Kapitel XIV
Nicht einmal vierundzwanzig Stunden später beendete Jenny endlich die Autopsie an dem alten Woolbright. Hätte sie wirklich geschrieben, was sie als Todesursache gefunden hatte, hätte die Familie des Toten sie womöglich in eine Psychiatrie einweisen lassen.
Daher gab sie als Todesursache Angriff durch ein unbekannten Amokläufer an. Das kam der Wahrheit so nahe, wie sie es vertreten konnte und sie hoffte, dass Ken der Familie glaubhaft vermitteln konnte, dass der Schuldige erwischt und bei der Verhaftung getötet worden war.
Sie selbst freute sich auf noch drei Tage Urlaub.
Die Artikel für das lokalgeschichtliche Blatt konnte sie verschieben, die Fachartikel über die Grippestämme leider nicht. Ganz fest nahm sie sich jedoch vor, ihre Freunde und Bekannte zu besuchen allein schon um wieder Normalität in ihr Leben zu bringen.
Auch wenn sie es ungern gegenüber Mike und Ken zugab, hatte sie doch ihre Schwierigkeiten damit, wenn durch Magie plötzlich Jahrhunderte alte Leichen zum Leben erweckt wurden, widersprach das doch allem, was sie, teilweise mühsam, für ihren Beruf erlernt hatte.
Klar, für Mike als Schriftsteller, dessen Phantasie ohnehin dauernd Amok lief, war das Ganze ein großes, wundervolles Abenteuer. Zudem brachte sein Beruf es als Voraussetzung mit, die Dinge aus alternativen Blickpunkten zu betrachten.
Bei Ken, als Polizist, lag die Sache völlig anders. Sie bewunderte ihn sehr, wie gelassen und systematisch er auch mit den verrücktesten Fällen umging. Wäre es nicht so absurd, könnte man glauben, dass er immer alles stehen und liegen ließ, nur um so schnell wie möglich bei dem nächsten Tatort zu sein, bei dem es nicht mit natürlichen Mitteln zuging. Ja, Ken konnte einfach nichts erschüttern.
Sie ertappte sich wohl zum hundertsten Mal dabei, wie ihre Gedanken zwischen den beiden Männern hin und her wanderten.
Das war auch so eine Sache, die sie bald regeln musste. Ihr war natürlich bewusst, dass beide um sie warben, doch es gab nur einen mit dem sie sich wirklich eine engere Beziehung vorstellen konnte. Der Andere würde vermutlich verletzt sein und das Letzte, was Jenny wollte, war diese wundervolle Dreierfreundschaft zu beschädigen.
Allerdings wurden sie alle nicht jünger und gerade solch gefährliche Fälle wie der Letzte machten ihr bewusst, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten.
Irgendwie musste es doch anzustellen sein, dass die drei Freundschaften nicht an einer Beziehung zerbrachen.
***
Inspektor Kenneth Lestrange befand sich wieder in seinem Büro in Swansea. Gerade hatte ihn der Chief-Inspektor verlassen, mit einigen Seitenhieben auf den Fall in Gwynedd. MI6, Secret Service, Alarmstufe Eins. Diesmal hatte tatsächlich er viele Register gezogen und die Wellen waren darum höher als sonst geschlagen. Die galt es nun zu glätten.
Ken wusste, dass es eine Belobigung für sein entschlossenes Handeln geben sollte, veranlasst von der Queen selbst. Vielleicht konnte man es so drehen, dass das gesamte Büro in Swansea lobend erwähnt wurde, eine Urkunde die sich gut hinterm Sessel des Chief-Inspektors machen würde. Lestrange selbst legte auf solche Urkunden keinen Wert. Wem sollte er sie schon zeigen, der nicht ohnehin die Wahrheit wusste?
Sein Bericht für die öffentlichen Akten war auch so gut wie fertig. Eine verrückte walisische Adlige, die mithilfe einer alten Leiche einen Skandal auf dem Opernball provozieren wollte. Das klang widerlich genug, um eventuell noch vorhandene Anhänger der Lady abzuschrecken und unspektakulär genug, dass es in der Presse nicht allzu lange als berichtenswert galt.
Es blieb noch das Abschlussgespräch mit der Zentrale in New York, aber dort war es gerade zwei Uhr morgens, kaum die Zeit seinen Chef, Jacques Baptiste, wegen so etwas aus dem Schlaf zu holen.
Es gab allerdings einen Anruf, den er tätigen musste, einen Anruf der längst fällig war. Nachdem es dreimal geläutet hatte, wurde abgehoben.
»Horatio Lestrange, guten Tag?«
»Dad, ich bin's. Ken.« Mit klopfendem Herzen erwartete er die Antwort, immerhin hatte er sich seit Jahren nicht mehr zuhause gemeldet. Nicht einmal sein Vater wusste, dass er für Paraforce arbeitete.
