Zuflucht
Karim, Jinna, Matthias, Gendo und Mirno drehten sich erschrocken zu ihr um. Gnark schloss ein Auge und es tauchte auf einem Ast in Majas Nähe auf, von wo es sie besorgt ansah.
Das Mädchen lag rücklings auf dem Boden, den rot angeschwollenen Arm ausgestreckt neben sich. Der andere lag in der Nähe ihres Kopfes. Ihr Mund stand leicht offen, die Augen waren geschlossen und auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen.
Dann ging alles ganz schnell – so schnell, dass sich später keiner von ihnen wirklich daran erinnern konnte.
Karim hatte schon oft von der tödlichen Zerstörungskraft der Himmelssäulen gehört, auch wenn er in Breiten lebte, in denen diese nicht oft entstanden. Er wusste genug, um zu wissen, dass sie in äußerster Gefahr waren. Wenn die Himmelssäule sie erwischte, waren sie geliefert. Die Frage war nur: Sollten sie hier warten und hoffen, dass sie einen anderen Kurs nahm, oder sollten sie versuchen zu fliehen.
Ein zweiter Blick auf die Himmelssäule verriet Karim, dass an Flucht nicht zu denken war, die Himmelssäule bewegte sich schneller als jedes Pferd, vielleicht sogar schneller als Taramos und Penelope.
„Wir müssen ans Ufer!“, schrie Mirno Gnark zu – überflüssigerweise, denn das hatte der schon selbst erkannt.
Karim versuchte, Maja hochzuzerren. Jinna half ihm dabei aber sie war wie ein Sack Mehl und er konnte sie nicht gleichzeitig tragen und sich selbst auf dem schaukelnden Floß halten. Beinahe wäre er mit ihr über die Brüstung ins Wasser gefallen. Er war zwar nicht schwach, aber auf dem wankenden Untergrund fehlte ihm der sichere Stand.
„Gnark!“, rief er, aber der Kampfbaum hatte alle Äste damit zu tun, das Boot an Land zu ziehen und dort festzuhalten, während der Wind an ihm zerrte und seine Blätter und Zweige zum Tanzen brachte.
Dann war Gendo neben ihm.
„Ich trage sie“, sagte er und warf sich Maja über die Schulter, als wöge sie nicht mehr als ein Kissen. „Los, runter von dem Floß“, sagte er und schubste Karim und Jinna in die richtige Richtung.
Matthias zerrte Mirno vom Floß, der, eben noch geistesgegenwärtig, jetzt völlig die Orientierung verloren hatte.
Matthias. Karim war froh, dass der auf sich selbst aufpassen konnte, manchmal hatte er das Gefühl, er würde ihn in dem Trubel vergessen, er war so klein und konnte nicht durch Rufe auf sich aufmerksam machen. Gnark betrat als Letzter das Ufer, mit einem mächtigen Satz sprang er zwischen sie, ohne jedoch jemanden zu verletzen.
Das alles war ziemlich schnell gegangen, trotzdem war die Himmelssäule ein ganzes Stück näher gekommen. Um sie herum zuckten unheimliche Blitze. Der Himmel, vorher hellgrau, war schwarz geworden.
Dann stand der Mann zwischen ihnen. Ein völlig Fremder. Wirres, grauschwarzes Haar, Gesichtsbehaarung und ein dunkelblauer Mantel – mehr von seinem Aussehen konnte Karim in der Hektik nicht wahrnehmen.
„Folgt mir!“, rief er und niemandem kam es in den Sinn, ihm zu widersprechen oder nicht zu gehorchen. Sie taten, was er sagte und folgten ihm, Mirno zuerst, dann Gendo mit Maja, dann Karim, Jinna und schließlich Matthias.
Der Mann rannte über die trockene Einöde, auf der nur selten ein einzelner Baum stand, aber kein Gras wuchs; die Kinder hinter ihm her, bis sie zu einer großen Felsspalte im Boden kamen. Sie kletterten hinein und standen vor einer hölzernen Falltür. Der fremde Mann zog sie auf.
