Eine Welt ohne Namen - Das 3. Tor

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  • Ein altes Sprichwort besagt, dass man sich immer zweimal im Leben trifft...

    Ein alter Verbündeter

    Schatten ließ Maja in dem leer stehenden Haus zurück. Er wollte sie auf keinen Fall mit in sein Zuhause nehmen und er hatte auch sonst keinen Ort, an den sie gehen konnte. Also hockte sich Maja in eine Ecke des Raumes und ließ die Zeit verstreichen. Regungslos döste sie vor sich hin. Am Abend kam Schatten und brachte ihr ein Paket mir Nahrungsmitteln: Brot, Schinken und ein paar süße Früchte, die Maja nie zuvor gesehen hatte. Das meiste davon aß sie noch am Abend, den Rest bewahrte sie fürs Frühstück auf.
    Die Nacht wurde sehr unbequem und sehr unheimlich. Immer, wenn Maja gerade am Einschlafen war, hörte sie draußen Schritte, ein Kratzen oder einfach nur Geräusche, die sie sich einbildete. Und in Ermangelung eines Schlafplatzes hatte sie sich einfach auf den Boden gelegt. Er war hart und staubig, ständig musste Maja niesen und immer wenn das geschah, zog sie sich wieder in die dunkelste Ecke zurück und lauschte angstvoll auf Schritte.
    Als der Morgen anbrach und sie noch immer niemand entdeckt hatte, löste sich ihre Anspannung etwas. Und nach dem Frühstück war sie ganz verschwunden. Maja wurde im Gegenteil ziemlich ungeduldig. Sie ging im Zimmer auf und ab und sah ständig aus dem Fenster. Bei dem Gedanken, dass sie noch bis zum Abend auf Schattens Rückkehr warten musste, stöhnte sie auf.
    Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und verließ das Haus. Es gab vielleicht hier Bilder von ihr, aber sie hatte sich verändert, seit sie gemacht worden waren. Niemand erwartete, dass sie hier sein würde. Schatten hatte sie vielleicht erkannt, aber er war ein Spion, war es nicht sein Job, Menschen genau zu beobachten und sich ihre Gesichter zu merken?
    Sie trat auf die Hauptstraße und sah zur Burg hinauf. Dass ihr Verderben so nah war, machte ihr nur wenig Sorgen. Fürst Dreizehn war irgendwo in dieser Festung und es ließ sie völlig kalt. Vielleicht hatte sie nach der unheimlichen Nacht ihren Vorrat an Angst aufgebraucht.
    Die Straße war nicht unbedingt das, was man als belebt bezeichnet hätte, aber hier und dort waren Menschen unterwegs. Die meisten von ihnen gingen in dieselbe Richtung und Maja entschied, ihnen zu folgen. So dauerte es nicht lange, bis sie im Zentrum der Stadt einen großen Platz erreichte, auf dem Händler Stände aufgebaut hatten und ihre Waren anboten. Ein Markt.
    Maja trat neugierig näher. Ihr kam ein Gedanke: Dass Käse nicht hier war bedeutete, dass ihre Reise noch lange nicht zu Ende war und sie hatte keinen Proviant mehr. Eigentlich besaß sie fast nichts mehr. Und vielleicht sollte sie sich langsam mal Gedanken darüber machen, wie sie die weitere Reise überstehen sollte.
    Sie öffnete ihre Tasche auf der Suche nach Dingen, die sie vielleicht gegen Essen eintauschen konnte. Als erstes fiel ihr das Messer ins Auge. Dafür würde sie bestimmt eine Menge Essen bekommen. Aber sie widerstand der Versuchung. Tabea hatte ihr das Messer anvertraut, mit den Worten, dass Dreizehn danach suchte und es niemals in die Hände bekommen durfte. Sie würde es nicht in Andraya verkaufen, nicht solange sie noch eine andere Wahl hatte. Genau wie das Schwert aus Taroq, ebenfalls ein Gegenstand, den Dreizehn nur zu gerne sein Eigentum nennen wollte. Es wehrte Magie ab und würde Dreizehn vielleicht noch um einiges gefährlicher machen. Einmal hatte er es schon in den Händen gehalten, doch zum Glück hatte er damals nicht mit Matthias gerechnet.
    Der dritte Gegenstand, den sie besser nicht ausgerechnet im dreizehnten Königreich verkaufen sollte, war das dritte Tor. Dreizehn wollte alle Tore zerstören, er durfte es nicht in die Finger kriegen. Maja wog es einen Moment in der geöffneten Hand, dann steckte sie es in ihre Hosentasche. Dort wäre es auch sicher, wenn ihr jemand die Tasche stahl.
    Was hatte sie noch? Die Karte. Sie war zu verdächtig, man könnte ihr Fragen stellen, wie sie zu einer Karte des stärker bewohnten Teils der Welt ohne Namen kam.
    Dann war da noch der Lichtstein. Ebenfalls ein verdächtiger, da offensichtlich magischer Gegenstand.
    Schließlich klappte sie die Tasche wieder zu und verwarf den Gedanken, etwas zu kaufen. Sie würde später Schatten um Hilfe bitten. Sie hätte natürlich stehlen können aber darin hatte sie überhaupt keine Übung und dies hier schien ihr nicht der geeignete Ort, um es auszuprobieren. Immerhin war sie in Andraya und wenn man sie erwischte, war es sehr wahrscheinlich, dass man sie erkannte. Außerdem sah sie hier auf dem Platz einige Soldaten. Einige standen an den Zugängen und hatten ein Auge auf die Menge, andere patrouillierten über den Platz und wieder andere gingen offensichtlich eigenen Geschäften nach und kauften ihr Abendessen und andere Dinge.
    Maja sah dem Treiben auf dem Markt eine Weile zu und begann darüber fast zu vergessen, wo sie war. Das hier war nicht das Andraya, über das man sich in den anderen zwölf Königreichen Horrorgeschichten erzählte. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Den Menschen schien es ganz gut zu gehen, sie lachten sogar. Vielleicht gab es hier ein bisschen viele Soldaten, wenn man Andraya beispielsweise mit Miriam verglich, verglich man es aber mit Illster, waren es schon nicht mehr so viele. Es gab hier allerdings auch andere, Unheil verheißende Gestalten. Sie fielen dadurch auf, dass die Menge ihnen aus dem Weg ging und ihren Blicken auswich. Maja beobachtete diese Leute genauer. Sie schienen eine Vorliebe für dunkle Umhänge zu haben und legten eine ganz bestimmte Körperhaltung an den Tag. Entweder schienen sie geradezu durch die Menge zu schweben, oder sie schritten erhobenen Hauptes hindurch und wirkten, als würden sie über den Dingen stehen. Und sie alle strebten Marktstände an, an denen die anderen Menschen nicht vorbei kamen, um die sie ehrlich gesagt sogar einen großen Bogen machten. Deren Auswahl umfasste allerlei Kräuter, Tierknochen, Tinte und Pergament, Zähne, Knoten, Amulette und Blut verschiedenster Spezies.