»Junge! Wie gut es tut, Deine Stimme wieder zu hören. Geht es Dir gut?«
Die Stimme seins Vaters war herzlich und warm und wischte alle Sorgen beiseite, sein alter Herr könnte verärgert sein.
»Mir geht es sogar sehr gut, Dad. Es tut auch gut, Dich wiederzuhören.«
»Aber Du rufst nicht nur an, weil Du Sehnsucht nach meiner väterlichen Stimme hast, stimmt's? Es geht um Deine Gabe!«
Ken war für einen Moment sprachlos, aber dann wurde ihm bewusst, dass ein Vater immerhin genausdieselbe Gabe hatte, nämlich hinter die Dinge sehen zu können. Natürlich war es für ihn nicht schwer die Absicht des Anrufs zu erraten.
»Ein Freund hat mir geraten, mich mehr mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.«
»Du konntest Dich also endlich jemand anvertrauen? Das freut mich sehr. Natürlich habe ich dieses Gespräch schon lange erwartet, aber es lag an Dir, ob Du Dich dazu bereit fühlst.«
»Ich denke, das bin ich jetzt.«
»Das ist aber keine Sache, die man am Telefon bespricht, Junge.«
»Ich weiß, Dad. Hast Du etwas dagegen, wenn ich Dich eine Weile besuchen komme. Ich habe noch ein paar Tage Urlaub.«
»Du bist jederzeit zuhause willkommen, das weißt Du doch. Deine Mum wird außer sich sein und Du wirst einige Kilo zugenommen haben, bis Du wieder hier weg darfst, das prophezeie ich Dir.« Sein Vater lachte herzlich in voller Vorfreude.
»Weiß Mum eigentlich ... davon?«
»Oh, Junge. Deine Mum ist die Liebe meines Lebens. Wie hätte ich es ihr nicht sagen können?«
»Das ist gut. Dad, ich muss hier noch etwas regeln, aber ich schätze ich bin übermorgen Abend zuhause.« Zuhause, das Wort klang mit einem Male wieder richtig.
»Wir werden Dich erwarten und falls Deine Mum eine spontane Willkommensparty organisiert, und wir wissen beide, dass sie das wird, dann tu gefälligst überrascht!«
»Alles klar, Dad. Wir sehen uns übermorgen Abend.«
***
Mike saß in seiner Bibliothek und betrachtete den blinkenden Cursor auf dem Monitor.
»Fühlst Du Dich nicht um die ganze Freude des Erdenkens betrogen, wenn Du eine wahre Geschichte nimmst, lieber Junge?«
Lady Mallowan griff ein alten Thema zwischen den beiden Schriftstellern auf.
»Eigentlich nicht. Immerhin gibt es eine Menge zu beachten. Die Personen und Orte dürfen nicht zu erkennen sein, die Fakten soweit geschönt oder interpretiert, dass auch Leute, die am Rande mit der Sache zu tun hatten, es nicht wiedererkennen und natürlich darf auch kein Geheimpolizist der UN in der Geschichte auftauchen.«
»Ich kann mir nicht helfen, mein Bester, aber es kommt mir nach wie vor unanständig vor, seine Leserschaft so zu hintergehen.«
»Ich verstehe Ihre Einwände durchaus aber bedenken Sie einfach, was geschähe, wenn die falschen Leute meine Romane als Gebrauchsanleitungen ansähen. Wie viele Gräber würden geplündert, wie viel Zulauf würden finstere Kreise nur durch Neugierige erhalten? Genauso, wie ich der Wahrheit verpflichtet bin, bin ich auch meinen Lesern verpflichtet und das sind nun mal in der Hauptsache jüngere Personen.«
»Ich sehe, dass die Anforderungen an die Zunft der Schreiber heute eine andere ist, als zu meiner Zeit.«
»Das mag wohl sein, aber im Grundsatz versuchen wir dasselbe, zu unterhalten und wenn möglich dabei etwas zu vermitteln, was den Leser weiterbringt.«
»Dabei wünsche ich Dir viel Glück, mein lieber Junge. Ich überlasse Dich nun Deinem Werk und Deinen Musen.«
Mike musste schmunzeln. Ein paar Musen, im klassischen Sinne gekleidet nach der altgriechischen Vorstellung, kämen ihm jetzt gerade recht. Seine Gedanken wanderten jedoch zu einer rothaarigen Muse mit Doktortitel, die er zu gerne auch ohne die leichte Bekleidung einer griechischen Muse hier gehabt hätte.
Er seufzte: »Hilft ja alles nichts. Ran ans Werk.«
Mit dem millionenfach erprobten Zweifingersuchundtippsystem entstand der vorläufige Titel.
»The Case of the Gwrach y Rhibyn«