„Kommt rein, hier seid ihr sicher“, sagte er und scheuchte einen nach dem anderen von ihnen hinab. Karim, Matthias und Jinna zögerten.
„Da passt Gnark nicht rein“, sagte Karim durcheinander.
„Wer ist Gnark?“, fragte der Fremde. Hatte er Gnark vielleicht für einen gewöhnlichen Baum gehalten?
Karim drehte sich um. Doch der Kampfbaum war nirgends zu sehen. „Wo ist er?“ schrie er.
Der Fremde schrie ebenfalls. „Ich zähle bis fünf und dann seid ihr hier drin, sonst mache ich die Klappe zu und ihr könnt sehen, wie ihr klarkommt.“
Matthias schlüpfte durch die Luke.
„Karim komm!“ Jinna griff nach seiner Hand und versuchte, ihn zu der Öffnung im Boden zu zerren. Der Wind wurde lauter, ein wahres Getöse setzte ein. Dann kletterten Jinna und er durch die Luke, der Mann folgte ihnen und schloss sie. Die Stille war angenehm und doch unerträglich. Sie standen in einer unterirdischen Höhle neben einer Holzleiter. Die Höhle war gemütlich eingerichtet. Es gab einen Kamin, dunkle Ledersessel, einen weichen Teppich und an der Wand hing eine Kuckucksuhr. Außerdem gab es einen kleinen Tisch, Regale mit ... waren das Bücher? ... , Bilder an den Wänden und Türen, die vermutlich in andere Räume führten. An der Decke hing eine Öllampe und auf dem Tisch und an den Wänden flackerten Kerzen in eisernen Haltern.
„Wer bist du?“, fragte Jinna den Mann, der gerade dabei war, die Falltür mit einem beunruhigend großen Schlüssel abzuschließen.
„Ich bin euer Retter“, sagte der Mann. „Und vielleicht euer Untergang, dass kommt darauf an, wer ihr seid.“
Karim hatte im Augenblick ganz andere Probleme.
„Maja bringt uns um, wenn sie erfährt, dass wir Gnark im Stich gelassen haben.“
„Wer ist Maja?“, fragte der Mann.
„Das Mädchen“, antwortete Mirno und zeigte auf sie.
Vollkommen reglos hing sie immer noch über Gendos Schulter. Er legte sie vorsichtig auf einem der Sessel ab.
„Kannst du irgendetwas für sie tun?“, fragte Mirno.
„Vielleicht“, sagte der Mann und betrachtete Mirno neugierig. „Du bist ein Genêpa“, sagte er. „Und er auch. Aber wer seid ihr anderen?“
Er beugte sich über Maja, hob ihren schlaffen Arm und betrachtete ihn interessiert.
„Wir kommen von weit weg“, antwortete Jinna. „Von der anderen Seite des Gebirges.“
„Aha. Und was ist mit der hier passiert?“
„Sie wurde von einem Kranzstecher gestochen.“
Der Mann schaute verwirrt auf. „Kranzstecher?“
„Sie … “ Jinna brach ab. Sie rutschte näher zu ihrem Bruder heran und flüsterte: „Wie viel können wir ihm sagen?“
„Ihr müsst mir alles sagen“, sagte der Mann eindringlich. „Ich habe euch gesagt, ich könnte euer Untergang sein und dass zwei von euch Genêpas sind, macht eure Überlebenschancen nicht gerade größer. Also sagt mir wenigstens die Wahrheit.“
Karim, Jinna und Matthias sahen sich an. Meinte er es ernst oder scherzte er nur? Karim fragte sich, was Maja in diesem Fall wohl getan hätte, aber ihm fiel dazu nichts ein. Sie reagierte mal so, mal so, nett und freundlich oder aggressiv und stur. Er entschied sich für die nette und freundliche Art. Und dafür, die Wahrheit zu sagen, oder zumindest einen Teil davon.
