Jessy Dalton: Willkommen in Purgatory

Es gibt 1 Antwort in diesem Thema, welches 171 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (2. Februar 2024 um 09:38) ist von Tom Stark.

  • JaguarEye100pxl.jpgJessy Dalton

    Willkommen in Purgatory


    I: Willkommen in Purgatory


    Phoenix liegt schon eine ganze Weile hinter mir und ich folge dem endlosen Band der Route 8 nach San Diego.
    Schon seit fast einem Tage begleitet mich der Gila River, der zu dieser Jahreszeit mal mehr, mal weniger eher ein Rinnsal, denn einen stolzen Fluss darstellt.
    Manche würden die Landschaft neben dem Highway als Wüste bezeichnen, aber niemand, der eine echte Wüste gesehen hat, kann das verwechseln. Karg, Steppe, vielleicht Prärie. Aber es hat Gras, es hat Büsche und es hat Bäume, sogar Baumgruppen. Keine Wüste, noch nicht. Aber der Klimawandel schreitet fort. Fragen Sie mich in zehn Jahren noch einmal.

    Die nächste Stadt liegt noch satte dreißig Meilen vor mir und ein Blick auf die Tankanzeige sagt mir ganz klar, dass ich dort zumindest einen Tankstopp einlegen muss. Vielleicht werde ich sogar dort die Nacht verbringen, je nachdem. Das US Marshal-Büro hat zwar nicht so strikte Vorschriften wie gewisse Behörden mit drei Großbuchstaben, die in der Wahl ihrer Motels, Mietautos und Fluglinien stark bevormundet werden, aber ich habe einen einigermaßen knappen Zeitplan.
    In zwei Tagen soll ich in San Diego eine Informantin abholen, eine wichtige Zeugin gegen einen Schweren Jungen des organisierten Verbrechens in Albany. Man hat sie an der Westküste in Zeugenschutz gesteckt, weit weg von New York und der Ostküste.
    Ihre panische Flugangst, seit dem 9.11 kein so seltenes Phänomen macht einen Überlandtransport nötig und verschafft mir die Gelegenheit zu einer Spritztour quer durch die Staaten.
    Manche sehen es als beruflichen Abstieg an, vom Personenschutz der First Lady zum Taxidienst der Marshal-Service gewechselt zu sein. Aber wen juckt es schon, was Andere denken?
    Die letzte First Lady hatte ein paar sehr spezielle Eigenheiten über die ich nicht berichten darf. Ich werfe einfach nur Vollmond und rohes, blutiges Fleisch, am besten noch am lebenden Rind, in den Raum. Das Rind war in diesem Fall meine Idee und optional. Meine speziellen Fähigkeiten waren bei dem Job nicht nur Bonus, sondern Voraussetzung.
    Sie sehen also, mit meinem Dodge Challenger Demon auf Staatskosten Zeugen durch die USA zu chauffieren, ist ein vergleichsweise toller und ruhiger Job.
    Nun hat der Dodge nicht gerade einen kleinen ökologischen Fußabdruck. Ich gehe soweit zuzugeben, dass er eine ökologische Schneise schlägt. Aber das Abschiedsgeschenk des Stabchefs bekommt sogar bei den demokratisch geführten Behörden ein goldenes Ticket, also kann ich ihn sogar als Dienstfahrzeug führen. Win-Win für alle, außer für die CO²-Bilanz, natürlich.
    Noch zwanzig Meilen bis Purgatory.
    Was die Gründer wohl zu diesem Namen veranlasst hat? Die Nähe zur mexikanischen Grenze, zur Sonora-Wüste oder war es damals einfach ein staubiger Grenzposten durch den einfach zwei große Trails führten und sich dort kreuzten und wo sich das Gesindel aus allen Himmelrichtungen traf?
    Auf großen, alten Werbetafeln wird sogar der Lake Salvation angepriesen, den es hier in der Nähe gibt oder gab. Es sieht nicht so aus, als ob die Werbung nach den Fünfzigern noch einmal erneuert worden war.
    Mein Navi zeigt mir ärgerlicherweise weder die Abfahrt noch den Lake an, also muss ich die Augen offenhalten, nicht ganz einfach bei der tiefstehenden Sonne, die gerade ihr Beste tut, Horizont und Straße als Einheit zusammenzufügen. Selbst meine Sonnenbrille hilft nur wenig. Der Fluch von richtig guten Augen, schätze ich mal wieder.
