganz nah kamen sie heran und erwarteten nichts Böses. Dachten wirklich, ihre List hätte funktioniert." Agnatha lächelte kalt. "Aber dann holten wir die Bögen hervor. Es war wie bei der Hasenjagd. Ganz einfach. Sie hatten keine Chance. Man konnte gar nicht daneben schießen, weil sie dicht an dicht standen. Ich allein habe fünfzig Mal getroffen. Panik machte sich breit. Ihre Reihen lösten sich auf, und genau in diesem Augenblick öffneten sich unsere Tore. Die Reiterei stürmte heraus und erledigte den Rest. Keiner der Verräter hat überlebt. Unsere Verluste waren gering."

    "Darauf kannst du stolz sein", sagte ich beeindruckt. "Und wie seid ihr mit den Truppen der Flusslande fertig geworden? Es heißt, Sigurd Yggdrasil und mein Vater hätten dies mit einem kühnen Manöver erreicht. Was genau haben sie getan? Mein Vater hat nie über den Krieg gesprochen". "Das kann ich dir nicht sagen", bedauerte die Frau. "Nach dem Sieg über die Bergstämme sind die Meisten von uns zur Westmauer geeilt. Dort hatte die Streitmacht der Flusslande Aufstellung bezogen. Auf dem Weg zur Bergstadt waren sie von unseren Partisanen schon ordentlich dezimiert worden. Ihren Tross hatten sie zum größten Teil verloren. Aber es waren immer noch etwa 45 000 Mann. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Anblick war? Zum Glück hatten sie sich darauf verlassen, dass die Bergkrieger die ihnen zugewiesene Aufgabe erfüllen würden. Das wäre dann ein schneller Sieg gewesen. Deshalb führten sie keine Belagerungsmaschinen mit und auch keine Katapulte. Die mussten sie erst vor Ort bauen. Was Zeit kostete." "So dass es Herbst wurde", folgerte ich. "Der Regen und die Stürme dürften ihnen mehr zugesetzt haben als unseren Leuten in der Stadt." "Trotzdem unternahmen sie einen Sturmangriff nach dem anderen", berichtete Agnatha. "Wir stürzten ihre Leitern um, die sie an die Mauern gelehnt hatten, schossen ihre neuen Belagerungstürme in Brand, übergossen ihre Soldaten mit siedendem Öl und spickten sie mit Pfeilen. Ihre Verluste waren hoch, aber unsere auch. Mein halber Jahrgang ist gefallen. Neben mir starb meine beste Freundin. Schließlich beschloss das Oberkommando, den Feind zur Entscheidungsschlacht zu stellen. Unsere Truppen standen zur Attacke bereit. Es regnete in Strömen. Immer noch waren uns die Angreifer zahlenmäßig weit überlegen. Sie erwarteten unser Vorrücken. Und dann lösten sich tausend Mann aus dem Heer und bildeten eine keilförmige Angriffsformation."

    "Die tausend Berserker", flüsterte ich ehrfürchtig.

    "Hast du schon einmal Berserker kämpfen sehen?", fragte sie. "Sie stürmten schneller haran, als es ein normaler Mensch je schaffen würde. Geschwind wie Pferde. Ihre Speere schleuderten sie mit einer solchen Wucht, dass die Brustschilde der Flussländer nachgaben wie Papier. In vollem Lauf warfen sie einen nach dem anderen. Wie Blitze. Und wie vom Blitz getroffen, brachen die Feinde zusammen. Und dann der Aufprall! Tief stießen die Berserker in die Masse der fremden Kämpfer vor. Machten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Einen Moment lang sah es so aus, als ob wir gewonnen hätten. Aber es waren zu viele. Der Angriff stockte. Die Berserker wurden eingekesselt. Zuerst stürzte sich die feindliche Reiterei auf unsere verbliebenen Einheiten, und dann folgte die Infanterie. Sie drängten uns zurück. An die Mauern.Wir standen kurz vor der Niederlage. Aber dann...."

    Ich lauschte atemlos. Keine Frage, Agnatha wusste, wie man eine Geschichte erzählte. Und sie schien es zu genießen, ihren Zuhörer zappeln zu lassen. Hypothese Drei konnte ich vergessen. So etwas hätte ich mir nie ausdenken können, selbst in meinen wildesten Phantasien nicht. Keine Halluzination.

    "Aber dann", erzählte Agnatha weiter, "kam plötzlich Nebel auf. Mitten im Heer der Angreifer. Ich weiß noch, wie seltsam mir das vorkam. Nebel, während eines Wolkenbruchs. In den feindlichen Reihen griff Unruhe um sich. Ihre Pferde gingen durch oder warfen ihre Reiter ab. Sie wandten sich zu wilder Flucht. Unsere Soldaten setzten ihnen nach. Es war ein einziges Abschlachten. Von den Berserkern allerdings überlebten nur dreihundert die Schlacht. Einen Monat später gab es nur noch dreißig, und heute ist nur noch einer übrig".

    "Sigurd Yggdrasil", bestätigte ich. "Der Mann ist ein wahres Wunder. All die Gefallenen. Wo sind sie? An einem Platz wie dem unsrigen? Was kannst du mir dazu sagen?"

    Die Sverrigtochter schwieg. Schließlich erhob sie sich zum Zeichen, dass die Tafel aufgehoben war, und verkündete: " Folge mir, sobald du die Reste in die Küche gebracht und en Abwasch erledigt hast. Ich erkläre dir dann alles." Es entsprach keineswegs den althergebrachten Sitten, den Gast zum Reinigen des Geschirrs einzuteilen. Aber nicht nur das erboste mich. Ich hatte ihre Geheimnistuerei gründlich satt. Also stand ich ebenfalls auf und sagte: " Ich werde gar nichts machen, wenn du mir nicht endlich wenigstens eine Frage beantwortest. Sind wir tot? Ist das das Jenseits?" "Ein Traum", antwortete sie. "Es ist ein Traum". Mit diesen Worten verließ sie das Esszimmer. Und mich ratlos zurück. Wessen Traum? Ihrer?

