Kapitel 28
Der Sturz des Falken
Ich zitterte am ganzen Körper und Annabeth drückte sich so fest an mich, dass ich dachte, ich würde rücklings von Chen gedrückt werden. Ein Gott hatte Chen geantwortet und mit einem Mal ging ich in meinem Kopf alle Gottheiten durch, die ich je getroffen hatte. Und doch fiel mir keine Gottheit ein, die mit solch einer Kälte und einem Eissturm hinter ihnen herpreschen konnte.
Aber das war das Problem, keiner von uns wusste, ob der Sturm hinter uns herpreschte oder aus welcher Richtung er kam. Immer wieder wechselte die Windrichtung und der eiskalte Sturm traf uns Mal von Links und Mal von Rechts.
Ich fühlte mich, als ob ein kleines Kind mit Chen spielen würde. Der arme Falke wurde hin und hergeworfen wie ein Spielzeug in der Hand eines Säuglings und eigentlich fehlte nur noch ein wenig Sabber um dem Kleinkindbeispiel den Rest zu geben.
Anstelle des Sabbers peitschten uns kleine harte Eisplitter um die Ohren und meine Gesichtsfarbe war inzwischen von einem schmerzhaften Rot zu einem deutlich ungesünderen Blau gewechselt.
"Chen, wir müssen aus diesem Sturm raus", brüllte ich aus Leibeskräften und ich hatte das Gefühl, dass das Eis von meinen Wangen abbrach.
Der Falke schlug erschöpft mit seinen Schwingen auf und ab, während Annabeth sich unruhig umguckte und mich mit einem Mal anstieß:
"Wo ist Festus?", schrie sie und zeigte zu unserer Rechten.
Der gigantische Bronzedrache war verschwunden und ich blickte in eine graue und stürmische Leere.
Plötzlich zog ein weibliches Lachen über uns hinweg und in meinem Kopf schossen Bilder vorbei. Die Bosheit und die Kälte in der Stimme dieser Gottheit kam mir unvergleichlich bekannt vor. Nicht, weil ich je eine Schneegottheit angetroffen hatte, sondern weil ein göttlicher Teil in mir warnend aufhorchte.
Ich wusste nicht wieso, aber mir war klar, dass diese Gottheit über uns nur einem Ziel folgte... Mich und meine Freunde vom Himmel zu fegen und zu töten.
Noch während ich darüber nachdachte, fühlte ich mich wie erstarrt und mit größten Mühen schielte ich an mir herab. Eine gewaltige Eisschicht hatte sich um mich gelegt und hielt mich wie in einer Zwangsjacke gefangen.
Sadie und Annabeth schienen von dem Fluch der Göttin noch unberührt und gerade wollte ich meinen Mund aufmachen und sie vor ihrem Schicksal warnen, als sich eine bleiche Hand über meinen Mund legte.
Unerträgliche Kälte strömte in meine Haut und vor Schmerz wollte ich laut aufschreien, aber die kräftige Frauenhand verhinderte dies gekonnt. "Sohn des Poseidon... Uhh, wie..interessant. Weißt du, dein Vater und ich hatten die wildeste aller Nächte und zu meinem Bedauern musste ich ebenfalls einen Spross deines widerlichen Schlages in die Welt setzen. Aber naja, inzwischen ist dein Halbbruder genau so tot wie du es bald sein wirst", zischte ihre Stimme ganz nah an meinem Ohr und ich schloss schmerzverzehrt die Augen.
Ich dachte an jede Geschichte über Schneegottheiten, über die ich je gelesen hatte, aber der Schmerz ließ mein Gehirn nur bruchstückhafte Ideen kommen und gehen. Ich kam beim besten Willen nicht darauf, wer die boshafte Gottheit war, die mir mein Haut vor Kälte verbrannte.
Auch die Tatsache, dass sie mit meinem Vater einen Sohn gezeugt hatte, war nicht sonderlich hilfreich, da Poseidon mit seinen knapp dreitausend Jahren ziemlich umtriebig gewesen war. Überall konnte durch Zufall ein Kind von ihm auftauchen und nicht einmal er selbst wusst von jedem Nachkommen seines Blutes.
"Chione", schrie Leo plötzlich von Rechts und ein Feuerstrahl traf die Göttin hinter mir.
Mit einem lauten Knall trafen die Flammen auf den Schutzschild aus Eis, den Chione im letzten Moment in ihre Hand befehligte, und Annabeth und Sadie fuhren erschrocken zu mir herum.
Das Eis um meinen Körper war von den Flammen getroffen worden und ich spürte, wie es an Substanz verlor.
"Zerschlag es", flehte ich Annabeth an, die kurz drauf mit einem gezielten Schlag ihres Schwertknaufes das Eis zu Bruch brachte.
"Was ist passiert?", fragte sie und Chen ließ sich erschöpft auf den Boden zugleiten.
"Sie hat mich eingefroren und mir den Mund zugehalten... ich war komplett gefesselt", zitterte ich und schaute zurück in den Himmel.
Festus kämpfte mit Leo auf dem Rücken gegen Chione und zischend prallte ein weiterer Feuerstoß auf den Eisschild der Schneegottheit.
Diese wiederum hatte ihr Augenmerk auf Chen gerichtet, der komplett entkräftet auf einen kleinen Hügel zusteuerte und mit einem Mal erschien ein gewaltiger Eisspeer in ihrer Hand.
Festus kreiste weiter um die mächtige Gottheit und Feuerstrahlen erhellten den gesamten Wolkenhimmel wie das Nordlicht den Polarkreis.
Dann warf Chione den Speer und kurz darauf traf sie ein weiterer Feuerstrahl an der Hüfte, der sie weit in die Wolken schoss und ich sie aus den Augen verlor.
"Vorsicht", brüllte ich und ich zeigte auf den Eisspeer.
Doch es war zu spät.
Unter dem schmerzerfüllten kreischen des Falken stürzten wir in die Tiefe und das letzte, was ich sah war der Speer aus EIs, welcher tief in Chens Unterleib steckte.
Goldenes Blut tropfte aus den Adern der Falkengottheit und der schneebedeckte Hügel kam immer näher.