„Jeremy, he wo steckst du?“ Sue sah sich suchend um. „Komm schon lass den Scheiß.“ Ihrer Stimme konnte man die Angst anhören. Mitternacht war längst vorbei. Verdammt noch mal, sie hatte es gewusst! Warum nur hatte sie sich doch drauf eingelassen? Das war einfach eine Schnapsidee gewesen, oft genug hatte sie es den Jungs auch gesagt, was sie von ihren nächtlichen Unternehmungen hielt. Nämlich gar nichts! Doch dieses Mal hatte es Jeremy irgendwie geschafft, dass sie ja sagte. Sie hatte nicht als Angsthase dastehen wollen, besonders nicht vor Andrew. Dem Neuen, aus ihrer Straße. Er war erst kürzlich mit seinen Eltern in das leerstehende Haus zwei Grundstücke weiter gezogen. Jeremy hatte versprochen, dass er auch mit von der Partie war. Und jetzt?
Sie zog fröstelnd die Jacke enger um ihre Schultern. Jetzt stand sie mutterseelenallein auf einem Friedhof und keiner von den Jungs tauchte auf. Ich warte noch fünf Minuten, dann bin ich weg, schwor sie sich im Stillen. In diesem Teil des Friedhofs war Sue noch nie gewesen. Die alten Gräber waren meist verwildert, zugewuchert. Die Grabinschriften auf den Steinen waren kaum noch zu entziffern. Wind und Wetter hatten sie aus dem Stein gewaschen. Sue trat von einem Fuß auf den anderen. Es war unheimlich nachts auf dem Friedhof zu sein. Die Grabsteine warfen lange Schatten auf dem Weg, wo sie gerade stand. Sie zitterte trotz der Jacke wie Espenlaub. Da Jeremy gesagt hatte, dass sie sich nur hier trafen und im Anschluss zu ihm gehen würden, hatte sie unter der Jacke nicht viel an. Schließlich wollte sie ja Andrew auf den Zahn fühlen. Doch ihre an sich schon große Angst wurde von ihrer Wut noch überwogen. Der Gedanke, dass die Kerle jetzt irgendwo hier in den Büschen saßen und sich über sie tot lachten, brachte sie auf die Palme.
„Wenn ihr nicht bald rauskommt, dann geh ich wieder! Verdammt, Jeremy es reicht! Ich rede kein Wort mehr mit dir! Ich find das gar nicht komisch!“ Nichts regte sich. Frustriert atmete sie tief durch.
„Na gut, dann geh ich jetzt!“ Sollten er doch bleiben wo der Pfeffer wächst, dachte Sue wütend. Sie drehte sich um, war gerade zwei Schritte gelaufen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Knackende Zweige, leise Schritte, die aus dem Gebüsch zu kommen schienen. Ihr Kopf wirbelte herum.
„Ist da wer? Jeremy?“ War das wirklich ihre Stimme? Sie klang nicht wütend, eher schrill vor Angst. Eine Gänsehaut machte sich auf ihren Oberarmen breit und Sue ärgerte sich darüber. Das Knacken im Gebüsch wurde noch lauter.
„Verdammt noch mal, dass ist kein Spass mehr! Kommt endlich raus!“ Sie hielt den Atem an. Ihr Puls raste in schnellem Takt und Adrenalin pulsierte durch ihre Adern. Wieder blieb es still bis auf das lauter werdende Knacken. Sue unterdrückte den Impuls loszurennen. Sie war allein auf einem verlassenen Friedhof, wer würde es ihr übelnehmen? Sie wandte sich bereits ab, als die Stimme in ihrem Rücken erklang.
„Abend Sue. Nur keine Aufregung. Ich wollte dir ganz sicher keine Angst machen.“ Sie drehte sich um. Die Worte, die ihr im ersten Moment auf der Zunge lagen waren, kaum dass sie ihm in die Augen sah, wie fortgewischt. Andrew der Nachbarsjunge stand vor ihr. Mit einem verschmitzten Lächeln wischte er sich einige Blätter und Zweige von Jacke und Hose. „Sorry, ich wollt dich wirklich nicht erschrecken.“ Sue machte einen Schritt auf ihn zu. Er sah so verdammt gut aus. Ihm würde sie alles verzeihen, im Gegensatz zu Jeremy, der sich das alles sicher ausgedacht hatte. Mit finsterem Blick starrte sie auf die Büsche. Als hätte Andrew ihren Gedankengang erraten, schüttelte er leicht den Kopf.
„Sie sind nicht mitgekommen! Wir brauchen nicht auf sie warten. Sie waren anderweitig... beschäftigt.“ Er schenkte ihr bei diesen Worten ein absolut hinreißendes Lächeln, dass sich ihr der Kopf drehte.
Es fiel Sue zunehmend schwerer klar zu denken. War sie nicht gerade noch wütend auf Jeremy und seine Jungs gewesen? Jetzt ließ sie das Ganze kalt. „Wollen wir uns nicht ein gemütlicheres Plätzchen suchen?“ Sie stimmte Andrew mit einem Nicken zu. Dieser Platz war wirklich unheimlich. Andrew sah nicht mehr zurück. Wozu auch? Morgen würde man die Jungen aus seiner Nachbarschaft als vermisst melden. Ihn konnte man mit ihrem Verschwinden nicht in Verbindung bringen. Die Einzige, die noch von seinem Kontakt zu Jeremy und den anderen Jungs wusste, ging an seiner Seite. Sie stellte keine Gefahr da, dafür würde er sorgen. Wie einfach und simpel es doch für ihn war, in einer anderen Stadt wieder Fuß zu fassen. Einfach und effektiv. Ein unschuldiges Gesicht, eine herzzerreisende Familiengeschichte und alles flog ihm zu. So wir dieses hinreißende Geschöpf an seiner Seite, dem er sich in nächster Zeit widmen würde- in vielerlei Hinsicht!
Ende