  • Kräuter und die Mondelfen

    8.Kapitel

    Agnathas Traum

    Was war das für ein Traum, in dem der Abwasch anstand? Allerdings musste ich zugeben, dass meine Gastgeberin immerhin das Essen zubereitet und den Tisch gedeckt hatte. Ein wenig Mitarbeit meinerseits konnte da wohl erwartet werden. Tante Meg hätte es auch nicht anders gehalten. Zum Glück gab es in unserem Traumhaus fließendes Wasser. Das nicht versalzen war, wie ich zu meiner Erleichterung feststellte. So fiel es mir leicht, meinen Auftrag zu erledigen. Die Tassen, Teller und Schüsseln landeten gesäubert in den Küchenschränken. Nachdem ich den Tisch feucht abgewischt und die Kerzen gelöscht hatte, verließ ich das Esszimmer. Durch den Empfangssaal und den dunklen Korridor gelangte ich nach draußen, wo inzwischen eine frische Brise aufgekommen war. Oben auf einem hölzernen Turm, der von einer Plattform gekrönt war, erblickte ich Agnatha. Dieses Bauwerk konnte ich unmöglich übersehen haben. Wo erschienen Dinge aus dem Nichts? Und verschwanden auch wieder? In Träumen.

    Sturm Tochter. Diese Bezeichnung passte zu Agnatha. Sie war unberechenbar wie das Wetter. Mitunter freundlich, dann wieder herrisch, und gelegentlich auch unheimlich. Wie jetzt gerade. Regungslos, den Blick den Sternen zugewandt, stand sie da. Ihr langes Haar wehte im Wind. Was mich in beklemmender Weise an die Mondelfen erinnerte, aber nicht daran hinderte, das Gerüst zu erklettern. Ich brauchte endlich Antworten. Die Frau schaute zum Firmament empor, ohne zu blinzeln. Bevor ich sie ansprechen konnte, sagte sie zu sich selbst:" Er muss es empfinden, damit er es versteht. Am eigenen Leibe spüren. Am besten appelliere ich an seine alberne, männliche Eitelkeit. Erkläre ihm, es gäbe einen leichten und einen sehr schwierigen Weg. Für letzteren muss man sehr hart sein. Schmerzen ertragen können und Leiden. Natürlich, wenn er sich das nicht zutraut....

    Agnatha wandte sich mir zu. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich. Mädchen setzten ihn immer auf, wenn sie das Imponiergehabe der Jungs nutzen wollten, um sie zu irgendwelchem, gefährlichen Unsinn zu verleiten. "Was mit mir geschehen ist", begann sie, "kann ich dir zeigen. In Bildern. Du würdest es jedoch besser begreifen, wenn du fühlen würdest, was ich empfunden habe. "Aber?", fragte ich. "Aber", fuhr sie leicht verunsichert fort, "ich musste sehr viel erdulden. Falls du verstehen willst, warum ich tat, was ich tat, und wie aus mir wurde, was ich bin, wäre das der bessere Weg. Natürlich würde ich es dir nicht übel nehmen, wenn du dir diese schwere Prüfung ersparen wolltest." Mir wurde klar, dass ich gerade auf die grösste Dummheit meines Lebens zusegelte. Wie hirnlos musste man sein, um auf einen Trick hereinzufallen, der einem vorher angekündigt worden war? Doch war ich ein stolzes Mitglied unserer Jugendmiliz, gestählt in zahlreichen, lebensgefährlichen Übungen. In den härtesten Wintern hatte ich überlebt, war von einem wütenden Höhlenbären durch den Wald gejagt, von Schlangen gebissen und von Hornissen zerstochen worden. Ich hatte glühende Hitze und bittere Kälte ertragen, Hunger und Durst und Todesangst. In den Bergwäldern boten sich viele Möglichkeiten für ein verfrühtes Ableben. Sümpfe luden zum Versinken ein, Schluchten zum Hineinstürzen. Mörderische Gewitter traten gerne ohne Vorwarnung auf und geizten nicht mit Blitzen. Schlimmer konnten Agnathas Erlebnisse auch nicht gewesen sein.

    Was eine Frau durchstand, durfte ich mir wohl ebenfalls zutrauen. Damals hatte ich allerdings noch nie Geburtshilfe geleistet.

    "Na schön", sagte ich zu Agnatha. "Nimm es mir nicht übel, aber ich halte mich für durchaus fähig, dasselbe zu ertragen wie du. Nicht, dass ich Frauen gering schätzen würde!". Sie lächelte. "Schau zum Himmel empor", forderte sie mich auf, und wies auf einen Punkt am Firmament. "Der rote Stern". "Für mich haben die alle die gleiche Farbe", erwiderte ich. "Schau genauer hin. Es gibt weiße, gelbe und rote. Ist dir das noch nie aufgefallen?" Für Himmelskunde hatte ich mich eher wenig interessiert, zumal in diesem Fach von Mondelfen nie die Rede gewesen war. Offenkundig hatte der Unterricht bedenkliche Lücken aufgewiesen. Dennoch tat ich Agnatha den Gefallen und konzentrierte mich auf das von ihr bezeichnete Gestirn. Nach einer Weile nahm ich tatsächlich ein rötliches Schimmern um den Stern wahr. In der Farbgebung dem Blutmond sehr ähnlich. Der Anblick nahm mich gefangen. Ich wurde müde. Schläfrig. Und träumte. In einem Traum?

