Jessy Dalton
Willkommen in Purgatory
I: Willkommen in Purgatory
Phoenix liegt schon eine ganze Weile hinter mir und ich folge dem endlosen Band der Route 8 nach San Diego.
Schon seit fast einem Tage begleitet mich der Gila River, der zu dieser Jahreszeit mal mehr, mal weniger eher ein Rinnsal, denn einen stolzen Fluss darstellt.
Manche würden die Landschaft neben dem Highway als Wüste bezeichnen, aber niemand, der eine echte Wüste gesehen hat, kann das verwechseln. Karg, Steppe, vielleicht Prärie. Aber es hat Gras, es hat Büsche und es hat Bäume, sogar Baumgruppen. Keine Wüste, noch nicht. Aber der Klimawandel schreitet fort. Fragen Sie mich in zehn Jahren noch einmal.
Die nächste Stadt liegt noch satte dreißig Meilen vor mir und ein Blick auf die Tankanzeige sagt mir ganz klar, dass ich dort zumindest einen Tankstopp einlegen muss. Vielleicht werde ich sogar dort die Nacht verbringen, je nachdem. Das US Marshal-Büro hat zwar nicht so strikte Vorschriften wie gewisse Behörden mit drei Großbuchstaben, die in der Wahl ihrer Motels, Mietautos und Fluglinien stark bevormundet werden, aber ich habe einen einigermaßen knappen Zeitplan.
In zwei Tagen soll ich in San Diego eine Informantin abholen, eine wichtige Zeugin gegen einen Schweren Jungen des organisierten Verbrechens in Albany. Man hat sie an der Westküste in Zeugenschutz gesteckt, weit weg von New York und der Ostküste.
Ihre panische Flugangst, seit dem 9.11 kein so seltenes Phänomen macht einen Überlandtransport nötig und verschafft mir die Gelegenheit zu einer Spritztour quer durch die Staaten.
Manche sehen es als beruflichen Abstieg an, vom Personenschutz der First Lady zum Taxidienst der Marshal-Service gewechselt zu sein. Aber wen juckt es schon, was Andere denken?
Die letzte First Lady hatte ein paar sehr spezielle Eigenheiten über die ich nicht berichten darf. Ich werfe einfach nur Vollmond und rohes, blutiges Fleisch, am besten noch am lebenden Rind, in den Raum. Das Rind war in diesem Fall meine Idee und optional. Meine speziellen Fähigkeiten waren bei dem Job nicht nur Bonus, sondern Voraussetzung.
Sie sehen also, mit meinem Dodge Challenger Demon auf Staatskosten Zeugen durch die USA zu chauffieren, ist ein vergleichsweise toller und ruhiger Job.
Nun hat der Dodge nicht gerade einen kleinen ökologischen Fußabdruck. Ich gehe soweit zuzugeben, dass er eine ökologische Schneise schlägt. Aber das Abschiedsgeschenk des Stabchefs bekommt sogar bei den demokratisch geführten Behörden ein goldenes Ticket, also kann ich ihn sogar als Dienstfahrzeug führen. Win-Win für alle, außer für die CO²-Bilanz, natürlich.
Noch zwanzig Meilen bis Purgatory.
Was die Gründer wohl zu diesem Namen veranlasst hat? Die Nähe zur mexikanischen Grenze, zur Sonora-Wüste oder war es damals einfach ein staubiger Grenzposten durch den einfach zwei große Trails führten und sich dort kreuzten und wo sich das Gesindel aus allen Himmelrichtungen traf?
Auf großen, alten Werbetafeln wird sogar der Lake Salvation angepriesen, den es hier in der Nähe gibt oder gab. Es sieht nicht so aus, als ob die Werbung nach den Fünfzigern noch einmal erneuert worden war.
Mein Navi zeigt mir ärgerlicherweise weder die Abfahrt noch den Lake an, also muss ich die Augen offenhalten, nicht ganz einfach bei der tiefstehenden Sonne, die gerade ihr Beste tut, Horizont und Straße als Einheit zusammenzufügen. Selbst meine Sonnenbrille hilft nur wenig. Der Fluch von richtig guten Augen, schätze ich mal wieder.
