"Milch und Kekse", sagte ich und wies auf den runden Felsen am Himmel, der, wie jedes Schulkind wusste, sein Licht von der Sonne bezog, welche zwar untergegangen, aber trotzdem noch da war. Jedenfalls behaupteten die Lehrer das. "Stell dir mal vor, jetzt würde eine Mondelfe erscheinen, und wir hätten nichts dabei."
Schlichter sah mich genervt an. "So etwas solltest du noch nicht einmal im Scherz sagen", erwiderte er. "Das Schulamt verfolgt alles, was nach Förderung des Aberglaubens aussieht. Da wirst du schneller hinter Gittern oder gar im Narrenhaus landen, als du "Mondelfe" sagen kannst." Jetzt zeigte Schlichter auch auf etwas, und zwar auf das Gebäude, vor dem wir standen. "Was immer sie da für uns vorbereitet haben, lass dich bloss nicht davon beeindrucken und verkneife dir blöde Sprüche. Auf dem Mond werden keine Kekse geknabbert, und in diesem Haus geht auch kein Gespenst um. Bleib dabei. Es gibt für alles eine natürliche Erklärung!"
Ich wusste, dass Schlichter dies wirklich glaubte, und teilte seine Überzeugung. Wir lebten im Zeitalter der Vernunft. Die Wissenschaft präsentierte immer neue Erkenntnisse. Zweifellos war der Glaube an Geister, Dämonen und Magie dämlich und von vorgestern, aber ich fand, daß das Schulamt seinen Kampf gegen die Reste des Aberglaubens ein wenig zu verbiestert führte. Sollte doch jeder glauben, was er wollte. Aber das Schulamt ließ nicht locker, und so mussten wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, um unser festes Vertrauen in die Vernunft beweisen zu dürfen.
Unter den argwöhnischen Blicken der Lehrer. Wie würden wir uns machen, im unheimlichsten Spukhaus der Stadt, in dessen Nähe sich niemand freiwillig wagte, nicht einmal tagsüber? An aufgeklärten Lippenbekenntnissen mangelte es nicht. Nur ein paar Verrückte bekannten sich freimütig zum Glauben an Phantasiegestalten. Geisterhäuser gab es offiziell nur in Märchenbüchern. Aber inoffiziell...... Wurde jeder Handwerker plötzlich krank, wenn er an dem Gebäude Arbeiten verrichten sollte. Dabei sah es eigentlich ganz nett aus. Große Fenster ließen viel Licht in die Zimmer. Genug, um bei Vollmond lesen zu können, wie ich vermutete. Tagsüber musste es in den Räumen hell und freundlich sein. Es gab einen Balkon, und das Dach wurde von ein paar zierlichen Türmchen und einem Schornstein geschmückt. Ein harmloses Sommerhaus. Um das ich stets einen Bogen gemacht hatte. Warum eigentlich?
Soße näherte sich mit einem Tablett, auf dem drei dampfende Becher standen. "Die Alte Mühle wäre mir lieber gewesen", sagte er. " Oder wenigstens das Mordhaus in der Brückenstrasse."
"Da ist es auch nicht gespenstischer als hier", sagte Schlichter. "Weil es keine Gespenster gibt", stellte ich fest. "Aber diese Gemäuer haben wenigstens Ausstrahlung. Da ist es für die Schulmeister leichter, mit etwas Budenzauber für Stimmung zu sorgen. Mein Onkel hätte vielleicht ein bisschen Grusel aus diesem netten Häuschen herauskitzeln können. Aber der neue Lehrer......
"Ist ein Langweiler", schloss Soße. "Eine öde Nacht steht uns bevor. Immerhin dürfte die Vernunftprüfung kein Problem sein."
Mittlerweile war das Mondlicht noch fahler geworden. Der Wind frischte auf und heulte wie die Seelen der Verdammten, die ihre Verbannung aus dem Garten der Ahnen beklagten. An was für einen Quatsch sie früher geglaubt hatten! Das alles hätte ausreichen können, um bei empfindlichen Gemütern alte Ängste wieder aufleben zu lassen, so kindisch diese auch sein mochten. Aber nicht bei diesem lichten Sommerhäuschen. Unschuldig stand es da. Wenn ich ein böser Geist gewesen wäre, hätte ich mich dort nicht wohl gefühlt und wäre umgezogen. In die Alte Mühle oder in das Mordhaus, wo mein Onkel legendäre Spukveranstaltungen inszeniert hatte.
Ich nahm mir einen der Becher, die Soße mitgebracht hatte, und trank dankbar die heiße Suppe. Schlichter holte seine Taschenuhr hervor. "Noch eine halbe Stunde", stellte er fest. "Wir sollten langsam zu den anderen gehen". Damit meinte er die übrigen Schüler unseres Jahrgangs, welche sich um den Suppenkessel versammelt hatten, den uns das Schulamt in seiner Großzügigkeit spendiert hatte.
Gelächter brandete zu uns herüber. Was immer die Leute so erheitert hatte, musste nicht einmal besonders lustig gewesen sein. Während der Vernunftprüfung waren die Schüler immer etwas aufgedreht. Jeder gab sich fröhlich und sorglos, weil keiner zugeben wollte, dass er Angst hatte. Nicht vor mit Ketten rasselnden, Blut saugenden, ihren Gräbern entstiegenen Unholden, sondern vor der eigenen Schreckhaftigkeit. Die Lehrmeister, allen voran bis vor kurzem mein Onkel Bernie, legten nämlich einen beachtlichen Erfindungsreichtum an den Tag, wenn es darum ging, ihre Schützlinge mit allen Tricks der Illusionskunst in Panik zu versetzen. Und wehe dem, der sich sichtbar davon beeindrucken ließ, mädchenhaft aufschrie oder gar davon rannte. Das kam immer wieder vor. Die Unglücklichen, denen solches widerfuhr, fristeten den Rest ihres Daseins als Witzfiguren. Schlimmer noch, sie konnten auch in den Verdacht geraten, dem alten Aberglauben anzuhängen oder für diesen zumindest empfänglich zu sein.