    "Der Blutmond scheint in mein Zimmer hinein. Unruhig wälze ich mich hin und her. Es ist zu warm, das Atmen fällt mir schwer in der stickigen Luft. Deshalb erhebe ich mich und öffne das Fenster. Die roten Mondstrahlen fühlen sich kühl an auf meiner Haut. Ich schliesse die Augen. Mir ist so leicht zumute. Als ob ich schweben würde. Als ob ich durch die kühle Nachtluft flöge. Als ich die Augen wieder öffne, kann ich keine Einzelheiten erkennen. Nur rotes Licht. Es umfängt mich, trägt mich wie ein Fluß, einem unbekannten Ziel entgegen. Endlich verlangsamt sich die gleichförmige Bewegung. Ich sinke in die Tiefe. Der leuchtende Stoff, der mich umgibt, löst sich auf, so dass ich wahrnehme, was sich unter mir befindet. Ein Trümmerfeld. Stelen liegen zerbrochen auf dem Boden. Nur wenige stehen noch aufrecht. Plötzlich liege ich im feuchten Gras. Mühsam richte ich mich auf. Leiser Gesang ertönt. Eine traurige, getragene Melodie. Immer noch steht der Blutmond am Himmel. Eine Prozession nähert sich. Ein Trauerzug. Vier sehr schlanke Frauen tragen einen Sarg. Gemessen schreiten sie an mir vorbei. Mit ihren schmalen, rötlich leuchtenden Katzenaugen und ihren ausgeprägten Wangenknochen wirken sie fremdartig. Ihnen folgt eine weitere Frau. Sie sieht mich an und lächelt mit weißen Zähnen. Sie reicht mir ihre Hand. Die langen Finger der Weißgekleideten fühlen sich kühl an. Keine der Frauen bewegt ihren Mund. Dennoch ist der Gesang weiterhin zu hören. Wir erreichen ein frisch ausgehobenes Grab.

    Meine Begleiterin hat auf einmal ein blaues Halsband in der Hand. Sie legt es mir an. Immer noch lächelnd ergreift sie wieder meine Hand und führt mich zu der Grube, in der nun der Sarg liegt. Geöffnet. Sie berührt meine Schulter und versetzt mir einen Stoß. Ich stürze. Endlich kann ich schreien. Doch es wird dunkel. Sie verschliessen den Sarg. Sie begraben mich lebendig. Mit aller Kraft presse ich mich gegen den Sargdeckel. Er bewegt sich nicht. Ich atme schwer. Etwas drückt auf meine Kehle. Das Halsband.

    Es zieht sich zu. Ganz langsam. Ich ringe um Luft. Ich werde ersticken. Der Schmerz ist kaum noch zu ertragen. Ich sehne den Augenblick herbei, in dem ich das Bewußtsein verliere. Aber das geschieht nicht. Das Halsband wird enger und enger. Die Qualen nehmen kein Ende.

    Da spüre ich einen Luftzug. Sehr schwach, sehr dünn. Wie eine leichte Brise, dir mir etwas Erleichterung verschafft. Ich drehe meinen Kopf in die Richtung der einstömenden Luft. Ich spüre, dass draußen noch mehr davon zu finden ist. Mit letzter Kraft bäume ich mich auf. Über mir leuchten der Blutmond und die Sterne. Unter mir wartet die Quelle des köstlichen Atems. Ich sauge die Luft in mich hinein. Und dann sehe ich das Kind. Ein Neugeborenes. Es ist blau angelaufen. Es erstickt. Ich bin es, die ihm den Atem raubt. Die es tötet. Ich schrecke zurück. Ein Windstoß packt mich. Ich fliege. Dem Himmel entgegen."

    Als ich erwachte, lag ich voll bekleidet in meinem Gästebett in Agnathas Haus. Ohne eine Ahnung, wie ich dort hingekommen war.

    Nur Eines war mir klar. Wenn das ihre Erinnerungen an tatsächliche Geschehnisse gewesen waren, sah die Welt sehr viel anders aus, als ich mir das je hätte vorstellen können.

  • Kräuter und die Mondelfen

    9.Kapitel

    Endlich zurück zum Schulamt!

    "Was macht ihr, wenn ihr in eine unübersichtliche Lage geratet?", hatten uns die Ausbilder in der Jugendmiliz gefragt und der Einfachheit halber, wie es so ihre Art war, die Antwort gleich selbst nachgeliefert. "Verschwendet keine Zeit mit fruchtlosen Grübeleien. Lasst euch nicht ablenken. Konzentriert euch auf das Wesentliche. Nämlich was?" Lehrer hatte sich gemeldet, war aber übersehen worden. Unsere Vorgesetzten hörten sich eben zu gerne reden. Zuhören war nicht ihre Stärke. "Das Wesentliche ist die Erfüllung eures Kampfauftrags", ließen sie uns an ihrer Weisheit teilhaben. "Und wenn es sich zusätzlich machen lässt, euer Überleben, am besten in einem Stück. Alles andere zählt nicht! Kümmert euch nicht darum!". Ich beschloss, diesem guten, wenn auch etwas autoritär vorgetragenen Rat Folge zu leisten. Agnathas Erzählungen waren zwar nicht gerade uninteressant oder langweilig, hatten mich aber keinen Schritt näher nach Hause gebracht. Es war an der Zeit, sie direkt darauf anzusprechen. Und wenn sie dazu nichts zu sagen wusste, würde ich dieses seltsame Land eben systematisch durchsuchen müssen. Vielleicht gab es ja irgendwo ein Tor, das von hier weg führte.

