Die ersten Kapitel verschlimmbessern (Wind der Veränderung)

Es gibt 6 Antworten in diesem Thema, welches 776 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (12. Juli 2023 um 07:06) ist von Jufington.

  • Buongiorno,

    Wie im Hauptthread bereits von Rippersteak und Kirisha angesprochen, leidet das erste Kapitel meiner Geschichte auch nach dem Überarbeiten unter vielem Tell und wenig Show.

    Um das zu beheben, habe ich mal versucht, den ganzen mittleren Teil neu zu schreiben. Damit ich aber nicht einfach so eine grosse Textstelle auswechsle und da dieser Teil noch gänzlich ungeprüft ist, wollte ich ihn hier einmal separat zur Diskussion stellen.


    Der Traum zu Beginn bleibt unverändert bestehen und würde direkt davor stehen.

    Der vorherige Mittelteil, nur zur Referenz:

    Spoiler anzeigen

    Das Knacken! Er schreckte hoch, seine Hand fuhr zum Breitschwert, das er immer in Griffweite hielt. Mit einer raschen Bewegung schlug er die Decke zurück und sprang auf.

    Bei ihrem Gepäck raschelte es. Ein grauer Schemen spurtete über den Waldboden und verschwand sprunghaft im morgendlichen Dunst.

    Stille.

    So stand er nun, die blanke Waffe ausgestreckt, die Beine stabil versetzt, die Atmung noch immer schnell. Er zwang sich zur Ruhe.

    Es war bloss ein Marder.

    Sie waren noch immer im Wald, auf einer kleinen, von Nadeln und Wurzeln bedeckter Lichtung. Die Glut ihres Feuers war erkaltet. Der Inhalt seiner Tasche war weit über den Boden verstreut.

    Erleichtert atmete Imorym aus und setzte sich. Das überstürzte Erwachen verwirrte ihn. Nicht nur das, der Traum nagte an seinen Gefühlen, auch wenn er das sich nur ungern eingestand. Hätte es einen Unterschied gemacht, wäre er dabei gewesen? Am Ausgang der Schlacht blieb kein Zweifel, aber zumindest hätte er sein Weib und seine Tochter retten können. Stattdessen steckte er während der Plünderung meilenweit entfernt auf dem Bergpass fest. Gezwungen, die Rauchwolken von Weitem zu betrachten.

    Er fuhr sich einmal mit der schwieligen Hand quer über das eingefallene Gesicht und das bärtige Kinn und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Es war lange her, seit er das letzte Mal vom Krieg träumte. Schon fast war er so naiv gewesen zu glauben, er hätte die Ereignisse endlich hinter sich gelassen.

    Als der Ritter von Rabenkamm sich beruhigt hatte, warf er einen Blick auf die anderen. Elinja schlief, Ulrich und Tamera ebenso. Keine Überraschung, die beiden schliefen gern und lang, wofür aber keine Zeit war. Der Herzog hatte ihnen gesagt, die Sache dulde keinen Aufschub.

    Mit einem Ächzen stand er auf und streckte sich den Schlaf aus den müden Gliedern.

    «Aufwachen, es ist bereits Tag.» Sagte er an Elinja und Ulrich gewandt, nachdem er sie mit dem Stiefel angestupst hatte. Bei Tamera ging er etwas freundlicher vor und berührte sie leicht an der Schulter, bevor er sie leise mahnte: «He, aufstehen. Wir müssen los.»

    Während die drei gähnten und murmelten und langsam aufstanden, suchte Imorym nach Urol. Sein Licht glänzte schüchtern zwischen den Stämmen der Kiefern und Birken hervor und tauchte die Lichtung in diffusen, rötlichen Schein, der vom leichten Nebel geschwächt wurde.

    Der Ritter schlurfte zu seinem grossen, grauen Beutel und richtete ihn auf. Toll, der Marder hatte das Brot aus dem Zeitungspapier gewickelt und aus der Tasche gezerrt.

    Er schnipste etwas Dreck von der Kruste. Feucht war es wohl vorher schon geworden. Da war Schimmel dran.

    Er setzte sich im Schneidersitz auf sein Schlaflager aus Schafsfell, nahm das Messer und schnitt den Teil grosszügig weg. In den Untiefen seiner Tasche fand er unversehrte Trockenwurst und einen Kanten Schafkäse vor, von denen er auch je ein Stück absäbelte und sich zusammen in den Mund schob. Das Brot schaffte es, gleichzeitig nass und trocken zu schmecken. Wenigstens war der Belag in Ordnung.

    Als Tamera sich aus den warmen Fellen gekämpft hatte und müde eine ihrer langen, dunklen Strähnen aus dem Gesicht strich, reichte er ihr das Brot mit dem Messer.«Schau besser zweimal hin», warnte er. «weisse Pferde trampeln drauf rum.»

    «Solange sie noch nicht alles wegfressen...Ich wüsste nämlich nicht, wo wir neues Brot bekommen sollten, wir haben gestern Borheim verlassen und kaum vodraskische Korony dabei. Der Bankier in Grauborg hatte geschlossen und jenseits der Grenze sind wir bisher nichts als Bauern begegnet. Die wissen ja kaum, wie ihr eigenes Geld aussieht, geschweige denn das Unsere!»

    «Der Proviant wird so nicht bis ans Ziel reichen», dachte der Ritter laut, während er die Reste seines Frühstücks verschlang. «Was schlägst du vor?»

    «Ulrich und ich könnten jagen gehen. Und wenn wir nichts erwischen… Es ist Erntezeit. Die Bauern, die ihren Ertrag auf die Märkte bringen, sind meist alleine unterwegs…»

    «Wirklich? Du willst einen Bauern ausnehmen?», Seufzte Imorym. «Wir sind gerade erst über die Grenze und sollen uns schon strafbar machen.»

    Die Schusterin zuckte mit den Schultern: «Nur ein Bisschen. Irgendwie müssen wir ja über die Runden kommen. Wir haben doch das Siegel des Herzogs von Grauborg und wollen zum Zlakta von Dingsda… Haben wir damit nicht diplomatischen Schutz?»

    «Die Bauern von Urzagow, falls du das mit Dingsda meinst, sind nicht zu unterschätzen», Elinja war lautlos hinter sie getreten. «Weder die Zarimskirche, noch die Hussaria haben hier viel zu sagen. Wir sind im Hinterland des Greifenreichs. Das Einzige was es hier gibt ist Holz, Wild und Korn. Die Bauern gewinnen es unter grosser Anstrengung. Nimmt man es ihnen weg, holen sie es mit Äxten und Mistgabeln zurück. Selbstjustiz ist hier an der Tagesordnung. Die Bauern leben nach ihren eigenen Regeln und sehen zu, dass sie über den Winter kommen. Ihr tätet besser daran, sie in Ruhe zu lassen.»

    Elinja hockte sich im Schneidersitz hin. Ihre Miene unter den kurzen, strubbligen Haaren verriet wenig. Wie immer. Ein schmales Gesicht, dünne Lippen, ernste, grüne Augen. Imorym hatte sich stets damit gerühmt, dass er Menschen gut lesen konnte. Bei Elinja war das nicht der Fall. Er kannte die Frau nicht gut und vielleicht tat er ihr Unrecht, aber selbst dem Ardonier vertraute er mehr als ihr. Ein Glück, dass Elinja sie nur sicher bis nach Rowyek geleiten würde.

    «Na dann verlassen wir uns eben auf die Jagd oder versuchen, so schnell wie möglich zum Zlakta zu gelangen.»

    «Und ich frage mich noch immer, was wir bei dem wollen», mischte sich Ulrich ein. Der Ardonier setzte sich und band sein langes, blondes Haar wieder zu einem lockeren Zopf zusammen, bevor er hungrig nach dem Essen griff. «Du hast etwas von einer Nachricht gesagt, aber mehr wolltest du nicht verraten.»

    «Es gibt auch nicht viel mehr zu sagen», meinte Imorym ausweichend. «Ein ardonischer Expeditionskorps wurde in Borheim gesichtet. Sie haben ihr Lager in irgendwelchen Ruinen aufgeschlagen und buddeln im Dreck. Das ist alles, was ich euch gesagt habe und auch alles was ich selbst weiss. Der Herzog war sehr sparsam mit seinen Informationen.»

    «Hab gehört die Berge sollen schön sein um die Jahreszeit. Die geniessen sicher die Aussicht», scherzte Ulrich und zerrte mit den Zähnen an einem Stück Wurst.

    «Dünnes Eis Ulrich, ganz dünnes Eis.»

    «Aber im Ernst», meinte Tamera. « Ist das der ganze Inhalt der Nachricht?»

    «Scheint mir merkwürdig genug. Niemand schickt eine Herde grabwütiger Forscher ohne triftigen Grund in ein Kriegsgebiet. Und schon gar nicht bewacht von einem ganzen Regiment von Grenzern.»

    Ulrich spülte sein Frühstück mit einem Schluck Grutbier hinunter. «Der ganze Weg für einen einzelnen Umschlag?», er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

    «Scheisse, die Sache lohnt sich nie und nimmer. Ich sage wir öffnen den Umschlag und verkaufen die Informationen an den Meistbietenden!»

    Tamera nickte zustimmend.

    Imorym stand auf. Er hatte genug gehört.

    «Der Herzog hat gesagt, wir dürfen den Umschlag nicht öffnen und das tun wir auch nicht. Wer sich dem widersetzt, kann seine Finger danach selbst vom Boden aufsammeln.»

    Er ging zu seiner Rüstung und begann, sich das Kettenhemd über den Gambeson zu streifen. Dazu musste er erst mit beiden Armen hindurchgreifen und es sich dann über den Kopf ziehen, was ihm früher deutlich schneller gelungen wäre.

    Erbost setzte Tamera zur Widerrede an, blickte dann aber zu Elinja, die fünf Schritt entfernt die Pferde fütterte und verstummte. Besser so!

    «Mein lieber Imorym», sagte sie verhalten, nachdem sie etwas nähergetreten war. «du vergisst wohl, dass uns das einen Scheissdreck interessiert. Wir sind Banditen, verdammt!» Tamera sah ihn herausfordernd an und stemmte die Hände in die Hüften.

    «Da ihr beiden offenbar Banditen von Herzen seid, mögt ihr ja nicht wissen, dass ein Brief mit gebrochenem Siegel wertlos ist. Ich aber wurde einst zum Ritter geschlagen und solange mich manche noch immer mit 'Herr' anreden, verhalte ich mich auch wie einer.»

    Imoryms Antwort klang zynischer als er beabsichtigt hatte.

    [... es folgt das Anlegen der Rüstung - aus Platzgründen weggelassen]

    Der neu geschriebene Mittelteil:

    «Imorym!»

    Er schlug die Augen auf und atmete scharf ein. Elinjas Gesicht beugte sich zu seinem hinab. Sie kauerte über ihm, die Hände locker auf ihren Knien ruhend.

    Die plötzliche Anspannung entwich und Imorym atmete wieder tief aus. Er stützte sich mit den Ellenbogen von seinem Lager auf dem Waldboden. Erst jetzt bemerkte er, wie seine Hand sich automatisch um den Griff seines Breitschwerts geschlossen hatte.

    Elinja schien davon nicht beirrt zu sein. Ihre grünen, dunkel umrahmten Augen betrachteten ihn wie man einen Molch in einem Einmachglas betrachtete.