Mit meinen sechzig Meilen die Stunde liege ich zwar klar über dem Tempolimit, aber die Straße ist gerade wie ein Laser, topfeben und einsehbar bis zum Horizont. Klar, als Marshal sollte ich wirklich mich an Verkehrsregeln halten, aber doch bitte dann da, wo es auch Verkehr gibt!
Und gerade wenn man selbstgerecht sein schlechtes Karma gut redet, passiert es.
Vor mir taucht wie aus dem Nichts ein SUV mit einer aktiven Blaulichtanlage - wir Profis nennen sie Rundumkennleuchten – auf seinem Dach auf. Die Karre steht quer in der Straße und hätte lächerlich leicht umfahren werden können, wenn ich sie auch nur zwei Sekunden früher bemerkt hätte.
Natürlich kann man in so einem Fall hart bremsen und beten, oder man hat eine Gefahrensituationsfahrausbildung, packt sich die Handbremse und schleudert sich förmlich um das Hindernis herum.
Keuchend komme ich in einer Staubwolke zum Halten, fluche hingebungsvoll auf Portugiesisch, der Sprache meiner Mutter, weil man dort viel mehr Fluchwörter pro Sekunde ausspucken kann, als in jeder mir bekannten anderen Sprache.
Mein Muscle-Car blubbert brav und tief vor sich hin, kein Zeichen, dass er absaufen will oder sonst meine Fahrweise durch Geräusche kritisiert. Ich liebe meinen Demon dafür.
Gerade will ich die Tür aufreißen und dem örtlichen Deputy oder wer auch immer seine Karre so dämlich abstellt, in den Hals scheißen, als der Schuss abgefeuert wird.
Da weder ich noch der Demon einen Einschlag abbekommen, sind wir entweder nicht das Ziel, oder der schlechteste Schütze seit den Imperial Stormtroopers hat den Finger am Abzug.
Ich öffne also langsam und vorsichtig meine Tür und gleite so leise wie möglich hinaus. Bei der Motorhaube hebe ich meinen Kopf an und spähe hinüber.
Ein Mann in grün-weißer Uniform liegt verkrümmt vor seinem Fahrzeug und versucht gerade einhändig seine PumpAction nachzuladen. Der andere Arm hängt mit zerfetztem Ärmel an ihm herab.
»Hey, Mann. Hier US-Marshal Dalton. Auf wen schießen sie?«
Der Mann schaut hoch und braucht viel zu lange um zu erkennen, wo ich bin. Hoffentlich schießt er nicht nochmal und diesmal besser.
»Gehen Sie …«, er hustet und dabei kommt einiges aus seinem Mund, was man nicht sehen will, »… gehen Sie. Steigen sie ein und fahren sie, so schnell sie kön …«
Ein bösartiges Knurren lässt ihn verstummen und ich bekomme große Augen.
Ein riesiger Bär hat sich gerade zu angepirscht. An-ge-pirscht!
Ich habe von Grizzlies in Kanada gehört, die so riesig sein sollen. Unvorstellbar, dass hier Bären der Größe heimisch sind.
Dann erhebt sich der Bär auf seine Hinterbeine und sein gebogener Rücken streckt sich durch. Seine Schnauze wird etwas kürzer, dafür sein Kopf humanoider.
»Kochende Kaimankacke, ein Wer!« Das entfährt mir deutlich zu laut, ich weiß, aber selbst wenn man weiß, dass es sie überall gibt, rechnet man doch nie damit, wirklich einen zu treffen, wenn man nicht gezielt danach sucht. Die Were sind ja nicht blöd und legen es darauf an, bei Z oder einem anderen Medienkanal aufzutauchen. Menschen bekommen ja schon Zwangsvorstellungen, was jemand mit leicht anderer Hautfarbe und Nasenform einem antun könnte, man stelle sich vor, wenn aus der Haut ein Fell und aus der Nase eine Schnauze wird, die einem schon aus Versehen den ganzen Arm abbeißen kann.
Der Werbär mustert mich und hebt drohend seine Pranken. »Hau ab, Menschlein. Und vergiss alles. Das hier ist eine Stammesangelegenheit.«
Mir fällt auf, dass der Deputy inzwischen das Bewusstsein verloren hat. Ich halte mich aus gutem Grund sehr zurück mit solchen Einschätzungen, aber der Kommentar und der bronzene Hauptton des Mannes verleitet mich zum Schluss, dass er indigener Abstammung sein könnte, beim Werbären bin ich mir sogar fast sicher. Nennen wir es einfach Erfahrung.
