Der Morgen begann verdächtig ruhig. Nur eine vergleichsweise sanfte Böe wehte von Norden nach Süden über das Land und drückte wellenartig Gras, Schilf und Sträucher zu Boden. Das einzige, was das friedliche Bild etwas mehr als nur ein wenig störte, war die große Rauchsäule, die ungefähr einen Tagesmarsch entfernt im Norden aufstieg. Scheinbar war die Schlacht, deren Getöse leise die gesamte Nacht über an ihre Ohren gedrungen war, vorüber. Für die Truppe also höchste Zeit sich schleunigst wieder auf den Weg nach Süden zu machen und rasch raffte man sämtliche Habseligkeiten zusammen.
Zu Anfang mussten sie allerdings ersteinmal einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, da sich der Wasserlauf mit vier Gremlinlängen als etwas zu breit erwies, um ihn einigemraßen trocken überqueren zu können. Also folgten sie dem Fluss ein kurzes Stück in Richtung Westen, in der Hoffnung vielleicht an eine Stelle zu gelangen, wo das Wasser seicht genug zum Durchlaufen wäre. Schließlich fanden sie auch eine solche Stelle. In einer kleinen Senke zwischen zwei Hügeln lag vom Sturm ausgerissen eine große Weide, die nun einen Teil des Flusses blockierte. Das aufgestaute Wasser musste sich deshalb eine neuen Weg durch die Wiese suchen und verwandelte den Boden in einen einzigen Schlammpfuhl.
Nachdem sie also auch dieses kleine Hindernis mit schlammigen Schuhen hinter sich gebracht hatten, führte sie ihr Weg, wie schon die Tage zuvor, stumpf geradeaus durch eintöniges Grasland. Lediglich ein etwas höherer Hügel in etwa einem halben Tagesmarsch Entfernung versprach ein wenig Abwechslung. Wobei er jedoch auch den Blick auf das kleine Wäldchen mitten in der Ebene versperrte, das nach Koratzashs Einschätzung wohl auch nicht mehr viel weiter als einen Tag entfernt sein musste.
"Ey, guck dir mal die an!", kicherte Juurz plötzlich leise neben ihr und deutete auf die Goblins, die etwas missmutig an der Spitze des kleinen trupps liefen. "Is denen ihr Essen net bekommen?"
"Wenns nach denen ginge, würden wir vermutlich geradewegs in die andere Richtung marschieren ... dreckiges Ebenenpack! Ich hoffe die Fraks haben den Haufen da im Norden ordentlich massakriert!", knurrte Koratzash selbst nur.
In ihrem Hirn ratterteb es immer noch gewaltig, während sie versuchte sich einen geeigneten Plan zurecht zu legen, wie sie gleichzeitig Oksnitz und ihren Vorgesetzten umlegen konnte. Aber Denken und Morde aushecken waren noch nie ihre Stärke gewesen und irgendwie stellte sich das Ganze doch komplizierter heraus, als vorher angenommen. Was sollte sie zum Beispiel tun, wenn sie den großen Menschen tatsächlich töten konnten, sich der Rest dann aber auf Jurgls Seite stellte? Sollte sie es dann etwa gleich mit vier Gegnern aufnehmen? Wohl eher weniger, Jurgl allein hatte ja schon ausgereicht um sie lang zu machen. Wenn dann noch ein kampfeswütiger Wirnak dazustieß, von Kjurrash und auch dem etwas feigeren Juurz ganz zu schweigen, konnte sie sich genauso gut mit dem Heer hinter ihnen anlegen. Aber wie konnte sie dann herausfinden, auf wessen Seite sich die beiden Stellen würden, wenn sie den Sahek direkt angriff? Bei Wirnak brauchte sie sich diese Frage immerhin nicht zu stellen. Dass der Kerl zu Jurgl halten würde, war so klar wie sonst kaum etwas in diesen Tagen.
