Erst verschwindet die Frau, dann der Hund, dann der Mann. Alltagsgeschehen, denkt mancher, in Deutschland verschwinden jährlich mehrere Tausend Personen spurlos, von Tieren ganz zu schweigen. Also was soll´s . . .
Nein, so einfach wollen wir es uns nicht machen. Da sind einige Dinge, die nicht zum alltäglichen Verschwinden passen. Zum Beispiel: Warum verschwindet Silvester Urigk genau an Silvester?
Silvester Urigk gehört zu den Menschen, deren Schlaf man nicht nur als fest, sondern als bodenlos tief bezeichnen muss, einem mittelalterlichen Burgbrunnen gleich, dessen schwarze Gähne bis in unergründliche Tiefen reicht. Kein elektronisches Signal ist spitz und scharf genug, um ihn aus dem diamantenen Schneckenhaus seiner Träume herauszuschneiden, in denen er die Ereignisse des Tages noch einmal durchlebt, kein Röcheln der Kaffeemaschine laut genug, um ihn von den Verlockungen einer leckeren Tasse Mokka zu überzeugen. Meist sind es Trivialitäten, die er da durchträumt, doch in der Wucht ihrer traumhaften Wirklichkeit, ohne jede dali-eske Verformung, sind sie zuweilen so atemberaubend, dass er keuchend erwacht, um im nächsten Moment wieder in seiner Traumwelt zu versinken.
Als ihn das Geklirr auf dem Teller an diesem Morgen aus dem Schlaf reißt, ist er sich keineswegs sicher, ob der Wecker, in einer Art mystischer Zeitumkehr, ihn nicht in den Tag, sondern zurück in die Nacht katapultieren will. Trotz aller Morgenduseligkeit kann er sich noch genau daran erinnern, dass er ihn gestern Abend stumm gestellt hat, denn heute ist Sonntag. Seine Hand verlässt den warmen Bett-Pfuhl und ertastet den Klemmbügel zwischen den beiden Glocken: Der Bügel steht auf „OFF“.
Silvester Urigk richtet sich steil auf und wirft einen Blick auf den Teller, auf dem der Wecker steht, und da macht er eine unerwartete Entdeckung: Der Wecker hat sich keinen Millimeter bewegt, obwohl er es, da er ja geweckt hat, hätte tun müssen.
An dieser Stelle muss dreierlei nachgeholt werden: Erstens, dass Silvester elektronischen Weckern gründlich misstraut, besonders Radioweckern, die ihn wegen nächtlicher Stromausfälle schon häufig im Stich gelassen haben; zweitens, dass er deshalb mechanische Fabrikate bevorzugt, allerdings nicht in Form jener handlich-runden Schlaftöter, wie sie noch vor fünfzig Jahren steifbeinig auf jedem Nachttisch standen, sondern in Gestalt eines mondgroßen Nostalgie-Weckers mit endlos langen Zeigern, obendrauf zwei goldglänzende, robuste Glocken von Mokkatassenformat. Nur der geballte Lärm dieses Monstrums ist in der Lage, seinen Besitzer weisungsgemäß aufzuwecken. Endlich: Weil er trotzdem immer noch ein Verschlafen fürchtet – Pünktlichkeit ist schließlich nicht nur die Höflichkeit der Könige, sondern auch die eines Chefs –, und da nach dem Verschwinden seiner Frau niemand im Haus ist, der ihn im Wiederholungsfall wecken könnte (auf den Hund ist erst recht kein Verlass), steht der Wecker auf einem großen Teller, dessen Geklirr, während der Weckerklöppel wie wahnsinnig auf die beiden Glocken eindrischt, den Lärm verstärken soll. Wobei sich der Wecker, rastlos getrieben von gespannter Federkraft, tänzelnd bewegt. Damit es nun nicht zu einem Unfall käme – die Wege des klirrenden Weckers sind unvorhersehbar – stellt ihn Silvester jeden Abend penibel mittig auf den Teller.