    Mit meinen sechzig Meilen die Stunde liege ich zwar klar über dem Tempolimit, aber die Straße ist gerade wie ein Laser, topfeben und einsehbar bis zum Horizont. Klar, als Marshal sollte ich wirklich mich an Verkehrsregeln halten, aber doch bitte dann da, wo es auch Verkehr gibt!
    Und gerade wenn man selbstgerecht sein schlechtes Karma gut redet, passiert es.
    Vor mir taucht wie aus dem Nichts ein SUV mit einer aktiven Blaulichtanlage - wir Profis nennen sie Rundumkennleuchten – auf seinem Dach auf. Die Karre steht quer in der Straße und hätte lächerlich leicht umfahren werden können, wenn ich sie auch nur zwei Sekunden früher bemerkt hätte.
    Natürlich kann man in so einem Fall hart bremsen und beten, oder man hat eine Gefahrensituationsfahrausbildung, packt sich die Handbremse und schleudert sich förmlich um das Hindernis herum.
    Keuchend komme ich in einer Staubwolke zum Halten, fluche hingebungsvoll auf Portugiesisch, der Sprache meiner Mutter, weil man dort viel mehr Fluchwörter pro Sekunde ausspucken kann, als in jeder mir bekannten anderen Sprache.
    Mein Muscle-Car blubbert brav und tief vor sich hin, kein Zeichen, dass er absaufen will oder sonst meine Fahrweise durch Geräusche kritisiert. Ich liebe meinen Demon dafür.
    Gerade will ich die Tür aufreißen und dem örtlichen Deputy oder wer auch immer seine Karre so dämlich abstellt, in den Hals scheißen, als der Schuss abgefeuert wird.
    Da weder ich noch der Demon einen Einschlag abbekommen, sind wir entweder nicht das Ziel, oder der schlechteste Schütze seit den Imperial Stormtroopers hat den Finger am Abzug.
    Ich öffne also langsam und vorsichtig meine Tür und gleite so leise wie möglich hinaus. Bei der Motorhaube hebe ich meinen Kopf an und spähe hinüber.
    Ein Mann in grün-weißer Uniform liegt verkrümmt vor seinem Fahrzeug und versucht gerade einhändig seine PumpAction nachzuladen. Der andere Arm hängt mit zerfetztem Ärmel an ihm herab.
    »Hey, Mann. Hier US-Marshal Dalton. Auf wen schießen sie?«
    Der Mann schaut hoch und braucht viel zu lange um zu erkennen, wo ich bin. Hoffentlich schießt er nicht nochmal und diesmal besser.
    »Gehen Sie …«, er hustet und dabei kommt einiges aus seinem Mund, was man nicht sehen will, »… gehen Sie. Steigen sie ein und fahren sie, so schnell sie kön …«
    Ein bösartiges Knurren lässt ihn verstummen und ich bekomme große Augen.
    Ein riesiger Bär hat sich gerade zu angepirscht. An-ge-pirscht!
    Ich habe von Grizzlies in Kanada gehört, die so riesig sein sollen. Unvorstellbar, dass hier Bären der Größe heimisch sind.
    Dann erhebt sich der Bär auf seine Hinterbeine und sein gebogener Rücken streckt sich durch. Seine Schnauze wird etwas kürzer, dafür sein Kopf humanoider.
    »Kochende Kaimankacke, ein Wer!« Das entfährt mir deutlich zu laut, ich weiß, aber selbst wenn man weiß, dass es sie überall gibt, rechnet man doch nie damit, wirklich einen zu treffen, wenn man nicht gezielt danach sucht. Die Were sind ja nicht blöd und legen es darauf an, bei Z oder einem anderen Medienkanal aufzutauchen. Menschen bekommen ja schon Zwangsvorstellungen, was jemand mit leicht anderer Hautfarbe und Nasenform einem antun könnte, man stelle sich vor, wenn aus der Haut ein Fell und aus der Nase eine Schnauze wird, die einem schon aus Versehen den ganzen Arm abbeißen kann.
    Der Werbär mustert mich und hebt drohend seine Pranken. »Hau ab, Menschlein. Und vergiss alles. Das hier ist eine Stammesangelegenheit.«