Und noch eine weitere Frage beschäftigte die Norder: Wenn sie es doch irgendwie mit jeder Menge Glück und Zufall schaffte sowohl den Menschen, als auch ihren Vorgesetzten beiseite zu räumen, was machte sie dann mit dem Rest? Mit den Goblins würden sie sich ohnehin nochmal prügeln müssen, aber was den kleinen Jungen anging, stand Koratzash etwas auf dem Schlauch. Natürlich konnte sie ihn einfach ebenfalls umbringen, aber allmählich wurden ihr das ein wenig zu viele Tote. Was ihr da vorschwebte schien eher ein Blutbad zu sein, nach dem sie vermutlich komplett alleine dastehen würde, wenn sie denn noch stand. Außerdem war ihr der kleine Mensch mit seinem Misstrauen gegenüber Jurgl doch sogar etwas sympatisch geworden. Ob es sich umgekehrt jedoch genauso verhalten würde, besonders nachdem sie seinen Artgenossen hinterrücks niedergestochen hatten, war wiederum eine andere Frage ...
Doch das wurde ihr gerade ohnehin zu viel des Denkens. Einfach einen guten Moment abpassen, um dann mit ein paar schnellen Speerstichen alles in reine zu bringen. Wer brauchte schon gut durchdachte Pläne, wenn es Klingen gab?
Stattdessen widmete sie sich lieber wieder einer anderen Aufgabe, die der Gremlin ohnehin gerade als um einiges relevanter erschien: Dem Besteigen des großen Hügels, an dessen Fuß sie inzwischen angekommen waren. Wobei sie zugeben musste, dass ihr das ganze Gebilde jetzt aus der Nähe sogar noch etwas höher erschien, wenn auch weniger kahl, denn tatsächlich sprossen einige vereinzelte Büsche hier und da empor.
Der Aufstieg selbst erwies sich zudem als überraschend anstregend. Nach den steilen Hängen des Gebirges hatte Koratzash eigentlich gedacht, dass sie in Sachen bergauf bereits genug abgehärtet wäre, doch der rutschige Grasboden bewies ihr da etwas anderes. Obwohl die Flanke des Hügels nicht einmal sonderlich steil war, sahen sich sowohl Gremlins als auch Goblins und Menschen dazu gezwungen fast auf allen Vieren voran zu kraxeln, um nicht die gesamte Strecke wieder hinab zu rutschen. Zeitweise fragte sich Koratzash sogar, ob das nicht der bessere Weg wäre und sie einfach um den Hügel herum gehen sollte. Doch just in diesem Moment waren sie auch schon auf der Kuppe angelangt, während sich im Osten die Weiten der Ebene erstreckten.
Ein wenig überrumpelt von der Aussicht an solch einem klaren Mittag stand die Gremlin eine Weile einfach nur schnaufend da und glotzt um sich. Natürlich war das nach wie vor einsam aus der Graslandschaft aufragende Wäldchen das erste, was Koratzashs Blick anzog. Der Hain konnte nicht mehr besonders weit entfernt sein, höchstens einen halben Tagesmarsch. Doch etwas wirkte seltsam an diesem Wald und Koratzash hatte immerhin schon eine ganze Menge Wald zu sehen bekommen. Um genau zu sein hatten acht Wechsel ihres Lebens fast ausschließlich daraus bestanden.
Die Bäume erschienen ihr auf eine unerklärbare Weise einladend und das nicht nur, weil sie endlich eine Zuflucht vor der endlos öden Ebene versprachen. Es war vielmehr die Art, wie sie gewachsen waren: Immer wieder blieben Lücken zwischen den sonst so dicht stehenden Stämmen, als wollten sie vorbeikommenden Wanderern absichtlich den Pfad ins Innere ebnen. Zudem bildeten einige, aus dem dichten, grünen Blätterdach hervorstehende Äste etwas wie ein Vordach aus Zweigen, während gleichzeitig die Höhe und Größe der Pflanzen immer mehr zunahm, je näher sie am Waldrand wuchsen. Erst lösten einige niedere Kräuter und Sträucher das sonst allgegenwärtige Gras ab, dann taten hohe Büsche wiederum das Gleiche, bis schließlich die Bäume selbst begannen. Alles in allem erschien Koratzash der Wald fast wie eine Art Zentrum für sämtliches pflanzliches Leben in der Ebene ...