    «Was gibt’s?», fragte Imorym, bemüht um einen unbeschwerten Tonfall. Nur langsam erreichten ihn wieder das Hier und Jetzt, ersetzte die Geräusche von heulendem Wintersturm und krachendem Gebälk durch die im Wind knarzenden Föhrenstämme und das Zwitschern von frühmorgendlichen Singvögeln.

    «Ulrich und Tamera», sagte Elinja tonlos. «Ich glaube, sie planen etwas. Ich dachte, ich gebe Ihnen Bescheid.»

    Er liess sein Schwert los und richtete sich auf, bevor er sich müde über das stoppelige, von Zeit und Sorgen zerfurchte Gesicht rieb.

    «Mhm», machte er und kratzte sich einen Juckreiz aus seinen kurzen Haaren. «Wo sind sie?»

    Elinja ruckte mit dem Kopf in Richtung des Waldrands und stand auf. Unter ihrem Schuh klirrte es leise. Hatte sie ihren Fuss schon die ganze Zeit auf seine Klinge gesetzt gehabt?

    Der Ritter vom Rabenkamm zwängte sich in seine hohen Reiterstiefel, erhob sich mit der Eleganz eines betagten Wildschweins von seinem Lager und band sich in tausendfach eingeübter Bewegung seinen Waffengurt um. Er hielt inne und spuckte einen Klumpen, der sich über Nacht in seinem Rachen gebildet hatte in die erkaltete Asche ihres gestrigen Lagerfeuers. Dann schlurfte er dem Waldrand entgegen.

    Urols Licht schien schüchtern zwischen den Haselsträuchern und niedrigen Birken hindurch und tauchte das kleine Waldstück zwischen den morgendlichen Nebelschwaden in diffuses, rötliches Licht.

    Im Schutz der Blätter entdeckte Imorym Tamera. Die junge Frau lehnte mit verschränkten Armen gegen einen Föhrenstamm. Flecken aus Licht erleuchteten ihre pockennarbigen Wangen, während sie aus dem Wald hinausspähte. Neben ihr lauerte Ulrich. Der Ardonier hielt seine Muskete im Anschlag. Seinen breitkrempigen Hut hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, damit das Licht ihn nicht blendete.

    Als Tamera sein Kommen bemerkte, grinste sie und winkte ihn aufgeregt zu sich.

    «Was ist hier los?», wollte er wissen und blinzelte. Der Nebel auf der taufeuchten Wiese liess Urols frühe Strahlen gleissend hell erscheinen.

    «Da kommt ein Karren angefahren», meinte Tamera.

    «Na und?»

    «Er führt gemischtes Ladegut», schaltete Ulrich sich ein, ohne dabei den Blick von der Strasse zu lassen. «Vollbepackt bis über die Seitenwände. Da sind kleine und grosse Fässer. Kisten, Säcke und Bündel voller Stockfisch.»

    «Warte, Stockfisch?»

    Imorym betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Kutscher des klapprigen Einspänners. Ein älterer Vodraski, der sein weiss gelocktes Haar unter einer roten Mütze mit fellbesetztem Rand bedeckt hielt. Sein langer Bart fiel ihm auf die von bunten Schnüren gehaltene Fellweste. Er trug ein loses, farbloses Hemd und braune Pluderhosen. Seine Füsse steckten in schmutzigen Wickeln und wippten im Takt seines unhörbaren Summens.

    «Das ist bloss ein Bauer», urteilte der Ritter und sah Tamera und Ulrich der Reihe nach an.

    «Das ist bloss ein scheiss Bauer», fuhr er fort, als diese ihm eine Antwort schuldig blieben. «der gerade seinen jährlichen Überschuss auf den Markt oder zu seinem Husaren bringt, nichtsahnend, dass ihr zwei Hornochsen gerade im Begriff seid, ihm seinen stinkenden Stockfisch zu klauen.»

    «Immer langsam», rechtfertigte sich Tamera und strich sich erbost eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. «Du hast Gestern selbst gesagt, uns gehe der Proviant aus. Als wir Borheim verlassen hatten, konnten wir keine Korony wechseln und hier, diesseits der Grenze, lässt sich weit und breit kein Bankier finden.»

    «Kann sich das alte Ehepaar mal bitte etwas leiser zanken?», zischte Ulrich dazwischen. «Der Kerl ist bald in Hörweite.»

    «Nun nimm endlich die Muskete runter, wir werden hier niemanden ausnehmen!»

    «Jetzt tu mal nicht so scheinheilig; kaum hast du wieder einen Auftrag von einem hohen Tier gefasst, machst du plötzlich einen auf Zarimspriester?»

    Kaum hatte Ulrich sich mit einem herausfordernden Grinsen an Imorym gewandt, war Elinja zur Stelle. Bevor jemand reagieren konnte, hatte sie das Schiesseisen am Lauf gepackt und zwang seinen Lauf zu Boden, Ulrichs überraschten Protest ignorierend.

    Imorym fluchte leise und rieb sich müde sein Nasenbein zwischen Daumen und Zeigefinger.

    «Zurück in den Wald mit euch, los.»

    Während der Bauer das Waldstück unbehelligt passierte, stapfte Imorym zurück zu ihrem Lagerplatz, den Rest der Gruppe hinterher. Elinja wartete im Schatten der Bäume, Imorym ging auf der kleinen Lichtung auf und ab, beide Daumen in den Waffengurt gestemmt, während Ulrich und Tamera geduldig warteten, wohl wissend, was gleich kam.

    «Was ist bloss in euch gefahren?», begann der Ritter seine Standpauke.

    «Ich sehe das Problem nicht», meinte Tamera trotzig. «In Borheim haben wir ständig Kutschen überfallen. Ausserdem hätten wir dem Typen ja nicht wehgetan…»

    «Wir sind hier aber nicht mehr in Borheim, wir sind in Vodrask. Wo wir im Übrigen einen Auftrag zu erledigen haben.»

    Ja eben, wir haben doch das Siegel des Herzogs von Grauborg und wollen zum Zlakta von Dingsda… Haben wir damit nicht diplomatischen Schutz?»

    «Die Zlięstwa heisst Urzagow», korrigierte sie Elinja aus dem Schatten heraus.

    «Ursa…Ja, genau.»

    «Nur weil wir im Auftrag des Herzogs unterwegs sind, gibt uns das noch lange keinen diplomatischen Schutz.», seufzte der alte Ritter.

    «Ich denke, es ist Zeit, dass du uns erklärst, worum es hier eigentlich geht», meinte Ulrich. Der Ardonier hatte sich seinen Schlapphut auf den Lauf der Muskete gelegt und bändigte mit beiden Händen sein langes, strohblondes Haar, bevor er es geschickt wieder zu einem Pferdeschwanz band. Seine durch eine Narbe durchtrennte und mit einem Eisenring geschmückte Augenbraue hob sich fragend.

    «Unser Auftrag ist es, einen Umschlag zum Zlakta von Urzagow zu bringen. Wir müssen dabei diskret sein und wir müssen schnell sein. Mehr weiss ich nicht, der Herzog war sehr sparsam mit seinen Informationen.»

    «Und warum gibt man diesen Umschlag ausgerechnet Leuten wie uns?», fragte sich Tamera.

    «Weil Borheim gewiss gerade genug andere Sorgen hat. Der Herzog brauchte jemanden, den er kennt, um die Nachricht sicher nach Vodrask zu bringen. Er macht sich Sorgen sie könnte abgefangen werden.»

    «Warte, geht es dabei etwa um den Krieg?»

    «Möglicherweise. Ein ardonischer Expeditionskorps wurde in Borheim gesichtet. Sie haben ihr Lager in irgendwelchen Ruinen aufgeschlagen und buddeln im Dreck.»

    «Hab gehört die Berge sollen schön sein um die Jahreszeit. Die geniessen sicher die Aussicht», scherzte Ulrich.

    «Dünnes Eis Ulrich, ganz dünnes Eis.»

    «Aber im Ernst», meinte Tamera. « Ist das der ganze Inhalt der Nachricht?»

    «Scheint mir merkwürdig genug. Niemand schickt eine Herde grabwütiger Forscher ohne triftigen Grund in ein Kriegsgebiet. Und schon gar nicht bewacht von einem ganzen Regiment von Grenzern.»

    «Scheisse, die Sache lohnt sich nie und nimmer», meinte Ulrich. Er blickte zu Elinja, die neben ihnen die Pferde fütterte und verstummte. Besser so! Die Vodraski war als ihre Fremdenführerin angestellt. Sie hatte schon jetzt mehr mitbekommen als sie eigentlich sollte.

    «Ich sage wir öffnen den Umschlag und verkaufen die Informationen an den Meistbietenden», sagte Ulrich verschwörerisch, nachdem er etwas nähergetreten war.

    Tamera nickte zustimmend.

    Der Ritter wandte sich ab und ging zu seinem Lager. Er hatte genug gehört.

    «Der Herzog hat gesagt, wir dürfen den Umschlag nicht öffnen und das tun wir auch nicht. Wer sich dem widersetzt, kann seine Finger danach selbst vom Boden aufsammeln.»

    Er begann, sein gepolstertes, an Achseln und Leiste zusätzlich mit Kettengeflecht verstärktes Wams zuzubinden.

    Erbost folgte ihm Tamera.

    «Mein lieber Imorym. Wäre es eine Möglichkeit, dass es dir hier nur darum geht, wieder an den Borheimischen Adel zu gelangen?»

    Imorym schnaubte bloss. Er hasste es, daran erinnert zu werden, wie tief er gefallen war! Was tat er hier eigentlich? Er sollte jetzt auf dem Rabenkamm sein – sein Lehen – die Burg, die rechtmässig ihm gehörte. Als stolzer Ritter Borheims, nicht als Landstreicher, umgeben von Gesetzlosen, der sich als Laufbursche sein Brot verdienen musste.

    Sein schweigender Protest fand rasch ein Ende, als er auf den Haufen Stahl vor sich blickte.

    «Kannst du mir bitte mit der Rüstung helfen?», brummte er geschlagen.

    «Wie Ihr befiehlt, mein hoher Herr», spottete Tamera. Die Schuhsterin schnappte sich die Halsberge. Schlicht und wie alles andere auch zu einem matten graublau gebläut. Sie legte sie um seinen Hals, befestigte sie und griff nach den Schienen für die Arme und den dazugehörigen Ellbogenkacheln. Geübt streifte sie sie ihm über den ausgestreckten Arm und drückte sie in Form, bis die dafür vorgesehenen Nieten mit einem Klicken einrasteten.

    Danach war der Harnisch an der Reihe. Ein schweres, spitz zulaufendes Ding, das sie nun erst bei der Brust, dann am Rücken an die Halsberge hing und beide Seiten mit Schnallen verband. Danach holte sie das Schienengeschübe, das die Beine bis fast zu den Knien schützte. Mit diesem Panzer konnte sich Imorym Beinschienen sparen und stattdessen bequemere Reiterstiefel tragen. Geld war knapp und man musste schliesslich mit der Mode gehen. Sie befestigte es am Harnisch und griff nach den Schulterplatten. Die einzigen Stücke der Rüstung, die mit einer bescheidenen Ziselierung verziert waren. Sonderanfertigung eines Schmieds aus Tanningen. Einmal eingehakt und festgezurrt und schon war die Rüstung angelegt. Es fehlten bloss noch die ledernen Handschuhe, die Imorym sich überstreifte, bevor er sich bei der Schuhsterin bedankte.