    Schwarzmagier, dachte Maja. Sie hatte gehört, dass es im dreizehnten Königreich viele von ihnen gab, sie arbeiteten für Dreizehn. In seinem Namen hatten sie unter anderem den Schwarzen Weg gebaut, eine Straße, die durch die gesamte Welt ohne Namen führte und auf der Dreizehns Gefolgschaft schneller voran kam, als auf gewöhnlichen Wegen möglich war.
    Maja nahm sich ein Vorbild an allen anderen und machte einen großen Bogen um die Schwarzmagier. Sie ging zum Brunnen, um ein paar Schlucke Wasser zu trinken. Das kühle Nass tat ihr gut und sie hielt eine Weile ihre Hände hinein.
    Es wurde langsam sehr warm, die Sonne prallte vom Himmel und die Luft war sehr feucht und schweißtreibend. Vor einem Jahr hatte Maja schon einmal an diesem Brunnen gestanden, als das ausgebrochen war, was sie für sich selbst ‚Chaos von Andraya’ nannte. Sie wusste immer noch nicht, was es damit auf sich gehabt hatte. Sie nahm sich vor, Schatten danach zu fragen.
    Ein junger Soldat trat an den Brunnen heran, nahm seinen Helm ab, schöpfte mit den Händen Wasser und kühlte sein Gesicht damit. Als er aufsah erschrak Maja fürchterlich. Sie kannte ihn. Das lange schwarze Haar war kurz und statt bunten Federn trug er eine grüne Soldatenuniform, doch sie erkannte ihn trotzdem.
    „Mirno?“, sagte sie.
    Er sah auf und blickte sie verwundert an. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, Erkennen spiegelte sich darin und dann schaute er genauso entsetzt drein wie Maja.
    „Maja?“, fragte er ungläubig.
    „Pscht“, zischte Maja und sah sich hektisch nach allen Seiten um, ob ihn jemand gehört hatte. Dann wurde ihr plötzlich klar, was sie hier tat. „Oh nein.“ Sie sprach mit einem Soldaten des dreizehnten Königreichs und er wusste, wer sie war. Hätte sie nicht einfach die Klappe halten können? Warum ging sie nicht gleich in Dreizehns Burg und schrie ihren Namen durch die Hallen.
    Einen Moment fragte sie sich, was dann wohl passieren würde und ob sie bereits lebensmüde genug war, es auszuprobieren. Einfach so zum Spaß. Dann holte sie die Realität ein und zwar in Form von Mirno, der vor ihr stand und verwirrt den Mund auf und zu klappte. Er sah so seltsam aus, dass Maja laut lachen musste, worauf Mirno sie noch merkwürdiger ansah.
    „Was machst du bloß hier?“, fragte er. „Ist dir nicht klar, was Dreizehn tun wird, wenn er dich hier erwischt?“
    „Der soll sich mal nicht so ins Hemd machen“, sagte Maja. „Ich bin vierzehn und meine Kampflektionen sind eher mies verlaufen. Was soll ich Dreizehn schon antun?“ Sie musste wieder lachen. War sie endgültig wahnsinnig geworden?
    Mirno schien das ebenso zu sehen.
    „Wie kommst du überhaupt hierher?“, fragte er. „ich weiß, dass ihr damals hier wart, aber ich dachte, ihr wärt längst weg. Das ist ein Jahr her.“
    „Ich bin schon wieder hier. Eine Mischung aus Pech und Dingen, die du dir nicht mal vorstellen kannst, hat mich hergebracht. Ich bin da in Sachen reingeraten, die ...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ach, ich weiß auch nicht. Ich denke, zu erklären wie ich hergekommen bin, würde Stunden dauern und selbst dann würdest du es nicht verstehen.“
    „Gut“, sagte Mirno. „Aber wenn du schon nicht erklären kannst, wie du hergekommen bist, dann vielleicht, warum? Oder versuchst du immer noch, Karims und Jinnas Mutter zu retten?“
    „Nein. Das haben wir geschafft. Diesmal ist es persönlicher. Dreizehn hat meinen Bruder entführen lassen.“
    „Deinen kleinen Bruder? Den, von dem du so viel erzählt hast? Käse, nicht wahr?“
    „Ja“, bestätigte Maja, überrascht, dass er seinen Namen behalten hatte. „Aber ich sehe im Moment schwarz. Er ist nicht hier, man hat ihn vor wenigen Tagen fortgebracht und langsam weiß ich nicht mehr, was ich noch tun soll. Es grenzt bereits an ein Wunder, dass ich es hierher geschafft habe und ich habe einfach nicht mehr die Kraft, weiter zu machen. Ich glaube, ich bin kurz davor, einfach aufzugeben.“ Sie sprach damit eine Befürchtung aus, die sie die ganze Nacht gequält hatte.
    Mirno nickte nachdenklich. Er sah müde aus. Unter seinen Augen waren Ringe und seine Wangen waren hohl.
    „Was ist mit dir?“, fragte Maja. „Wie ist es dir ergangen?“
    Mirno sah sich unauffällig auf dem Platz um. „Beschissen, wie sonst?“, sagte er leise. „Aber wir sollten nicht länger hier miteinander reden. Die Leute schauen schon misstrauisch. Naja, vermutlich vermuten sie nur, ich wollte mit dir anbändeln, aber trotzdem. Hör zu: Geh von hier aus geradeaus an der Mühle vorbei, dann die fünfte rechts und die zweite links. Dort ist eine Gasse und irgendwo darin führt eine kurze Treppe in einen Hinterhof. Ich nehme einen anderen Weg und treffe dich dort.“
    „Kannst du denn hier einfach so weg?“, fragte Maja. „Musst du nicht“, sie betrachtete seine Kleidung, „Wache halten oder so?“
    „Das ist kein Problem. Jetzt geh schon, bevor jemandem diese Situation komisch vorkommt.“ Und mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und tauchte die Hände ins Wasser. Wieder wusch er sich das Gesicht. Mit vom kalten Wasser gerötetem Gesicht blickte er dann wieder auf und sah, dass Maja ihn immer noch anstarrte.
    „Geh“, zischte er.