    Mir fällt auf, dass der Deputy inzwischen das Bewusstsein verloren hat. Ich halte mich aus gutem Grund sehr zurück mit solchen Einschätzungen, aber der Kommentar und der bronzene Hauptton des Mannes verleitet mich zum Schluss, dass er indigener Abstammung sein könnte, beim Werbären bin ich mir sogar fast sicher. Nennen wir es einfach Erfahrung.
    Ich schaue noch einmal zum Deputy. Gut, der ist wohl wirklich weg getreten. Das macht die Sache viel einfacher.
    Langsam erhebe ich mich und ziehe mein Hemd aus der Hose. Für mein Kunststück brauche ich etwas mehr Freiraum, als mir meine Kleidung normalerweise gewährt.
    Ich lasse meinen Kopf kreisen und meine Nackenmuskeln sich lockern. Jetzt nur nicht übertreiben.
    Langsam gleite ich zu meiner anderen Natur hinüber, aber nur ein wenig. Gerade so viel, dass meine Körperbehaarung etwas dichter wird, meine Zähne ein wenig raubtierhafter und die Fellfärbung deutlich macht, wohin die Reise ginge, wollte ich sie vollenden.
    Der große Wer brummt unwillig. Ich kann es förmlich hinter seinen Augen arbeiten sehen. Will er es wirklich riskieren? Were heilen schnell, verdammt schnell, aber eine herausgerissene Kehle oder ein geknackter Schädel ist auch für einen Werbär das Ende.
    Aber der Kerl ist wirklich groß. Auch aus diesem Grund halte ich mich zurück. Soll er doch raten, wie groß ich am Ende werden kann.
    »Puma?« grollt er unsicher.
    »Jaguar«, verbessere ich ihn gelassen.
    Der Wer brüllte auf, eher enttäuscht als wütend. »Das ist hier noch nicht zu Ende, Fremde!«
    »Selbstverständlich nicht. Du hast einen Deputy in Uniform angegriffen. Keine Ahnung, wie wild der Westen hier noch ist, aber jetzt ist ein Marshal in der Stadt.«
    Sein Blick fiel auf den Stern an meinem Gürtel. Die meisten Kollegen tragen ihn am schwarzen Mäppchen, wo er einen guten Kontrast hat und schnell ins Auge fällt. Ich bevorzuge ihn so am Gürtel. Einfach, unauffällig, beinahe nur eine weitere Gürtelschnalle.
    Der Wer wirft mir noch einen prüfenden Blick zu. Ich trag keine Waffe, damit wird am Ende nur noch jemand angeschossen, und halte meine Verwandlung in dem frühen Stadium. Es ist offensichtlich, dass er mich nicht als akute Bedrohung ansieht, aber auch, dass er wenig Interesse hat, hier und jetzt herauszufinden, ob die größte Raubkatze den größten Bären des Kontinents besiegen kann. Blutig würde es auf alle Fälle.
    »Dann nimm den Verräter und kümmere dich um ihn. Es mag nicht so aussehen, aber ich wollte ihm nicht wirklich schaden.« Damit wendet der Wer sich um, fällt auf alle Viere und verwandelt sich wieder. Eine Staubwolke rauscht über die Straße und verbirgt seine Konturen und als sie sich auflöst, ist auch der Wer verschwunden.
    Kaimankacke. Nicht nur ein Wer, sogar noch ein Magiewirker!
    ich eile zum Deputy, lege einen Druckverband an und versuche, über den Funk in seinem Wagen Hilfe anzufordern.
    Rauschen. Toll.
    Ich stelle den Demon sicher neben der Straße ab und lege den Deputy auf die geräumige Rückbank seines SUVs. Der Knabe ist gar nicht so leicht und verdammt hart im Nehmen. Der Arm zerfetzt und er atmet immer noch. Vielleicht kennen Indianer ja doch keinen Schmerz?
    Der SUV hat zwar nicht annähernd den Charm meines Demons, aber er springt an und fährt uns bis zur Abfahrt, die tatsächlich durch ein Schild angekündigt wird. Man ist an manchen Tagen schon für kleine Wunder dankbar.
    Nach einer ewig langen Abfahrt, die einen fast so langen Blick auf eine überschaubare Kleinstadt, eine gewaltige Tagebauanlage und einen zusammengeschrumpften See inmitten der Sonora bietet, begrüßt mich ein Schild, was noch aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte:

