Eine Welt ohne Namen - Das 3. Tor

Es gibt 123 Antworten in diesem Thema, welches 21.661 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (12. Mai 2024 um 16:27) ist von Dinteyra.

  • Dinteyra tatsächlich hatte ich eigentlich an alle Zeile gedacht, damit ich richtig wieder drin bin und alles auf dem Schirm habe uns vernünftig mit viel Hintergrund Infos arbeiten und kommentieren kann. Vielleicht hilft dir das dann ja auch in die Geschichte wieder rein zu kommen und motiviert dich zum weiter schreiben. Wenn du diese Geschichte wirklich abbrechen solltest würde ich es halt total schade finden weil hier ja auch schon ungefähr viel Arbeit und auch wirklich viel Fantasie drin steckt und ich die Geschichte wirklich immer sehr gerne gelesen habe und mich immer super in die Figuren einfühlen konnte.... Wie gesagt dauer es aber noch nen bisschen bis ich hier zur Geschichte richtig kommentiere aber ich gebe mir Mühe das dass nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt, versprochen!


    xoxo

    Kisa

  • Kisa ,

    dann halte mich gerne auf dem Laufenden, wo du so bist. Ich meinte übrigens gar nicht, dass ich hier abbrechen will. Es geht eher darum, dass ich in den letzten Jahren einfach nicht mehr so zum Schreiben komme. Dann klappt es mal ein paar Wochen und anschließend monatelang gar nicht. Deshalb möchte ich hier nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Gerade bin ich aber sehr motiviert und habe auch wieder angefangen, die Geschichte weiter zu spinnen, über das hinaus, was ich mir schon ausgedacht hatte. Es macht Spaß und tut gut. Und die nächsten paar Kapitel sind sowieso schon länger fertig, müssen aber weiter überarbeitet werden.