    Meine Gastgeberin war nicht im Haus. Auf dem Tisch im Esszimmer fand ich einen Zettel, auf dem zu lesen war: " Bin schwimmen. Komm runter!" Typisch Agnatha. Kurz angebunden und mit Befehlston. Diese Adelstöchter! Wollte sie sich tatsächlich in diese salzige Brühe stürzen? Wusste sie denn nicht, dass man beim Schwimmen immer auch Wasser schluckte? Nun, das war ihre Sache. Ich machte mich auf den Weg, die Treppe hinunter, bis ich den weißen Strand erreicht hatte. Im Schatten der Bäume entdeckte ich einen kleinen Tisch, auf dem Speisen und Getränke auf Interessenten warteten, sowie zwei Stühle. Obwohl ich nicht hungrig war, setzte ich mich und nahm mir etwas von einem Salat. Einem sehr bunten Salat, der den Eindruck erweckte, dass Agnatha sämtliche Obstsorten verarbeitet hatte, die in dieser seltsamen Welt vorkamen. Dazu trank ich Pfirsichsaft. Während eine Sonne schien, die vielleicht nur ein Traum war.

    Von den rosa Vögeln war nichts zu sehen. Dafür entdeckte ich Agnatha, die, von Wellen umspült, durch das grünliche Wasser auf den Strand zuschritt. Sie trug einen dieser skandalösen, zweiteiligen Badeanzüge, wie sie angeblich in den für ihre Sittenlosigkeit berüchtigten Flusslanden üblich waren. Tante Meg hätte bei diesem Anblick augenblicklich der Schlag getroffen. Die Sverrigtochter hingegen wirkte völlig unbefangen. Ihre nassen Haare bewiesen, das sie tatsächlich in dem Salzgewässer ein Bad genommen hatte. Mit einer eleganten Bewegung nahm sie mir gegenüber Platz und goss sich ein Glas Apfelsaft ein. "Guten Morgen", tat ich der Höflichkeit genüge, um sogleich auf mein Anliegen zu sprechen zu kommen. "Gibt es einen Weg zurück für mich, zurück nach Hause?. Kannst du mir helfen?" Sie nahm sich Zeit. Nachdem sie ausgetrunken hatte, erwiderte sie: "Ich helfe dir, wenn du mir hilfst. Gelobe mir, dass du nach deiner Rückkehr alles in deiner Macht Stehende unternehmen wirst, um mich zu befreien. Dann zeige ich dir den Weg." "Das ist aber eine sehr allgemein gehaltene Verpflichtung, die ich da eingehen soll", bemerkte ich. "Was, wenn ich ablehne?". "Dann bleibst du eben hier", gab sie in aller Ruhe zurück. "Deine Gesellschaft ist immer noch besser als gar keine". "Die hat vielleicht Nerven", dachte ich. "Die habe ich in der Tat", sagte Agnatha. Erschrocken stellte ich fest, dass ich jetzt auch schon anfing, meine Gedanken laut auszusprechen. Höchste Zeit für meine Abreise! " Also schön", sagte ich und hob die rechte Hand zum Schwur. " Bei meinem Haus, bei den Ahnen, bei meiner Ehre gelobe ich, alles in meiner Macht Stehende zu unternehmen, um dich zu befreien, unter der Voraussetzung, dass du vorher meine Rückkehr bewerkstelligst".

    "Gut", kommentierte sie. "Bevor ich dir sage, was du im Einzelnen tun sollst, hast du vielleicht noch weitere Fragen?" Damit konnte ich dienen. "Der Säugling, dem du die Luft ausgesaugt hast, bin ich das gewesen? Meine Mutter berichtete mir von einem schrecklichen Erstickungsanfall, der mich kurz nach meiner Geburt fast getötet hätte. Das wiederholte sich dann Tag für Tag, schwächte sich aber mit der Zeit ab. Nach meinem dritten Geburtstag hörten die Anfälle ganz auf. Mutter wäre fast verrückt geworden. Sie, die beste Heilerin der Stadt, konnte die Ursache einfach nicht finden." " Du hast empfunden, was ich damals zu erdulden hatte", sagte Agnatha." Das schreckliche Gefühl, ganz langsam erdrosselt zu werden. Ich musste Luft holen. Aber ich lernte mit der Zeit, Maß zu halten und mich zurückzunehmen. Immer noch nehme ich mir deinen Atem, einmal am Tag, um Mitternacht, aber du merkst es nicht mehr. Warum das nur mit dir geht? Das habe ich bisher noch nicht herausgefunden. Wir haben am selben Tag Geburtstag. Zwar sind wir siebzehn Jahre auseinander, aber dieser Umstand mag eine Rolle spielen. Jedenfalls besteht eine Verbindung, die wohl dafür gesorgt hat, dass du hier erschienen bist."

    Ungeachtet der verrückten Umstände, in denen sie lebte, war sie immer noch imstande, ihre Lage logisch zu durchdenken. Weder neigte sie zu übereilten Schlussfolgerungen, noch flüchtete sie sich in irgendwelche abergläubischen Trostvorstellungen. Das fand ich bewundernswert. "Ich mache dir keine Vorwürfe", sagte ich. "Ob ich deine Selbstbeherrschung aufgebracht hätte, möchte ich nicht mit Sicherheit behaupten. Aber was bist du? Eine Art Geist?" Und was hast du in all den Jahren gemacht?" "Auf dich aufgepasst", entgegnete sie. "Erinnerst du dich noch an die Buntotter, die in dein Zimmer gekrochen kam, als du zwei Jahre alt warst?" "Die war wirklich schön bunt", sagte ich. "Ich wollte mit ihr spielen". "Feige war er nie", sprach Agnatha zu sich selbst. "Sehr schlau aber auch nicht!" "Damals schrie ich laut", fuhr sie fort. "Eine Schlange, eine Schlange". Bis dahin hatte mich niemand hören können. Ich war unsichtbar, konnte nichts berühren, zu niemandem sprechen. Doch an diesem Tag drang ich zu dir durch. Du riefst auch plötzlich: "Eine Schlange, eine Schlange! Dein Vater kam herbei geeilt und tötete das Tier". "Ich wollte mit ihr spielen", entsann ich mich. "Nicht sehr schlau", seufzte Agnatha. "Immer, wenn du in Lebensgefahr geraten bist, und das kam nicht selten vor, habe ich das gespürt und bin dir zur Hilfe geeilt."

