Vaendur
Letztlich brach ein Balken unter der Last und der Skarne war frei. Mittlerweile war die Wache aus Althris eingetroffen und zückte die Speere und Schwerter, als das Biest, das sie alle um das Zweifache überragte, aus den Trümmern trat. Hätte Reynard zu diesem Zeitpunkt nicht unlängst ein Wort der Vernunft mit dem Hauptmann gewechselt, es wäre sicher zu einem Blutbad gekommen. Und während Vaendur in Ketten an zwei Ochsen gespannt wurde, leitete der alte Farmer die Aufräumarbeiten. Der hintere Teil des Gasthofes stand noch, größtenteils unbeschadet von den Flammen, die so schnell verschwunden, wie sie aufgekommen waren. Dort fand man eine Kiste und Vaendur musste nicht die Gespräche der anderen überhören um zu wissen, wem der Inhalt gehört. Die zarte Minznote im Duft verriet es ihm allemal.
„Ihr fragt Euch sicher, was nun mit Euch geschehen wird.“ Reynard trat an ihn heran, während in seinem Rücken emsige Geschäftigkeit herrschte. An seiner Seite lief ein hochgewachsener Mann, der nicht nur die Gesichtszüge des Alten, sondern wohl auch des Ausstrahlung geerbt hatte. Trotz dem Narbengeflecht am Hals wirkte er wie jemand, dem man zuhörte.
Vaendur hob den gehörnten Kopf zum verhangen Himmel und atmete tief ein und aus. „Ich gehe dorthin, wohin mich Olindir führt. Er weist meinen Weg und hat mich nie fehlgeleitet.“
Reynards kluge Augen schauten nachdenklich unter der breiten Krempe des Strohhutes hervor. „Wie Ihr meint, dennoch wird es wohl für eine Zeitlang Wisbald sein, der Euch den Weg weist. Die Ritter kamen aus Silberstadt und das ist Euer Ziel. Zusammen mit der Wache und einigen anderen Dingen. Ich würde Euch ja gern begleiten, aber…“ Er sah hinab auf seine krummen Beine und dann zu dem Stock, der ihn stützte. Schließlich fand sein Blick den Mann neben sich, als wäre der ihm erst jetzt aufgefallen. „Oh, darf ich vorstellen: mein Sohn, Therik. Ein Lobholdt durch und durch. Er wird Euch begleiten und mein Wort zu Adalrich, Herzog von Silberstadt tragen. Zusammen mit diesem Schreiben…“ Mit knotigen Finger holte er eine Schriftrolle hervor, welche ein blutrotes Siegel zierte. „Hier habe ich alles niedergeschrieben, was Ihr mir erzählt habt und meine Empfehlung. Das Wort eines Lobholdt fand schon immer Gehör in der Stadt des Silbers.“
„Habt Dank“, antwortete Vaendur mit einem wohlwollenden Nicken. „Ihr habt mich gut behandelt und das soll nie vergessen werden. Saga segne Euch.“
„Ich muss Euch danken“, erwiderte Reynard leicht beschämt. „Unser kleines Gespräch war sehr aufschlussreich und ich stehe tief in Eurer Schuld.“
Somit trennten sich ihre Wege. Auf einen Karren wurden die Kiste mit Mavens Hab und Gut, sowie eine weitere mit dem Gold, das ihr die Silberritter für ihre Dienste anbieten wollten, geladen. Dazu gesellten sich die Leichen des Ritters Cedric und des Mannes in der Robe.
Mit Wisbald an der Spitze schlugen sie schließlich ihren Weg gen Silberstadt ein.
Bis zu drei Tagen könne die Reise andauern, bei schlechtem Wetter oder lahmen Pferden. Wisbald brüstete sich damit, die Strecke einst in nur einem Tag bestritten zu haben. Allgemein ritt er tagsüber mit recht stolz geschwellter Brust, während er des Nachts sein Zelt so weit weg von Vaendur aufschlug, wie es ihm möglich war.
Der Mann war von stämmigem Wuchs. Kräftig zwar, dennoch machten ihn der wohl übermäßige Genuss von Schweinshaxen und dem örtlichen Gebräu weich – ließen seine Form auseinandergehen. Sein Hals erinnerte an einen breiten Hautlappen, der vom Kinn hinabhing, ähnlich eines Truthahns. Und stets stellte sein pockennarbiges Gesicht einen leicht dümmlichen Ausdruck zur Schau.
