5 - Alejandro
Das Anwesen, zu dem Alejandro von einem jungen Diener gebracht worden war, wirkte gleichzeitig unscheinbar und trutzig. Die Fassade strahlte durch ihre kalte Ausdruckslosigkeit eine stille Drohung aus, die einen Feind abschrecken mochte, auch wenn die Mauer um den Innenhof geradeso mannshoch war. Um die freie Fläche aus gestampfter Erde standen einige kleinere Wirtschaftsgebäude, ein Stall und das große Haupthaus. Alle Fenster waren mit massiven Eisengittern gesichert.
Während sich Alejandro noch vom Rücken des Pferdes aus einen Überblick verschaffte, eilte schon ein junger Stallbursche herbei, um ihm die Zügel abzunehmen.
Mit aufgeregter Stimme fragte er Alejandro: „Seid Ihr der Held, der aus Spanien herbeigeeilt ist, um die schönste Frau Schottlands im Kampf zu erringen?“
„Nun,... ich bin Alejandro Inéz Rodriguez Losada, der beste und bekannteste Stierkämpfer Pampalonas. Ich bin hier auf Bitten meines Verwandten. Wenn es etwas zu gewinnen gibt, dann werde ich das tun.“ Nach kurzem Zögern ergänzte er: „Allerdings stellte man mir eher Ruhm, Ehre und Reichtümer in Aussicht.“
„Dann scheint es, dass Euch mein Herr über den Tisch zieht. Der Hauptgewinn der Spiele ist die Hand Caiomhes und damit ein Großteil der Ländereien Schottlands. Außerdem ist sie die schönste Frau Schottlands, wenn nicht sogar der ganzen Welt,“ schwärmte der Junge. Plötzlich schien er sich an etwas zu erinnern und verzog das Gesicht, als würde er Schmerzen leiden. „Äh... vielleicht sollte ich jetzt besser meinen Mund halten. Mein Herr... ist immer sehr streng.“
Wie gerufen trat ein älterer Herr aus dem Haupthaus, der durchaus einmal eine imposante Erscheinung gewesen sein mochte. Doch die besten Tage seines Lebens hatte er schon hinter sich. Ein Gehstock half ihm dabei, auf den Stufen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Gekleidet war er in einer etwas sonderbaren Gewandung mit vielen Knöpfen. Darunter trug er ein steifes Wams, eng anliegend fast wie bei einem Korsett. Dazu enge Hosen, unter denen jede Wölbung des mit dem Alter erschlaffenden Körpers herausstach und auch manche harte Schwellung nicht verbarg. Das kurze, krause Haar war schon sehr licht und grau geworden. Besonders prominent ragte aus dem ansonsten eher unscheinbaren Gesicht eine Nase heraus, die an Länge und Hakigkeit nicht zu überbieten war.
Mit fröhlicher, aber etwas kratziger Stimme rief der Mann Alejandro entgegen: „Herzlich willkommen, verehrtester Vetter meiner heißgeliebten Tante zweiten Grades münterlicherseits meines väterlichen Onkels... Alejandro! Es stört Euch gewiss nicht, dass ich Euch in so vertrautem Ton anspreche, ja?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr der Mann, der niemand anderes sein konnte als Alexander Grey fort. „Kommt und begleitet mich ein Stück. Ich möchte Euch mein kleines Anwesen zeigen, von dem aus ich mir die Schotten zu Untertanen zu machen gedenke. Ich habe es direkt nach meinem großartigen, ruhmvollen Sieg in der Schlacht am Venushügel gekauft und seitdem immer und immer mehr verbessert, so dass jetzt keine Wünsche mehr unerfüllt bleiben.“ Alexander ergriff Alejandros Hand, schüttelte sie kurz und erstaunlich kräftig und zerrte ihn dann über den Hof. Alejandro warf dem Stallburschen noch einen Blick zu, doch dieser hatte den Kopf demütig gesenkt. Vielleicht auch nur, um der Wolke an verschiedensten Parfumen zu entgehen, die Alexander wie ein Geist zu begleiten schien.
„Hier drüben sind die Ställe für meine Sammlung edelster Rösser. Natürlich befinden sie sich meistens auf einem Gestüt etwas weiter entfernt. Aber Ihr wisst ja, wie es ist. Pferde machen so viel stinkenden Mist, das erträgt meine feine Nase nicht. Wisst Ihr, meine Nase ist außergewöhnlich fein. Ich kann beinahe alles riechen und am Duft unterscheiden.“ Alejandro dachte bei sich, dass sein Vetter wohl eher eine sehr schlechte Nase haben müsse, wenn er so viel von so viel verschiedenen Parfums auftrug.