    "Als Soße, der Bürgermeister und ich während einer Milizübung in ein Höhlensystem gestürzt waren?", fragte ich. "Zum Beispiel", bestätigte sie. "Da ich feste Materie durchdringen konnte, fiel es mir leicht, einen Ausweg zu finden. Dir kam es wie eine Eingebung vor, der du vertrautest. Aber ja, ich war es, die dich anleitete." Damals hatte ich Soße überzeugen können. Den Bürgermeister leider nicht. Wir hatten ihn wegen seines Standartspruchs so genannt. " Wenn ich Bürgermeister wäre!" Nach Lehrer war er wohl der Klügste in unserem Jahrgang. Ein kritischer Geist. Deshalb war er mir nicht gefolgt, sondern hatte eigene Überlegungen angestellt und danach gehandelt. Was ihn das Leben gekostet hatte. Vermutlich war er erfroren, allein in der Dunkelheit. "Armer Bürgermeister", sagte ich. "Er muss sehr weit gekommen sein, denn wir haben seine Leiche nie gefunden. Leider hatte er kein unsichtbares Kindermädchen."

    "Ein unsichtbares Kindermädchen", griff Agnatha meine Formulierung auf. "Sehr treffend. Da war noch die Sache mit dem Bären." Ja, der Bär. So hart unsere Wintermanöver auch waren, sie boten wenigstens den Vorteil, dass die Höhlenbären schliefen. Wie ich feststellen musste, konnte man sich aber leider auch darauf nicht immer verlassen. Eine der gefährlichen Bestien war aus ihrem Schlummer erwacht und verstört, wütend und hungrig durch den Wald geirrt. Gesehen hatte ich sie zunächst nicht. Es war nur ein Gefühl gewesen, eine Ahnung drohender Gefahr, die mich unvermutet überkam und dazu veranlasste, einfach los zu rennen. Fast gleichzeitig hörte ich, wie hinter mir etwas durch das Unterholz brach. Der Koloss bewegte sich schneller, als ich dies je für möglich gehalten hätte. Mit Sicherheit hätte mich das Ungeheuer erwischt, wenn ich nicht - zufällig? - auf eine Schlucht zugelaufen wäre. Im letzten Moment warf ich mich zur Seite. Der Bär hatte nicht so viel Glück. Da er seinen Schwung nicht mehr zu bremsen vermochte, raste er an mir vorbei und stürzte in den Abgrund. Eine unglaubliche Geschichte, die mir niemand abgenommen hätte, wären nicht zufällig zwei unserer Ausbilder in der Nähe gewesen. Ich bekam die höchste Punktzahl und den präperierten Kopf des Tiers als Anerkennungsgeschenk. Es schmückte jetzt das Dienstzimmer meines Onkels Gerd, nachdem sich Tante Meg standhaft geweigert hatte, das Ding in unserem Salon unterzubringen. Es hätte wohl auch nicht zur übrigen Einrichtung gepasst.

    "Bei fast einem Dutzend Gelegenheiten habe ich dir das Leben gerettet", sagte Agnatha. "Nie habe ich einen jungen Mann gesehen, der so gefährlich lebt wie du. Und um deine Frage zu beantworten. Ich bin kein Geist. Denn ich muss atmen und schlafen. Und träumen. Sieh dich um! Zuerst unterschieden sich meine Träume nicht von denen anderer Menschen. Doch dann nahmen sie Gestalt an. Fühlten sich fast so wirklich an wie unsere Welt. Dort existiere ich als Phantom, hier körperlich. Immer, wenn ich einschlafe, finde ich mich an diesem Ort wieder.

    "Warum diese Insel?", wollte ich wissen. "Das weiß ich nicht", antwortete sie. "Viele Länder habe ich in den vergangenen siebzehn Jahren gesehen. So auch dieses Eiland. Es befindet sich in einem riesigen Gewässer. Man nennt das ein Meer oder einen Ozean, zu deiner Information. Von denen gibt es sieben. Diesen Ort fand ich recht nett, doch hätte ich mir hübschere Plätze ausgesucht, wenn das machbar gewesen wäre. Dann gäbe es hier auch Pferde und Hunde. Leider funktioniert es nicht so. Die Insel, die Vögel, die Bäume, der Garten, das Haus. Sie erschienen ganz einfach, nach und nach." "Und wohl auch die Bücher", fügte ich hinzu.

    "Er hat also herumgeschnüffelt", sagte Agnatha zu sich selbst. "Ja, auch die Bücher. Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, machte ich mich daran, systematisch zu erforschen, was mir widerfahren war. Das Grab, in das sie mich geworfen haben, fand ich nie. Doch die Welt stand mir offen. Jahre verbrachte ich in der großen Bibliothek der Alten Kaiserstadt. Musste immer warten, bis die Leser zur nächsten Seite weiter blätterten. Sehr lästig. Wenigstens tauchten die interessanteren Texte stets hier auf, sobald ich die Lektüre beendet hatte. In der Alten Kaiserstadt findet man wirklich fast alles. Aber ich war auch anderswo. Eigentlich überall. Weit im Osten, jenseits der unendlichen Berge, liegt das Reich des Jadekaisers. Auf der anderen Seite der Welt sah ich die Tempelstädte, wo sie viel von Himmelskunde verstehen, aber auch jeden Morgen Menschen opfern, damit die Sonne aufgeht."