  • Hinterhofgeflüster

    Maja drehte sich um und machte sich auf den Weg. Sie ging an der Mühle vorbei und folgte Mirnos Wegbeschreibung. Es dauerte nicht lange, bis sie auf einen schäbigen Hinterhof trat. Die Häuser zeigten dem Hof ihre hässlichsten Seiten und vermutlich waren sie genauso unbewohnt, wie jenes Haus, in dem sie die Nacht verbracht hatte. Auf dem Boden befand sich eine riesige Pfütze und alte Gegenstände lagen herum: Ein Schrank, ein gebrochenes Kutschenrad und ein Beutel, aus dem der Ärmel einer Jacke hinaus hing. Maja öffnete ihn neugierig, offenbar war Kleidung in dem Beutel und vielleicht konnte sie etwas davon gebrauchen. Doch was sie herauszog war gammlig und zerrissen und sie ließ es angewidert in die Pfütze fallen. Sie setzte sich auf den auf der Seite liegenden Schrank und begann zu warten. Mirno brauchte sehr lange und Zweifel überkamen sie. Tat sie hier das Richtige? Mirno war jetzt ein Soldat der dreizehnten Armee. Auch wenn er einst ihr Freund gewesen war, jetzt seinen Anweisungen zu folgen, konnte ihren Tod bedeuten. Und genau genommen waren sie damals doch nicht einmal Freunde gewesen. Sie waren nur ein Stück denselben Weg gegangen. Es hatte sie irgendwie zusammengeschweißt, aber was, wenn das nur ihre eigene Sicht auf die Dinge war?
    Nein, dachte Maja dann. Sie weigerte sich zu glauben, dass Mirno sie verraten würde. Hätte er das gewollt, dann hätte er sie auch auf dem Platz festnehmen können. Wozu sollte er sie dann in einen dunklen Hinterhof locken. Es sei denn ... Joyce hatte sie in eine einsame Gasse gelockt um sie auszurauben. Und anderen würden vermutlich noch schlimmere Dinge einfallen, als sie bloß auszurauben. „Nein!“ Dieses Mal sprach sie das Wort laut aus. Sie weigerte sich, so von Mirno zu denken. Außerdem war sie eine Kamiraen, oder? Und die Kamiraen merkten doch angeblich, wenn jemand sie anlog. Maja war sich sicher, dass sie es gemerkt hätte, wenn Mirno versucht hätte sie hinters Licht zu führen.
    Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, kam Mirno auf den Hof. Er ließ seinen Helm scheppernd auf das Pflaster fallen und warf den Speer, den er trug, daneben. Dann setzte er sich auf die Treppe und zog sich die Schuhe aus. Dass er dabei Majas Fluchtweg versperrte, behagte ihr nicht. Sie hoffte, dass es bloß ein Versehen war.
    „Du siehst so müde aus“, sagte sie.
    Er lachte freudlos. „Wann hast du das letzte Mal in den Spiegel geschaut? Ich sage dir, du siehst hundertmal schlimmer aus als ich. Naja. Du hast wahrscheinlich einiges durchgemacht.“
    „Was hast du durchgemacht?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Das Leben in Dreizehns Armee ist nicht leicht. Ich habe es noch gut getroffen. Ich bin für den Innendienst eingeteilt worden, hauptsächlich arbeite ich als Stadtwache. Das ist nicht so anstrengend, die Leute hier wagen es eh nicht, Ärger zu machen. Alles sehr friedlich. Man muss sich nur mit den anderen Soldaten herumschlagen, manche von denen sind grausam. Aber die, die in den Trainingscamps gelandet sind, tun mir Leid. Da herrscht ein ganz schöner Drill, immerhin bereiten sie sich auf – “ Er stockte und sah Maja an. Seine Augen begannen zu glitzern und Maja erkannte ein wenig von ihrer eigenen Wut darin. „Du kommst doch aus dem anderen Teil der Welt? Hinter dem Gebirge?“
    Maja schüttelte den Kopf. „Ich komme überhaupt nicht aus dieser Welt.“
    „Aber du warst dort drüben. Du hast Freunde dort.“
    Sie nickte.
    „Wenn du jemals dorthin zurückkehrst – sag ihnen, sie müssen sich vorbereiten. Dreizehn hat vor, euch alle zu vernichten. Er will die ganze Welt erobern.“
    „Ich glaube, das wissen die da drüben. Es gibt genug Zeichen, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Und ich glaube nicht, dass ich wieder dorthin komme. Ich habe das Gefühl, mein Ende naht.“
    Mirno schüttelte den Kopf. „Du hast Andraya schon einmal überlebt, du wirst es ein zweites Mal schaffen.“ Er räusperte sich. „Aber selbst, wenn sie es wissen, sie haben keine Ahnung, was auf sie zukommt. Dreizehns Armee ist größer als alles, was ich je gesehen habe.“
    Da Maja wusste, dass Mirno in einem kleinen Dorf aufgewachsen war, beeindruckten sie diese Worte nicht besonders. Die versammelten Krieger dort hatten vermutlich nicht einmal hundert Mann gezählt. Aber sie sagte Mirno nicht, was sie dachte.
    „Wenn ich zurückkehre – wenn ich irgendwie Kontakt aufnehmen kann – dann werde ich es ihnen sagen.“
    „Gut.“
    „Aber wenn du sagst, du hättest es schlimmer treffen können“, sagte Maja, „warum siehst du dann so schlimm aus?“
    „Wenn es schlimmer wäre, würde ich jetzt wohl nicht mehr leben. Ich bin einfach nicht für das hier geeignet. Das ist wohl auch der Grund, warum ich bei der Stadtwache gelandet bin. Mein Vorgesetzter hat erkannt, dass ich eine einfache Aufgabe brauche. Ich hatte Glück. Mitgefühl ist nichts, was man hier oft findet. Gendo ... der kommt klar, der beißt sich durch. Sie haben ihn zu den Silberwiesen in ein Trainingscamp geschickt. Wenn er zurück kommt, ist er vermutlich Hauptmann.“
    Maja verlor bei seinen Worten ihr inneres Gleichgewicht (sofern sie überhaupt noch eins hatte). Auch äußerlich schwankte sie sichtbar. Sie hatte kaum noch an Gendo gedacht, ihre eigenen Sorgen hatten jeden Gedanken an ihn verdrängt. Doch jetzt fiel ihr sein Schicksal auf einen Schlag wieder ein. Und auch, dass Mirno und Gendo vom selben Stamm waren, dass sie gemeinsam aufgewachsen waren. Sie musste ihm sagen, dass Gendo tot war. Nein, sie konnte es ihm nicht sagen.
    „Hauptmann?“, fragte sie deshalb mit einem verzweifelten Unterton, von dem sie glaubte, er würde sie sofort verraten. „Meinst du wirklich?“
    „Ja. Er hat doch längst vergessen, dass er einst gegen Dreizehn war. Er tut, was nötig ist, um zu überleben, was man von ihm verlangt. Er denkt, was man von ihm verlangt. Aber lass uns nicht weiter über ihn reden. Was hast du jetzt vor? Wenn dein Bruder nicht hier in Andraya ist, wie willst du ihn finden?“
    Maja erzählte ihm von Schatten und davon, dass er herausfinden wollte, wo ihr Bruder war.
    „Und dann?“
    „Dann werde ich ihm folgen.“
    „Wie? Dir ist klar, dass sie den Schwarzen Weg nehmen werden? In wenigen Stunden könnten sie hunderte von Kilometern weit weg sein.“
    Maja ließ sich gegen eine Wand fallen. „Was soll ich denn tun?“, rief sie.
    Mirno rieb sich angestrengt nachdenkend die Stirn. Dann lachte er plötzlich schwach. „Ich wusste von Anfang an, was ich jetzt sagen würde“, sagte er.
    „Was meinst du?“
    „Wann erfährst du, wohin sie deinen Bruder bringen wollen?“
    „Vermutlich heute Abend. Wenn alles gut läuft. Und wenn Schatten mich nicht hintergeht.“
    Mirno nickte. „Dann komm um elf Uhr hierher“, sagte er. „Ich werde dich über den Schwarzen Weg bringen.“
    Maja starrte ihn entsetzt an. Sie war fest davon überzeugt, sich gerade verhört zu haben.
    „Ich bin ein Soldat der Dreizehnten Armee“, erklärte Mirno. „Auch wenn ich nur als Stadtwache eingeteilt bin. Ich weiß wie man den Weg benutzt und ich kann dich darüber bringen.“
    „Aber ... ist das nicht gefährlich? Wenn uns jemand erwischt ...“
    „Sind wir beide tot. Es ist vermutlich das gefährlichste, das ich je getan habe, aber für dich werde ich es versuchen.“
    „Warum?“
    „Weil ich dich mag. Ich schaue in dein Gesicht und ich kann ehrlich und aus tiefstem Herzen sagen, dass ich dich mag. Und das ist etwas, was ich im letzten Jahr hier zu niemandem habe sagen können.“
    „Wenn du sagst, du magst mich“, sagte sie unsicher, „dann meinst du - “
    „Nicht mehr und nicht weniger als das.“

  • So, es geht mal wieder ein bisschen weiter. Ich musste erstmal eine Liste erstellen, was Maja jetzt eigentlich in ihrer grünen Tasche noch mit sich herumschleppt. Viel ist es nicht mehr.

    Fuchsi hat mal darum gebeten, dass Maja nicht durch die Burg gehen soll, als wäre dort Tag der offenen Tür. Sie betritt die Burg nicht, ich hoffe also das gilt hier noch als grenzwertig. ^^ Irgendwie ist Maja gerade ziemlich allein und machtlos und ich habe nicht viele Möglichkeiten, sie weiter voran zu bringen.