"Oh verdammter Dreck!", ertönte Juurz Stimme furchtsam hinter Koratzash.
"Komm mal wieder runter, das is bloß ein ..." Mit einem Mal wurde der Gremlin bewusst, dass sie als einzige nach Süden blickte.
Der Rest stand stocksteif da und glotzt wie gebannt in die entgegengesetzte Richtung. Kurz überlegte Koratzash, wie es wohl wäre, wenn sie jetzt einfach weiter den Wald anstarren würde und so tat, als wäre hinter ihrem Rücken nichts. Doch schließlich wandte auch sie sich leise nörgelnd um, während in ihrem Inneren Bereits das Bild einer Frakhorde aufstieg. Wer sollte es auch sonst sein, außer diesen blassen Drecksäcken? Immerhin liefen sie denen ja schon seit der Schlacht im Tal ständig über den Weg ...
"Wer glaubst du is das? Frakfressen oder die Ratten aus der Ebene?", meinte Jurgl relativ nüchtern zu Wirnak gewandt.
"Mir gehen beide auf den Sack ...", knurrte dieser nur als Antwort.
Tatächlich bewegte sich in der Ferne ein nicht weiter erkennbarer Haufen, ungefähr auf Höhe der bewaldeten Hügelgruppe, von der aus sie zum ersten Mal die Feuer des Heeres erblickt hatten. Doch ob es sich bei dieser Ansammlung nun um eine hinterlistige Frakhorde oder doch einen Haufen Goblins handelte, war aus dieser Entfernung beim besten Willen nicht festzustellen. Scheinbar galt dies jedoch nur für sie als beschränkte Gremlin, denn unvermittelt holte der Goblinboss zwei helle, durchsichtige Steine hervor. Daraufhin hielt er sich einen direkt vor das rechte Auge, während der andere in ungefähr einer Unterarmspanne Entfernung in der Luft verharrte.
"Ey, was wird das?", gab Jurgl sein Misstrauen laut kund und beäugte den anderen Norder, als sei dieser nicht mehr ganz dicht.
"Jetzt halt mal für ein paar Atemzüge die Klappe, Gremlin!", knurrte dieser genervt zurück, bevor er plötzlich einen leises Fluch ausstieß. "Toix! Das sind zwar keine Grauhäutigen, aber Mashpuukkor is das auch net ... Verranzter Dreck, was is das denn für ein Banner?!"
"Toix, Johtarax! Wer soll das sonst sein?!" Die anderen drei Goblins schienen von der Aussage ihres Anführers etwas schockiert.
"Naja, also Goblins sind es zwar schon, aber als ich das letzte Mal auf unser Banner geschaut hab, war da noch keine Gewitterwolke drauf ..."
Die Gremlins standen indessen nur daneben und glotzten verdutzt ihre entfernten Verwandten an. War der Kerl vielleicht ein Schamane?
"Warte mal, die sind über einen Tagesmarsch entfernt, wie will eine Ratte wie ...", begann Wirnak, doch jemand anderes viel ihm ins Wort.
"Das sind Lupensteine!"
Ruckartig wandten die Gremlins ihre Köpfe und starrten nun wiederum den jungen Kalln an, der da so übereifrig hineingerufen hatte.
"Mensch, du redest dummes Zeug. Steine sind grau ...", stellte Koratzash selbst fest und deute dabei fast etwas belehrend auf die beiden seltsamen Objekte in den Händen des Goblins. "Die da nicht."