    Die Rüstung war furchtbar altmodisch, schwer und unbequem. An heissen Tagen glich sie einem Backofen, an kalten einer Gletscherhöhle. Dennoch hatte er sich daran gewöhnt, sie lange Zeit über zu tragen. Es war nicht nötig, die ganze Rüstung anzulegen, aber er fühlte sich sicherer, wenn er sich gut gerüstet in einem fremden Land bewegte. Das einzige Stück Metall, das er sich ersparte anzuziehen, war sein Helm mit dem Blasebalgvisier. Der hing noch immer an seiner Satteltasche, wo er nun hinging und den Rest seines Gepäcks verstaute.

    «Auf, auf, es ist Zeit, weiter zu ziehen.»


    Der Rest des Kapitels bleibt unverändert.

    Was meint ihr dazu? Ich denke, so passiert etwas mehr und die Charaktere werden etwas deutlicher, ohne dabei die Handlung zu verändern.

    Was ich mir noch unsicher bin, ist der Teil mit der Rüstung. Einerseits möchte ich das gerne schildern, andererseits ist so eine detailierte Beschreibung nicht unbedingt nötig.

  • Hi Jufington

    Der Anfang gefällt mir wesentlich besser. Ich finde du hast die Anbahnung von potentiellem Konflikt gut eingefangen. Das führte bei mir dazu, dass ich wesentlich mehr investiert in das Geschehen war und bot m.E. einen guten Boden um den Dialog bzw. die einschlägigen Informationen aufzubauen. Daumen hoch von meiner Seite :thumbup:

  • Sooo, einem Ratschlag von Rippersteak folgend (oder zumindest davon inspiriert), habe ich nun auch den Rest des Kapitel 1 überarbeitet. Das Kapitel 2 wird auch noch dran glauben müssen, wird aber einige bisherige Elemente behalten.

    Die Grundidee hier ist, dass den Charakteren nach dem vorgängigen Konflikt wohl andere dinge durch den Kopf gehen als das Weltgeschehen und dass das Kapitel nicht im Leerlauf enden, sondern einen Grund zum weiterlesen liefern sollte.

    Das Ganze ist noch nicht in Stein gemeisselt - das kommt dann ganz darauf an, wie mir das neue Kapitel 2 gelingt.


    Das ganze Kapitel im Hauptthread (möglicherweise bereits aktualisiert)

    Die alte Fassung zur Referenz

    [...] «Was glaubst du, ist Arbeit wie diese hier besser als… Du weisst schon, Händler überfallen und Pässe blockieren?», fragte er Tamera in versöhnlichem Tonfall.

    «Was auch immer einem über die Runden bringt», meinte sie schulterzuckend. «Es wäre schön, wenn diese Nachricht auf irgendwas einen Einfluss hat. Wenn sie uns irgendwie weiterbringt, oder wenn sie sogar zum Frieden beitragen kann. Dann wäre sie besser als Alles, was wir in den letzten sechs Jahren gemacht haben.»

    «Schön wär’s», seufzte Imorym. «Wenn sie einen Einfluss hat, mache ich mir keine Hoffnungen, dass der positiver Natur ist. Wohl eher wird sie den Krieg noch weiter anfachen.»

    «Ich verstehe nicht, warum sie ihn überhaupt noch weiter in die Länge ziehen», regte sich Tamera auf. «Ihnen ist doch wohl auch aufgefallen, dass niemand in diesem Konflikt gewinnen kann. Vodrask und Ardonien können noch hundert weitere Regimenter über den Fluss schicken, Dripol wird sie alle verschlingen. Können nicht einfach beide Seiten auf ihre Ansprüche jenseits des Flusses verzichten? Die werden sich doch immer wieder in die Haare kriegen, solange sie nicht regeln können, wem die Stadt gehört. So ein Fluss ist doch eine perfekte Grenze, ein sauberer Schnitt mittendurch!»

    «Ich glaube, damit wäre die Sache nicht gelöst. Keine der beiden Seiten will Schwäche zeigen, sie werden nicht nachgeben. Ardonien will vollenden, was es begonnen hat und ganz Kadranien unter ihr Banner bringen. Vodrask indessen darf sich keine weitere Niederlage erlauben. Es muss den Schein wahren, dass es auch ohne die Greife bestehen kann.»

    Dass die Zeit von Schwert und Flügel noch nicht zu Ende ist, dachte er und betrachtete einen Schwarm Graugänse, die über die wilden Wiesen zogen.

    «Und ausserdem», fügte er an. «Wenn Vodrask nachgibt, was geschieht dann mit Borheim? Viele Ardonier betrachten auch uns als Teil Kadraniens. Die wären im Nu zur Stelle, wenn Vodrask uns den Arsch nicht rettet. Das ist etwas, das ich auf keinen Fall erleben möchte.»

    Kaum waren diese Worte über seine Lippen, drehte Imorym sich verstohlen nach Ulrich um. Glücklicherweise war er zu weit weg, um ihn zu hören. Zu sehr in sein Flötenspiel vertieft. Der Ardonier sollte nicht dabei sein, wenn es um Politik ging. Imorym hatte wenig Lust, sich mit ihm zu streiten. Zwar war er ein anständiger Kerl und betonte auch immer wieder, dass er nicht aus dem ardonischen Herzland stammte, aber ein verdammter Federhut blieb er trotzdem!

    «Würde es denn ein Unterschied machen?», erkundigte sich Tamera vorsichtig. «Ich meine… auch wenn Borheim fällt... Wir würden morgens zur selben Zeit aufstehen. Wir würden derselben Arbeit nachgehen, dasselbe essen, mit denselben Leuten sprechen, denselben Alltag leben. Sogar unsere Sprache könnten wir behalten!»

    «Ja und hinter unseren Rücken verschwinden alle, die dagegen etwas einzuwenden haben», meinte Imorym zynisch. «Ich will nicht jeden Tag unter dem purpurnen Banner wandeln und mit Leuten zu tun haben, die mir auch vor zwanzig Jahren auf dem Schlachtfeld hätten begegnen können. Sie mögen Leute wie mich nicht. Du weisst ja, dass die letzten Ritter Kadraniens üblicherweise ein frühes Ableben erleiden. Wenn die Ardonier sich meiner entledigen möchten, könnten sie aus einem vollen Repertoire an Gründen schöpfen.»

    Er seufzte und richtete seien Blick starr auf den Weg vor ihnen.

    «Ich bin froh, in diesem Krieg nicht mitkämpfen zu müssen», murmelte er nach einer Weile. «Bei Zarim, ich kann dir kaum sagen, wie froh ich bin.»

    Tamera sah ihn an und legte den Kopf schief, als ob sie in seinem Gesicht nach etwas suchte. «Du hast wieder geträumt, nicht wahr? Vom Krieg.»

    «Ja. Ja, ich habe geträumt. Vom Winter auf dem Salderpass, von der Plünderung...von Maria und Swenna.»

    Darauf schwieg Tamera, wissend, ihn durch alles, was sie nun sagte, nur noch weiter zu verärgern. Stattdessen tat sie es ihm gleich und starrte geradeaus auf den Weg und Elinjas Rücken vor ihnen. Und sie lauschten Ulrichs Flötenspiel. Mittlerweile hatte er eine fröhliche Melodie angestimmt, doch so sehr sich Imorym anstrengte, die Melodie wollte für ihn einfach nicht nach Frohmut klingen.

    Hier nun das neue Ende vom Kapitel 1:

    [...]

    Der Trupp brummte und gähnte und machte sich für die Abreise bereit. Ein seltsamer Haufen. Ein Ritter, eine Schuhsterin, ein Ardonischer Schütze und eine Fremdenführerin. Sie alle rollten ihre Felle und Wolldecken zusammen, verstauten ihre Lasten bei den Pferden und erleichterten sich vor der Reise. Ulrich pisste auf die Überreste des Feuers und Elinja warf einen Blick auf ihre Karte.

    Imorym löste das Seil, das seinen Schwarzbraunen Hengst Janko an einem Baum festhielt, setzte einen Fuss in den Steigbügel und schwang sich mit dem angestrengten Ächzen eines Greisen auf das Tier. Dann ritt er los. Der Wald war kühl und feucht und von goldenem Licht erfüllt. Nach einem kurzen Ritt, der durch Birken und Wachholdersträucher führte, fanden sie sich auf dem Feldweg am Waldrand wieder und führten die Reise fort.

    Ulrich wühlte beim Reiten in seiner Tasche und holte seine Flöte hervor, auf der er erst einige schiefe Töne blies, bis er schliesslich ein Stück begann. Imorym glaubte, es zu kennen. ‘Unter grünen Linden’. Eine Ballade kadranischer Söldner.

    Der Ardonier ritt am Schluss der kleinen Gruppe. Er hatte beide Hände an der Flöte und überliess sich ganz seiner alten Fuchsstute, die gemächlich daher trottete. Elinja und ihr Rappe ritten an der Spitze und wiesen den Weg. In der Mitte ritten Imorym auf seinem schweren Janko und Tamera auf ihrem kleinen Falben. Imorym hoffte, dass Tamera ihm seinen mürrischen Tonfall nicht übelnahm. Nach seinen Träumen war er stets schlechter Laune.

    «Was glaubst du, ist Arbeit wie diese hier besser als… Du weisst schon, Händler überfallen und Pässe blockieren?», fragte er Tamera in versöhnlichem Tonfall.

    «Was auch immer einem über die Runden bringt», meinte sie schulterzuckend. «es wäre schön, wenn diese Nachricht etwas ändern würde.»

    «Was ändern?»

    «Na das hier», erklärte sie mit einem Kopfnicken in undefinierter Richtung, als ob damit alles klar wäre.

    «Hast du nicht manchmal auch das Gefühl, wir drehen uns im Kreis?»

    Natürlich, seit fünfzehn Jahren, dachte er und sagte: «Ich weiss nicht.»

    «Jedes Mal, wenn wir kurz vor dem Durchbruch stehen, folgt wieder ein Rückschlag. Holgers Tod, der Pelzjäger, der uns verpfiffen hat…Jedes Mal, wenn wir endlich genug Geld beisammenhätten, um neu anzufangen.»

    So recht sie auch hatte, verspürte Imorym einen leichten Stich. Einfach nur, weil sie es sagte. Hat sie den letzten Winter etwa auch als Zeitverschwendung empfunden? Gab es für ihn überhaupt einen Platz in ihrem Neuanfang?

    «Du glaubst auch, dass sich die Sache nicht lohnt», sagte er, eingeklemmt zwischen Frage und Feststellung.

    «Imorym, versteh mich nicht falsch-», setzte sie an und verstummte, als sie den Rauch sah.

    Wie der dünne Schleier einer trauernden Witwe schwebte er hinter dem Wald und versetzte die friedliche, sonnige Wildnis davor in einen gespenstischen Kontrast. Selbst Ulrichs Flötenspiel brach abrupt ab.

    Imorym schloss zu Elinja auf. Die junge Frau spähte unter ihrer Handfläche hindurch zum Horizont.

    «Was meinen Sie?», fragte Imorym. «Liegt direkt auf unserem Weg.»

    «Die Strasse zu verlassen, könnte uns viel Zeit kosten», urteilte sie und deutete auf etwas, was für ihn wie eine Wildwiese aussah.

    «Sehen Sie das? Hinter dem Kornfeld verläuft sich das Feld im Morast. Da könnte überall Wasser sein, zu beiden Seiten des Wegs. Und wir wollen nicht auf dem offenen Feld feststecken.»

    «Du willst doch nicht ernsthaft, dass wir schnurstracks darauf zureiten?», fragte Tamera zweifelnd.