    Ich habe jetzt übrigens endlich mal versucht, dieses recht sinnlose Kapitel am Ende des ersten Buchs etwas zu erklären. Hatte das Gefühl, dass das damals ziemlich unlogisch war und ich das nicht einfach so stehen lassen sollte. :pardon::rofl:


    Andraya bei Nacht

    Maja machte sich auf den Weg zurück in das leere Haus. Während sie den Marktplatz überquerte, begann es zu tröpfeln und kurz bevor sie ankam, setzte ein kräftiger Gewitterschauer ein. Blitze zuckten über den Himmel und Donner rollten durch die Gassen und hallten zwischen der hohen Felswand hinter dem Fluss und dem Taumelberg hin und her. Maja war klatschnass, als sie das Haus betrat. Sie zog die nasse Kleidung aus und hängte sie über die Überreste des Treppengeländers. Dann setzte sie sich in eine Ecke und wartete. Gewitter in Andraya waren hundertmal gruseliger als Gewitter an anderen Orten, aber Maja fürchtete Blitz und Donner nicht und heute ließen sie sie besonders kalt. Sie hatte wieder etwas Hoffnung bekommen – Mirno hatte ihr Hoffnung gegeben und diese erschien ihr wie eine wärmende Sonne in ihrer Brust.
    Schatten kam in dem Moment herein, als der Glockenturm halb sechs verkündete. Es regnete immer noch. Der Spion wrang seinen Umhang aus, dann warf er Maja ein Bündel mit Nahrungsmitteln zu.
    „Ich habe herausgefunden, wohin sie deinen Bruder bringen“, sagte er. „Aber bevor ich es dir sage, sollten wir über meine Bezahlung reden.“
    „Bezahlung?“, fragte Maja gestresst. „Hattest du nicht gesagt, du wolltest mir helfen?“
    „Ja, in der Tat. Das bedeutet nicht, dass ich nein zu einer kleinen Gegenleistung sagen würde. Hast du irgendetwas, was du mir geben kannst, was ich vielleicht gebrauchen könnte. Ich denke, es wäre nur anständig von dir, schließlich habe ich für dich Kopf und Kragen riskiert.“
    Das sah Maja ein. Sie öffnete ihre Tasche. Fast alles, was sie besaß, hatte sie Rachai für die Überfahrt mit dem Schiff gegeben. Sie fand noch den Lichtstein, die Karte, das Messer von Tabea, ihr leeres Portemonnaie mit Bärchenmuster und ein buntes Sammelsurium beschriebener und zerknitterter Zettel. Das dritte Tor trug Maja um den Hals.
    „Einen gewissen Wert haben diese Gegenstände alle“, sagte Schatten. „Außer dem Papiermüll natürlich. Ich könnte sie verkaufen.“
    „Aber ich kann sie nicht hergeben“, sagte Maja. „Außer das Portemonnaie, aber das ist leer.“ Dann entdeckte sie ganz unten in einer Falte der Tasche den Kompass von Selran. Sie zog ihn hervor. Schweren Herzens hielt sie ihn Schatten hin. Es blieb ihr keine Wahl, als nun nach und nach auch ihre Erinnerungsstücke abzugeben. Welchen Wert hatten sie schon im Vergleich zu ihrem Bruder.
    „Was ist das?“, fragte Schatten.
    „Ein Kompass. Er zeigt immer Richtung Norden, man kann sich damit orientieren.“
    „Davon habe ich gehört“, sagte er.
    „Ach wirklich?“, fragte Maja überrascht. Selran hatte den Kompass aus ihrer Welt mitgebracht, sie war sich gar nicht sicher, ob es hier welche gab. Rachai hatte sich bei seiner Routenplanung jedenfalls nach den Sternen gerichtet. Andererseits waren Kompasse mechanische Instrumente und es konnte sie genauso gut auch in dieser Welt geben.
    „Er wird mir nicht so viel Geld einbringen, wie beispielsweise dieses Messer, aber es wird reichen. Vielen Dank. Dreizehns Leute bringen deinen Bruder zum Tarmung-See, das ist der größte See in dieser Welt. Soweit ich es richtig verstanden habe, wollen sie dort nach einer Art Waffe suchen.“
    „Häh?“, fragte Maja. „Was für eine Waffe? Und wo ist dieser See?“
    „Wenn du dem Fluss entgegen der Strömung folgst, siehst du irgendwann links von dir eine große Gebirgskette. Biege dahinter ab und halte dich nordwestlich. Der See ist so groß, dass du ihn kaum verfehlen kannst. Aber wo genau sie hingehen, wo genau dein Bruder dort sein wird, das kann ich dir nicht sagen. Es ist ein riesiges Gelände, aber die, die du suchst, sind auch in einer großen Gruppe unterwegs. Sie werden Spuren hinterlassen.“
    „Ich kann keine Spuren lesen“, rief Maja, doch Schatten ignorierte es völlig.
    „Hör zu“, sagte er. „Ich konnte nicht herausfinden, was sie mit deinem Bruder vorhaben, aber es hat auf keinen Fall etwas mit dir zu tun.“ Maja starrte ihn nur verdattert an. „Es würde ansonsten überhaupt keinen Sinn machen. Um dich zu ihnen zu locken - “
    „Ich weiß, sie hätten mich einfach damals überwältigen können. Aber warum sonst sollten sie ihn entführen?“
    „Um dich zu ihnen zu locken“, wiederholte Schatten, „hätten sie dir einen Hinweis geben müssen, wohin sie ihn bringen. Und wenn sie gedacht hätten, dass du ihm bis nach Andraya folgen kannst, was ich nicht glaube, denn es war eine bemerkenswerte Leistung von dir, dann hätten sie ihn hier gelassen. Sie wollen etwas von ihm. Pscht“, zischte er, als Maja ihn schon wieder unterbrechen wollte. „Ein Junge unter tausenden. Warum gerade ihn? Was mich zu der Frage führt, ob dein Bruder irgendwelche besonderen Kräfte besitzt.“
    „Was? Nein.“
    Er legte sich den Zeigefinger auf die Lippen und sah sie streng an. „Zieh es in Erwägung“, sagte er, „denn mir fällt keine andere Erklärung ein. Ich werde jetzt gehen. Und ich wünsche dir viel Glück. Ich habe nachgedacht. Dass du es hierher geschafft hast, ist wirklich überaus bemerkenswert. Und vielleicht, nur vielleicht, räume ich dir eine winzige kleine Chance ein, dass du deinen Bruder retten könntest.“
    Maja lächelte und schon rannen ihr wieder die Tränen über die Wange. „Danke“, hauchte sie. „Vielen, vielen Dank.“
    „Dafür brauchst du dich nicht bedanken. Dafür, dass ich herausgefunden habe, wo dein Bruder steckt, schon eher. Aber die Bezahlung halte ich hier.“ Er winkte mit dem Kompass. Und mit diesen Worten verließ er das Haus und ließ eine völlig gestresste Maja zurück.
    Sie brauchte lange, um sich zu erholen. Dass er eine Chance für ihre Unternehmung sah, hatte sie einfach überwältigt. Und was er über ihren Bruder gesagt hatte, stimmte sie nachdenklich. Schatten hatte natürlich Recht. Die Entführung hatte nur Sinn, wenn es etwas an Käse gab, das Dreizehn wollte. Abgesehen davon, dass er Majas Bruder war. Aber was konnte es nur sein? Sie dachte darüber nach, ob es irgendetwas Ungewöhnliches an ihm gab, doch ihr fiel nichts ein. Außer diesem einen Nachmittag, als sie zwischen Himbeersträuchern gelegen hatten und Käse sie gefragt hatte, ob man wohl in die Zukunft sehen konnte. Sie hatte verneint und das aus voller Überzeugung. Hatte man ihr nicht gesagt, dass einzig und allein das Schwarze Einhorn die Zukunft sehen könne? Aber Käse hatte auch erzählt, dass er von ihrer Rückkehr geträumt hatte, bevor sie geschehen war. Und er hatte etwas Böses geahnt und nur wenig später war er entführt worden. Maja dachte lange darüber nach, doch als es schließlich halb elf schlug, schob sie die Gedanken beiseite. Das führte doch zu nichts. Sie packte ihre Sachen und machte sich auf den Weg, um sich mit Mirno zu treffen.