So stehen die Dinge, als er am Montag morgen gegen elf Uhr aufwacht. Sein erster Blick geht zur Uhr, der zweite zum Teller: Der Wecker steht hart am Tellerrand, aber er hat nicht geweckt – zumindest hat er nichts gehört. Verwirrt nimmt er den Wecker und untersucht ihn. Die Feder ist entspannt, der Hebel steht auf „ON“. – Ein Zahnrad ist gebrochen, denkt er, der Mechanismus ist ins Leere gelaufen. Zur Kontrolle zieht er die Feder wieder auf – der Klöppel rast los, als müsste er das, was er am Morgen versäumt hat, nun nachholen.
Hat er das Wecken überhört?
Möglich, aber höchst unwahrscheinlich, denn der Lärm dieses Weck-Ungeheuers könnte einen Tauben aus dem Schlaf reißen.
Urigk stellt den Wecker wieder zurück und betrachtet ihn misstrauisch. Ärger kommt auf. Es ist weniger die Enttäuschung auf die Unzuverlässigkeit aller Maschinerie, die ihn ärgert, sondern das Gefühl, überlistet worden zu sein, und zwar auf gemeine, hinterhältige Art.
Sechs Wochen später.
Silvester Urigk befindet auf einem Abendspaziergang. Die Hündin trottet ergeben neben ihm her. Die Luft ist von milchigem Dunst erfüllt, in dem die Sonne einen hellen, diffusen Fleck bildet. Verwirrt blickt er zur Uhr. Die Sonne müsste doch schon längst untergegangen sein . . .
Plötzlich bleibt das Tier stehen, wittert, wird unruhig, beginnt zu bellen – es ist ein heiteres, freudiges Bellen in wortreicher Vielfalt –, die Rute wedelt aufgeregt. Inzwischen hat sich unter dem ersten Lichthof ein zweiter, kleinerer, gebildet, was den Eindruck einer zweiten Sonne erweckt. Nun hört Silvester ganz deutlich eine weibliche Stimme: „Pippa, Pippa, komm zu Frauchen, komm!“
Pippa rennt los und ist kurz darauf im Gebüsch verschwunden.
Urigk hat die Stimme ganz deutlich wiedererkannt: Es war die Stimme seiner Frau, die seit sechs Wochen spurlos verschwunden ist.
Die Suche nach dem Hund bleibt erfolglos. Schließlich kehrt er um. Pippa wird schon wiederkommen, denkt er, der Weg ist ihr ja nicht unbekannt.
Doch Pippa kommt nicht wieder – ebensowenig wie seine Frau.
Zuhause stellt die Kaffeemaschine an. Während der Automat verdrossen vor sich hin röchelt, versinkt er in Nachdenklichkeit.
Die seltsamsten Überlegungen schwirren in seinem Kopf herum.
Ist er schon so weit, dass er Stimmen hört, wo keine sind? Nur, wie wäre dann Pippas Reaktion zu erklären? Sie ist genauso freudig losgewetzt wie damals, wenn ihr Frauchen sie rief.
Fast noch verstörender der Wecker! Nach seinen Beobachtungen hat der Wecker geklingelt, bevor das Werk in Gang gesetzt war! Das widerspräche einer fundamentalen Regel der klassischen Physik, nach der eine Wirkung nicht früher als ihre Ursache eintreten darf. Es wäre ein Paradoxon, ein Wecker-Paradoxon! Das würde ja auch bedeuten, dass ein Glas zerspringt, bevor es auf dem Boden aufschlägt. Unmöglich!
Und jetzt diese Stimme . . . Es war eindeutig Marthas Stimme, der schwäbische Tonfall war nicht zu überhören.
Fragen, Frage, Fragen, allesamt mit vernünftigen Überlegungen nicht zu beantworten, es sei denn, man verlöre sich in obskuren Spekulationen.
Die Vorstellung einer übersinnlichen Instanz, die in sein Schicksal eingreifen will, weist er, kaum angedacht, weit von sich. Schicksal ist seiner Meinung nach eine Mischung aus Veranlagung, Selbstzucht und der Bekanntschaft der richtigen Leute zur richtigen Zeit, kein Tummelplatz für höhere Gewalten.
Der Kaffee ist fertig, er schenkt sich ein, trinkt. Vom Geist des Coffeins beflügelt erinnert er sich an Dinge, die er schon längst vergessen glaubt . . .
Forts. folgt