„Die schottischen Pferde taugen ja nichts, deswegen habe ich mir einige Hengste und Stuten aus ganz Europa bringen lassen. Selbstverständlich stammen die besten aus England. Woher auch sonst?“ Alexander lachte ein wenig überheblich. „Wobei natürlich spanische Rösser ein sehr feuriges Temperament haben, das in kleinen Dosen der englischen Ruhe und Standhaftigkeit durchaus gut tut. Schottische Pferde gleichen eher Eseln und sind genauso stur wie die Schotten selbst. Überhaupt ist dieses unzivilisierte Volk viel zu rau und wild. Ihnen fehlt einfach die Kultur eines englischen Gentlemans. Doch wem erzähle ich das? Ihr seid weit gereist und in vielem bewandert. Da bin ich mir sicher, dass Ihr, geschätzter Alejandro, über die Überlegenheit der Sitten, der Tapferkeit und der körperlichen Stärke der englischen Ritter in allen Teilen der Welt nur das höchste Lob vernommen habt.“ Alejandro holte Luft, um in die kurze entstehende Pause eine Antwort einzuwerfen, doch Alexanders Mundwerk war schneller.
„Die Schottinnen sind zum Glück weniger stur, aber wilde und starke Frauen. Ab und zu, es handelt sich wirklich eher um Einzelfälle, sind sie sogar ganz schön anzusehen. Aber hauptsächlich taugen sie dazu, Ziegen zu melken und Schafe zu scheren. Als Haushälterinnen sind sie leider nicht zu gebrauchen. Ich habe mir daher eine besonders strenge Gouvernante aus den deutschen Landen zugelegt. Es ist ja niemand auf der Welt so streng und akkurat wie die Deutschen, das sage ich Euch. Wenn Hildburga mit der Gerte zuschlägt... ein wahrer Genuss, das könnt Ihr Euch nicht vorstellen.“ Alejandro verstand von dem ganzen Gerede nur die Hälfte, aber er hatte den Eindruck, dass seine Ohren bald zu bluten anfangen würden. Vorsichtig hob er die Hand, um auch ein Mal zu Wort zu kommen.
„Ja, Ihr habt ganz Recht, Alejandro. Ich rede zuviel. Kommt mit, ich zeige Euch das Schmückstück dieses Hauses... meinen Kerker.“ Alejandro bemerkte ein sonderbares Glitzern in den grauen Augen des Alten. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich in den Kerker wollte, doch die zerrende Hand ließ ihm keine Wahl.
„Wisst Ihr eigentlich wie ich zu meinem ruhmreichen Titel gekommen bin? Nein? Das habe ich mir gedacht. Ich werde es Euch erzählen.“ Alexander hatte nicht einmal den Kopf gedreht, um eine Reaktion Alejandros zu bemerken. Er redete einfach ohne Unterlass weiter. Alejandro seufzte und fragte sich halb verzweifelt, halb ironisch, ob Alexander ihn hier in den Kerker sperren und zu Tode quatschen wollte. Bevor sie allerdings auch nur in die Nähe des Haupthauses kamen, auf das Alexander nun zusteuerte, hatte er schon die ganze Geschichte erfahren.
Alexander war mit seinen Truppen im Kampf gegen walisische Aufständische zahlenmäßig weit unterlegen und wurde in einen Hinterhalt gelockt. Das Terrain wäre eigentlich für die Feinde günstiger gewesen, buschiges Gestrüpp, das rund um einen langgezogenen Hügel jegliche Formation unmöglich machte. Jeder Kämpfer war auf sich allein gestellt. Das kam Alexander natürlich entgegen, denn so tapfer und mutig wie er damals war, konnte ihm niemand das Wasser reichen. Durch die Länge und Stärke seiner Lanze konnte er die Gegner durchbohren und von ihren Pferden herabstechen. Der Untergrund war von einer langen, feuchten Spalte durchzogen, die ständige Aufmerksamkeit erforderte, um nicht zu stolpern. So moorig war es dort, dass derjenige der seine Lanze dort hineinstach, ganz tief in die Spalte drang und sie nur unter größtem Gestöhne wieder befreien konnte. Am Ende war es wohl eine große Sauerei, überall war alles vollgespritzt und wer noch lebte war schlaff und ohne Kraft.
Nur wenige Schritte aber unendlich viele Erzählungen weiter schloss Alexander mit einem kleinen, silbernen Schlüssel eine massiv wirkende Türe auf. Ein schon etwas müde wirkender Alejandro folgte tapfer dem endlich einmal schweigenden Alexander eine steinerne Treppe hinab ins Halbdunkel. Am Fuße der Treppe angekommen erhob Alexander feierlich seine Stimme.