    "Und die Mondelfen?", wandte ich ein. "Was wollen sie und die Schwarze Witwe von dir? Warum verbannen sie dich in ein Grab, wo sie dich langsam ersticken lassen? Während sie mich fast umbringen? "Seit siebzehn Jahren beobachte ich sie", berichtete Agnatha.

    "Vorsichtig, aus dem Verborgenen. Sehe sie in Vollmondnächten herabsteigen und an dunklen Orten nach Schriften aus dem Alten Reich suchen, die sie methodisch sammeln. Genauso fahnden sie nach Menschen mit der Fähigkeit, diese Texte zu übersetzen. Ich muss dich warnen. Als ich es versuchte, verspürte ich eine lähmende Angst. Das Gefühl, von etwas Bösartigem belauert zu werden. Du scheinst über mehr Widerstandskraft zu verfügen. Wie dein Onkel Bernhard. Er hat viele der dunklen Schriften zusammengetragen. Und auch übersetzt. Finde seine Sammlung. Dort musst du ansetzen, wenn du mir helfen willst." Sie deutet auf ihr Halsband. "Sonnenstein nennt man den Stoff, aus dem es besteht. Zerstört werden kann es nur durch Weißes Feuer. Finde heraus, wie man es beschaffen kann und wie es sich nutzen lässt. Dann befreie mich aus dem Grab. " Nichts leichter als das", sagte ich leichthin. "Kindskopf", schimpfte Agnatha vor sich hin. " Nimm das gefälligst ernst", fauchte sie mich an. "Natürlich", versicherte ich. "Ein Gelöbnis ist ein Gelöbnis. Wie wäre es, wenn du jetzt deinen Part erledigst?"

    Sie nickte. "Schön. Im Heilerhaus liegt dein Körper. Du erwachst bald. Vorher solltest du aber wirklich einmal im Meer gebadet haben. Das Wasser ist herrlich!" Schon erhob sie sich. Mir war das fremde Gewässer zwar unheimlich, aber wer wollte sich schon eingestehen, dass ein Mädchen mehr wagte als er. Also folgte ich ihr, fing mir aber schon den nächsten Tadel ein. "Willst du deine Klamotten etwa anbehalten?", fragte sie spöttisch. "Keine Sorge, die Unterhose darf bleiben. Bei den Ahnen, seid ihr verklemmt! Da habe ich ganz andere Kulturen gesehen! Na also. Los geht es!" Wir liefen den Wellen entgegen, die es wirklich in sich hatten, wie ich feststellte. Manche türmten sich so hoch auf, dass wir hüpfen mussten, um unsere Köpfe über Wasser zu halten. "Was glaubst du, wem werden sie dich wohl zusprechen?", fragte Agnatha. "Keine Ahnung", gab ich zurück. "Ich hoffe, ich bleibe übrig. Keine lästige Ehefrau, jede Menge freier Zeit, und mit fünfunddreißig heirate ich eine reiche Witwe. So hat es Onkel Bernie gemacht." Eine heranrollende Woge warf mich fast um, während Agnatha bemerkte: "Dein Onkel ist ein unglücklicher Mann. Was glaubst du, warum er angefangen hat zu trinken? Er hat es nie verkraftet. übrig geblieben zu sein. Dir wird das nicht passieren. Vergiss nicht, dass ich in den vergangenen Jahren alles gesehen und gehört habe, was in der Stadt geschah. Wer gegen wen intrigierte. Wer seine Frau betrog. Und was sie mit dir vorhaben. Du wirst dich wundern!" Ich sah sie an "Du lässt mich natürlich zappeln", stellte ich fest.

    Sie blickte ernst zurück. "Erwache!", sagte sie. "Jetzt". Und versetzte mir einen Stoß, der mich umwarf. Salziges Wasser brannte in meinem Rachen. Ich ertrank. Wieder einmal. Und erwachte hoffentlich. Das Schulamt wartete sicherlich schon,

  • Kräuter und die Mondelfen

    10.Kapitel

    1.Teil

    Tante Meg


    Die Erdenschwere schien sich verdoppelt zu haben. Ich lag wie niedergedrückt in meinem Bett. Alles tat weh. Vorsichtig betastete ich meine Nase. Eindeutig gebrochen. Meinen Kopf hatte man mit einem Verband umwickelt, unter dem sich eine Wunde verbergen musste. Darauf wies ein unangenehmes Pochen hin, und ein Jucken, vermutlich Anzeichen für einen beginnenden Heilungsprozess, wenn ich Glück hatte. Alls ich versuchte, mich aufzurichten, protestierten meine Rippen und mein Rücken gleichermaßen. Mindestens angebrochen oder wenigstens gestaucht. Im hellen Grau des frühen Morgens nahm ich wahr, dass ich mich in einem Krankenzimmer befand. Nein, kein Krankenzimmer. Das war ein Sterbezimmer!

    Im Dunklen Zeitalter, als sie noch an den Garten der Ahnen geglaubt hatten, war es Brauch gewesen, die Sterbenden schon einmal auf ihr Wiedersehen mit den Vorfahren vorzubereiten. Zu diesem Zweck waren die mumifizierten Leichen enger Verwandter aus den Gräbern geholt und den Todkranken zu ihrem letzten, irdischen Aufenthaltsort gebracht worden. Damit hatten die Aufklärer begrüßenswerter Weise Schluss gemacht. Als Zugeständnis an den althergebrachten Aberglauben wurden die Sterbezimmer aber nach wie vor geduldet, wobei Gemälde an die Stelle der Mumien traten. Ich blickte auf eine Wand voller Bilder. Portraits meiner Eltern, meines Großvaters Gustav und vieler weiterer Ahnen schmückten den Raum. So etwas sollte den Dahinscheidenden damals das Gefühl vermitteln, von ihren verstorbenen Familienmitgliedern im Leben nach dem Tod erwartet zu werden.