    Der Genêpa erwartete sie bereits. Er trug eine schwarze Hose und eine enge, schwarze Jacke und erinnerte dadurch unangenehm an die Dreizehnte Garde. Maja sagte ihm, was Schatten ihr berichtet hatte, und war froh, feststellen zu müssen, dass Mirno tatsächlich wusste, wo der Tarmung-See lag. „Vier Stunden auf dem schwarzen Weg“, sagte er. „Höchstens.“
    „Kannst du denn einfach so hier weg?“, fragte Maja nervös. „Was werden sie tun, wenn sie merken, dass du verschwunden bist?“
    „Ich hoffe, dass sie es nicht merken. Ich habe morgen erst spät Dienst, es bleibt genug Zeit, um zurückzukehren.“
    „Und wenn sie es doch merken?“
    „Tja, vielleicht denken sie, mir sei irgendetwas passiert. Wenn sie allerdings erfahren, dass ich sie verraten habe ...“
    „Was dann?“
    „Dann geht es meinem Stamm wohl an den Kragen.“
    „Das kann ich nicht zulassen!“, rief Maja.
    „Willst du deinen Bruder finden oder nicht? Davon abgesehen ist es allein meine Entscheidung. Und es wird alles gutgehen, das versichere ich dir.“
    „Alles wird gutgehen?“, rief Maja skeptisch. „Was, wenn sie uns auf dem Weg erwischen? Es kann doch unmöglich so einfach sein, den Schwarzen Weg zu überqueren.“
    „Doch, das ist es. Wenn man weiß wie und zur Dreizehnten Armee gehört.“
    „Kannst du es mir beibringen?“, fragte Maja, plötzlich neugierig geworden.
    „Gehörst du zur Dreizehnten Armee? Also nein.“
    „Woher weiß der Weg, ob man dazu gehört?“
    „Es gibt da einen Zauber. Aber komm jetzt endlich. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Es ist gut, dass du einen dunklen Umhang trägst, aber du musst dich auch entsprechend bewegen. Bleib dicht bei mir und sei so leise wie möglich. Atme ganz ruhig. Niemand darf uns sehen, während wir zum Eingang des Schwarzen Weges gehen. Ein Glück, dass die Halbdrachen gerade Sommerschlaf halten.“
    Als er die Halbdrachen erwähnte, fiel Maja die Frage wieder ein, die ihr seit Wochen nicht aus dem Kopf ging: „Was war eigentlich damals los, als ich hier nach Andraya gekommen bin? Warum sind alle rausgerannt, als die Halbdrachen losgeflogen sind?“
    „Ach das“, sagte Mirno. „Das machen sie hier immer, wenn Dreizehn die Halbdrachen unerwartet losschickt.“
    „Warum? Was meinst du mit unerwartet?“
    „Es ist eine Verteidigungstaktik“, erklärte Mirno. „Normalerweise gibt es feste Zeiten, an denen die Halbdrachen aus ihren Höhlen gelassen werden. Aber manchmal kehren einige nicht dahin zurück und gehen später alleine auf Nahrungssuche. Manchmal lässt Dreizehn sie auch einfach so unangekündigt raus. Sie fressen Fleisch und haben auch kein Problem damit, wenn es in einem Bündel Kleidung verborgen ist“, sagte er eindringlich. „Wenn sie rauskommen und einzelne von uns noch draußen sind, werden sie garantiert gefressen. Also kommen einfach alle anderen auch nach draußen, sobald wir den Schrei der Halbdrachen hören.“
    „Damit diese dann auch gefressen werden, oder was? Das macht überhaupt keinen Sinn.“
    „Doch, es macht Sinn. Halbdrachen sind groß und haben gefährliche Zähne und Klauen. Aber sie haben auch Schwachpunkte. Wenn ihre Flügel auch nur leicht verletzt werden, können sie oft schon nicht mehr richtig fliegen. Deshalb greifen sie einzelne Beutetiere an, schwache und von der Herde getrennte. Einen einzelnen Menschen können sie leicht überwältigen, aber sie würden niemals eine große Menge von ihnen angreifen.“
    Maja schüttelte den Kopf. „Das ist trotzdem total bescheuert.“
    „Ist es nicht. Und jetzt komm mit, wir müssen los, damit ich rechtzeitig wieder hier sein kann.“

    Des Nachts zwischen den Häusern der Stadt Andraya umher zu schleichen war wahrlich nichts für schwache Nerven. Es waren viele Wachen unterwegs. Die meisten von ihnen passten nicht besonders gut auf und Mirno wusste genau, wo sie postiert waren, und auch, wo die besonders Unaufmerksamen Wache hielten. Trotzdem war es nervenzerfetzend. Einmal wurden sie tatsächlich entdeckt, aber Mirno kannte den Wachposten und schaffte es, ihm weiszumachen, dass er bloß ein nächtliches Abenteuer mit seiner Freundin suchte. Gegen das Versprechen, dass Mirno dem Wachtposten bei Gelegenheit dieselbe Nachsicht erwies, ließ er die beiden schließlich gehen.
    Noch schlimmer wurde es aber, als sie die Stadt hinter sich ließen und durch die offene Landschaft gingen. Andraya bestand (wenn man von dem felsigen Gebiet um den Taumelberg herum mal absah) hauptsächlich aus Wiesen und Feldern mit ein paar Hecken dazwischen. Maja machte sich nichts vor. Obwohl sie geduckt am Boden daher schlichen, konnte sie jeder sehen, der zufällig auch nur in der Nähe war.
    „Wir gehen auf den Taumelberg zu“, stellte Maja irgendwann plötzlich fest.
    „Ja. Siehst du die nadelspitzen Felsen in dem Gebiet zwischen Dreizehns Burg und dem Taumelberg? Dort beginnt der Schwarze Weg. Da vorne ist er übrigens, siehst du die dunklen Bäume?“
    Maja sah in die Richtung und tatsächlich. Weit hinten konnte sie den schwarzen Weg erkennen. Selbst in der Nacht unterschieden sich die Bäume, die ihn säumten von den anderen, dadurch, dass sie noch dunkler waren.
    „Kann man den Weg nicht überall betreten?“, fragte Maja.
    „Hier in Andraya leider nicht. Und der Zugang ist bewacht. Wir müssen uns an zwei Wachen vorbeischleichen. Keine Sorge, ich habe schon einen Plan.“