    Willkommen in Purgatory.
    Falschspieler und Viehdiebe

    werden gehängt.


    I: Willkommen II: Keine Stadt

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet

    Einmal editiert, zuletzt von Tom Stark (2. Februar 2024 um 09:41)

  • JaguarEye100pxl.jpgJessy Dalton

    Willkommen in Purgatory


    II: Keine Stadt wie jede Andere

    Kaum bin ich an den ersten Häusern vorbeigefahren, werde ich auch schon gegrüßt. Freundlich hebt man eine Hand oder winkt mir zu, ein Mann im Rentenalter macht sogar bereitwillig Platz auf dem Gehweg, obwohl auf der Mainstreet locker ein Vierzigtonner rangieren könnte.

    Ich lass die Fahrerscheibe herab und nehme meine Sonnenbrille ab. Das letzte was ich will, ist dass die Bewohner mich verwechseln und es am Ende heißt ich hätte vorgetäuscht einer ihrer Deputies zu sein, aber die Reaktionen ändern sich nicht.

    Kann es wirklich sein, dass keine Schwein merkt, dass ich weder eine Uniform anhabe noch von hier bin, aber den verdammten SUV ihres Sheriffdepartments fahre?

    »Hallo, Sie da. Darf ich Sie etwas fragen?«

    Der Alte, der shon weiterschlurfen will dreht sich zu mir um. »Sicher, Lassie. Was willst Du denn wissen?«

    Für einen Moment bin ich sprachlos, aber dann schiebe ich es einfach auf die lokalen Gegebenheiten.

    »Wo finde ich denn hier den Sheriff?«

    »Milton? Der ist jagen, wie jeden Tag.«

    »Milton ist der Sheriff? Und er geht mitten in der Woche jagen?«

    »Klar, Lassie. Joe kümmert sich ohnehin um alles. Guter Junge, auch wenn er 'ne Rothaut ist. Aber das weißt Du ja, fährst immerhin seine Karre.«

    Ich blinzle mehrmals. Die Erfahrung hat mich gelehrt, nicht aus der ersten Begegnung auf die Geisteshaltung und Geistesgröße der Restbevölkerung zu schließen, aber lieber Himmel, ich hoffe wirklich, dass es ab hier steil bergauf geht. Kann es ja eigentlich nur.

    »Äh. Ja. Ich habe den Deputy hinten liegen. Er ist schwer verletzt. Wo bringe ich ihn denn am Besten hin?«

    Falls es ihn irgendwie verwundert, dass eine Fremde, ihren offensichtlich als kompetent geltenden Deputy herumkutschiert, dann zeigt er es nicht. Also nicht mal eine Spur.

    »Das wäre dann Old Penny. Da hinten. Der Doc dürfte noch offen haben. Penny ist aber gerade nicht in der Stadt. Macht Hausbesuche draußen auf den Ranches. Aber Old Penny sollte da sein.«

    Manchmal nützt es, in Verhörtechniken geschult zu sein. In manchen Fällen erahnt man aber sofort, dass weitere Informationen nur zu noch größerer Verwirrung führen. Also nicke ich dankend und folge dem Fingerzeig und biege von der Hauptstraße in die angegebene Seitenstraße ein.

    Und siehe da, da steht es. Penelope Fontain, Dr. hum, Dr. vet, Coroner – Gerichtsmediziner.

    Perfekt, von der Geburt über die Rindviehjahre bis zum Ableben, alles im Service inbegriffen.

    Ich liebe Kleinstädte.