    «Der Rauch stammt nicht von einem frischen Feuer. Wenn da vorne etwas passiert ist, dann ist es Stunden her», überlegte Imorym.

    Auch Ulrich ritt jetzt an sie heran: «Ist heute nicht Vidnut? Könnte vielleicht auch ein Opferfest für die Götter ohne Gesicht und Namen sein.»

    «Die Vodraski sind Zarimistisch», belehrte ihn Elinja. «Die feiern den siebten Tag nicht so.»

    «Eine Hochzeit vielleicht? Will ja nicht wissen, wie die Vodraski Feste feiern. Die könnten uns auf ein Gläschen Wodka einladen. Oder aber die Flasche an den Kopf werfen.»

    Elinja überging die Bemerkung. Ihre Begleiterin konnte mit Humor nichts anfangen.

    «In jedem Fall empfehle ich, der Strasse weiter zu folgen.»

    Imorym nickte. «Ich stimme zu.»

    «Was, wenn es kein Fest ist?», fragte Tamera besorgt.

    «Uns fehlt die Zeit, die Antwort zu scheuen. Wir müssen auf direktem Weg zum Zlakta.»

    «Du sagst es, Chef», meinte Ulrich nüchtern. Die Tatsache, dass er bereits seine Muskete in der Hand hielt und gerade im Begriff war, die Spitze einer Papierkartusche zu durchbeissen, um sie zu laden, war nicht gerade beruhigend. In seinen Jahren als Söldner hatte der Ardonier ein feines Gespür für Gefahr entwickelt.

    Tamera schürzte die Lippen. Sie schien mit der Entscheidung gar nicht glücklich zu sein.

    «Haltet die Augen offen», sagte Imorym und trieb seinen Janko an. Schweigend ritt die Gruppe dem Feldweg entlang, dem drohenden Wald entgegen, der sein Geheimnis hinter im Wind wippenden Baumkronen verbarg. Imorym hatte einen Verdacht, was die Rauchsäule bedeuten könnte, auch wenn er den gar nicht aussprechen mochte.

  • Jufington 25. Juni 2023 um 22:45

    Hat den Titel des Themas von „Das erste Kapitel verschlimmbessern (Wind der Veränderung)“ zu „Die ersten Kapitel verschlimmbessern (Wind der Veränderung)“ geändert.
  • Und weiter geht's mit der Überarbeitung von Kapitel 2.

    Ich bin mit der Überarbeitung des ganzen Kapitels recht happy, da ich finde, der neue Schauplatz macht diese Version interessanter. Allerdings erscheint mir der Teil mit dem Morkmasaft hier wie ein Fremdkörper und hat etwas von seinem ursprünglichen Witz verloren.

    Was meint ihr? Eine Verbesserung oder einfach nur anders?

    Das ganze Kapitel im Hauptthread (möglicherweise bereits aktualisiert)

    Die Alte Fassung als Referenz

    Er wird es schaffen, dachte sie. Er braucht Zeit, aber er wird es schaffen. Tameras Blick war auf Imoryms Rücken vor ihr fixiert. Er hatte schon seit dem Frühjahr keine Träume mehr gehabt. Als Ulrich zum Mond des Bären wieder zu ihnen gestossen und sie mit der Schneeschmelze die Berge verlassen hatten. Der Winter war hart gewesen. Die tiefe Mine war isoliert und sie hatten sich gut mit Vorräten eingedeckt. Trotzdem konnten sie manchmal den eisigen Wind spüren, der sich seinen Weg durch die Stollen bahnte. Und das Heulen, das ständige Heulen der Winterstürme. Es war in Nächten wie diesen, wo die Träume am Schlimmsten waren. Wo Imorym im Schlaf redete und um Vergebung flehte, bevor er schweissgebadet erwachte und barfuss nach draussen in die Kälte stapfte. Einmal hatte sie ihn dort suchen müssen und ihn am Abhang gefunden. Der Narr hatte in dieser Nacht beinahe seine Zehen and die Kälte verloren und wahrscheinlich sein Leben, hätte Tamera sich nicht um ihn gekümmert.

    Ihr Blick wanderte von Imorym zu Elinja. Nach diesem Winter hätte ich mir aber etwas mehr Vertrauen erhofft.

    Elinja Danowski ritt geübt und gerade, wusste genau wohin der Weg sie führte und sprach nur wenn es wirklich nötig war, um sie zu belehren oder um den Weg zu beschreiben. Das nördliche Vodrask war ohne Führer umständlich zu bereisen, daran zweifelte sie nicht, aber brauchte es für einen simplen Auftrag, wie das Überbringen eines Umschlags wirklich einen vodraskischen Begleiter? Imorym hat sie doch nicht etwa als unseren Aufpasser angeheuert?

    Sie war am Morgen des ersten Tages bei ihnen aufgetaucht. Sie hatten gerade auf dem Marktplatz von Grauborg gestanden, die Pferde gesattelt, den Proviant gepackt und den Auftrag besprochen, da tauchte sie auf. Der Austausch der Höflichkeiten dauerte nicht lange. Sie sagte bloss, wer sie war und dass der Herzog sie geschickt hatte. Schon alleine ihren Namen aus ihr raus zu kitzeln war Aufwand. Man sollte meinen, Reiseführer werden dafür bezahlt, so viel wie möglich zu erzählen?

    Es war der Frau ja nicht zu verübeln, ihnen nicht zu vertrauen. Spätestens seit dem Streit heute Morgen war bekannt, dass sie Banditen waren. Auch wenn Elinja darauf nicht reagierte.

    «Wir legen hier eine Rast ein!», rief Imorym und zügelte sein Pferd. Es war Mittag, sie befanden sich noch immer in der Wildnis. Fichten, Buchen und Föhren, deren knorrigen Stämme in der leichten Brise schaukelten und sich dabei immer wieder kurz vor das gleissende Licht Urols schoben. Das weitläufige Waldland bot ein Heim für zahlreiche Tiere, die sie jagen konnten. Sie stiegen ab und banden die Pferde an die alten Bäume. Scheinbar wurde auf dieser Lichtung schon kürzlich ein Lager aufgeschlagen. Baumstämme und Felsen als Sitze, ein feuchtes Häuflein Kohle und Asche in der Mitte.

    Ulrich nahm seine Muskete vom Sattel, setzte sie mit dem Lauf nach oben auf den Boden und kratzte sich seinen kurzen, dunkelblonden Backenbart, bevor er seinen Breitkrempigen Hut richtete und mit dem Laden begann. Seine Bewegungen waren schnell und geübt. Mit dem Schusseisen konnte Ulrich niemand etwas vormachen.

    «Ich gehe uns etwas zum Beissen besorgen», meldete er, hing sich die Muskete über die Schulter und verschwand auf leisen Sohlen im Dickicht.

    Tamera sah sich um. Elinja und Imorym berieten sich über die Karte gebeugt. Es war Zeit, dass sie auch kurz verschwand. Nur noch einmal, nur ganz kurz.

    «Ich suche auch nach etwas zu essen», rief sie und trat zwischen die niedrig hängenden Äste in den dichten Wald. Ihre Tasche hatte sie dabei, fehlte nur noch der Nachschub.

    Sie zwängte sich an harmlosen oder dornigen Büschen vorbei, sprang über winzige Wasserläufe und umgestürzte Baumstämme, auf deren moderigem Holz Pilze und Flechten wuchsen und duckte sich unter Vorhängen aus Blättern und Zweigen. Der Wald duftete herrlich nach Moos und Föhrenharz. Bei jedem Schritt raschelte oder knackte es unter ihren Stiefeln.

    Nach einigen Minuten hielt Tamera inne. Es war nun völlig ruhig. Von den Anderen fehlte jede Spur. Gibt es im nördlichen Vodrask nicht Braunbären? Elinja hat erwähnt, dass die jungen Husaren sie gerne als Mutprobe jagen.

    Von plötzlichem Verfolgungswahn erfüllt, bemühte sie sich um einen leisen Tritt und bewegte sich geduckt durch den dichten Wald.

    Nach einer Weile fand sie schliesslich die gesuchte Pflanze. Zwei ausgewachsene Morkmablumen und drei junge. Tiefrote, beckenförmige Blüten mit leuchtend gelbem Pollenstand. Der Stiel war hoch und dick, hellgrün mit weissen Streifen, beschattet von einigen spitzen Blättern. Sie kniete sich auf den Waldboden und legte ihre Tasche neben sich.

    Ungeduldig tastete sie die Innenseite ab, bis sie eine Erhebung im Futter fand. Sie zwängte die Finger durch einen Spalt und holte eines der Reagenzgläser hervor, die sie vorsichtig im Innenfutter ihrer Tasche versteckt hatte. Sie klemmte einen Stiel weit unten zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte ihn ab. Geübt hielt sie den Stängel über das Glas und presste ihn von oben nach unten aus. Ein hellgrüner, fast weisser Saft quoll aus der Pflanze und rann auf den Boden des Glases. Es duftete bitter und stechend. Und doch so süss, dachte Tamera. Die Prozedur wiederholte sie bei den restlichen vier Blumen, bis alle flach und ausgepresst auf dem Boden lagen und das Reagenzglas etwa zur Hälfte mit dem rohen Saft gefüllt war. Eine gute Ernte. Die Wilden Blumen hier waren zwar nicht mit den gezüchteten Plantagen an der Frostsee zu vergleichen, aber für einen leichten Rausch sollten sie genügen, wenn sie den Saft erst einmal gefiltert und aufgekocht hatte.

    Zufrieden stand sie auf, nahm ihre Tasche und setzte sich auf einen nahen Baumstumpf. Sie versteckte den frischen Pflanzensaft in ihrer Tasche und holte an seiner Stelle das bereits verarbeitete Morkma hervor. Sie schüttelte prüfend das halbvolle Reagenzglas, entkorkte es und hob es vorsichtig an ein zweites, leeres Glas. Einer, zwei, drei, vier, fünf. Sie brauchte mindestens zwölf Tropfen. Nachdem die Dosis abgemessen und der Saft verstaut war, hob sie ihren Schuss an die Lippen und warf den Kopf in den Nacken.

    Erst schmeckte sie Bitterkeit und ein leichtes Brennen, wie starker Alkohol. Dann breitete sich eine wohltuende Wärme in ihrem Körper aus. Es kribbelte, pulsierte und erfrischte, sodass sie die Augen schloss und erschauerte. Für einen kurzen Augenblick kappte die Verbindung ihrer Gedanken zu ihrem Körper und sie fand sich auf dem erdigen Waldboden wieder, die Arme auf dem Baumstrunk hinter sich ruhend.

    Tamera legte den Kopf auf das warme Holz und sah zu den schaukelnden Föhrenwipfeln. Sie schauderte ein letztes Mal, bevor sie eine lang ersehnte Ruhe überkam.

    Sie sass da eine Weile, das dunkelblaue Hemd und die braune Weste verrutscht und die Beine lang ausgestreckt. Ich sollte wohl langsam los, dachte sie schliesslich und erhob sich schwindelig. Langsam und gemächlich packte sie ihre Sachen. Es wurde höchste Zeit, dass sie ihren Morkmasaft schluckte, ihre Unruhe und Übellaune hätte sie nicht viel länger verbergen können. Nun konnte ihr wieder alles egal sein. Der Auftrag, ihre unausstehliche Begleiterin, ihr armseliges Leben, sogar ihre Sehnsucht nach dem alten Laden vergass sie einen Moment. Was spielte es schon für eine Rolle? Schuhsterin in einem Geschäft in Terzborg oder Banditin auf Lauer in einem Wald? Das Geschäft war weg, ein Opfer an die Gläubiger ihres Vaters. Ihr hätte der Laden ohnehin nur Ärger bereitet. Die kreisenden Aasgeier hatten sicher mehr Freude daran.

