Es ist wieder einmal soweit.
Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind, damit könnte ich sehr gut leben, sondern unausweichlich damit auch die Weihnachtszeit.
Ich lebe seit ein paar Jahren in New York und ich vermute es gibt auch andere Städte auf der Welt, die sich zu Weihnachten aufführen, als wären plötzlich alle durchgedreht, aber ich wette, wir liegen unter den Top Fünf. Überall tauchen plötzlich Lichterketten auf und damit meine ich nicht ein paar geschmackvoll platzierte hier und da. Ich meine, es findet die Invasion der Lichterketten statt. Doch sie kommen nicht alleine. Im Gefolge haben sie künstliche Tannenzweige, künstliche Fichtenzapfen, künstlichen Schnee, glänzende Kugeln in allen möglichen Farben und auf einmal riecht es überall nach Apfel und Zimt.
Versteht mich recht, ich bin kein Griesgram. Doch, wirklich, ich kann Spaß haben und habe sogar eine (ganz) kleine romantische Ader. Aber wenn ich schon direkt nach Halloween pausenlos von Whams Last Christmas berieselt werde, von irgendwoher Weihnachtsglöckchen andeuten, es käme gleich ein Schlitten um die Ecke gerauscht, werde ich etwas unleidlich. Dann werde ich an jeder Ecke von einem pausbäckigen Weihnachtsmann angegrinst, als hätte er mir gerade einen schmutzigen Witz erzählt, den ich leider nicht kapiert habe. Und als ob das nicht genug wäre, schaut mich die Verkäuferin hinter der Fleischtheke, Verzeihung, ich meine natürlich Fleisch … äh … Zerteilungs ... fachkraft, oder so ähnlich - ich gebe mir ja Mühe - mit einem künstlichen Geweih auf dem Kopf an, als wolle sie jeden Moment selbst zu einem zukünftigen Fleischprodukt mutieren.
Aber mit all dem könnte ich irgendwie klarkommen, ohne meinen Neigungen nachzugeben, spontan die künstlich angeleierte vorweihnachtliche Glückseligkeit mit einem mittleren Massaker zu beenden, mein kleiner Beitrag als hochqualifizierte Fleischzerteilungsfachkraft im Ruhestand, gewissermaßen.
Doch da gibt es ja noch Ella. Meine wundervolle Freundin. Meine bezaubernde Lebensgefährtin. Die klügste Person, die ich kenne und eine der begabtesten Nachwuchsmagierinnen auf dem Planeten - aber ich könnte in dieser Hinsicht etwas voreingenommen sein.
Auch noch mit blondem Engelshaar und einer entsprechenden Figur gesegnet, befällt sie jedes Jahr um diese Zeit diese tragische Krankheit, dieser Zustand völliger Gaga-nis, dieses Aussetzen jeglicher schicklicher Zurückhaltung, die mich sonst eher an ihr stört. Pünktlich zum Einsetzen dieser Weihnachtshysterie überkommt sie der Drang, sich in rote Sachen zu kleiden und Stiefel, Mäntel oder Pullover mit weißem Pelzimitat zu tragen. Sie zieht sich eine rote Mütze mit einer weißen Bommel auf, noch schlimmer, sie versucht mich dazu zu bringen, es auch zu tun. Krippenspiele und ähnliche Aufführungen ziehen sie nun magisch an.
Ich war über 600 Jahre eine Vampirin, als Assassine meines Clans unterwegs. Die eingeweihten Personen wechseln heute noch die Straßenseite, wenn nicht sogar die Stadt oder gleich den Bundesstaat, wenn sie mich sehen. Auch wenn ich inzwischen atme und keine regelmäßige Blutzufuhr für mein Wohlergehen brauche, habe ich einen Ruf zu verlieren. Das bedeutet ich werde keine, ich wiederhole, keine rote Mütze mit weißer Bommel tragen, wenn ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin. Ich besuche auch keine Krippenspiele. Jahrhundertelang war ich eine Persona Non Grata bei kirchlichen Veranstaltungen – kein Vorwurf, einfach eine Tatsache – aber es hat mir, um ehrlich sein, auch nicht gefehlt. Es ist nicht so, dass der Friedenskönig, dessen Geburt ja angeblich zelebriert werden soll, und ich völlig unüberbrückbare Differenzen hätten. Laut würde ich es nicht zugeben, aber heimlich bin ich sogar ein Fan von seiner Idee, dass man ja auch mal zur Abwechslung in Frieden zusammen leben könnte, aber das bedeutet nicht, dass ich mich auch mit den Organisationen vertragen muss, die sich seine Utopie von einer perfekten Welt einverleibt haben.
Zudem war ich Europäerin und bin es im Grunde meines Herzens auch geblieben. Gegen die Engländer habe ich damals nur gekämpft, weil sie die Stärkeren waren und meinem Clan bald in die Quere gekommen wären. Andererseits sind die Geschichten über den Unabhängigkeitskrieg und die moralisch edlen Freiheitsbewegungen der Neu-Amerikaner hoffnungslos verklärt und übertrieben. Aber das tut hier nichts zur Sache. Mit dieser aufgesetzten Weihnachtsseligkeit meiner jetzigen Landsleute, kann ich jedenfalls nicht allzu viel anfangen. Dann lieber noch um eine brennende Strohpuppe herum tanzen und sich mit heißem Met betrinken …
Wie man also sehr leicht erkennen kann, befinde ich mich, alle Jahre wieder, im selben Dilemma. Ich würde in dieser Zeit gerne nach Tibet auswandern, meine Süße strahlt aber wie ein Honigkuchenpferdchen und ist auf der Jagd nach Geschenken für Leute, die wir kaum kennen, oder Leute, die gar kein Weihnachten feiern, oder Leute, die ohnehin schon alles haben, was man für vernünftiges Geld kaufen kann.
Jedes Jahr aufs Neue sehne ich unseren Weihnachtsurlaub herbei, an einem, auf jeden Fall weit abgelegenen Ort, wo ich zwar auch damit leben muss, in einen Wollpullover mit Wintermuster gesteckt zu werden, dabei aber nur von dem einzigen Menschen gesehen werde, für den ich auch in einem Tutu herumlaufen würde – wehe, jemand bringt sie jemals auf diese Idee!
Und dann ist da noch dieser alljährliche Wohltätigkeitsball …