    Inzwischen versinkt die Sonne hinter den Häusern und lange Schatten lassen das Städtchen zumindest in Teilen wie eine Kulisse aus einem Spätwestern wirken. Wenn jetzt gleich ein paar Viehtreiber mit Howdy, Jeeha und Bierdosen in den Händen um die Ecke bögen, wäre ich nicht sonderlich überrascht.

    »Hey. Joe. Sind Sie wach?« Ich tätschle den wohl richtig als Ureinwohner eingeschätzten Deputy. »Meinen Sie, Sie können gehen?«

    Er lallt etwas deliriös und ich übersetze das mit Nein und hoffe, dass ich kein Stammestabu verletze, indem ich ihn zu einer weißen Medizinfrau schleppe. Man ahnt es bereits: Was ich von Stämmen und ihren Bräuchen kenne, stammt aus Kino und TV, und ich meine keine Dokus. Schande, über mein ungebildetes Haupt.

    »Hey, Doc. Doc Fontain?« Mein Rufen verhallt wohl ungehört. Also zapfe ich soviel wie nötig von meiner Natur an und hebe den großen Deputy im Feuerwehrtragegriff auf meine Schultern. Kann ihn ja schlecht am Kragen hinter mir herschleifen.

    Gut, ginge schon, aber wie sähe das aus?

    Ich stapfe zwei Stufen nach oben und stehe vor der Tür auf der ein Holzschild eingelassen ist:

    Wer hier eintritt, wird wie ein Mensch behandelt.
    Wem die Behandlung nicht passt:
    Die Tür ist da, wo du gerade stehst!

    Entzückend.

    Ich stoße die Tür auf, die nicht verschlossen ist. Das ist witziger weise hier in diesen Regionen generell unüblich. Auf ungebeten Gäste zu schießen hingegen schon. Ich bevorzuge ja eine geschlossene Tür gegenüber einer vorgehaltenen Flinte, aber Jedem das Seine.

    »Doc? Old Penny? Ich habe hier einen Schwerverletzten!«

    Endlich bewegt sich etwas. Ich höre wie eine TV-Sendung stummgeschaltet wird, Judge Judy, wenn ich es richtig mitbekommen habe.

    »Oh, wen haben wir denn da? Eine Rothaut, die eine andere Rothaut anschleppt?«

    Von der Political Correctness der Hauptstadt ist man hier weiter entfernt als vom Mars, aber es klingt durchaus nicht unfreundlich.

    »Du meine Güte, Joseph Blackfeather. Was hast Du wieder angestellt? Leg ihn bitte hier ab, Kindchen. Ganz langsam. Ich würde ja helfen, aber du hast genug Kraft für uns beide.«

    Während ich den Deputy auf eine Behandlungsliege wuchte und versuche meine Verwandlung unter der Oberfläche zu halten, kann ich Old Penny sehen, wie sie routiniert an die Arbeit geht.

    Doc Fontain hat sich ihr Old redlich verdient, denn die zierliche aber resolute Frau besitzt schon mehr weiße als graue Haare, die sie wohl auch vor Monaten zuletzt gefärbt hat. Ihr Gesicht besitzt dieses weiche, helle Weiß von Leuten, die sich der Sonne nur mit viel Lichtschutzfaktor aussetzen und auch sonst eher wenig im Freien arbeiten.

    Nach einer kurzen Untersuchung, Augen auf Lichtreflexe, Stethoskop wegen Herzschlag und einem liebevollem auf die Wange tätscheln, komme ich mir vor wie bei einer Folge von M.A.S.H.

    »Nett, dass Du ihn vorbeigebracht hast, Kindchen. Aber sobald es richtig dunkel wird, wird das schon heilen. Er hat das Blut von Koyote … oder Rabe. Kann mir nie den Unterschied merken. Jedenfalls, eine Nacht unter den Sternen und er ist wieder wie neu.«

    Sie begutachtet noch einmal meinen Druckverband und nickt anerkennend.

    »Wollen Sie ihn nicht wenigstens verbinden? Und was bedeutet, er hat das Blut von …?«

    Ich habe zwar eine leise Ahnung, aber ich will wenigstens so tun, als ob nicht.

    »Ach, Kindchen. Du bist wohl wirklich nicht von hier, dass Du das nicht weißt?«

    Eine weitere, jüngere Frau, betritt das Haus durch einen anderen Eingang und ich höre sie rufen.

