Der Spaziergang

Es gibt 9 Antworten in diesem Thema, welches 3.904 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (1. September 2015 um 11:59) ist von Deku.

  • Diese Kurzgeschichte hab ich für einen Wettbewerb geschrieben und damit den 1. Platz belegt. ;) Ich schreibe aus der "Ich-Perspektive", trotzdem hat diese Person und die Geschichte nichts mit mir zu tun. Ich hab nur einige Namen und Schauplätze (teils abgeändert) dafür verwendet. ;)

    Der Spaziergang

    Seit 30 Minuten bin ich nun schon unterwegs. Gerade eben hat die große Glocke der St. Maria Kirche drei Uhr geschlagen. Es ist eine besonders helle Nacht und der Mond thront majestätisch am Himmelzelt. Doch die Strassen sind menschenleer. An der grossen Kreuzung blinken bloß die orangen Lichter der Ampeln. Kein Wunder, es ist Dienstagnacht, die meisten müssen morgen früh raus. Ich eigentlich auch, doch ich bin ruhelos. Ich verfluche den Schlaf, weil er die Zeit stielt.
    Als ich am Eingang zum Sportplatz vorbeigehe, setze ich meinen Plan um und mache einen kleinen Umweg. Ich habe über so einiges nachgedacht. Im Leben läuft nicht immer alles glatt. Stress im Job und mit der Frau. Die Kinder machen was sie wollen. Rebellisch und zu gar nichts zu begeistern. So wie ich früher.
    Wie ein ausgelegter Teppich erstreckt sich der Sportplatz zu meinen Füssen. Die schattenumhüllte Tribüne gähnt mich an. Die drei Hochhäuser dahinter ragen zum Himmel und dominieren die ganze Umgebung. Aus dem Laubwerk, hinter dem Zaun, höre ich den Ruf einer Eule, als wolle sie mir eine Botschaft senden. Immer, und immer wieder. Hier brach ich mir einst das Bein, als wir vom Dach der Tribüne auf die darunterliegende Matte sprangen. Ich war der einzige Fettleibige in unserer Clique.
    Auf der gegenüberliegenden Seite steige ich in Gedanken versunken die Stufen zur Turnhalle empor. Jene Stufen, die ich früher schon so oft benutzt hatte. Einmal sogar, um von der Polizei zu flüchten.
    Die Turnhalle. Ein Klotz aus Beton. Wie ein schlafender Golem wacht sie in der Dunkelheit. Sie erinnert mich an die Grundschule. An meinen Lehrer, der damals schon alt war und heute noch immer genau gleich alt aussieht. An meine ehemaligen Klassenkameraden, mit denen ich kaum noch Kontakt pflege. An die Turnstunden und daran, dass ich immer als Letzter ausgewählt wurde.
    Der Weg zurück in meine Vergangenheit entpuppt sich als Strasse, die in leichter Neigung abwärts führt. Abwärts, wie auch meine momentane Situation. Vorbei an massiven Wohnblöcken, in welchen damals ein Freund von mir wohnte, damals, als die Welt noch in Ordnung war. Megaman, Super Mario Bros und Gargoyles Quest waren angesagt. Eines Tages starb seine Grossmutter und wir haben uns aus den Augen verloren.
    Noch bevor ich mir richtig bewusst werde, was ich hier eigentlich tue, öffne ich das kleine Eingangstor zum Kindergarten. Hier hat alles angefangen. Hier habe ich erste Kontakte geknüpft. Hier lernte ich meinen besten Freund Thomas kennen, mit dem ich heute noch eng befreundet bin. Alles schaut noch genauso aus, wie vor einer Ewigkeit. Der Spind mit den Spielzeugen steht noch immer an derselben Stelle. Die Schaukel und der alte Baum ebenso. Nur Frau Steiger, die Kindergärtnerin, ist schon lange tot.
    Hier, in diesem Gebäude, ging am Nikolaus-Tag der künstliche Bart von Mathias in Flammen auf. Hier hat sich Sandra in die Hose gemacht und wir alle lachten sie aus. Hier spielten wir mit Klötzen und stritten um die Tierfiguren. Hier hatten wir die Idee, ein fliegendes Brett zu bauen und das Unterwasserzelt erfunden.
    Ich setze mich auf die Bank und zünde mir eine Kippe an. Ich war 26 Jahre lang nicht mehr an diesem Ort. 26 Jahre und trotzdem kommt es mir vor wie gestern. Wie konnte es nur soweit kommen.
    Ehe ich mich versehe bin ich auf dem Weg zu meiner alten Schule. Sie liegt oberhalb des Kindergartens auf einem Hügel. Um sie zu erreichen, muss ich den Spielplatz überqueren, an dem das Rad der Zeit ebenfalls nicht gedreht zu haben schien. Selbst die lange Rutschbahn, an deren Rand wir damals empor geklettert sind, steht noch am selben Platz. Und darüber - die alles beherrschendes Grundschule.
    Erinnerungen werden wach, als ich den steilen und kaum beleuchteten Weg hinauf wandle. An die Ehrfurcht vor den 6. Klässlern. An die Mauerkämpfe - wer runterfällt verliert. An die Zeit, als ich Elvis-Fan war. An die Zeit der Skilager. An die erste grosse Liebe. An meine Kindheit. An Freude und Spass, Wut und Angst.
    Ich blicke in den abgrundtiefen Grund des Schulbrunnens und sehe meine Familie und mich selbst, wie in vergangenen Zeiten. Ich sehe meinen Sohn, wie wir zusammen Lego spielen und an die strahlenden Augen meiner Tochter, als sie ihre neue Puppe geschenkt bekommt. Ich sehe meine Frau auf dem Abschlussball der ETH-Zürich. Ich sehe wie wir uns küssen. Wie wir uns streiten und wieder versöhnen. Wie wir zusammen lachen und miteinander schlafen. Ich sehe, wie meine Frau um den Verlust des 3. Kindes bei der Geburt trauert, sehe, wie sie weint. Sehe ihren Nervenzusammenbruch. Sehe, wie sie sich verwandelt. Sehe ihre Krankheit, ihre gespaltene Persönlichkeit. Ihre Schizophrenie.
    Ich folge weiter meinem Schulweg aus vergangenen Tagen, marschiere über die grosse Blumenwiese. Meine Kinder haben sich mittlerweile von mir abgewandt, denn ich bin ein stadtbekannter Alkoholiker und Schläger. Meine Frau steckt gerade in der Psychiatrischen Klinik und ich war vier Tage in U-Haft. Einen Vormund haben sie schon lange. Sie leben in einer Pflegefamilie.
    Endlich bin ich an meinem Ziel angekommen. Ich begebe mich in luftige Höhen, mache die Schnur an jenem Klettergerüst fest, an dem wir damals mit den Schulmädchen geflirtet haben. Ein kurzzeitiger Anflug von Trauer überkommt mich, während ich die Schlinge um meinen Hals lege. Ein Gefühl von Angst, Angst vor dem Ungewissen, Angst versagt zu haben. Dann der Gedanke an schöne Momente, ein Bilderbuch an Erinnerungen, ein Protokol der Vergangenheit. Ich weine.
    Doch dann sehe ich der Realität ins Gesicht. Ich knote mich fest, kann kaum noch atmen. Adrenalin durchfließt meinen Körper. ich schliesse meine Augen... und lasse mich fallen.