    Heute wandelten wir im Licht der Vernunft und glaubten nicht mehr an ein Jenseits. Man sprach stattdessen von einer modernen Sterbekultur, als deren Ausdruck diese besonderen Räume nun betrachtet wurden. Ganz im Einklang mit der Wissenschaft. Besonders beruhigend wirkte dieser Umstand nicht auf mich, denn Eines hatte sich nicht verändert. Nur die hoffnungslosen Fälle landeten im Sterbezimmer. Leichtfertig gingen die Heiler dabei nicht vor. Wer auch nur die geringste Chance hatte, vielleicht doch noch unter den Lebenden verweilen zu dürfen, durfte in einem normalen Krankenzimmer verbleiben, wo man natürlich trotzdem abtreten konnte.

    Aus meiner augenblicklichen Lage durfte ich also schließen, dass ich so gut wie tot war. Wieder fühlte ich meinen Puls, wie ich es schon auf Agnathas Insel getan hatte. Und wieder stellte ich nichts Ungewöhnliches fest. Mein Herz arbeitete zuverlässig vor sich hin. Beim Atmen gab es keine Schwierigkeiten. Von den Schmerzen abgesehen, die sich im Rahmen des Erträglichen hielten, kam ich mir recht lebendig vor. Trotzdem mussten die Heiler einen ganz anderen Eindruck gewonnen haben. Das war kein Wunder. Wenn man mit hoher Geschwindigkeit auf eine Wasseroberfläche knallte, hatte das die gleichen Folgen, als ob man mit einer soliden Mauer nähere Bekanntschaft machte. Die von unseren Forschern vermuteten kleinsten Wasserteilchen hatten keine Zeit zurückzuweichen. Und ich war mit dem Kopf voran in den See gestürzt, was zu schweren Verletzungen und einer tiefen Bewusstlosigkeit geführt haben musste. Ernsthaft genug, um eine Erholung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Es blieb nur ein würdiger Tod.

    Da ich meine Beine bis zu den Zehen fühlen konnte, versuchte ich aufzustehen. Es war mühsam, aber es ging. Vorsichtig stakste ich auf die gegenüber liegende Wand zu, bis ich vor dem Hochzeitsbild meiner Eltern stand. Beide trugen ihre weißen Vermählungsgewänder. Während Vater wie immer würdig und nachdenklich wirkte, schien sich Mutter über einen gelungenen Streich zu freuen. Wohl zum Ärger des Familienrats, den sie gekonnt an der Nase herumgeführt hatte. Das Gemälde hatte Großvater Gustav persönlich geschaffen, dessen leicht geschmeicheltes Selbstportrait weiter oben hing. Er war der begabteste Maler seiner Generation gewesen. In vielen Häusern der Stadt waren seine Werke zu bewundern, denn er hatte sich nicht darauf beschränkt, lediglich dir Mitglieder seiner Sippe zu verewigen. Meist ihne Voranmeldung tauchte er gerne auf Familienfeiern auf, um sodann seine Staffelei auszupacken und das jeweilige Hochzeitspaar oder Geburtstagskind auf die Leinwand zu bannen. In vornehmen Prachtbauten genauso wie bei armen Leuten. Die Bilder verschenkte er anschließend, was ihm eine Beliebtheit einbrachte, die das Haus Wasa aus vielerlei Gründen bitter nötig hatte.

    Normalerweise konnten sich die unteren Schichten Spitzenkünstler nicht leisten. Sie mussten sich mit den durchschnittlichen Vertretern der Zunft begnügen. Jeder, der auch nur über ein bescheidenes Talent auf diesem Gebiet gebot, brauchte sich um seinen Lebensunterhalt keine Sorgen zu machen. Alle Familien lleßen im Rahmen des Ahnendienstes bei jeder Gelegenheit Gemälde anfertigen. Von mit gab es auch schon mehrere. Eines Tages würde sie ein im Sterben liegende Nachfahre betrachten und sich fragen, ob er mich wirklich im Jenseits treffen wollte.

    Ein vertrautes Bedürfnis riss mich aus meinen Gedanken. Das ich schon fast vergessen hatte. Ich mußte dringend zum stillen Örtchen! In Agnathas Reich war das nicht erforderlich gewesen, was mir erst jetzt auffiel. Hier aber schon. Zum Glück kannte ich mich im Heilerhaus sehr gut aus, so dass ich den Abort gerade noch rechtzeitig erreichte. Auch die Verdauung funktionierte also wieder, und zwar in beide Richtungen. Mein Magen knurrte. Zwar hatte ich auf der Insel Einiges zu mir genommen. Doch nur im Traum. Satt wurde man von Mahlzeiten nicht, die nur in der Phantasie existierten. Oder in einer anderen Seinssphäre. Dieser Körper hatte jedenfalls über längere Zeit weder etwas zu essen bekommen noch die Möglichkeit gehabt, sich zu erleichtern. In der Tat gab es nichts Wirklicheres und Erdverbundenes als eine Sitzung auf dem Klo. Schon kamen mir meine Erlebnisse mit der Sverrigtochter zunehmend irreal vor. Hatte sich dies alles wirklich ereignet? Dagegen sprach, dass mich Agnatha höchst unzureichend auf meinen Einsatz vorbereitet hatte. Wie viel Zeit war nach meinem Sturz vergangen? Ging es meinen Freunden gut? Hatte das Schulamt sie schon vernommen? Was hatten sie ausgesagt? Und was hatten die Schwarze Witwe und der neue Lehrer inzwischen angestellt? Waren sie entkommen? Ich wusste gar nichts. Grübeln brachte mich nicht weiter. Ich musste etwas unternehmen.

