Der Steinbruchsee
Während sie sich ihren Umhang umlegte und am Hals zuband, lauschte sie auf die schweren Schritte ihres Vaters. Er stieg die Treppe hinauf, schwerfällig, müde vom harten Tagwerk und trotzdem zufrieden, nachdem er nach dem Essen mit der Mutter eine Weile auf der Bank neben der Haustür gesessen, ein Pfeifchen geraucht und dann allein der Sonne beim Untergehen zugeschaut hatte. Die Mutter schlief längst und auch die jüngere Schwester, die im Bett hinter ihr lag.
Jetzt knarrte die Tür des elterlichen Schlafzimmers, mit einem Murmeln antwortete der Vater der schlaftrunkenen Stimme der Mutter. Das Bett ächzte, als er sich niederlegte, ein letztes, beruhigendes Brummen und Stille kehrte ein.
Sie kannte die Geräusche, sie konnte jedes von ihnen zuordnen, auch die Stimmen. Alles wiederholte sich jeden Abend. Es war ein vertrautes Ritual. Sie wusste, wann Vater die Stiefel auszog, welche Dielen knarrten und auch welche Treppenstufen.
Und auf die musste sie besonders achten, denn gleich würde sie hinuntersteigen. Ein, zwei Minuten wartete sie noch, dann drückte sie geräuschlos die Klinke der Tür ihres kleinen Schlafzimmers herab, huschte in den schmalen Korridor und schloss sie hinter sich. Noch einmal lauschte sie, aber alles blieb still. Eben begann Vater zu schnarchen.
Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinab, sorgfältig die gefährlichen Stufen aussparend. Licht benötigte sie keines, der Mond schien hell durch die Fenster unten im großen Wohnraum.
Vollmond. Heute würden sie sich wiedersehen. Sie freute sich so sehr, dass ihr Herz wie verrückt hämmerte. Auf Zehenspitzen huschte sie bis zu Haustür, lauschte erneut und schlüpfte dann hinaus. Draußen schob sie rasch ihre Füße in die Stiefel, die sie bisher in der Hand getragen hatte.
Es war kühl, doch das störte sie nicht. Ihre Arme rafften den wärmenden Umhang ein wenig fester um Schultern und dann lief sie los. Sie kannte den Weg im Schlaf, würde ihn wohl mit geschlossenen Augen finden. Kurz wollte die Traurigkeit sie übermannen, dass sie einander nur in der Nacht treffen konnten, aber sie straffte sich, hob den Kopf und verscheuchte diesen Gedanken. Ihr Vater würde sie nachts einschließen, wenn er von diesen Treffen wüsste, und wenn sie es wagte, aus dem Fenster zu klettern, dann würde er sie anbinden. Dessen war sie sicher. Und deshalb durfte er niemals davon erfahren.
Seit fast einem Jahr schlich sie sich bei jedem Vollmond aus dem Haus. Elf Mal hatten sie sich getroffen, elf Nächte voller wunderbarer Zweisamkeit, ungestört von anderen, voll inniger Zuneigung und Liebe. Nächte, denen sie einen halben Monat lang nachtrauerte und auf die sie sich einen halben Monat lang freute.
Auch heute Nacht war es nicht anders. Die Vorfreude verlieh ihr Flügel. Sie rannte den Weg am Malzer-Hof entlang, passierte die große Heuscheune und erreichte die Koppel. Hinter sich hörte sie, wie der Hofhund anschlug, aber es war nur eine halbherzige Beschwerde über die Störung seiner Nachtruhe und sein Bellen verstummte wieder. Auf der Weide dösten die Pferde. Eines schnaubte und ein zweites stampfte erschrocken mit dem Huf auf, als sie sie erreichte, doch ein leiser Ruf von ihr genügte und die Tiere beruhigten sich wieder.
Sie lächelte. Es war nicht mehr weit. Fledermäuse, die unter dem First der Malzer-Scheune wohnten, huschten taumelnd über den nächtlichen Himmel. Der Mond erleuchtete den Weg vor ihr, sie sah jedes Grasbüschel und jeden Stein. Nur noch ein paar Meter, dann nahm der Wald sie auf.
Er erwartete sie an der Brücke über das munter sprudelnde Bächlein. Wie immer stand er im Schatten der dicken Eiche. Als er sie bemerkte, trat er ins Mondlicht, stellte sich in die Mitte des Weges und breitete die Arme aus.
Mit einem leisen Jubelruf warf sie sich hinein und spürte beglückt, wie er sie fest umarmte und an seine Brust presste. Sein Kinn ruhte auf ihrem Scheitel und seine Hände strichen über ihren Rücken, wieder und wieder.