  • Kann es sein, dass du die Geschichte im alten Forum schon reingestellt hast? Weil sie kommt mir sehr sehr bekannt vor. Bin mir sogar sehr sicher ;)

    Aber wie bestimmt schonmal geschrieben, ich finde die Geschichte richtig gut. Es stellt die Probleme dar, die die Hauptperson hat. Die viele Menschen haben. Du beschreibst die Gedanken und Gefühle eines verzweifelten Menschen sehr gut und ich finde, durch solche "reale" Orte kann man sich alles gleich viel besser vorstellen.

    Eine wirklich gelungene Geschichte, Respekt. :thumbup:

  • mir kam schon der titel bekannt vor :D


    aber stimme komplett mit cethaya überein :) einfach super!

    Mitternacht verschwinden die Grenzen zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt und geben der Seele eine Möglichkeit zu reisen.

  • Hab die Geschichte selber nochmals durchgelesen und bin fast selbst über das krasse Ende erschrocken. Keine Ahnung wie ich auf so eine depressive Geschichte gekommen bin. Ich glaube das war irgendwie das Thema des Wettbewerbs. Naja, sei's drum. :P

    Danke für eure Feedbacks! :)

  • Ich hab deine Geschichte beim stöbern entdeckt und finde Sie einfach super und sehr stimmig Deku.
    Besonders die kurzen und bündigen Beschreibungen der Orte fand ich super. Ich konnte mich in die Person und seine Gefühle ebenso einfühlen wie auch die Orte vor mir sehen an dennen er war. Super! Echt lesenswert! Zui recht der erste Platz! :D

    Sabrina :D

    Mehr aus meiner Feder: Gefangen im High Fantasy Bereich.

    Der Tag an dem alles begann findet ihr im Urban Fantasy Bereich auf fleißige Leser. ^^

  • Ja, kann mich Sabrina nur anschließen. Richtig gute Geschichte :thumbup:

    Zwar sehr traurig und depressiv ;( aber klasse umgesetzt, hast den ersten Platz verdient ;)
    Einige kleine Rechtschreibfehler, und am Ende muss es durchfließt heißen, sonst wirklich toll

    LG
    Arathorn

  • Der 1. Platz war absolut verdient, dafür brauche ich die anderen Geschichten gar nicht zu kennen...

  • Ich finde die Geschichte interessant und finde, sie ist eines ersten Platzes durchaus würdig. Ich halte deinen Einsatz von Metaphern und Satzfragmenten für passend, da du es damit nicht übertrieben hast. Du hast es geschafft einer altbekannten Thematik einen nicht ganz neuen, aber durchaus ansprechenden Twist zu geben. :thumbup:

  • Oh man, fast exakt 3 Jahre her seit ich diese Geschichte geschrieben habe und ich hab nicht mal eure letzten Comments dazu bemerkt. X/

    Danke euch herzlich dafür, wenn auch viel zu spät.

    Hatte zwar damals schon eine Schreibblockade aber für eine Kurzgeschichte hat es offenbar noch gereicht. Kann mich nun auch wieder daran erinnern, wie das Thema des Wettbewerbs lautete, für den ich die Geschichte geschrieben habe. Es lautete: "Eindrücke der Nacht".