  • Der Schwarze Weg

    Sie brauchten fast eine Stunde, um die spitzen Felsen zu erreichen und noch einmal eine halbe, bis Mirno Maja in den Schatten eines der Felsen zog und auf eine Ebene vor ihnen zeigte. Der schwarze Weg schlängelte sich zwischen den Felsen hindurch, die einzigen Bäume weit und breit. Sie hatten keine Blätter, nur pechschwarze Äste, die so dicht miteinander verflochten waren, dass sie einen Tunnel bildeten, in den kaum ein Lichtstrahl drang. Maja kannte die unheimliche Anziehungskraft, die von ihm ausging, aber hier in Andraya schien sie nicht zu wirken. Alles, was sie spürte, war ein leichtes Unbehagen. Vor ihnen auf der Ebene endete der schwarze Weg, öffnete sich zu einem finsteren Schlund. Zwei Säulen aus Stein ragten davor empor und auf ihnen saß das steinerne Abbild eines Halbdrachen. Mit zwei Klauen auf der einen, zwei auf der anderen Säule bildete er ein Tor. Neben den Säulen standen zwei grün gewandete Wachen.
    „Stilvoll“, sagte Maja mit Blick auf die Halbdrachenstatue. Es war ein verzweifelter Versuch, die Spannung etwas zu lösen.
    „Wir müssen noch ein Stück näher ran“, hauchte Mirno.
    Sie schlichen zum nächsten Felsen und jetzt konnten sie die beiden Wachposten reden hören.
    „Wir haben ihn ja auch lange nicht gefüttert“, sagte der eine. „Kein Wunder, dass er unruhig wird.“
    „Von wem sprechen sie?“, hauchte Maja in Mirnos Ohr.
    „Von Quayax. Er lebt auf dem Schwarzen Weg. Ich habe ihn nie gesehen, aber alle haben fürchterliche Angst vor ihm.“
    „Müssen wir an dem etwa auch vorbei?“
    „Ich hoffe eigentlich, dass er sich woanders herumtreibt. Erst mal zu den beiden Wachen. Hab ich schon gesagt, dass ich ziemlich gut darin bin, Tierlaute nachzuahmen?“ Er holte tief Luft, aber statt eines Froschquaken oder eines Vogelrufs, stieß er einen grauenhaften Schrei aus, der Maja die Haare zu Berge stehen ließ und ihr durch Mark und Bein ging, wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Tafel.
    „Halbdrachen“, brüllten die beiden Wachen, „schnell weg hier.“ Und mit diesen Worten stürzten sie in den Schlund des Schwarzen Weges und suchten Schutz unter den dichten Zweigen.
    „Das lief nicht so, wie du geplant hattest, oder?“, fragte Maja.
    Mirno schüttelte den Kopf. „Ich hatte gehofft, dass sie weglaufen.“
    In dem Moment erklang aus den Tiefen des Schwarzen Weges ein gewaltiges Brüllen, noch viel grauenvoller als der Schrei des Halbdrachens. Maja und Mirno stolperten erschrocken zurück und die beiden Wachen verloren völlig die Beherrschung. Schreiend kamen sie wieder unter den Bäumen hervor, hasteten über die Ebene und suchten Schutz unter einem schmalen Felsvorsprung. Ihre Augen waren auf den Himmel gerichtet und sie achteten nicht mehr auf den Eingang des Weges.
    Maja jubilierte innerlich. „Los, lass uns gehen“, rief sie und wollte schon los rennen, doch Mirno packte sie am Arm und hielt sie fest.
    „Nein, das ist Quayax. Und er ist ganz nah.“
    „Das hier ist vielleicht unsere einzige Chance“, sagte Maja und versuchte so viel Dringlichkeit wie möglich in ihre Stimme zu legen.
    Mirno strich sich durch das kurze Haar, und machte eine verzweifelte Miene. Doch dann nickte er. „Na gut. Aber gib mir dein Schwert und lass meine Hand nicht eine Sekunde los.“
    Maja zog das Schwert aus Taroq und gab es ihm, dann rannten sie Hand in Hand zum Weg und stürzten sich in den dunklen Schlund.

    In jenem Moment, da Maja den Schwarzen Weg betrat, verlor sie jegliche Orientierung. Dunkelheit umfing sie und eine Angst, von der sie wusste, dass es nicht ihre eigene war, drückte sich tief in ihre Brust.
    „Was passiert hier?“, rief sie panisch, dann presste sich eine Hand auf ihren Mund.
    „Sei leise“, hörte sie Mirno zischen. Seine Stimme erklang direkt an ihrem Ohr und doch unendlich weit weg.
    Und dann wusste Maja plötzlich überhaupt nicht mehr, wo sie war. Kälte kroch in ihre Glieder, aber nicht nur dorthin, sie kroch tiefer. In ihren Geist, ihre Seele. Sie stand in der Finsternis, drohende Schatten schlichen auf sie zu und Furcht fraß sich in ihr Herz. Sie hatte größere Angst als jemals zuvor in ihrem Leben. Es war eine Angst, so tief sitzend, wie keine andere und größer noch, als die Furcht vor dem Tod: Die Angst, sich selbst zu verlieren. Dann tauchte neben ihr ein helles Licht auf und Maja wusste, dass es Sicherheit und Geborgenheit bedeutete. Der rettende Anker im Nichts. Sie wollte darauf zugehen, doch etwas packte sie und zog sie fort, immer weiter in die Dunkelheit. Sie wehrte sich dagegen, wollte auf das Licht zugehen. Warum ließ man sie nicht?
    „Maja!“, hörte sie die Stimme von ganz weit weg. „Hör auf damit, wir kommen nicht vorwärts, wenn du in die falsche Richtung ziehst.“ Und dann ein schreckliches Brüllen. „Oh nein. Bitte, Maja, besinn dich wieder.“
    Und Maja erinnerte sich, wo sie war. Sie wusste wieder, wer bei ihr war und wohin sie gehen musste.
    „Mirno“, murmelte sie. Es fiel ihr schwer, die Worte über die Lippen zu bringen, unendlich schwer. „Sind wir schon weit gekommen?“ Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ob sie nun Sekunden oder Jahre unterwegs waren, sie hätte es nicht sagen können.
    „Pscht“, zischte Mirno, „Quayax ist hier irgendwo. Und ich kann zwar mehr sehen als du wahrscheinlich, aber trotzdem ist es stockfinster.“
    Und dann schrie er plötzlich auf und seine Hand war verschwunden.
    „Mirno!“, rief Maja. Sie war allein und wieder kurz davor sich selbst zu verlieren. Das Licht hinter ihr wurde wieder heller und es übte eine so starke Anziehungskraft aus – das Versprechen von Sicherheit und Wärme. Doch dort war Andraya und sie durfte der Versuchung nicht nachgeben. Sie musste Mirno helfen, aber alles war finster, sie konnte nichts sehen. Sie hatte nicht einmal das Gefühl, dass es etwas zu sehen gab, aber da musste etwas sein. Sie musste sehen. Sie konzentrierte sich auf Mirno und da ihre Augen ihr nichts nutzten, schloss sie sie schließlich. Das ferne, lockende Licht war immer noch da. Es war in ihrem Kopf. Nur in ihrem Kopf. Sie hörte ein leises Wimmern.
    „Mirno.“ Sanft flüsterte sie seinen Namen und da war etwas neben ihr, das darauf reagierte. Wie ein kleiner Funken, der bei der Erwähnung seines Namens leicht aufflackerte. Maja konzentrierte sich auf dieses Glimmen und plötzlich konnte sie Mirno sehen, obwohl sie die Augen geschlossen hatte. Was sie sah, war nicht sein richtiger Körper, aber etwas, das sie so stark an ihn erinnerte, dass sie sein wahres Aussehen damit assoziierte. Sie konnte ihn sehen. Und sie sah noch mehr: Einen dunklen Schatten, von dem sie sicher war, dass es Quayax war. Und andere Schatten, wie dünne Fäden, die auf sie eindrangen, sie bedrängten und ihr die Orientierung wieder nehmen wollten. Maja schaffte es, sie irgendwie zurück zu drängen und als sie ihre richtigen Augen in dem Moment wieder öffnete, konnte sie plötzlich wieder sehen. Richtig sehen, zum ersten Mal, seit sie den Schwarzen Weg betreten hatte. Mirno kauerte neben ihr am Boden und schien vor Angst erstarrt zu sein. Um sie herum erkannte sie das dichte Zweiggewirr des Schwarzen Weges und zu ihren Füßen war fester Boden, grau und staubig, von unzähligen Füßen platt getreten, mit vereinzelten kleinen Steinchen darauf. Und vor ihr stand ein Wesen, das aus purer Finsternis zu bestehen schien. Eine große Wolke mit feuerroten Augen. Maja wich schlotternd zurück und versuchte gleichzeitig jene Konzentration nicht entgleiten zu lassen, die sie im Kampf gegen die auf ihre innere Verteidigung pressende Finsternis brauchte. Dann stieß sie mit dem Fuß an das Schwert aus Taroq. Mirno musste es fallen gelassen haben. Sie hob es auf und stellte sich dem Ungeheuer zum Kampf.
    „Bist du okay?“, fragte sie Mirno.
    Ihre Stimme schien ihn aus seiner Starre zu reißen, er richtete sich auf und sah Maja erschrocken an. „Äußerlich bin ich nicht verletzt“, sagte er. „Aber ... wie machst du das?“, fragte er bewundernd.
    „Was?“
    „Du solltest ihn nicht einmal sehen können, du solltest mich nicht sehen können. Dein ganzes Sein sollte darauf ausgerichtet sein, nach Andraya zu - “
    „Sprich nicht weiter“, unterbrach Maja ihn. „Ich kämpfe mit aller Kraft dagegen an und ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Außerdem ... spar dir die Bewunderung für nach diesem Kampf auf.“
    Mit diesen Worten stürmte sie auf Quayax zu. Es war lächerlich einfach. Er wehrte sich nicht einmal, er schien sie nicht einmal kommen zu sehen und Sekunden später hatte sie das Schwert aus Taroq in seinem Körper, oder was auch immer es war, versenkt. Und das Wesen zerfiel mit einem lauten Brüllen zu Rauch und verflüchtigte sich. Maja sackte zu Boden. Sofort war Mirno bei ihr und ergriff ihre Hand.
    „Bring mich hier raus“, bat sie ihn. „Bitte bring mich einfach nur raus.“