    Gelassen schlenderte sich durch das Gebüsch und strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz befreit hatte. Sie erklomm mit Anlauf einen kleinen Hügel, hangelte sich an einem umgestürzten Baumstamm an seiner Spitze entlang und rutschte dann lachend auf dem Hosenboden wieder runter.

    Ihr Hintern war nun voll mit Dreck, Nadeln und Blättern, aber es war ihr egal. Alles war egal.

    Tamera wollte gerade aufstehen, als ein Geräusch sie innehalten liess.

    Bär!

    Sie verharrte. Mucksmäuschenstill. Vorsichtig legte sie eine Hand vor die andere und erklomm den Hügel, den sie gerade hinabgerutscht war. Wohl bedacht, dabei keine spröden Blätter zu zerdrücken.

    Langsam spähte sie zwischen dem Rand der Erhebung und dem modrigen Baumstamm hindurch. Ihr Herz raste. Dann musste sie kichern.

    Es war bloss Ulrich.

    Sofort duckte sich Tamera, als sich die Person in ihre Richtung drehte.

    Das ist nicht Ulrich!

    Erst hatte sie sich vom grossen Schlapphut mit der umgelegten Krempe und den hohen Lederstiefeln fehlleiten lassen. Aber dieser Mann trug eine purpurne Straussenfeder statt Falkenfedern im Hut. Und seine Stiefel waren geschwärzt. Militärisch schwarz. Das war ein echter Ardonier!

    Vorsichtig versuchte sie, einen weiteren Blick zu erhaschen.

    Der Mann trug einen stählernen Harnisch unter seinem nussfarbenen Mantel. Eine schwarze Schärpe und das Bandelier eines Musketiers kreuzten sich auf seiner Brust. Er blickte argwöhnisch in ihre Richtung. Zwar war er sicher noch fünfzig Fuss entfernt, aber im offenen Wald konnte er sie kaum überhört haben.

    Seine Hand wanderte zum Tragriemen an seiner Schulter. Er nahm seine Muskete in die Hände und machte einen Schritt vorwärts.

    Tamera hielt den Atem an. Was soll ich tun?

    Der Musketier bewegte sich mit der gezielten Behäbigkeit eines Jägers.

    Selbst wenn ich jetzt losrenne; er wird schiessen, bevor ich entkommen kann.

    «Gefreiter Otmar! Hören Sie auf zu trödeln und halten Sie Schritt! Wir müssen zurück zur Pontonbrücke!»

    Die Stimme sprach kadranisch.

    Der Schütze zuckte zusammen. Er warf einen letzten Blick in den Wald hinein, bevor er sich umdrehte und unterwürfig zu seinem Vorgesetzten eilte.

    Schemen zogen hinter dem Nadelmeer an den Fichten vorbei. Das musste eine ganze Schar Ardonier sein.

    Tamera kicherte. Da waren ganz viele Ulrichs.

    Er wird es schaffen, dachte sie. Er braucht Zeit, aber er wird es schaffen. Tameras Blick war auf Imoryms Rücken vor ihr fixiert. Ihr war nicht entgangen, dass er letzte Nacht geträumt hatte. Er hatte schon seit dem Frühjahr keine Träume mehr gehabt. Als Ulrich zum Mond des Bären wieder zu ihnen gestossen und sie mit der Schneeschmelze die Berge verlassen hatten. Der Winter war hart gewesen. Die tiefe Mine war isoliert und sie hatten sich gut mit Vorräten eingedeckt. Trotzdem konnten sie manchmal den eisigen Wind spüren, der sich seinen Weg durch die Stollen bahnte. Und das Heulen, das ständige Heulen der Winterstürme. Es war in Nächten wie diesen, wo die Träume am Schlimmsten waren. Wo Imorym im Schlaf redete und um Vergebung flehte, bevor er schweissgebadet erwachte und barfuss nach draussen in die Kälte stapfte. Einmal hatte sie ihn dort suchen müssen und ihn am Abhang gefunden. Der Narr hatte in dieser Nacht beinahe seine Zehen and die Kälte verloren und wahrscheinlich sein Leben, hätte Tamera sich nicht um ihn gekümmert.

    Nach diesem Winter hätte ich mir aber etwas mehr Vertrauen erhofft, dachte sie sich.

    Nicht nur, dass er kaum mit dem Auftrag hatte herausrücken wollen, den seine adeligen Freunde ihm gegeben haben, nein, er hatte auch noch, ohne sich mit ihnen abzusprechen eine Fremdenführerin angeheuert. Und dazu noch eine so schweigsame und mürrische Frau, wie man sie sonst nur auf dem Fischmarkt in Tanningen fand.

    Tamera seufzte leise und kratzte sich unwohl. Ihre Laune verschlechterte sich. Es wurde höchste Zeit, dass sie wieder einen passenden Augenblick fand, etwas von dem Saft zu schlucken. Nur ein Bisschen, zum Abgewöhnen.

    Während sie unter seinem windumspielten Dach ritten, liess der Wald flackernde Lichtpunkte zu ihnen vordringen. Was dahinter lag, zeigte sich erst, nachdem es seinen Geruch verriet. Es roch tatsächlich nach verbranntem Holz und…Leder? Tamera wurde mulmig. Vielleicht sogar Haar?

    Der Wald öffnete sich vor ihnen. Dahinter schlängelte sich der Weg durch Felder von gelbem Korn und frisch spriessender Roter Beete. Am Waldrand stand ein kleines, strohgedecktes Bauernhaus.

    Leise näherte die Gruppe sich der Hütte. Es hätte alles friedlich ausgesehen, wenn es nicht so still wäre. Hinter dem Hof war ein Gehege für Ziegen, aber es waren keine zu sehen. Auch vom Stall her drangen keine Geräusche zu ihnen. Die mintgrün gestrichene Tür zum Wohnteil – sperrangelweit geöffnet.

    Sie hielten an und spähten unter ihren Handflächen durch die offene Tür. Der Hof schien ausgeräumt zu sein.

    «Ardonier.»

    Imorym spuckte das Wort fast schon aus. Tamera schielte verstohlen zu Ulrich, aber der ehemalige Söldner tat nichts dergleichen.

    Sie ritten weiter und hielten auf das Dorf hinter dem nächsten Gebüsch zu. Der Ritter deutete auf eine von Kies und jungen Büschen bedeckten Anhöhe. «Wenn wir das Dorf durchsuchen, sollte jemand zurückbleiben und Ausschau halten. Sie könnten noch in der Nähe sein.»

    «Ich mache das», meldete sich Tamera, fast schon erleichtert.

    Er nickte. «Gut, bis später.»

    Während sich die anderen drei dem rauchverhangenen Dorf näherten, stieg Tamera ab und erklommt die Anhöhe. Von hier aus konnte sie die Haselnuss- und Brombeerbüsche überblicken und die rauchenden Ruinen dahinter erkennen. Bei der Trockenheit mussten die hölzernen Hütten gebrannt haben wie Zunder, alle Äste in ihrem Umkreis versengend.

    Sie drehte sich auf der Stelle und spähte in alle Richtungen. Die Wälder, Moore und Felder rundum schienen friedlich. Der Wind wogte in Wellen über die Wiesen, Vögel jagten tief fliegenden Mücken hinterher. Keine Spur von ardonischen Brandschatzern.

    Eigentlich ist das der perfekte Augenblick.

    Gierig hielt sie Ausschau. Sie hatte noch etwas Saft dabei, aber mit frischen würde sie auch die nächsten Tage überstehen.

    Ein Stück von ihrem Hügel entfernt, plätscherte ein Fluss. Kein besonders grosser, ein Zufluss vom Zufluss des Serno. An seinem Ufer erblickte sie ein flaches Unterholz. Mittendrin – eine tiefrote Blüte.

    Gefunden.

    Ein letzter, schuldbewusster Blick auf das Dorf und Tamera begann, den Hügel hinabzusteigen. Sie zwängte sich an harmlosen oder dornigen Büschen vorbei, sprang über Felder von Morast und moderigen Baumstämmen und duckte sich unter Vorhängen aus Blättern und Zweigen.

    Nach einigen Minuten intensiver Arbeit erreichte sie die verheissungsvolle Blüte. Sie wuchs zusammen mit drei anderen Morkmablumen neben einem umgestürzten Stamm. Tiefrote, beckenförmige Blüten mit leuchtend gelbem Pollenstand. Der Stiel war hoch und dick, dunkelgrün mit hellen Streifen, umgeben von einigen spitzen Blättern. Die Pflanzen gediehen prächtig, hier, im kühlen Schatten.

    Sie kniete sich auf den erdigen Boden und legte ihre Tasche neben sich. Ungeduldig tastete sie die Innenseite ab, bis sie eine Erhebung im Futter fand. Sie zwängte die Finger durch einen Spalt und holte eines der Reagenzgläser hervor, welche sie vorsichtig im Innenfutter ihrer Tasche versteckt hatte. Sie klemmte einen Stiel weit unten zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte ihn ab. Geübt hielt sie den Stängel über das Glas und presste ihn von oben nach unten aus. Ein hellgrüner, fast weisser Saft quoll aus der Pflanze. Es duftete bitter und stechend. Und doch so süss, dachte Tamera.

    Die Prozedur wiederholte sie bei den restlichen vier Blumen, bis alle flach und ausgepresst auf dem Boden lagen und das Reagenzglas etwa zur Hälfte mit dem rohen Saft gefüllt war. Eine gute Ernte. Die Wilden Blumen hier waren zwar nicht mit den gezüchteten Plantagen an der Frostsee zu vergleichen, aber für einen leichten Rausch sollten sie genügen, wenn sie den Saft erst einmal gefiltert und aufgekocht hatte.

    Zufrieden stand sie auf, nahm ihre Tasche und setzte sich auf einen nahen Baumstumpf. Sie versteckte den frischen Pflanzensaft im Innenfutter und holte an seiner Stelle das bereits verarbeitete Morkma hervor. Sie schüttelte prüfend das halbvolle Reagenzglas, entkorkte es und hob es vorsichtig an ein zweites, leeres Glas. Einer, zwei, drei, vier, fünf. Ich brauche mindestens acht, sollte aber nicht mehr als zwölf … ach, was sind schon ein paar mehr?

    Zweifelnd betrachtete Tamera ihre grosszügig gemessene Dosis, zuckte mit den Schultern, hob ihren Schuss an die Lippen und warf den Kopf in den Nacken.

    Erst schmeckte sie Bitterkeit und ein leichtes Brennen, wie starker Alkohol. Dann breitete sich eine wohltuende Wärme in ihrem Körper aus. Es kribbelte, pulsierte und erfrischte, sodass sie die Augen schloss und erschauerte. Für einen kurzen Augenblick kappte die Verbindung ihrer Gedanken zu ihrem Körper und sie fand sich auf dem erdigen Waldboden wieder, die Arme auf dem Baumstrunk hinter sich ruhend.

    Tamera legte den Kopf auf das kühle Holz und sah zu dem schillernden Blätterdach. Sie schauderte ein letztes Mal, bevor sie eine lang ersehnte Ruhe überkam.