    »Hey, Mum. Auf dem Highway habe ich einen Wagen mit DC-Kennzeichen gefunden. Du errätst nie, wem der gehört!«

    Die ältere Frau zwinkert mir zu und ruft zurück: »Zehn Dollar, dass ich es errate.«

    »Zehn Dollar? Du bist viel zu geiz …oh? Daher!«

    Eine etwa halb so alte und einen Kopf größere Ausgabe von Doc Penny betritt das Behandlungszimmer, eine Arzttasche in der Hand, wie man sie in jeder Serie sofort erkennen würde.

    »Mum? Oh, Gott, ist das Joe? Waren das die Abotts?«

    Die blonde Frau stürzt förmlich zum Deputy und wiederholt die Untersuchungen, die ich gerade schon einmal gesehen habe. Inzwischen traue ich mir zu, sie sogar selbst durchzuführen.

    »Hm, keine Bisse in der Halsgegend, keine Klauenspuren auf der Brust. Nein, das war kein …«

    Old Penny räuspert sich und Young Penny schaut fragend auf.

    Der Blick der Seniorärztin fällt vielsagend auf mich, die ich mich still und bescheiden in eine Ecke gestellt habe und beobachte. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich Fan von Arztserien wäre, aber was hier abgeht, hat schon etwas von guter Vorabendunterhaltung.

    »Ach komm schon, Mum. Sie ist Jaguar. Du musst nur etwas schräg auf ihre Stirn und ihre Wangen schauen.«

    Ertappt fasse ich an mein Gesicht und versenke meine Natur etwas tiefer. Und das mir! Peinlich sowas.

    »Die Rothaut ist wirklich nicht von hier!« Old Penny klingt zufrieden. »Jaguar ist aus Mexiko, oder?«

    Nicht, dass mir meine Natur peinlich ist. Gar nicht. Ich bin es nur einfach nicht gewohnt, dass die Bewohner vor dem Nebel so offen darüber reden. Andererseits, vielleicht ist ein Landarztding?

    »Brasilien«, trage ich zum Gespräch bei.

    Old Penny nickt nochmal und zeigt auf mich, als hätte ich gerade für sie einen Preis gewonnen.

    »Mum. Du kannst nicht zu Fremden Rothaut sagen. Sowas sagt man heutzutage nicht mehr. Das heißt jetzt indigen oder Ureinwohner.«

    Die alte Frau winkt ab. »Ich wette, unsre Familie lebt schon länger hier als ihre. Wir kamen mit den ersten französischen Siedlern in die Hudson-Bay …«

    Penny, die Jüngere winkt seufzend ab. »Man sagt es heute einfach nicht mehr. Es ist respektlos gegenüber ihrer Kultur!«

    Die alte Dame furcht ihre Stirn und starrt ihre Tochter an. »Was steht an meiner Tür«

    »Mum …«

    »Was steht da?«

    »Ich weiß, was da steht. Jeder in Purge weiß, was da steht.«

    »Und? Habe ich jemals einen nicht wie einen Menschen behandelt, egal, ob er Haut, Fell oder Schuppen hatte? Ich behandle sogar die Abotts, immerhin bin ich ja die Gerichtsmedizinerin, Deinem Vater sei Dank, und quasi auch für sie zuständig!«

    »Ja, Mum. Das soll auch kein Vorwurf …«

    »Aber, liebe Pennywise Alberta Fontain, ich werde nicht anfangen, einen Schlumpf als Gartenzwerg zu bezeichnen. Wegen mir darf man mich Weißbrot, Bleichgesicht oder Kalkwand nennen, ist mir egal. Aber niemand schreibt mir in meinem eigenen Haus vor, dass ich eine Rothaut nicht Rothaut nennen darf.«

    Ich hebe beide Hände, um das hier zu stoppen. Es ist mir natürlich nicht völlig egal, wie man mich nennt, aber mit Rothaut kann ich leben, auch wenn ich mit den meisten hiesigen Ureinwohnern wahrscheinlich weniger Gene teile, als die beiden weißen Damen hier. Aber das bin ich gewohnt. In Asien hält man mich für eine Europäerin, in Europa für eine Indigene und wenn man Joe hier fragt, sobald er wieder bei Sinnen ist, verortet er mich vermutlich nach Asien oder Hawaii. Der Segen von Großeltern aus drei Kontinenten.