"In gewisser Weise sind es auch nicht einfach nur Steine aber ..." Der Junge stockte kurz, als er die nach wie vor auf ihm ruhenden Blicke der Gremlins und nun auch Goblins bemerkte. Doch dann fing er sich wieder. "Mein Vater war Händler und einmal hatten wir auch soetwas ähnliches bei uns im Angebot. Nur waren die beiden Steine durch ein Gestell miteinander verbunden und geschliffen, sodass ..."
"Ach Klappe, ich kapier immer noch kein Wort!", knurrte Wirnak mürrisch und machte eine unwirsche Handbewegung. "Is mir aber auch schnurz, was das is! Un wenn es Eringaxs Horden wären, wärs immer noch das Gleiche! Feind bleibt Feind un wenn die hier durch kommen, hab ich kein Bock immer noch auf diesem scheiß Hügel zu stehen, wie der letzte Trottel!"
Wahre Worte waren das, die Koratzash zu einem zustimmenden Nicken bewogen. Wie bereits viel zu oft in den letzten Tagen, war es mal wieder Zeit zu verschwinden und zwar schleunigst. Sogleich setzten sich Gremlins und Menschen in Bewegung, während die Goblins noch kurz unschlüssig verharrten.
"Ey, wartet mal! Da is noch was ...", rief der Goblinsboss und wedelte mit dem vorderen Stein in der Luft herum, als wolle er auf etwas deuten. "Späher! Ein ganzes Dutzend!"
Das Wort zischte er mit einer seltsamen Boshaftigkeit heraus und neugierig kamen zumindest die Gremlins wieder herbei geeilt.
"Un wo?", knurrte Jurgl genervt, während er mit zusammengekniffnenen Augen den Horizont absuchte.
"Nicht da hinten, dämlicher Gremlin, direkt hier!" Mit diesen Worten wies der Goblinboss in etwa auf die Stelle, an der sie in der Nacht zuvor ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Nun, das war freilich etwas sehr nahe und angesichts der kleinen Gruppe von berittenen Gestalten, die sich dort unten durchs Schilf wühlte, gab Juurz ein leises Geräusch des Unmutes von sich. Auch Koratzash musste einmal kräftig schlucken, während Wirnak genau das Gegenteil tat und ein saftigen Klumpen Rotz ausspuckte.
"Verdammt, die da sitzen auf Kätzchen, könnte schwer werden sie umzukloppen ...", meinte der kräftige Gremlin und kratzte sich mit seiner Waffe am Oberschenkel.
"Ein Scheißdreck machen wir! Wenn du dich von den Miezen Futtern lassen willst gern, ich hau ab!", unterbrach ihn Juurz fast schon etwas hysterisch, wobei er schonmal einen prüfenden Blick hinter sich den Hang hinab warf. "Oder Jurgl? Sag net, dass wir uns mit denen da prügeln müssen!"
Statt einer Antwort spuckte Jurgl nur einmal aus und starrte seinerseits den ehemaligen General abschätzig an. Dessen behandschuhte Faust hatte derweil den Griff seines Schwertes fest umschlossen, während seine Augen mit einem äußerst seltsamen Ausdruck darin in die Ferne blickten. Fast wirkte es, als wolle er jeden Moment den Hang hinab und auf die Späher zustürmen. Ein Gedanke der Koratzash so gar nicht gefiel und heimlich tat sie selbst einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Der Goblinboss hingegen verdrehte nur einmal genervt die Augen, bedeutete dann seinen Artgenossen ihm zu folgen und machte Anstalten von dannen zu marschieren.
"Äh ... also ich geh mit denen ...", ließ sich erneut Juurz vernehmen.
Doch letztendlich entschied sich auch der große Mensch für die andere Richtung, die richtige Richtung, wie sich Koratzash stumm dachte und bevor sich irgendjemand doch noch umentschied, war der gesamte bunte Haufen auch schon im Eilschritt den Hang hinab. Mal wieder hieß es also wegrennen, vor wem auch immer ...