Sie atmete schnell, weil sie die letzten Schritte gerannt war. Auch ihre Arme hatten sich um ihn geschlungen, ihre Wange lag an seiner Brust und sie spürte den rauen Stoff seines Kittels darunter. Selig schloss sie die Augen und atmete seinen Duft ein. Er war hier und sie bei ihm. Sie hatten eine ganze Nacht lang Zeit.
Wie immer saßen sie am Wasser. Die Steilwand am Südufer ragte bedrohlich über ihnen auf, völlig kahl und fast senkrecht abfallend. Unter ihr schlummerte der tiefe See und der Mond schaukelte auf den kleinen Wellen, die der sanfte Nachtwind kräuselte.
Sein Arm lag um ihre Schulter und sie hatte den Kopf an seine gelehnt.
Sie saßen einfach nur nebeneinander, hielten sich bei der Hand und schwiegen. Stumm betrachteten sie das gleichmäßig zitternde Spiegelbild des Mondes vor sich, das nur ab und zu in ein groteskes Zerrbild seiner selbst verwandelt wurde, wenn ein Fisch aus den glasklaren Fluten schnellte und wieder zurückfiel. Nichts störte diese vollkommene Harmonie. Nicht das Brechen eines Zweiges im nächtlichen Wald, nicht der Ruf eines Kauzes, nichts das Fiepen eines kleinen Tieres, das sich ängstlich vor einem nächtlichen Räuber in Sicherheit brachte.
Als sie eine Weile gesessen hatten, begann sie zu erzählen. Ihr Leben bot nicht viel Aufregendes, aber er wollte alles wissen. Sein Blick ermunterte sie, immer weiterzusprechen. Und sie konnte ihm alles anvertrauen. Die Sorge um die kränkelnde Mutter genauso wie die kleinen Geheimnisse, die nur ihre Schwester kannte. Er erfuhr vom missglückten Kuchen und der gerissenen Wäscheleine, die die Arbeit eines ganzen Samstages zunichtegemacht hatte, vom neugeborenen Kälbchen und dem Tod der alten Sattlersfrau aus dem Dorf. Ihm wurde nie langweilig, ihr zuzuhören. Jede Kleinigkeit aus dem Dorf interessierte ihn und sie wusste das.
Er selbst sprach nie. Sie hatte sich daran gewöhnt. Bei den ersten Treffen war sie verzweifelt gewesen. Weinend hatte sie ihn angefleht, mit ihr zu reden. Aber ihre Tränen änderten nichts. Er schwieg. Also fand sie sich damit ab, dass sie als Einzige redete. Doch es war trotzdem ein Zwiegespräch, wenn auch auf etwas andere Art. Das Licht dieser hellen Nächte half ihr, seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Sie konnte deutlich erkennen, ob er lachte oder Mitgefühl auf seinen Zügen erschien, ob er zornig war oder traurig.
Als der Mond sich auf die Kronen der Bäume herabsenkte, wusste sie, dass es Zeit war. Er stand auf, wie immer zuerst, dann bot er ihr die Hand. Sie ergriff sie, kam auf die Füße, glättete umständlich ihr Kleid und strich dann mit beiden Händen über seine Brust, den Kopf tief gesenkt. Er sollte ihre Tränen nicht sehen, doch seine Hand legte sich unter ihr Kinn und hob es sanft, aber unnachgiebig an. Verzweifelt presste sie die Lider zusammen, um seinen traurigen Blick nicht sehen zu müssen. Doch er wartete stumm, bis sie die Augen öffnete, dann hob er die Hand, legte sie an ihre Wange und lächelte.
So stand er, bis ihre Tränen versiegt waren. Sie wusste, er wollte auch von ihr ein Lächeln sehen. Ein Lächeln zum Abschied, das für vier lange Wochen reichen musste. Und sie schenkte es ihm.
Er ergriff ihre Hand. Wie immer begleitete er sie bis zur Brücke. Dort umarmte er sie ein letztes Mal und wischte mit dem Daumen die letzten feuchten Spuren von ihren Wangen.
„Ich liebe dich, Stefan“, flüsterte sie, das Gesicht in den Stoff seines Kittels gepresst. „Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal.“
Er nickte, dann ließ er sie los und blieb im Schatten der dicken Eiche stehen.
Sie drehte sich um und ging. Und wie immer ließ sie ihre Hand über die Holztafel an dem Baum gleiten, die zum Gedenken an das furchtbare Unglück im Steinbruch angebracht worden war, bei dem ein Wassereinbruch die unteren Ebenen geflutet hatte. Siebzehn Männer hatten ihr Leben dabei verloren.
Stefan war der jüngste von ihnen gewesen.