    Sie sass da eine Weile, das dunkelblaue Hemd und die braune Weste verrutscht und die Beine lang ausgestreckt. Ich sollte wohl langsam los, dachte sie schliesslich und erhob sich schwindelig. Langsam und gemächlich packte sie ihre Sachen. Es wurde höchste Zeit, dass sie ihren Morkmasaft schluckte, ihre Unruhe und Übellaune hätte sie nicht viel länger verbergen können. Nun konnte ihr wieder alles egal sein. Der Auftrag, ihre unausstehliche Begleiterin, ihr armseliges Leben, sogar ihre Sehnsucht nach dem alten Laden vergass sie einen Moment. Was spielte es schon für eine Rolle? Schuhsterin in einem Geschäft in Terzborg oder Banditin in den Wäldern von Vodrask? Das Geschäft war weg, ein Opfer an die Gläubiger ihres Vaters. Ihr hätte der Laden ohnehin nur Ärger bereitet. Die kreisenden Aasgeier hatten sicher mehr Freude daran.

    Gelassen strich sie sich eine widerspenstige, dunkle Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz befreit hatte und schickte sich an, ihren Weg aus dem Dickicht zu bahnen. Während sie zuvor zielstrebig und koordiniert vorgegangen war, fühlten sich ihre Bewegungen nun viel lockerer an. Sie hangelte an Ästen entlang, rutschte auf dem Hosenboden und watete durch Pfützen, sich mit Dreck, Blättern und Nadeln bedeckend. Aber wen kümmerte es? Es war egal. Egal, wie alles andere auch.

    Ein Geräusch liess sie innehalten.

    Ardonier!

    Sie duckte sich und verharrte. Mucksmäuschenstill. Da war ein Rascheln, ein Stück voraus im Schilf. Auf ihrer Seite des Flusses.

    Mit einem lautlosen Fluch auf den Lippen wanderte ihre Hand zum langen Messer am Gurt.

    Wach auf, verdammt, schalt sie sich. Sie schluckte den Saft nun schon lange genug um ihren Gemütszustand einschätzen zu können. Es hiess, in Vodrask wachse kein anständiges Morkma. Nur deshalb schleusten die Kartelle so viel importierte Ware durch Śepyk in das Land ein. Aber das Zeug war stärker als erwartet!

    Das Schilf teilte sich. Da kam etwas auf sie zu, in etwa fünfzig Schritt.

    Tamera zog blank und beugte sich tiefer. Ihr linker Stiefel versank im Morast, der Rechte thronte auf einem Haufen morschem Holz. Das war kein Ort für einen Kampf.

    War es ein gewöhnlicher Infanterist? Das sind faire Chancen. Ihm bleibt im Schilf auch nur das Rapier übrig.

    Ein Musketier? Dann bin ich tot. Selbst wenn er unvorbereitet ist, kommt er auf die Distanz zum Schuss, bevor ich ihn erreichen kann.

    Ein Kürassier? Sowas von tot.

    Das Rascheln kam näher und ihr Stiefel sank tiefer in den Morast, als ob das Ried sie zu sich holen wollte, unter einem Schild aus Schlamm schützend und doch zum Tode verdammend.

    Eine Hand schob sich aus dem trockenen Wirrwarr. Eine schlanke, bleiche Hand. Ein rundes Gesicht, umrahmt von kurzem, dunklem Haar schälte sich aus dem Ried. Die grünen Augen verengten sich, als sie Tamera entdeckten.

    «Warum sind Sie nicht auf dem Hügel?», blaffte Elinja sie an.

    Tamera wäre fast gestrauchelt vor Überraschung.

    «Ich hatte hier unten ein Geräusch gehört.»

    Elinjas Stirnrunzeln verriet ihre Meinung dazu.

    «Das Dorf ist leer. Kommen Sie, die anderen warten oben.»

    Ohne weiteres machte die zierliche Fremdenführerin kehrt und wies den Weg zurück durch das Dickicht.

    Der Morast unter Tamera schmatzte laut, als er ihren Fuss wieder freigab.

    «Kannst du kämpfen?», fragte sie, während sie sich mit ihrem verklumpten Schuh bemühte, Elinjas zielstrebigen Schritten zu folgen.

    «Wenn es darauf ankommt. Warum?»

    «Falls hier ein Ardonier auftauchen würde; mit welcher Waffe würden deine Chancen am besten stehen?»

    «Hat er mir oder jemand anderen denn etwas getan?», fragte Elinja, ohne sich umzudrehen.

    «Was? Nein, nichts Spezifisches, einfach ein Ardonier. Ein Soldat halt.»

    «Warum sollte ich gegen ihn kämpfen wollen?»

    «Na gut», seufzte Tamera. Sie bereute jetzt schon, diese Frage gestellt zu haben. Dabei war das unüberlegte Plappern doch einer der besten Effekte des Safts.

    «Nehmen wir an, er kommt über den Serno. Hier, an der Stelle und greift Vodrask an. Du musst also kämpfen, um dein Land zu schützen.»

    «Er wird ja kaum alleine gekommen sein. Irgendwer wird den Befehl dazu gegeben haben.»

    «Dieser jemand wird auch seine Befehle bekommen haben.»

    «So wie jemand vor zwei Jahren den Befehl gegeben hat, den Serno in Dripol zu überqueren.»

    Tamera schmunzelte, während sie das Ufer verliessen und auf das Dorf zuhielten. Sie hatte die Fremdenführerin nicht für eine Idealistin gehalten.

    «Wie weit willst du das Spiel spielen?»

    «So weit, bis es sich zu kämpfen lohnt. Das kann ganz unten sein oder aber ganz oben an der Spitze. Verdamme nicht das Rad, für dass es sich dreht, sondern den Kutscher, der es antreibt.»

    Tamera musste kichern, was ihr endlich einen kurzen Blick Elinjas bescherte. Sie hatte Mühe, ihre Gedanken zu ordnen, konnte sie nicht wirklich greifen, als lägen sie in einem zähen Morast verborgen. Sie hatte nicht viele Tropfen genommen, aber es waren genug, um das alles absurd erscheinen zu lassen.

    «Ein Rapier.»

    Elinja ging doch noch auf ihre Frage ein. «Die meisten Männer wählen ein Rapier, weil es so schick aussieht. Es liegt grossartig in der Hand, sie fühlen sich leicht, elegant, unbesiegbar. Schade nur, dass es einem nichts nützt, wenn man es schwingt wie einen Dreschflegel.»

    Tamera lächelte und nickte, selbst wenn es Elinja vor ihr nicht sehen konnte.

  • Und hier nun das Ende des Kapitels und der vorläufige Rest der Totalrevision.

    Im Kapitel werden Kriegsverbrechen angedeutet. Ich hoffe, das wirkt nicht irgendwie geschmacklos oder sensationsgeil. Ich wollte damit den Ton für die Geschichte setzen und die Ardonier erst einmal als das gesichtslose Böse etablieren. Lasst mich gerne wissen, wenn etwas zu weit geht.

    Das ganze Kapitel im Hauptthread (möglicherweise bereits aktualisiert)

    Alte Fassung als Referenz

    Als sie schliesslich das kleine Lager erreichte, war sie ganz zerzaust, aber unglaublich erleichtert. Es brannte bereits knisternd ein Feuer. Elinja blies auf allen Vieren in die kleinen Flammen, bis es auch die dicken Äste umhüllte. Imorym sass auf dem Baumstamm und schnitt eine Kartoffel über dem kleinen Gusseisentopf auf seinem Schoss in Stücke. Er sah kurz auf, als Tamera erschien und wendete sich wieder seinem unfertigen Mahl zu. Sie betrachtete ihn. Dann Elinja und wieder ihn. Unsicher, ob sie etwas von ihrer Entdeckung sagen sollte oder nicht.

    «Tamera», seufzte er schliesslich. «Komm mal kurz mit.»

    Er legte seinen Topf weg und erhob sich. Das Klappern seiner Rüstung blieb aus, nur das Kettenhemd, das er noch anbehalten hatte, klirrte leise.

    «Haben wir nicht vor drei Wochen abgemacht, dass du aufhörst?», fragte er streng, als sie sich ausser Hörweite der Reiseführerin etwas weiter vorne am Weg befanden.

    «Womit aufhören?», ihr Ton sprach von Unschuld, die geröteten Wangen und Schweisstropfen auf ihrer Stirn von Schuld.

    «Du weisst es genau, Morkma. Das Zeug benebelt die Sinne, langfristig. Es dauert Tage, bis dein Geist von einem einzigen Schuss befreit ist und Jahre, bis man sich von einigen Duzend erholt hat. Du warst auch schon in den Städten. Du hast die Glasaugen dort gesehen. Willst du als Dummerchen enden? Sabbernd in einer Gosse sitzen und um Almosen betteln?»

    «Du klingst wie mein alter Vater», brummte sie und sah abgelenkt zu einer Fichte hoch, in der sie gerade ein Eichhörnchen erspäht hatte.

    «Und da er nicht da ist, muss eben ich dieses Gespräch mit dir führen. Nun gib mir diese Tasche!»

    «Nein.» Leck mich, wollte sie sagen, aber der strenge Blick des alten Recken liess sie verstummen. Widerwillig streifte sie den Beutel ab und reichte ihn ihm. Er kniete sich hin und begann zu wühlen. Wühlte und wühlte, bis er schliesslich das winzige Fläschchen mit dem grünen Saft fand.

    «Wusste ich's doch», rief er triumphierend und warf es auf den Boden, bevor er es mit seinem Stiefel zermalmte. «Du wirst ohne den Mist auskommen müssen. Und wenn du mich einen Monat lang hassen wirst, dich kratzt, schlecht träumst und alle, die dir zu nahe kommen anfauchst, musst du mir irgendwann danken.»

    Idiot, dachte sie. Das war bloss Gurkensaft, zur Tarnung. Fast hätte sie gekichert, verklemmte es sich aber doch und versuchte, eine mürrische Miene aufzusetzen, was ihr aber auch nicht gelang. Stattdessen lächelte sie vor sich hin und machte einen entrückten Eindruck. Sie bemerkte, dass Imorym sie ansah. Das väterliche in ihm war verschwunden, die Maske gefallen. Er mochte sie, das wusste sie schon lange. Es war viel passiert im letzten Winter und wenn man so viel Zeit miteinander verbrachte, kam man sich näher als man gedacht hätte. Man begann, sich ohne Worte zu verstehen, die Sorgen, Trauer, Einsamkeit und Freude des anderen zu spüren und in den stürmischsten Nächten Schutz beieinander zu suchen.

    Im Moment war ihr das egal, egal wie der Gurkensaft, wie die Ardonier und der verdammte Umschlag.

    Nachdem sie das geklärt hatten, kehrten sie zum Lager zurück, wo Ulrich gerade einem Hasen das Fell abzog. Er machte seine Sache ganz gut. Zumindest war das Fell am Ende an einem Stück vom Fleisch getrennt. Der Kadranier hatte schon zu seiner Söldnerzeit geholfen, seinen Tross zu versorgen. Er wusste, wie man vom Land leben konnte.

    Der Hase wurde zerteilt und zusammen mit Kartoffeln, Zwiebeln Salz, Pfeffer, Rosmarin und Salbei in den Topf geworfen, mit Butter angedünstet und in Bachwasser gekocht. Nicht übel, dachte Tamera, als sie zusammensassen und die Suppe mit Holzlöffeln aus Schalen schlürften. Es tat gut, wieder eine warme Mahlzeit zu haben. Es war Spätsommer und die Tage wurden bereits kurz, die Abende kalt und das Wetter mies.