    An den Rest ihrer Reise auf dem Schwarzen Weg konnte sie sich später kaum noch erinnern. Erst als sie wieder ins Sonnenlicht traten und Mirno sie behutsam von dem Weg wegführte, setzte ihre Erinnerung wieder ein. Und sie wusste eines: Sie wollte den Schwarzen Weg nie wieder betreten.
    Dann, als sie bereits hunderte Meter vom Schwarzen Weg weg waren, ließ Mirno sich plötzlich lachend ins Gras fallen.
    „Was ist los mit dir?“, fragte Maja verwundert. Sie drehte ihn besorgt auf den Rücken und brauchte einen Moment, um seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Es war Erleichterung.
    „Du bist einfach unglaublich“, rief Mirno. „Du hast Quayax getötet. Er terrorisiert den Schwarzen Weg seit Jahren und du hast ihn einfach – Puff.“
    „Was meinst du damit?“
    „Er ist weg. Vergangenheit. Ich hätte es wissen müssen, ich hab doch mitbekommen, dass du dieses Schwert da mit dir herumträgst, damals schon. Quayax ist ein Wesen aus Angst und schwarzer Magie, man kann ihn nicht einfach töten, ein Schwertstreich geht einfach durch ihn hindurch. Aber nicht mit diesem Schwert. Du hast ihn vernichtet. Aber was ich nicht verstehe: Wie konntest du ihn überhaupt sehen? Du hättest mit völliger Blindheit geschlagen sein müssen.“
    „Das war ich auch“, sagte Maja. „Aber dann konnte ich plötzlich wieder sehen. Ich weiß nicht, was ich gemacht habe. Ich kann es nicht erklären. Ich kann es nicht einmal beschreiben, es war so seltsam.“ Und plötzlich wurde sie selbst von Erleichterung überwältigt. „Wir haben es geschafft. Wir sind raus aus Andraya. Sind wir am richtigen Ort?“
    Mirno nickte. „Ich kann es einfach nicht glauben. Du hast Dreizehns Haustier getötet. Versprich mir, dass du eines Tages zurück kommst und dir Quayax Herrchen genauso vorknöpfst, ja?“
    Mit einem Schlag wurde Maja wieder ernst. „Sag das nicht.“
    „Tschuldigung.“
    „Ich rette meinen Bruder und dann bin ich raus aus der Sache.“
    Mirno räusperte sich und rappelte sich vom Boden auf. „Okay, auf geht es. Sie müssen den Weg an derselben Stelle verlassen haben, wie wir. Das heißt, sie müssen hier irgendwo lang gekommen sein. Ich schau mal, ob ich herausfinden kann, in welche Richtung sie unterwegs sind.“ Er machte sich auf den Weg über die Wiese, ging hierhin und dorthin auf der Suche nach Spuren. Maja beobachtete ihn. Sein Anblick erwärmte ihr Herz, sie war ihm so dankbar für das, was er tat. Schließlich kam er zurück und zeigte nach Westen. „Sie sind da lang gegangen. Die Landschaft hält hier keine großen Hindernisse bereit, deshalb denke ich nicht, dass sie große Schlenker machen werden. Folge ihnen einfach in einer geraden Linie. Siehst du die Berge dort hinten? An denen kannst du dich orientieren. Die Leute, die du suchst hinterlassen ziemlich deutliche Spuren, auch an denen kannst du dich orientieren, das sollte selbst ein Laie wie du hinbekommen. Es sind ungefähr dreißig Personen, einige haben Pferde, andere nicht. Sie scheinen es nicht besonders eilig zu haben. Es ist anzunehmen, dass sie lange Rasten machen und Abends viel Zeit verbrauchen, um ein Lager aufzuschlagen. Ich denke, du kannst sie schon in wenigen Tagen einholen.“
    „Hoffentlich“, sagte Maja. „Sonst geht mir nämlich das Essen aus.“ Sie hatte nur noch den kleinen Beutel Proviant, den sie von Schatten bekommen hatte. Kaum genug für zwei Tage.
    „Viel Glück“, sagte Mirno. Er blickte mit trauriger Miene zum Schwarzen Weg. „Ich muss dann wohl wieder los.“
    „Geh nicht“, sagte Maja. „Bitte. Du gehst dort ein. Du bist jetzt hier, du könntest zurück zu deinem Dorf gehen.“
    Mirno schüttelte den Kopf. „Dort werden sie mich wohl nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Und wenn ich nicht nach Andraya zurückkehre, vernichten sie mein Dorf.“
    „Vielleicht merken sie es gar nicht. Vielleicht denken sie, du wärst verunglückt.“
    Er schüttelte den Kopf.
    „Geh zu deinem Dorf zurück und sag ihnen, sie sollen fliehen. Geht in die Berge, oder in die Eiswüste. Irgendwohin, wo Dreizehn euch nicht finden kann. Früher oder später wird er dein Dorf ohnehin vernichten und alle, die dort leben, versklaven. Lass es nicht dazu kommen.“
    „Ich kann sie nicht zum Fliehen überreden. Wenn ich jetzt in mein Dorf zurückkehre, gelte ich für den Rest meines Lebens als Verräter und es wird ein sehr kurzes Leben, glaub mir. Ich muss wieder nach Andraya gehen. Es ist das einzige, was ich tun kann.“
    „Gendo ist tot“, sagte Maja plötzlich. Es war dieser Moment, in dem sie erkannte, dass sie Mirno die Wahrheit nicht verschweigen durfte. „Ich habe ihn sterben sehen.“
    Er starrte sie erschrocken an. „Das kann nicht sein“, flüsterte er. „Wenn er tot ist ... wie könntest du es wissen?“
    „Ich bin auf einem Piratenschiff hergekommen. Wir sind dem Schiff begegnet, auf dem Gendo war. Ich weiß nicht, wer wen zuerst angegriffen hat, aber es war eine schreckliche Seeschlacht. Und Gendo hat sie nicht überlebt. Ich weiß, ich hätte dir das früher sagen müssen. Nicht hier, nicht auf den letzten Drücker, wie sollst du dich mit diesem Wissen noch an den Wachen vorbei schleichen? Aber ich finde, du musst es erfahren. Ich war nur zu feige, es dir früher zu sagen.“
    Mirno schluckte schwer und sah sie lange an. „Danke“, sagte er schließlich. „ ... dass du es mir gesagt hast. Aber es ändert nichts. Ich muss trotzdem zurück.“
    Maja wollte ihm sagen, dass er genauso umkommen würde, wie Gendo, wenn er zurück ging, aber im letzten Moment unterbrach sie sich. Sie würde ihn nicht umstimmen können. Es gab keinen Grund ihn mit einem noch schlechteren Gefühl auf den Schwarzen Weg zurückzuschicken.
    „Es tut mir Leid“, sagte sie.
    Er nickte. „Schon okay.“
    „Wir sehen uns wohl nicht mehr wieder.“
    „Nein.“
    „Eins noch: Ich werde dir niemals vergessen, was du heute für mich getan hast. Vielleicht ist es nur ein leeres Versprechen, weil wir uns nicht wieder begegnen werden, aber ... ich hoffe, ich kann mich irgendwann revanchieren. Vielleicht fällt mir ja etwas ein.“
    „Du schuldest mir nichts“, sagte Mirno. „Aber lass dieses Abenteuer nicht umsonst gewesen sein. Rette deinen Bruder.“