    Immerhin musste ich nicht mit Erklärungen aufwarten,war ich doch - in dieser Welt - sicherlich mehrere Tage scheintot gewesen. Viele Leute hatten Angst davor, irrtümlich für tot gehalten und lebendig begraben zu werden. Manche ließen sich deshalb Vorrichtungen in ihre Särge einbauen, die es ihnen ermöglichten, sich aus dem Grab bemerkbar zu machen, etwa mittels einer Glocke. So weit ich wusste, war so etwas bislang noch nicht geschehen. Es war aber auch noch nie jemand aus dem Sterbezimmer in das Land der Lebenden zurückgekehrt. Die Heiler gaben keinen Patienten so einfach auf. Doch hier war ich. Angeschlagen, aber eindeutig am Leben. Wie sie sich diese Wunderheilung wohl erklären würden?

    Ich verließ den Ort meiner Erleichterung und machte mich auf den Rückweg zum Krankenzimmer, wie ich es lieber bei mir nannte. "Sterbezimmer" klang nicht sehr aufmunternd. Der Gang war nur schwach mittels einiger Öllampen erleuchtet. Schritte waren zu vernehmen. Dann sah ich auch schon drei Frauen, die auf mich zu rannten. Sie trugen Hosen und lange Kittel. Eine Heilerin in Weiß und zwei Schwestern in Grün. Die Hellgekleidete war mir wohl bekannt. Tante Meg in Lebensgröße.

    Sie hasste ihr Aussehen. Nicht, das sie unattraktiv gewesen wäre. Durchaus nicht. In ihrer Jugend galten sie und meine Mutter, ihre eineigige Zwillingsschwester, als die schönsten Frauen der Stadt. Mittlerweile hatte Tante Meg zwar ihren vierzigsten Geburtstag überschritten, sah aber wesentlich jünger aus. Sie war immer noch sehr ansehnlich. Doch in einer Weise, die ihr gar nicht gefiel. Sie wirkte lieblich. In einem Märchentheaterstück für Kinder hätte man sie sofort als gute Fee besetzt. Ihre tiefblauen Augen blickten gütig in die Welt. Immer noch wohnte ihren Gesichtszügen etwas Weiches, Mädchenhaftes inne. Wenn sie ihr blondes Haar offen trug, verstärkte sich dieser Eindruck. Hinzu kam eine sanfte, einschmeichelnde Stimme. Ideal dazu geeignet, Kindern Gutenachtgeschichten vorzulesen. Aus ihrem Munde klangen selbst die blutrünstigsten fabeln über Menschen fressende Riesen und böse Hexen noch nett.

    Ihrer Autorität als Obfrau des Heilerhauses diente ein solch harmloses Erscheinungsbild jedoch ganz und gar nicht, davon war sie fest überzeugt. Also trug sie ihr Haar im Dienst zu einem strengen Knoten gebunden. Irgendwie, wohl durch langes, heimliches Üben, hatte sie es auch geschafft, ihrem Blick und ihrer Stimme eine ordentliche Portion Eis beizumischen, wenn sie dies für notwendig hielt. Sie konnte auch durchaus laut werden, so wie jetzt. "Bist du verrückt?", rief sie, während sie mich an den Schultern packte. "Du kannst doch nicht einfach hier herumlaufen!" "Aber ich musste mal", protestierte ich. "Außerdem geht es mit ganz gut." "Das entscheide immer noch ich", fauchte Tante Meg. "Deine Ausbildung hast du ja wohl noch lange nicht beendet." "Hildegard, Amalaswintha!", wies sie die beiden Schwestern an. "Stützt ihn und bringt ihn zurück in seinen Raum." Wie befohlen, griffen mir die Frauen unter die Arme und schleiften mich zu meinem Bett. Kaum hatte ich mich auf diesem niedergelassen, begann Tante Meg auch schon mit der Untersuchung.

    "Ein paar Brüche oder Stauchungen", stellte ich fest. "Und ihr habt mir wohl ein Loch in den Schädel gebohrt, um den Druck auf mein geschwollenes Gehirn zu verringern." "Klappe!", antwortete sie kurz angeboten und hob ihre rechte Hand. "Wie viele Finger?", wollte sie wissen. Ich widerstand der Versuchung, mir einen kleinen Witz zu leisten und zu entgegnen: "Acht" oder "Was für Finger?". Denn meine verehrte Tante machte nicht den Eindruck, zu Scherzen aufgelegt zu sein. Also sagte ich brav: "Fünf". Sie nickte und begann, mich abzutasten. "Tut das weh?", fragte sie immer wieder, was ich des Öfteren bejahen musste. "Aber nicht sehr", schränkte ich ein. Darauf ging sie gar nicht ein. "Zunge raus", kommandierte sie. "Gut. Richte dich mal auf, aber langsam. Ja, jetzt die Arme ausstrecken. Führe deine Finger zu den Augen. Stehe auf einem Bein!" "Alles kein Problem, wie du siehst", sagte ich. "Kann ich vielleicht bitte etwas zu essen und zu trinken haben?". Ein Wink genügte, und schon rannte Hildegard los. Ihre Untergebenen hatte Tante Meg immer im Griff gehabt. Und ebenso ihre Familie, einschließlich ihres Ehemanns. Auch wenn Onkel Gerd das nicht wahrhaben wollte.