    LG Din


    Er folgte Keon durch den Wald von Ilwera, durch das Tal der Seelen und am Fluss Teljorok entlang. Immer geduldig auf eine Gelegenheit wartend. Auf den Moment, zuzuschlagen.
    Eines Abends hielt Keon an einer kleinen Bucht am Flussufer. Er entzündete ein Feuer, briet ein paar Maiskolben und Nunas und unterhielt sich leise mit Sariphas. Sie sprachen über Gut und Böse, über Recht und Unrecht, über Licht und Finsternis – wie es Feen nunmal gerne tun.
    Ela-Olin stand unter einer Weide und beobachtete sie, bis er im letzten Licht des Tages etwas anderes sah: Einige hundert Meter entfernt, über den Wipfeln der Bäume, stieg Rauch auf.
    Hinterhältigen Gedanken folgend machte er sich sofort auf den Weg dorthin und gelangte schließlich auf eine Lichtung. Eine Gruppe Menschen saß dort am Feuer, sprach mit leisen Stimmen, unterbrochen von manch verhaltenem Lachen. Ihren Gesichtern sah man den tiefen Kummer an, der ihre Seelen überschattete und der Hunger stand in ihren Augen. Es waren dürre, unterernährte Gestalten, besonders die Kinder. Ela-Olin sah seine Chance und trat aus dem Schatten der Bäume heraus.
    Die Leute blickten erschrocken auf – Angst in den Gesichtern. Ein paar standen abwehrbereit auf.
    ‚Ich bin nur ein armer Wanderer’, rief Ela-Olin mit erhoben Händen. ‚Bitte helft mir. Ich bin so hungrig. Bitte, ich flehe euch an: gebt mir zu essen.’
    ‚Wir haben selbst nichts’, sagten die Leute am Feuer.
    Ela-Olin sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Er begann, mit hoher Stimme zu jammern und eine wirre Geschichte zu erzählen. Von Räubern, die ihm alles genommen hatten, außer der Kleidung, die er am Leib trug. Von seinen Kindern, die vor seinen Augen getötet wurden. Von seiner Frau, die verschleppt worden war. Und von dem Essen, das er bei sich getragen hatte, und das er eigentlich den Armen und Bedürftigen hatte geben wollen.
    Es war eine Show, aber es war eine gute Show. Vielleicht ein wenig übertrieben, doch die Menschen am Feuer waren selbst erst vor kurzem ausgeraubt worden und ihre Wut war schnell entfacht. Sie beschimpften Ela-Olins Peiniger und verfluchten den Krieg.
    ‚Einer von ihnen ist noch in der Nähe’, sagte Ela-Olin schließlich. ‚Er hat sich von den anderen getrennt, weil er in der Ferne einen Hof gesehen hat und seine Grausamkeiten dort fortsetzen will.’
    Die Leute am Feuer verfluchten diesen einen und drückten ihre Besorgnis aus. ‚Sollte man die Bewohner des Hofes nicht warnen?’, fragten sie.
    ‚Wir stoppen den Kerl!’, rief plötzlich einer von ihnen. ‚Er wird bereuen, was er getan hat.’
    Viele stimmten ihm zu und prompt standen sechs wütende Männer und drei Frauen auf, um es in die Tat umzusetzen.
    Keon saß nichts ahnend am Feuer. Doch als er in der Ferne die Menschen auf sich zukommen sah, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Sie trugen eine Spannung mit sich, die nichts Gutes verheißen konnte.
    Er stand langsam auf und trat ihnen entgegen. Die leeren Handflächen streckte er nach vorne aus und mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht versuchte er, seinen guten Willen zu signalisieren.
    Doch die Gruppe wurde nicht langsamer, sie schien eher noch an Geschwindigkeit zuzunehmen, als sie ihn sah, und die Menschen fingen wütend an zu brüllen. Sie beschimpfen ihn als Mörder, als Räuber und Plünderer. Als Kinderschlächter.
    Keon wusste nicht, wie er reagieren sollte. Hier lag offensichtlich eine Verwechslung vor.
    ‚Ich bin nicht der, den ihr sucht!’, rief er, doch gegen das Geschrei der Gruppe kam er nicht an.