    »Jaguar …«, versuche ich den eigentlichen Elefanten im Raum anzusprechen. Dann deute ich auf Joe. »Koyote?«

    Die junge Penny, ich nenne die beiden ab sofort einfach nur noch Old Penny und Penny, lächelt wissend. »Ich kann mir vorstellen, dass man das in DC oder bei den Marshals diskreter als hier handhabt. Aber schätzungsweise jeder zehnte Einwohner hier hat superaktive Gene.«

    »Superaktiv? Der Begriff ist mir neu.«

    Sie zuckt die Schultern. »So nennt man es in der Wissenschaft. Hinter dem Nebel, Schleier, magisch, wie auch immer. In Purgatory leben die Normalen mit den Übernormalen, Seite an Seite, wenn man so will. Das geht noch auf die Gründung zurück. Damals hielten es die Leute noch für eine Strafe Gottes, daher auch der Stadtname.«

    »Ich … verstehe. Und das geht? Einfach so? Es hat seinen Grund, warum die Welt hinter dem Nebel verborgen sein soll.«

    Sie nickt. »Das wird hier auch jedem Kind beigebracht. Es gibt eine Art Übereinkunft. Kein Superaktiver setzt seine Kräfte gegen die Normalaktiven ein, dafür verlieren die außerhalb der Stadt kein Wort darüber. Das klappt mal gut, mal weniger gut, aber solange Leute wie Dad, der Stammesrat und die Abotts ein Auge drauf haben, kommen wir klar. Und bevor Sie fragen, ja ich habe auch einige aktive Gene von Dad geerbt. Ich kann Dinge sehen, die unter der Oberfläche liegen. Wenn ich also aus Versehen mal etwas ausplaudere, ist das nicht böse gemeint. Für mich ist es nicht immer offensichtlich, ob das was ich sehe, auch alle anderen sehen oder nicht.«

    Ich bewege mich. »Äh. Ja. Schön. Wie dem auch sei. Ich muss noch meinen Wagen holen und will dann heute hier übernachten. Wenn der Deputy bis morgen wieder fit ist, werde ich weiter. Ich werde in San Diego erwartet und der Sheriff wird dann wohl auch von seiner Jagd zurück sein.«

    Mutter und Tochter tauschen einen langen Blick.

    »Also was das betrifft … meinen Sie, Sie könnten morgen noch kurz mit meinem Dad reden?«

    »Ihr Dad?«

    »Alwin Fontain III. unser Bürgermeister.«

    »Alwin Fontain, wie der ehemalige Senator Fontain?«

    Sie grinst. »Genau der.«

    Ich seufze leise. Senatoren machen immer Ärger. Immer. Ohne Ausnahme. Aber ihnen davonlaufen, bringt nur noch mehr Ärger.

    »Ich werde es einrichten. Wo kann ich für die Nacht unterkommen?«

    »Ich bitte Sie, seien Sie unser Gast.«

    Sie wohnen hier, mit ihrer Mutter?«

    Penny lacht. »Wo denken Sie hin? Ich wohne mit Dad auf unsrer Ranch weiter draußen. Aber keine Sorge, ich hab einen eigenen Flügel.«

    Flügel? Ranch? Wohl eher Anwesen.

    Ich seufze nochmal.

    »Ich hole meinen Wagen.«

    »Warten Sie, ich fahre sie, dann können Sie mir auch gleich hinterherfahren.«

    Ich werfe Joe einen letzten Blick zu. Tatsächlich, jetzt wo die Nacht hereingebrochen ist, scheint er mit jedem Atemzug kräftiger. Koyotenblut? Interessant.

    »Gut. Gehen wir. Doc Fontain. Es war mir eine Freude.«

    »Ganz meinerseits, Kindchen. Meine Güte, sind alle Marshals so höflich?«

    Ich entkomme einer Antwort vorläufig, indem ich schnell auf die Straße trete.



    I: Willkommen II: Keine Stadt

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