„Hier seht her! Dies ist mein Kerker.“ Er tat einige Schritte in einen nicht gerade kleinen Raum. Alejandro blieb etwas zurück und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.
„Sind sie nicht schön?“ Zärtlich strich Alexander über ein Foltergerät, dessen Zweck sich Alejandro nicht vorstellen mochte. Überhaupt wirkte der Raum wie eine seltsame Mischung aus Folterkammer und Wohnzimmer. Eine Streckbank war mit feinem Leder überzogen, ganz so, als wollte man dem Gefangen zwar einerseits Schmerzen bereiten, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass er es möglichst angenehm hatte. Alejandro ließ seinen Blick weiter schweifen. An einem eisernen Kübel voller ledernen Peitschen und hölzernen Stöcken blieb seine Aufmerksamkeit hängen. Unwillkürlich trat er näher heran und zog einen der Stöcke heraus. Er hatte noch nie davon gehört, dass Folterknechte mit hölzernen Stöcken ihre Gefangenen schlugen. Prüfend ließ er seine Finger über die glatt polierte Oberfläche gleiten. Der lange, leicht gebogene Schaft fühlte sich hart und unnachgiebig an. Er wurde langsam etwas dünner, bevor er dann in einer knubbeligen Verdickung endete. Alejandro fühlte sich an eine Pflaume erinnert. Oder wie eine... Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
„Gefällt Euch mein Lustholz?“, Alexander, der ihn die ganze Zeit beobachtet hatte, leckte sich mit einem hungrigen Ausdruck in den Augen über die Lippen.
„Euer... Lust...“, Alejandro räusperte sich verlegen und legte das Holz schnell auf einem anderen Gerät ab. „Was wollt Ihr von mir?“, fragte er dann.
Etwas enttäuscht, aber anscheinend nicht gewillt, tiefer in ihn zu dringen, ging Alexander auf Alejandros Themenwechsel ein.
„Also... das ist ganz einfach. Ihr, geschätzter Alejandro, gewinnt an meiner Statt die Spiele und festigt dadurch meine Stellung in Schottland. Davon profitieren alle. Ich muss die barbarischen Schotten nicht mehr so hart rann nehmen, was die Schotten mit mir versöhnen dürfte, ihr gewinnt Ruhm und Ehre in der ganzen zivilisierten Welt und könnt für Euren Namen viel Samen ausstreuen. Ganz Schottland wird von mächtigen Wogen mitgerissen und... Blickt nicht so kritisch drein! Ich bitte Euch. Selbstverständlich bekommt Ihr auch ein paar Truhen voll Gold, so dass Ihr Euch in Spanien oder wo es Euch beliebt zur Ruhe setzen könnt.“ Alejandro nickte zustimmend, warf aber dennoch ein: „Was ist mit dem Hauptpreis der Spiele?“
Alexanders Augenbrauen zogen sich mürrisch zusammen. „Was soll damit sein?“
„Die Schottin... diese Jamie...“, begann der Spanier.
„Caoimhe McKing“, warf Alexander mit einer wegwischenden Geste ein.
„Ja, genau die. Euer Stallbursche meinte, dass sie der eigentliche Preis der Spiele ist.“
„Dieser Junge schwätzt zu viel. Ich werde ihn wieder einmal bestrafen müssen.“ Alejandro bemerkte die seltsame Handbewegung, die er schon vorhin beobachtet hatte. Als würde Alexander eine Peitsche schwingen. Zusammen mit dem leicht lüsternen Blick, der an der gewaltig wirkenden Hakennase vorbei schielte, gab das ein äußerst skurriles Bild. Alejandro war das nicht ganz geheuer. Irgendetwas stimmte nicht im Hause Grey.
„Caoimhe gehört mir. Nur wer sie heiratet, bekommt Schottland“, führte Alexander weiter aus. „Aber wenn Ihr eine Gemahlin sucht, könnte ich Euch mit der Nichte des Onkels meiner verstorbenen Mutter bekannt machen. Die ist jung, hübsch und gesund.“ Alexander ergriff Alejandros Arm und zog ihn zurück in Richtung der Treppe. „Am besten, ich veranlasse gleich, dass sie uns hier besuchen kommt. Dann könnt ihr euch gleich mit eigenen Augen ein Bild von ihr machen. Sie ist wunderhübsch, das könnt Ihr mir glauben. Sie ist zwar nicht die schlaueste, aber dafür hat sie andere Qualitäten, die nicht zu übersehen sind.“ Alejandro seufzte und versuchte Alexander nicht zuzuhören. Irgendwie freute er sich schon auf den Wettkampf gegen die Schotten. Die würden zumindest ihre Klappe halten. Zumindest hoffte er das.