    Er zog sein Schwert, doch auch das vermochte nicht, sie auszubremsen.
    Er betrachtete ihre Waffen. Sie trugen Messer und Schwerter, sahen allerdings nicht so aus, als wären sie in ihrem Gebrauch geübt. Doch sie waren zu neunt und zu allem bereit, während er sie lieber nicht verletzen wollte. Nein, zu zehnt. Keon erstarrte, als er die Schattengestalt im Hintergrund erkannte. Es war Ela-Olin. Mit einem Schlag wurde ihm klar, was hier vor sich ging.
    ‚Ich habe dich vor ihm gewarnt’, sagte Sariphas mit piepsiger Stimme. Der Feenmann war hervorgekommen und schwirrte neben Keons Ohr auf der Stelle.
    Und was der Anblick von Keons Waffe nicht vermocht hatte, das vermochte der Anblick dieses zarten Geschöpfes. Die Gruppe blieb auf einen Schlag stehen und ihr Geschrei verstummte.
    ‚Was ist los?’, zischte Ela-Olin, ‚warum tötet ihr ihn nicht?’
    ‚Das ist eine Fee’, sagte einer der Männer.
    Ela-Olin musste ihm zustimmen. ‚Na und?’
    ‚Eine Fee würde niemals einen Räuber und Mörder begleiten’, erklärte einer der Männer.
    ‚Er war auch nicht bei den Räubern, die uns überfallen haben’, sagte eine der Frauen. ‚Sein Gesicht kommt mir unbekannt vor. Ist das wirklich der Mann, der dich überfallen hat?’, fragte sie Ela-Olin.
    Ela-Olin wusste, dass sie ihm nicht glauben würden, wenn er ja sagte. ‚Ich bin mir nicht sicher’, sagte er deshalb.
    Die Männer und Frauen steckten ihre Waffen weg und auch Keon senkte sein Schwert.
    ‚Verzeiht, Wanderer’, sagten sie. ‚Wir hatten dich für Teil einer schlimmen Räuberbande gehalten. Aber dank der Fee in deiner Begleitung wissen wir, dass du ein reines Herz hast. Wenn du möchtest, so verbringe doch die Nacht mit uns. Wir haben zwar nichts zu Essen, aber wir haben Wasser und den Schutz einer großen Gruppe.’
    Keon lehnte dankend ab. Dann sah er Ela-Olin an. In den Augen des unheimlichen Fremden erkannte er Hass und Mordgier. Keon hatte den Eindruck, dass er sie alle am liebsten vernichtet hätte.
    Doch Ela-Olin tat nichts davon. Er kehrte ihnen bloß den Rücken zu und verschwand im Wald.
    Keon wartete, bis auch die anderen Leute seinen Lagerplatz verlassen hatten, dann packte er seine Sachen und machte sich wieder auf den Weg. Er wollte die Nacht nicht mehr hier verbringen. Nun war er gewarnt. Er wusste, dass Ela-Olin ihm Schaden zufügen wollte.
    Der übrige Teil der Reise verlief recht ruhig. Ela-Olin versuchte noch das eine oder andere Mal mit Arg und Tücke Keon um sein Leben zu bringen, doch er und Sariphas gingen den Anschlägen vorsichtig aus dem Weg und meisterten jede Gefahr. Schließlich erreichten sie Chrarimato. Ihr Hilferuf wurde erhört und die Stadt sandte eine große Armee aus um Talingo von den Belagerern zu befreien.
    Ela-Olin stand auf einer Anhöhe vor der Stadt. Bis hierher war er Keon gefolgt. Als er nun die Armee sah, die sich vor den Toren Chrarimatos versammelte, wurde er wütend. Das Keon ihm so lange entkommen war und nun die Hilfe bekommen sollte, die er suchte, dass Talingo nicht untergehen sondern gerettet werden sollte ... all das erfüllte ihn mit grenzenlosem Zorn. Und er ging und bat die Nachthexe von Pal um Hilfe.“
    „Oh, die Hexe von Pal“, rief Merin plötzlich aus. „Von der hab ich gehört. Sie war die mächtigste Hexe aller Zeiten. Angeblich konnte sie - “
    „Sie konnte alles“, unterbrach Elzo ihn. „Was sie wünschte, das ging in Erfüllung. Und sie war eine sehr alte Freundin von Ela-Olin. Sie erfüllte ihm gerne seinen Wunsch.“
    „Welchen Wunsch?“, fragte Jonah. „Was hat er sich gewünscht?“