Ich schaue noch einmal zum Deputy. Gut, der ist wohl wirklich weg getreten. Das macht die Sache viel einfacher.
Langsam erhebe ich mich und ziehe mein Hemd aus der Hose. Für mein Kunststück brauche ich etwas mehr Freiraum, als mir meine Kleidung normalerweise gewährt.
Ich lasse meinen Kopf kreisen und meine Nackenmuskeln sich lockern. Jetzt nur nicht übertreiben.
Langsam gleite ich zu meiner anderen Natur hinüber, aber nur ein wenig. Gerade so viel, dass meine Körperbehaarung etwas dichter wird, meine Zähne ein wenig raubtierhafter und die Fellfärbung deutlich macht, wohin die Reise ginge, wollte ich sie vollenden.
Der große Wer brummt unwillig. Ich kann es förmlich hinter seinen Augen arbeiten sehen. Will er es wirklich riskieren? Were heilen schnell, verdammt schnell, aber eine herausgerissene Kehle oder ein geknackter Schädel ist auch für einen Werbär das Ende.
Aber der Kerl ist wirklich groß. Auch aus diesem Grund halte ich mich zurück. Soll er doch raten, wie groß ich am Ende werden kann.
»Puma?« grollt er unsicher.
»Jaguar«, verbessere ich ihn gelassen.
Der Wer brüllte auf, eher enttäuscht als wütend. »Das ist hier noch nicht zu Ende, Fremde!«
»Selbstverständlich nicht. Du hast einen Deputy in Uniform angegriffen. Keine Ahnung, wie wild der Westen hier noch ist, aber jetzt ist ein Marshal in der Stadt.«
Sein Blick fiel auf den Stern an meinem Gürtel. Die meisten Kollegen tragen ihn am schwarzen Mäppchen, wo er einen guten Kontrast hat und schnell ins Auge fällt. Ich bevorzuge ihn so am Gürtel. Einfach, unauffällig, beinahe nur eine weitere Gürtelschnalle.
Der Wer wirft mir noch einen prüfenden Blick zu. Ich trag keine Waffe, damit wird am Ende nur noch jemand angeschossen, und halte meine Verwandlung in dem frühen Stadium. Es ist offensichtlich, dass er mich nicht als akute Bedrohung ansieht, aber auch, dass er wenig Interesse hat, hier und jetzt herauszufinden, ob die größte Raubkatze den größten Bären des Kontinents besiegen kann. Blutig würde es auf alle Fälle.
»Dann nimm den Verräter und kümmere dich um ihn. Es mag nicht so aussehen, aber ich wollte ihm nicht wirklich schaden.« Damit wendet der Wer sich um, fällt auf alle Viere und verwandelt sich wieder. Eine Staubwolke rauscht über die Straße und verbirgt seine Konturen und als sie sich auflöst, ist auch der Wer verschwunden.
Kaimankacke. Nicht nur ein Wer, sogar noch ein Magiewirker!
ich eile zum Deputy, lege einen Druckverband an und versuche, über den Funk in seinem Wagen Hilfe anzufordern.
Rauschen. Toll.
Ich stelle den Demon sicher neben der Straße ab und lege den Deputy auf die geräumige Rückbank seines SUVs. Der Knabe ist gar nicht so leicht und verdammt hart im Nehmen. Der Arm zerfetzt und er atmet immer noch. Vielleicht kennen Indianer ja doch keinen Schmerz?
Der SUV hat zwar nicht annähernd den Charm meines Demons, aber er springt an und fährt uns bis zur Abfahrt, die tatsächlich durch ein Schild angekündigt wird. Man ist an manchen Tagen schon für kleine Wunder dankbar.
Nach einer ewig langen Abfahrt, die einen fast so langen Blick auf eine überschaubare Kleinstadt, eine gewaltige Tagebauanlage und einen zusammengeschrumpften See inmitten der Sonora bietet, begrüßt mich ein Schild, was noch aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte:
Willkommen in Purgatory.
Falschspieler und Viehdiebe
werden gehängt.
I: Willkommen II: Keine Stadt