Knapp zwei Tage waren sie unterwegs und zogen die Blicke der Reisenden und Händler auf sich, denen sie auf dem Weg begegneten. In ihrer ersten Nacht machten sie Rast im einzigen Ort auf der Strecke. Die Leute scharrten sich um ihre Gruppe mit großen Augen und weiten Mündern. In herrischem Ton versuchte der Hauptmann sie zur Räson zu bringen, doch er genoss die Aufmerksamkeit sichtlich. Vaendur verbrachte die Nacht an eine verfallene Turmruine gekettet, ein Stück außerhalb des Ortes, denn er war den Dörflern nicht geheuer. Bald schon gesellte sich eine kleine Herde Ziegen zu ihm, die sich im weichen Gras um den Turm schlafen legten. Ihr Hirte folgte ihnen, bis er der massigen Silhouette Vaendurs gewahr wurde. Fortan an hielt er die Nacht über respektvollen Abstand.
Dem Skarne war die Gesellschaft der Tiere ganz recht. Seine Heimat, die Nebellande, waren arm an Pflanzen und Tieren und es waren einst sehnige Bergziegen gewesen, deren Milch ihn als Frischling genährt hatte.
Die Nacht war sternenklar und es hing ein strahlender Mond am Firmament. Gekettet an die bröckligen Mauern und umringt von den ruhenden Tieren reckte Vaendur den Kopf gen Himmel und gönnte sich einen Moment des Friedens.
Jemand näherte sich.
Mit etwas Abstand hatten drei von Wisbalds Männern ihr Lager aufgeschlagen um über den Skarnen zu wachen. Immer wieder warfen sie verstohlene Blicke zu ihm herüber und tuschelten über das Feuer hinweg etwas vom Schrecken von Rhön und Nassfurt und über das Verspeisen von Kindern.
Einige Monate war Vaendur in den Klingenhügeln untergetaucht nachdem er den Sklavenhändlern entkommen war. Und er wäre dort auch länger geblieben, wären da nicht diese Kinder gewesen…
Als die Wachleute den Neuankömmling schließlich bemerkten, war der junge Lobholdt bereits in den Feuerschein getreten. Er präsentierte den Männern Fleisch und Brot auf einem Holztablett, was sie begierig annahmen. Dazu einen vollen Lehmkrug. Dem Beutel an seinem Gürtel schenkte sie daraufhin keine Beachtung mehr. Sie wechselten ein paar Worte, dann ließ Therik sie allein und schritt durchs Gras auf Vaendur zu. Die Ziegen, an denen er vorbeikam, hoben kurz die Köpfe und schenkten ihm ab und an mal ein verschlafendes Meckern.
„Wie ich sehe“, begann der Spross Reynards und sah sich im Halbdunkel um, „habt Ihr ein paar neue Freunde gefunden.“
„Sie wissen, dass ich keine Gefahr bin“, antwortete Vaendur, der sich mittlerweile wieder wesentlich sicherer mit seiner Stimme fühlte. „Ich glaube manchmal, ihnen näher zu sein als euch.“
Die Blicke des jungen Mannes wanderten respektzollend zu den gewunden Hörner hinauf. „Da könntet Ihr Recht haben“, meinte er halblaut und senkte den Kopf sogleich wieder. Etwas verlegen nestelte er an seinem Gurt. „Ich… ich dachte, Ihr wärt vielleicht hungrig. Das konnte ich vom Bankett retten. Es ist nicht viel, aber… Die Leute im Ort veranstalten ein regelrechtes Fest und tafeln ihre besten Speisen auf. Und Wisbald, dieser…“ Er murmelte einen Ausdruck vor sich hin, den Vaendur noch nie gehört hatte, der aber keineswegs nett klang. „Jedenfalls spielt er sich zum Geschichtenerzähler und Held auf. Als hätte er Euch gefangen und so…“ Ein wenig verloren stand er da, mit dem Beutel in der ausgestreckten Hand und schien etwas zu erwarten. Vaendur wusste nicht, was von ihm verlangt wurde, doch der Duft von gebratenem Huhn und frischem Brot lockte ihn, sodass er sich schließlich zu Boden kniete. Ohne, dass es weiterer Worte bedurfte, schüttete Therik den Inhalt seines Beutel in die offene Pranke des Skarnen.