    „Er wünschte sich, dass die Armee von Chrarimato niemals Talingo erreichen würde. Und die Nachthexe von Pal verneigte sich vor ihm, spuckte auf den Boden und begann, in ihrer eigenen alten Sprache zu singen. Und sie riss diese Welt auseinander. Genau in der Mitte zwischen Chrarimato und Talingo stampfte sie ein Gebirge aus der Erde, dass sich durch die ganze Welt zog. Und nie wieder sollte es jemandem aus einer der Städte gelingen, die andere Stadt zu erreichen. Und der Glutkönig verwandelte Talingo in einen Berg aus Asche.
    In dem Moment, als das Gebirge entstand, wurde das Gleichgewicht dieser Welt so sehr erschüttert, dass Sariphas und mit ihm die Hälfte seiner Artgenossen starben. Feen sind zarte, empfindsame Wesen. Einer solchen Erschütterung hatten sie nichts entgegenzusetzen.
    Keon weinte bitterlich um seinen treuen Freund und begrub ihn unter einem Magnolienbaum. Er bemerkte, dass er beobachtet wurde. Auf einem Hügel stand Ela-Olin und sah ihm schweigend zu.
    Nachdem die Beerdigung vollendet war, ging Keon zu ihm.
    ‚Das hier ist Euer Werk’, sagte er. ‚Ihr habt Sariphas getötet und Talingo ins Verderben gestürzt.’
    ‚Ich gebe es zu und es erfüllt mich mit Freude. Nur Euch konnte ich nicht vernichten. Was werdet Ihr jetzt tun?’, fragte Ela-Olin.
    ‚Sariphas ist tot – von nun an soll die Einsamkeit mein Begleiter sein. Ich werde mir einen ruhigen Ort suchen und dort mein Leben verbringen. Ich werde um meinen Freund und meine Stadt trauern.’
    ‚Dann trennen sich unsere Wege hier vorerst’, sagte Ela-Olin. ‚Es war mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen. Und ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen.’
    ‚Dazu wird es nicht kommen. Ich will Euch niemals wieder sehen.’
    ‚Oh, ich fürchte, das wird sich nicht vermeiden lassen.‘
    ‚Warum?‘
    ‚Ich bin Ela-Olin. Ich bin der Tod. Und niemand entkommt dem Tod.’“
    Die letzten Worte sprach Elzo mit einer rauen, unheilvollen Stimme, die es schaffte, sie alle erschaudern zu lassen. Dann schwieg er und sie alle starrten ins Feuer.
    „Das Ende ist unheimlich“, sagte Merin schließlich.
    Idela zuckte mit den Schultern. „Ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen“, murrte sie. „Und ich hätte gerne mehr über Keons Reise gehört.“
    „So geht eben die Geschichte“, knurrte Elzo. „Genau so ist sie mir selbst vor vielen Jahren von einem guten Freund erzählt worden.“
    „Ela-Olin war also der Tod?“, sagte Karim.
    Elzo nickte. „So sagt man. Ela-Olin. Der Name des Todes in seiner menschlichen Gestalt.“
    „Glaubt ihr, er läuft wirklich irgendwo herum?“, fragte Karim.
    „Natürlich nicht“, schnaubte Idela, „es ist eine Geschichte. Das Große Gebirge wurde auch nicht von einer Hexe erschaffen.“
    „Sicher?“, fragte Jonah. „Ich habe schon von der Nachthexe gehört.“
    „Ganz sicher. Gebirge entstehen in einem Zeitraum von Milliarden von Jahren durch Verschiebungen des Untergrundes. Nicht indem eine alte Frau auf den Boden spuckt. Das Große Gebirge gibt es schon länger als die Menschheit.“
    „Könntet ihr aufhören, meine Geschichte zu verderben?“, fragte Elzo. „Ich hatte eigentlich gehofft, dass ihr euch gruselt, nicht dass ihr euch zankt.“ Doch er sah nicht allzu verärgert aus, tatsächlich schmunzelte er.
    „Wir zanken ja gar nicht“, murmelte Jonah.
    Merin spießte ein Stück Brot auf einen Ast und hielt es über das Feuer. „In dieser Welt gibt es viele Dinge“, sagte er. „Und wer weiß. Vielleicht wandelt auch irgendwo der Tod unter uns.“