„Sie kommt von ziemlich weit weg, und da gibt es vielleicht keine Kranzstecher. Kann es sein, dass sie deshalb so heftig darauf reagiert?“
„Kann schon sein. Mit ziemlich weit weg, meinst du wohl die andere Welt. In dieser gibt es Kranzstecher nämlich überall.“
„Woher weißt du von der anderen Welt?“
„Viele Menschen wissen davon. Ich persönlich, habe einen Freund, der mir von dort Bücher mitbringt.“
„Bücher sind Teufelswerk“, sagte Karim, was Matthias dazu brachte, ihm vors Schienbein zu treten, dem Fremden aber nur ein Lächeln abrang.
„Ich kann halt einfach nicht widerstehen. Die Versuchung ist zu groß.“ Er legte die Hand an Majas Hals, um ihren Puls zu messen. „Sie lebt zumindest noch. Du, Knirps“, er meinte Matthias, „bevor ich wegen dir hier gleich noch einen Patienten habe, geh zu dem Schrank da und nimm die Flasche mit dem Lykiss-Sud heraus. Ach verflixt, ihr könnt ja gar nicht lesen, ich gehe schon.“
Aber Matthias war schon losgeflitzt und hatte die Flasche ohne Zögern zwischen den anderen hervorgezogen.
„Er kann lesen“, murmelte Karim als Erklärung.
„Ist ja prima. Jetzt zu Maja.“ Der Mann zog seine Hand von ihrem Hals. „Sie hat’s ziemlich schlimm erwischt. Aua.“
Er schüttelte seine Hand, als hätte er sich verbrannt. Er war mit dem Finger an die goldene Kette um Majas Hals gekommen.
„Was ist das? Moment …“ Er nahm ein kleines Stöckchen und zog an der Kette. Zum Vorschein kam das goldene Baum-Amulett, dass Maja als Kamiraen auszeichnete. „Interessant“, murmelte er, nahm ein zweites Stöckchen und zog die Kette über Majas Kopf. Der Baum funkelte im Licht der flackernden Öl- Lampe. „Das Zeichen der vergessenen Stadt. Fast hätte ich es nicht bemerkt. Sie ist eine Kamiraen.“
„Was ist eine Kamiraen?“, fragte Gendo interessiert.
„Du hältst dich mal schön zurück. Du befindest dich hier auf Feindesgebiet.“
„Das ist nicht das Gebiet der Cyerillas. Das haben wir längst durchquert. Dieses Land gehört niemandem, höchstens Fürst Dreizehn, der erhebt ja auf alles Anspruch.“
„Na schön“, der Mann schaute nur kurz auf, „dann halt nicht. Halt trotzdem die Klappe.“
Karim zog die Augenbrauen hoch und beobachtete, wie der Fremde Majas Amulett vorsichtig auf den Tisch legte. „Wer bist du überhaupt?“ Karim griff nach dem Amulett. Es war wohl besser, wenn er es für Maja verwahrte.
„Fass das nicht an.“ Blitzschnell hatte der Mann sein Handgelenk gepackt.
„Was?“
„Niemand von euch rührt das Ding an. Junge, gib mir den Sud, wo hat der Kranzstecher sie gestochen? Mariah!“
Karim zeigte ihm die Stelle, Matthias kam mit dem Sud.
„Träufel das da drauf, ich muss meine Frau holen.“
Er verschwand durch eine der Türen.
„Der Typ hat uns immer noch nicht gesagt, wer er ist“, sagte Karim.
„Spielt das eine Rolle? Er hat uns gerettet und er versucht, Maja zu helfen“, meinte Mirno.
„Und wenn er uns alle umbringt?“, fragte Gendo.
„Würde er Maja helfen, wenn er das vorhätte?“
„Ich würd's tun, wenn ich eins zu sechs in der Unterzahl wäre.“
„Hätte er uns dann gerettet?“
„Vermutlich nicht.“