„Nehmt auch“, bot das Biest an und zusammen aßen sie. Nachdem sie fertig waren, erkundigte sich Therik nach der Verletzung am Arm Vaendurs. Dort, wo Storges Pfeil Sehnen und Fleisch durchdrungen hatte. Die Wunde war mit einer Salbe aus den Beständen der Lobholdts behandelt worden und heilte gut. Nun war es an der Reihe des Skarnen, Fragen zu stellen.
„Als ich gefangen war und in einem Käfig saß, hörte ich die Männer in den glänzenden Rüstungen reden. Sie sprachen über einen Nebel und eine Gilde jemanden wie mich gebrauchen könnte. Wisst Ihr etwas darüber? Was ist dieser Nebel und warum fürchtet man sich davor?“
Therik hockte im Schneidersitz im Gras und streichelte gedankenverloren eine Ziege. Am Lagerfeuer lachten die Männer.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht genau. Seit Tagen, wenn nicht gar Wochen vernehmen wir die Berichte über den Nebel und wie er sich im Nordwesten ausbreitet. Erst nahm er Wälder und Landstriche ein, zuletzt war zu hören, dass Horknir selbst in den grauen Schwaden verschwunden sein soll. Es ist wahrlich seltsam.“ Um Worte ringend kraulte er das weiche Fell des Bocks. Vaendur sah keinen Grund zur Eile und ließ ihn gewähren.
Schließlich: „Man sagt, dass niemand, der den Nebel je betreten, ihn auch wieder verlassen hat. Die Wächter Arenors, unsere hohen Magier, suchen fieberhaft eine Lösung und vielleicht… haben sie endlich eine gefunden.“
Von nun an ritt Therik auf seinem Fuchs tagsüber neben Vaendur her, der weiter an das Ochsengespann gekettet war. Sie sprachen über viele Dinge. Auch über die Narbe, die sich vom Schlüsselbein über den Hals bis zum linken Ohr des jungen Lobholdts zog. Statt sie schamvoll zu verbergen, schien er sie wie einen Schild vor sich herzutragen.
„Mein Vater hat mich gerettet. Ich war damals nicht einmal groß genug um über die Tischkante zu lugen. Es war der Ofen, sagten sie mir später. Ist mit irgendwas verstopft gewesen, die Hitze staute sich und schließlich…“
„Euer Vater ist ein tapferer Mann“, durchbrach Vaendur das Schweigen nach einer Weile. Therik nickte nachdenklich. Im Gegenzug wollte er wissen, wie der Skarne sein rechtes Horn verloren hatte und bekam somit die Geschichte vom König Thorgrim zu hören, der vor Jahrzehnten die Nordvölker vereint hatte um in den Krieg gegen die Skarne zu ziehen. In der Schlacht um die Nebellande haben unzählige ihr Leben verloren.
„Er stand über mir“, erinnerte sich Vaendur noch immer schaudernd. „Zusammen hatten sie mich in die Knie gezwungen und dann baute sich dieser Mann vor mir auf. Ein wahrer Hüne für einen Menschen mit der Entschlossenheit und Inbrunst eines Halbgottes. Er hob die in blauen Flammen stehende Axt und ließ sie brüllend auf mich niederschmettern. Seit jener Zeit steht der Meerschaumthron leer.“
Vaendur kannte viele derlei Geschichten aus den Jahrhunderten seines Lebens und Therik war begierig sie alle zu erfahren. Bis spät in die Nacht lauschte er noch den Worten des Biests und schlief dann neben ihm ein.
Vaendur selbst schwelgte in Erinnerungen und sah sich einmal mehr an den Klippen seiner Heimat mit dem unnachgiebigen Mahlstrom vor sich, der die See aufwühlte. Und neben ihm, nur wenige Schritte entfernt, stand der große Ebermann, Ardan Torc. Sein Skål. Nie würde Vaendur den betrübten Blick vergessen, mit dem Ardan ihn aus den kleinen schwarzen Augen angesehen hatte, bevor er starb.
Kurz nach dem Morgengrauen des zweiten Tages erschien Silberstadt am Horizont.