  • dann halte mich gerne auf dem Laufenden, wo du so bist. Ich meinte übrigens gar nicht, dass ich hier abbrechen will. Es geht eher darum, dass ich in den letzten Jahren einfach nicht mehr so zum Schreiben komme. Dann klappt es mal ein paar Wochen und anschließend monatelang gar nicht. Deshalb möchte ich hier nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Gerade bin ich aber sehr motiviert und habe auch wieder angefangen, die Geschichte weiter zu spinnen, über das hinaus, was ich mir schon ausgedacht hatte. Es macht Spaß und tut gut. Und die nächsten paar Kapitel sind sowieso schon länger fertig, müssen aber weiter überarbeitet werden.

    Na, dann umso besser, wenn du nicht daran denkst die Geschichte abzubrechen :)
    Ja, das zeitproblem zum schreiben kenne ich auch und mir geht es da ganz genauso wie dir. Meistens komme ich in meinem Urlaub immer super zum Schreiben aber zwischendrin.... naja eher mäßig.
    Ich selbst bin gerade dabei meine eine Geschichte zu überarbeiten, komme da aber zeitlich tatsächlich auch nicht so hin, wie ich es gerne hätte und habe tatsächlich nebenbei noch ein neues Projekt angefangen, was aber noch in den Kinderschuhen steckt und noch nicht viel inhalt hat, aber an dem ich derzeit tatsächlich auch mehr Lust habe zu schreiben.
    Ich werde dich auf allen Fälle auf dem Laufenden halten :D

    xoxo
    Kisa

  • So, dann geht es hier mal wieder mit meinem Lieblingstrio weiter. Falls ich hier Blödsinn über Bolivien schreibe, weist mich gerne darauf hin. Ich habe zwar etwas recherchiert, war aber noch nie dort. ;)


    Weltreise


    Die Autofahrt zum nächsten Flughafen erledigte Kandrajimo beinahe und da sich niemand vorstellen konnte, dass er in dem Zustand einen Interkontinentalflug überstehen würde, geschweige denn ins Flugzeug gelassen werden würde, blieben sie noch ein paar Tage in einem Hotel in der Stadt. Das gab Jonathan Niber auch noch ein wenig Zeit, sich an diese Welt und den Gedanken des bevorstehenden Fluges zu gewöhnen. Während Kandrajimo den ganzen Tag im Bett blieb und sich erholte, schleifte Tabea Jonathan in die Stadt und brachte ihm bei, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Sie war damit tatsächlich erfolgreich, auch wenn es noch seine Zeit brauchen würde, bis das Chaos einer Großstadt ihm keine Angst mehr einjagen würde.
    Abends saß Tabea mit einem nagelneuen Laptop auf ihrem Bett und durchsuchte das Internet nach Informationen über den Standort des Tores. Kandrajimo beobachtete sie dabei stumm. Das Internet war eines der wenigen Dinge in dieser Welt, mit dem er so wenig anfangen konnte, wie Jonathan Niber mit Telefonen. Tabea hatte zunächst Informationen zu Bolivien gesucht und dann versucht, das Gebiet, in dem sich das Tor befand, ein wenig einzugrenzen. Es handelte sich um einen sehr abgeschiedenen Teil Boliviens, mitten im tropischen Regenwald. Das wunderte weder Tabea noch Kandrajimo, denn wäre das Tor an einem bevölkerten Ort gewesen, hätte man es bereits entdeckt. Tabea grenzte mithilfe von MacLyarks Tagebüchern die Position etwas ein und suchte dann nach Legenden, die möglicherweise das Tor erwähnten. Ohne Erfolg, sie würden es in Bolivien noch einmal versuchen, indem sie die Einheimischen nach Geschichten und Gerüchten fragten. Dann installierte sie ein Programm, mit dem sie die Landschaft von oben betrachten konnte, wie ein Vogel. Kandrajimo war fasziniert davon. Gemeinsam mit ihr suchte er das Gebiet mit den Augen ab, aber auch damit hatte sie keinen Erfolg. Sie sahen nichts als Bäume und besonders scharf war das Bild auch nicht.
    „Du kannst mir nicht zufällig irgendwelche Spionage-Software besorgen?“, fragte sie Kandrajimo schließlich. „Irgendwas, mit dem man Zugriff auf Satelliten hat?“
    „Frag mal in Norwegen nach“, meinte Kandrajimo. „Aber ich sehe deine Chancen als nicht so groß an, die meisten Länder mit Spionagesatelliten wissen nichts von unserer Welt und haben somit auch nur wenig Kontakt mit uns.“
    „Warum nicht?“, fragte Tabea.
    „Zu paranoid. Außerdem würden die die Wahrheit doch gar nicht verkraften.“