    Gleich nach dem Essen löschten sie die Glut, packten die Reste ein und zogen weiter. Elinja wies sie darauf hin, dass fast alles Land hier einem Mitglied der Miezlakta gehörte. Der Schwertadel mochte es nicht, wenn Reisende auf ihrem Grund rasteten. Bis zum nächsten Abschnitt Wildnis waren es noch sechs Stunden – genau bis Sonnenuntergang.

    Sie ritten vom Wald in die Felder hinein. Gelbes Korn, Steckrüben und Kohl warteten dort auf die Ernte. Das Land war sanft hügelig und von vereinzelten Dörfern durchzogen, die nur aus wenigen Gebäuden bestanden. Holzhütten mit Strohdächern, Zarimstempel aus gestrichenem Holz oder rotem Backstein, bestenfalls zweistöckige, bunt bemalte Landhäuser mit Schindel- oder sogar Ziegeldächern. Die Bewohner sahen neugierig von ihrer Arbeit auf, als sie näher ritten. Einfache Leute mit Fellmützen, schmutzig weisse Kittel aus Wolle oder Leinen, mit Tüchern zusammengebunden, bauschige Hosen, traditionelle Röcke und Kleider. Ihre Gesichter waren von bäuerlichen Sorgen gezeichnet. Wettergegerbt, gebräunt oder voller Pockennarben. Genau wie meine eigenen, dachte sie und strich sich über ihre linke Wange, wo die Spuren der Infektion am besten erkennbar waren.

    Man sah in den Dörfern nur wenige Händler, Kaufleute und Beamte mit den typisch vodraskischen Fellbesetzten Mänteln und Wickelröcken, die von einem breiten, bunten Tuch als Gurt gehalten wurden. Die Männer trieben begleitet von Wachen mit Speeren und Langäxten Steuern ein oder zählten die Ziegen, Schafe und Schweine der Hirten. Einer begutachtete eine Wagenladung Korn, ein anderer stand vor einer offenen Scheune voller Roter Beete und führte Buch. Sie ritten auch an hämmernden Hufschmieden, Säcke schleppenden Müllern und schwitzenden Baumeistern vorbei. Die allergrösste Mehrheit Menschen, die sie im Verlauf des Tages sahen, waren aber tatsächlich Bauern, die sie misstrauisch ansahen und wieder wegschauten, sobald sie vorbeigeritten waren.

    Imorym hatte ihr schon viel über dieses Land erzählt. Selbst Elinja war mit einigen interessanten Anekdoten herausgerückt. Jetzt wo Tamera das Land selbst sah, war sie unterwältigt. Wie konnte ein solch rückständiges Land eine derart erfolgsgekrönte Geschichte haben? In Borheim hatte man von Vodrask gesprochen, als sei es noch immer das Zentrum der Welt. Selbst nachdem das Königreich seine einstige Pracht verloren hatte, nachdem die gefürchteten Greife durch schnöde Pferde ersetzt wurden. Die Bauern pflügten noch immer den gleichen Boden und schliefen in den gleichen Betten. Es war ja wohl nicht so, dass sie Juwelen und Perlen trugen, als die Greifenkönige noch über die Lüfte regierten.

    Während sie grösstenteils schweigend durch die Zlięstwa ritten, stellte Tamera enttäuscht fest, dass die Wirkung des Safts verschwunden war. Doch obschon sie die Felder, Bäume und Bauern nun bewusst mit nüchternen Augen betrachtete, einen grossen Unterschied machte es nicht. Die Wirkung flaute wohl schon länger ohne ihr Bemerken ab. Von wegen Tage! In Vodrask bekommt man einfach kein anständiges Morkma.

    Während Urol langsam an ihren Köpfen vorbei über den Horizont wanderte und die Felder und Wälder in warmem Licht badete, ritt sie neben Ulrich und unterhielt sich mit ihm. Falls er ihren Rausch bemerkt hatte, liess er sich das nicht anmerken.Sie teilte ihre Gedanken zu Vodrask und sie scherzten über Pelzmützen und Läuse.

    «Ist schon komisch», erklärte Ulrich. «Daheim im Wolgram hat man uns Kindern gesagt, dass die Vodraskis ein barbarisches Volk seien. Dass sie vor tausend Jahren ihre Heimat im Osten verlassen hätten, um den gesamten Westen zu unterjochen.»

    «Sind ja nicht weit gekommen.»

    «Wenn ich mir die Gegend hier ansehe, überrascht es mich, dass sie überhaupt einmal kurz davor waren. Zu ihrer Blütezeit gehörte ganz Palus zum Greifenreich, grosse Teile von Warakien, Selbst Borheim war Jahrhunderte lang eine Zlięstwa von Vodrask.»

    «Hat man euch das in der Schule beigebracht?»

    Ulrich lachte: «Trage ich etwa ein Rüschenhemdchen und hübsche Schnallenschuhe? Nein, ich ging doch nicht zur Schule.»

    «Hattet ihr bei euch den keinen Priester, der euch unterrichtete? Bei uns in Terzborg hat uns der Zarimspriester jeden Sakhrut die fünf Lehren erklärt.»

    «Wir sind novultistisch aufgewachsen. Bei uns kümmerten die Priester sich nicht um sowas. Einmal die Woche den Göttern huldigen, ab und zu zum Grossen Auge aufsehen und ‘bitte, bitte, tötet uns nicht’ sagen und das war’s. Wir mussten keine Bücher von irgendwelchen Propheten büffeln.»

    «Die dritte Lehre heisst Ehre, weisst du? Hätte dir gutgetan, wenn dir die jemand als Kind vorgelesen hätte», meinte Tamera grinsend.

    «Pff, alles Heuchler.»

    Bevor Ulrich kundtun mochte, was er wirklich von den Priestern hielt, wurde ihr Gespräch von einer unangenehmen Entdeckung unterbrochen.

    Als sie gerade über flaches Land ritten, dass von Gehölzen und Sumpf durchzogen war, stieg ihnen ein Gestank in die Nase. Süsslich, faul. Da sahen sie das erste Opfer dieses Kriegs. Ein Ardonier. Mit dem Gesicht im Gras lag er am Strassenrand. Neben ihm eine Muskete, der federgeschmückte Hut vor ihm und die Lederweste vom Blut getränkt, das ihm aus der Pfeilwunde im Rücken gesickert war. Teilweise sah es bereits braun und trocken aus, mindestens einen Tag alt. Der Gestank und das Summen der Aasfliegen bestätigten ihren Verdacht. Weitere Leichen lagen auf dem Feld. Pikeniere, die ihre langen Waffen längst zurückgelassen hatten und mit Messern und Rapieren in der Hand gestorben waren, Pikenbrecher, deren Holzschilder von Kugeln gesplittert und durchschlagen waren, Milizsoldaten, die in den vielen Pfützen und Tümpeln lagen und deren Gesichter dadurch bleich und aufgedunsen wirkten. Sogar einen Husaren sahen sie. Er lag auch auf dem Boden, keine Spur von seinem Pferd. Die hölzernen, mit langen Federn geschmückten Schwingen auf seinem Rücken ragten aus dem Gras empor, der Schmuck leicht im Wind raschelnd. Seine Plattenrüstung und der tiefrote Gambeson waren schmutzig und sein Helm war zertrümmert. Metall mischte sich mit den Überresten seines Schädels. Spätestens bei dem Anblick wurde ihr übel.

    Um den Husaren herum standen drei Bauern. Zwei stritten sich um seinen Waffengurt und Einer zog dem Toten die Stiefel aus. Auch überall sonst waren Plünderer zu sehen. Sie wühlten in Taschen, entnahmen den Leichen Waffen, Munition und Kleidungsstücke, und rissen glänzende Knöpfe und Broschen von den Kleidern und Hüten. Vermutlich ging es hier nur noch um übersehene oder schlicht wertlose Stücke. Es überraschte sie, dass der Husar nicht schon längst bis auf die Unterwäsche ausgezogen war. Wahrscheinlich brachten die Bauern ihren Beschützern doch mehr Respekt entgegen, als sie angenommen hatte.

    «Was glaubt ihr, sollten wir auch unser Glück versuchen?», schlug sie zögernd vor. Sie hatte noch nie so viele Tote auf einem Haufen gesehen. Es waren bestimmt dreissig, in der gesamten Gegend vielleicht doppelt so viel.

    «Nein...Nein. Die Bauern brauchen es dringender als wir. Sieh nur, wie sie sich um diesen Mantel streiten.» Ulrich sah zu, wie vier zugleich versuchten, sich gegenseitig den mehrfach geflickten, dunkelvioletten Mantel eines Musketiers zu entreissen.

    Tamera begriff nun. «Es liegen viele der Ardonier auf dem Bauch, mit Wunden am Rücken. Sie sind wohl über den Serno gekommen, wurden von einer grösseren Macht überrascht und mussten fliehen», urteilte sie.

    «Wären sie einfach nur geflohen, lägen da keine Vodraskis. Auch hier musste noch gekämpft werden. Vielleicht floh ein Regiment, während ein weiteres den Rückzug deckte. Was weiss ich?»

    «Jedenfalls dachte ich immer, Kriegsführung mit Schusswaffen wäre weniger eklig als mit Schwertern und Äxten. Scheinbar habe ich mich geirrt.» Sie betrachtete einen toten Milizsoldaten, dessen rechte Gesichtshälfte vom Austritt einer Kugel fast unkenntlich verunstaltet war. Als sie merkte, wie ihr Magen zu rebellieren begann, drehte sie sich rasch ab und versuchte, es zu vergessen.

    «Scheisse», fluchte Ulrich. «Hätte ich mich nicht vor dem Kriegsausbruch aus dem Staub gemacht, könnte ich jetzt hier liegen. Ich meine…», er rang um Worte. «Ich komme ja aus Wolgram – das ist nicht wirklich Ardonien, auch wenn es denen schon lange gehört. Und natürlich unterstütze ich auch nicht, was die in meinem Heimatland, oder überhaupt, in ganz Kadranien und überall sonst treiben, aber… verdammt, die armen Wichte haben das sicher auch nicht gewollt. Es könnte jeden treffen der das Pech hat, über den Serno geschickt zu werden.»

    «Mach dir keinen Kopf», Tamera lächelte. Nicht nur um ihn aufzuheitern, sondern auch vor Erleichterung, weil der Gestank abflaute und sie das Feld der Toten hinter sich liessen. «Unsere Länder sind im Krieg, wir sind es nicht. Unser Auftrag ist ein ganz anderer.»

    «Solange dieser Auftrag nur darin besteht, Postbote zu spielen, ist das in Ordnung. Wenn die mich aber für die Miliz einschreiben wollen, gibt's Ärger.»

    «Keine Sorge, eher werden sie dich für einen Spion halten und aufknüpfen, falls dir das lieber ist.» Tamera sah sich nach Imorym um, weil sie ihn fragen wollte, ob dieser Fall tatsächlich eine Möglichkeit wäre. Doch sie verstummte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Er war bleich, der Blick auf dem Weg vor ihm erstarrt. Sie kannte ihn nun lange genug, um zu wissen, was in seinem Kopf vor sich ging. Das Schlachtfeld von vorhin war für ihn eines von vergangenen Zeiten. Er erinnerte sich an alte Gefechte, Gesichter von Kameraden und Feinden, die tot vor ihm gelegen waren. Den kalten Winter und die Opfer, die er gefordert hatte. Tamera wusste, dass er für dienstuntauglich erklärt wurde, auch wenn er es nicht zugeben mochte. Imorym hatte eine Schlacht zu viel gesehen und sich davon nie erholt.