    Kandrajimo schmerzte noch immer jede Bewegung. Trotzdem quälte er sich am Abend des zweiten Tages aus dem Bett und sagte Tabea, sie solle einen Flug buchen. Beim Gedanken an das Fliegen war ihm eigentlich nicht besonders wohl. Er war noch nie mit einem Flugzeug geflogen und der Gedanke behagte ihm nicht. Halbdrachen – jederzeit, aber Flugzeuge? Maschinen? Doch an eine Verschiebung wagte er in seinem Zustand nicht einmal zu denken. Und sie mussten endlich los. Wie lange war es her, dass Maja aufgebrochen war? Er zählte nach, es waren jetzt über zwei Wochen. Und seitdem hatten sie nichts von ihr gehört. Nichts.
    Wäre Kandrajimo ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er sich eingestanden, dass sie keine Chance hatten, Maja wieder zu finden. Das Mädchen war auf sich allein gestellt. Aber Kandrajimo wollte sich das nicht eingestehen und er wollte alles geben, um Maja zu retten. Tabea war da schon nüchterner eingestellt. Sie hielt sich aber zurück und sagte nicht, was sie dachte. Stattdessen arbeitete sie konzentriert daran, die kleine Chance, die sie hatten, zu nutzen. Jonathan Niber hielt mit seiner Meinung dagegen nicht hinterm Berg. Für ihn war die Suche nach Maja vergebens, es ging ihm nur um das Auffinden eines neuen Weltentores.
    Tabea buchte einen zeitnahen, jedoch fürchterlich teuren und sehr langen Flug nach Bolivien und sie brachen früh am Morgen auf.
    Sie alle drei trugen Schwerter bei sich und es war nicht ganz unproblematisch, sie durch die Gepäckkontrolle zu bekommen, aber mit einer Kombination aus Zauberkreide und den Amuletten der Kamiraen gelang es.
    In der Wartehalle klebte Jonathan Niber geradezu an der Fensterscheibe und sah den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Er war beinahe wie ein kleines Kind.
    „Hat er das beim letzten Mal auch gemacht?“, fragte Kandrajimo Tabea.
    „Nein, da saß er herum wie ein paralysiertes Eichhörnchen.“
    „Scheint langsam aufzutauen, der Gute.“
    Tabea lachte, ohne von ihrer Strickarbeit aufzusehen. Ja genau. Tabea strickte. Sie hatte sich außerdem das Haar zu einem Knoten gebunden sowie einen weiten, grauen Rock und eine beigefarbene Jacke überzogen. Es war kaum zu glauben, was diese Kleidung aus ihr machte. Plötzlich sah sie so alt aus. Tabea hatte ein altersloses Gesicht, aber von ihrem Wesen und ihrer Dynamik her hatte sie immer so jung auf Kandrajimo gewirkt. Und jetzt sah sie wie eine alte Oma aus, wenn auch nicht annähernd so alt, wie sie wirklich war. Kandrajimo betrachtete sie. Sie war ein seltsamer Mensch. Und sie konnte sich wirklich gut tarnen.
    Er kaufte sich eine Zeitung, vergrub die Nase darin und versuchte, den absolut unscheinbaren Normalbürger zu mimen.
    „Welche Sprache spricht man eigentlich in Bolivien?“, fragte er irgendwann. „Bolivianisch? Bolivisch?“
    „Spanisch“, antwortete Tabea. „Unter anderem.“
    „Oh. Und, sprichst du Spanisch?“
    „Ja.“
    Warum fragte er überhaupt. Tabea sprach viele Sprachen. In all den Jahren, die sie lebte, hatte sie viel Zeit gehabt, sie zu lernen.
    Ihr Flug hatte Verspätung und Kandrajimo nickte auf seinem Sitz ein. Dann, zwei Stunden nach Plan, ging es endlich los. Der Start tat ihm gar nicht gut, er verkrampfte sich und bekam stechende Schmerzen im Kopf und in der Brust. Doch als sie erst einmal in der Luft waren ging es ihm wieder besser und er nutzte den fast 20-stündigen Flug (Tabea hatte einfach keinen schnelleren bekommen können), um sich zu erholen. Zwei Mal mussten sie den Flieger wechseln, dann kamen sie endlich an.
    Als sie aus dem Flughafen traten, stand bereits ein Auto für sie bereit. Tabea hatte offenbar an alles gedacht. Es war ein altes, etwas rostiges und gut für das Gelände geeignetes Auto. Mehr konnte Kandrajimo nicht darüber sagen, er hatte keine Ahnung von Automarken. Na ja, er konnte noch sagen, dass es grün war.
    Es war recht kühl und Kandrajimo war leicht schwindelig. Er lehnte sich gegen das Auto. Tabea beobachtete ihn, offensichtlich besorgt.
    „Geht es?“, fragte sie.
    „Mhm. Kann es sein, dass die Luft hier komisch ist?“
    „Möglich. Wir sind in 4100 Metern Höhe. Das hier ist der höchstgelegene internationale Flughafen der Welt.“
    „Aha“, nuschelte Kandrajimo. Er hatte das Bedürfnis, sich sofort hier weg zu verschieben, vielleicht an die Norwegische Küste. Oder irgendwohin, wo ihn ein warmer Kamin erwartete.
    „Warum ist es so kalt?“, fragte er.
    „Wie gesagt, wir sind sehr weit oben“, erklärte Tabea. „Außerdem befinden wir uns auf der Südhalbkugel der Erde. Hier ist gerade Winter.“
    „Wie, hier ist Winter?“, fragte Niber. „Wie kann es hier Winter sein?“
    Tabea seufzte, öffnete die Autotür und setzte sich auf den Fahrersitz. „Steigt ein, ihr beiden. Kandrajimo, du kannst schlafen, während ich deinem Boss Nachhilfe in Erdkunde gebe.“
    „Er ist nicht mein Boss, zumindest nicht in dem Sinne. Wir Kamiraen sind gleichberechtigt, das solltest du am besten wissen, Tabea. Und sei nicht zu streng mit ihm, woher soll er wissen, dass hier Winter ist? In unserer Welt ist überall immer die gleiche Jahreszeit.“

    Die Landschaft, durch die sie fuhren, war zunächst nicht besonders spektakulär, eher trostlos und karg, auch wenn der Blick auf La Paz hinab einfach nur umwerfend war. Die Stadt lag in einem Canyon 400 Meter unterhalb des Flughafens. Über ihr, aber noch unter den Betrachtern, schwebten flauschige Wolken. Der Anblick konnte einem geradezu den Atem rauben.
    Sie brauchten fast drei Tage, um das Gebiet, in dem Tabea das Tor vermutete, zu erreichen. Es lag östlich der Anden und hier sah die Landschaft schon besser aus. Hauptsächlich bestand sie aus stark bewaldeten, sehr steilen Bergen. Die Temperaturen wurden wärmer und die Luft feuchter. Die Vegetation wandelte sich zu einem tropischen Wald. Die Straßen führten abenteuerlich nahe am Abgrund entlang. Kandrajimo und Niber konnten beide kaum hinsehen.
    Doch jetzt ging die Suche erst richtig los. Sie zogen von Ort zu Ort und fragten nach den typischen Anzeichen eines Weltentores. Tabea übernahm die Befragungen der Ortsansässigen, denn sie war die einzige, die sich mit ihnen verständigen konnte. Sie fragte nach Legenden über andere Welten oder ähnlichem. Sie fragte, ob es irgendwelche rätselhaft Verschwundenen gab, oder, im Gegenteil, ob Leute hier unvermittelt aufgetaucht waren, die nicht hierher passen zu schienen und sich beim Anblick ganz gewöhnlicher Dinge, wie zum Beispiel Autos, irgendwie unnormal verhielten.
    „So wie er?“, fragte ein Tankstellenbesitzer sie irgendwann und zeigte auf Niber. Er umkreiste gerade staunend die Zapfsäule. „Ehrlich gesagt finde ich euch alle etwas seltsam.“