    [...]

    Sie betraten das Dorf. Oder was davon übrig war. Während die Häuser entlang seiner Ränder unversehrt schienen, zogen sich die Spuren des Brands wie eine schwärende Wunde durch das Zentrum. Es hatte etwas Schönes an sich, fand Tamera. Die rauchenden Ruinen in der warmen Sommerbrise, umgeben vom Zirpen der Grillen. Die schweren Balken und Möbel freigelegt, nach Jahrzehnten des Stillstands ihr letztes grosses Orchester gespielt. Die Glücklichen unter ihnen waren in ihrem feurigen Finale zu Asche zerfallen, während andere halb verkohlt der nächsten Ewigkeit harrten.

    Nur die Besitzer dieser Möbel waren nirgends zu sehen. Waren auch sie in die Ewigkeit getreten? Wurden ihre Geister zur Busse verdammt und trugen nun für immer den Wind über die Welt, liessen die Seile der Zeit von den Spulen und bewegten die Gestirne über den Himmel? Oder hatte das Schicksal einen anderen Plan mit ihnen gehabt und sie in das nächste Leben geleitet?

    «Das war weder ein Kartell, noch gewöhnliche Banditen. Sie waren also wirklich hier gewesen», murmelte Elinja.

    «Wa… ? Wer?»

    «Na die Ardonier natürlich. Womöglich Grenzer, Vorboten für eine mögliche Invasion.»

    «Wo sind die Leute hin?»

    «Geflohen. Hoffe ich zumindest.»

    Sie bogen um eine Ecke auf den Dorfplatz. Dort erwartete sie Ulrich, die Muskete unter den Arm geklemmt. In seiner behandschuhten Hand hielt er seinen Wasserschlauch, von dem er gierig trank. Es war eine seltsame Angewohnheit der Kadranier, bei jedem Wetter Handschuhe zu tragen. Ebenso seltsam, wie sich Federn oder Feldblumen in den Hut zu stecken und ständig neue Arten zu erfinden, ein Halstuch zu tragen.

    «Wo ist Imorym?», fragte Elinja.

    «Er … musste kurz weg.» Der Söldner klang ungewohnt ernst. «Wir haben doch noch etwas gefunden, dort hinten.»

    Ulrich deutete auf das nächste Haus. Ein scheinbar unversehrtes, mit weissem Kalk und hellblauer Farbe gestrichenes Landhäuschen. Er steckte den Schlauch weg und schulterte seine Waffe, bevor er den Weg in den Hinterhof wies.

    Vielleicht war es das Morkma, oder die trockene Hitze, die zusammen mit Urol immer weiter an Höhe gewann. Jedenfalls war Tamera nicht darauf vorbereitet gewesen, was sie zu sehen bekam.

    Hinter dem Haus, in dem unordentlichen Hinterhof, lagen mehrere Körper auf dem erdigen, durchwühlten Boden. Allesamt hatten sie die Hände hinter dem Rücken gefesselt, die Gesichter im Boden versunken, oder gegen die helle, rot gesprenkelte Wand gerichtet. Braune, ausgedörrte Rinnsale entsprangen ihren Hinterköpfen und zogen sich durch die Haare, der schmutzigen Kleidung entlang auf den Boden, wo sich talgige, rotbraune Pfützen gebildet hatten. Es waren vier Männer. Drei davon Bauern und einer ein Verwalter, Kämmerer, Husar, was auch immer. Ein Mann mit einer seidenbezogenen Mütze und karmesinrotem Wickelrock. In seinem dunkelgelbem Seidengurt steckte die leere Scheide eines Säbels und zeugte von seinem Widerstand.

    Neben den Männern lagen da auch zwei Frauen. Eine ältere und eine jüngere. Die Brust der jüngeren war entblösst, der Rock verrutscht. Sie hatte blaue Flecken auf Armen und Wangen.

    Tamera musste sich abwenden, stolperte zum nächsten Holzstapel und krallte sich dort fest. Würgend beugte sie sich vor. Ich hätte etwas frühstücken sollen, dachte sie, während sie Galle spuckte. Dann wäre das hier leichter.

    Schweigend nahm sie Ulrichs entgegengestreckten Wasserschlauch entgegen und spülte sich den Mund aus. Die Nüchternheit kehrte wieder. Holte sie in die graue, elende Welt zurück.

    Mit einer Handvoll Wasser wischte sie sich den Schweiss und die Tränen aus dem Gesicht und gab den Schlauch zurück.

    «Glaubst du, jemand hat auch dazu den Befehl erteilt?», fragte sie an Elinja gerichtet.

    «Wer dazu den Befehl erteilt und wer ihn ausführt, für beide gibt es keine Wiedergeburt. Bloss den vierten Kreis der Ewigkeit.», die Fremdenführerin hatte die Arme um sich geschlungen. Ihr Blick blieb an den Toten hängen.

    Imorym kam um die Ecke. Der Ritter vom Rabenkamm war bleich, bestimmt bleicher als sie selbst.

    «Sind wir komplett?» Er blickte entrückt in die Runde. Seine Stimme war dünner als üblich.

    «Dann los. Wir sollten von hier weg, bevor die Miliz kommt und Fragen stellt.»

    Die Gruppe ging zielstrebig zurück zu den Pferden. Sie fassten nichts an, sie blickten nicht zurück. Was an diesem Ort geschah, war nicht ihr Problem, trotzdem legte sich bedrücktes Schweigen über sie. Selbst Ulrich hatte seinen Blick grübelnd zu Boden gesenkt.

    Als sie bei den Pferden angekommen waren, löste ihre Anspannung sich ein wenig. Elinja wies sie darauf hin, dass auf dem weiteren Weg nun mehrere Dörfer folgen würden. Fast alles Land hier gehörte einer Familie der Miezlakta. Der Schwertadel mochte es nicht, wenn Reisende auf ihrem Grund rasteten. Fremde sah man in der Gegend nicht gerne. Bis zum nächsten Abschnitt Wildnis waren es noch sechs Stunden – genau bis Sonnenuntergang.

    Bevor sie losritten, trat Tamera an Imorym heran.

    «Wie geht es dir?»

    Der Ritter sah überrascht von seiner Satteltasche auf. Fast zuckend.

    «Gut», sagte er eilig. «So gut es geht», fügte er seufzend an.

    Tamera betrachtete das von Wind und Sorgen zerfurchte Gesicht. Die Linien, die sich darüber zogen wie die Bergbäche durch die schroffen Tobel Borheims. Die ergrauten Stoppeln entlang seines definierten Kiefers. Das Grau, welches sich an den Schläfen mit seinem nussbraunen Haupthaar mischte, wie ein Geröllfeld mit einer herbstlichen Bergwiese.

    Sie sprachen nie darüber, sie konnte bloss erahnen, was dem ihm durch den Kopf gegangen war, als er die toten Körper gesehen hatte. Musste er an eine vergangene Schlacht denken? An sein Weib, seine Tochter? An Gräuel, die noch nie zuvor ausgesprochen wurden?

    Es war viel passiert im letzten Winter und wenn man so viel Zeit miteinander verbrachte, kam man sich näher als man gedacht hätte. Man begann, sich ohne Worte zu verstehen, die Sorgen, Trauer, Einsamkeit und Freude des anderen zu spüren und in den stürmischen Nächten Schutz beieinander zu suchen.

    Kurz kramte der Veteran unbeirrt weiter in seiner Tasche, dann erwiderte er ihren Blick stirnrunzelnd. Sie hatte ihn ein Ticken zu lange beobachtet.

    «Sieh mich an», verlange er.

    Tamera reckte trotzig das Kinn vor. Er verdächtigt mich doch nicht etwa?

    «Warum?»

    «Deine Augen sind glasig.»

    «Ich bin aufgewühlt, von dem, was wir gesehen haben.»

    «Das ist es nicht … Du hast doch nicht wieder Morkma geschluckt? Das Zeug…»

    «Macht blind und dumm und ich sollte mir mal die sabbernden Glasaugen in den Gassen von Tanningen anschauen, um zu sehen was passiert, wenn ich einen Tropfen zu viel erwische. Ja, das weiss ich sehr gut.»

    Imorym schwieg und wandte sich wieder seinem Pferd zu. «Pass gut auf dich auf», brummte er.

    Als sie zu ihrem Falben zurückkehrte, fühlte Tamera sich schlecht. Warum nur sind die verbotenen Früchte immer die süssesten? Warum zeigt die Welt ihre Farben erst, wenn man sie dazu zwingt? Sie hatte damit aufhören wollen, wirklich. Wie sie es schon ein Duzend mal zuvor wollte. Doch es war viel zu einfach. Das Zeug war überall, in jeder Stadt Borheims. Kauf dir ein Gläschen, kipp es hinunter und vergiss den ganzen Scheiss für ein paar Stunden! Die Gewalt, die Gier, das Wettrennen gegen den Tod. Sollen die anderen schuften, bis sie umfallen, du aber bist frei. Koste von allen Farben des Regenbogens, nimm dir was du brauchst, von denen, die es nicht schätzen. Lauf weg vor den Gläubigern, lauf weg, vor allen, die dir wehtun. Lauf, bis ans Ende der Welt. Lauf und blick niemals zurück!

  • Hi Jufington ,


    Im Kapitel werden Kriegsverbrechen angedeutet. Ich hoffe, das wirkt nicht irgendwie geschmacklos oder sensationsgeil. Ich wollte damit den Ton für die Geschichte setzen und die Ardonier erst einmal als das gesichtslose Böse etablieren.

    Wie du die Situation beschrieben hast passt es ganz gut. Die Verbrechen der Ardonier werden gezeigt ohne es übermäßig auszuwalzen. Die Reaktion der Gruppe als sie auf die Toten stößt ist auch glaubhaft.

    Über eine andere Stelle bin ich allerdings ein wenig irritiert.

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    Zitat

    Es war viel passiert im letzten Winter und wenn man so viel Zeit miteinander verbrachte, kam man sich näher als man gedacht hätte. Man begann, sich ohne Worte zu verstehen, die Sorgen, Trauer, Einsamkeit und Freude des anderen zu spüren und in den stürmischen Nächten Schutz beieinander zu suchen.

    Bisher ging ich davon aus das Imorym und Tamera so eine Art Vater-Tochter Beziehung haben. Auf mich wirkt das hier aber eher so, als ob sie eine Affäre oder eine Beziehung miteinander haben. Oder interpretiere ich da was falsch?

  • Danke Ichuebenoch !

    Zitat

    Bisher ging ich davon aus das Imorym und Tamera so eine Art Vater-Tochter Beziehung haben. Auf mich wirkt das hier aber eher so, als ob sie eine Affäre oder eine Beziehung miteinander haben. Oder interpretiere ich da was falsch?

    Wahrscheinlich trifft beides ein wenig zu. In der vorherigen Version dieses Kapitels hatte ich auch noch explizit erwähnt, dass Imorym väterlich wirkt. Das ist jetzt nicht mehr drin, aber es würde trotzdem Sinn machen dass er zumindest eine Mentorrolle einnimmt. Er kennt sie schon seit ihrer Jugend und hat sie nach dem Tod ihres Vaters in die Gruppe aufgenommen.

    Wie sich ihre Beziehung danach entwickelt hat, wird später noch genauer darauf eingegangen.

    Das ganze ist aktuell eher vage gehalten, ich hoffe das ist ok ;) Ich habe das Gefühl, für die beiden wird das ebenso undeutlich sein, weil da mehrere Gefühle im Konflikt spielen.