  • Falls sich jemand wundert, warum das hier auf einmal so schnell geht: An diesen Kapiteln arbeite ich schon länger, konnte ihnen aber jetzt erst den letzten Schliff geben. Dafür kommt dann demnächst die dicke Wand, an der ich nicht weiterkomme. Mal sehen, vielleicht kann mir dann ja jemand von euch helfen.


    Amaras Geschichte


    Erisa war wirklich ein sehr armes Dorf und es lag mitten im Regenwald. Die Häuser waren aus Holz und Ranken gebaut, bedeckt mit trockenen Gräsern, wie Strohdächer, die Straße dorthin kaum ausgebaut. Niber jedoch schien sich hier sehr viel wohler zu fühlen, als bisher in dieser Welt. Vielleicht lag es daran, dass das Leben hier beinahe ein bisschen dem in ihrer Welt glich. Zumindest gab es keine Flugzeuge oder leuchtende Parkleitsysteme. Das Dorf bekam nur selten Besuch von Fremden und dementsprechend misstrauisch begegnete man Kandrajimo, Jonathan Niber und Tabea. In Erisa war es sogar schwierig, jemanden zu finden, der Spanisch konnte. Ein paar junge Leute sprachen die Sprache wohl, doch hatten sie noch niemals von dieser Welt der Götter gehört.
    Doch eine Frau, die am Rande des Dorfes ihre Hütte flickte und gleichzeitig ein Auge auf ihre beiden kleinen Kinder hielt, erinnerte sich an Geschichten, die ihr einst ihre Großmutter erzählt hatte. Sie ließ Tabea, Kandrajimo und Niber stehen und kehrte kurz darauf mit ebenjener Großmutter zurück sowie mit einem jungen Mann, der die drei misstrauisch betrachtete und dann eine so finstere Miene aufsetzte, dass Kandrajimo sich sicher war, er war hergekommen, um sie zu bewachen.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend sprach Kandrajimo die alte Frau auf Paratak an. Er bereute es sofort, denn der Klang der Worte versetzte sie in Panik. Sie begann, schnell in einer fremden Sprache zu reden und wich vor ihnen zurück. Ihre Enkelin versuchte beruhigend auf sie einzureden und warf zwischendurch gehetzte Blicke auf die drei Fremden. Der junge Mann machte nervös einen Schritt vorwärts und rieb sich mit einer Hand die Oberarmmuskeln.
    „Bitte bleib ruhig“, sagte Kandrajimo auf Paratak und hob beschwichtigend die Arme. „Wir wollen niemandem etwas tun. Du verstehst uns, nicht wahr? Das ist sicher verwirrend für dich.“
    „Diese Sprache“, hauchte die Frau.
    „Du verstehst sie, obwohl du sie niemals gelernt hast“, vermutete Kandrajimo. „Obwohl du dir nicht erklären kannst, warum.“
    Die alte Frau starrte ihn an. „Ich habe sie schon einmal gehört“, hauchte sie. „Aber das ist so lange her. Erst jetzt wird mir bewusst …“ Ihre Stimme verlor sich, ihr Blick wurde glasig. Noch immer versteckte sie sich hinter ihrer Enkelin und ihre Hände zitterten. Kandrajimo machte sich Sorgen, dass das Herz der alten Frau diese Aufregung nicht mitmachte. Er bemühte sich, sie weiter zu beruhigen.
    „Du hast ein Tor durchquert, nicht wahr?“, sagte er mit behutsamer Stimme. „Ein Tor zwischen zwei Welten.“
    Sie schüttelte zuerst den Kopf, doch dann nickte sie. „Wie kannst du das wissen?“
    „Auch wir haben ein solches Tor durchquert und deshalb sprechen wir nun dieselbe Sprache.“
    „Magie“, flüsterte die Frau.
    „So etwas in der Art“, gab Kandrajimo zu. „Aber du brauchst keine Angst davor zu haben.“
    Ihre Enkelin stemmte die Hände in die Hüften und rief ihnen etwas auf Spanisch zu. Es klang verärgert.
    „Sie will wissen, was hier los ist“, raunte Tabea ihren beiden Begleitern zu. „Sie kann euch nicht verstehen.“
    „Dann erzähl ihr irgendwas“, sagte Kandrajimo und wandte sich wieder an die Großmutter. „Wir kommen auf der Suche nach Hilfe hierher und du bist vielleicht die Einzige, die uns diese geben kann.“ Die Frau wich weiter zurück. Kandrajimo sah sich hilfesuchend um. „Vielleicht können wir uns erst einmal irgendwohin setzen?“ Da er keinen Stuhl fand, ließ er sich schließlich, dort wo er stand, in den Schneidersitz sinken. Er hoffte, so weniger bedrohlich auf die beiden Frauen und ihren Beschützer zu wirken und bat Niber und Tabea es ihm nachzutun. Niber kam der Bitte nach, doch Tabea verschränkte bloß die Arme. Vielleicht fühlte sie sich zu alt, um auf dem Boden zu sitzen. Sie sah alt aus, beinahe so alt wie die Frau, die nun mit gerunzelter Stirn hinter ihrer Tochter hervorlugte. Doch Kandrajimo wusste, dass der Anblick täuschte. Tabea war fähig, ihn und Niber zu verteidigen falls nötig.
    Kandrajimo hob die Hände zu einer offenen Geste. „Am Besten stelle ich uns zuerst einmal vor: Ich bin Jimo Kandrajimo und meine Begleiter hier sind Tabea und Jonathan Niber.“
    „Ich bin Amara Sanrima“, erklärte die Frau. Sie schien den ersten Schreck überwunden zu haben und wirkte nun vor allem misstrauisch, doch Kandrajimo konnte eine Spur von Neugierde aus ihrer Stimme heraushören. Das stimmte ihn hoffnungsvoll. Amara sprach weiter: „Wie sollte ich euch helfen können?“
    „Wir sind auf der Suche nach ebenjenem Tor, durch das du einst gegangen bist“, erklärte Kandrajimo.
    Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Du hast gerade gesagt, dass du das Tor selbst durchschritten hast. Du müsstest wissen, wo es liegt.“
    „Nicht dasselbe, bloß ein Ähnliches“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Es ist weit entfernt von hier. Wir müssen aber dringend das Tor in dieser Gegend finden – dein Tor.“
    „Was wollt ihr dort? Ihr dürft die Götter nicht erzürnen.“
    „Was für Götter?“, fragte Jonathan.
    „Was hast du auf der anderen Seite gesehen?“, fragte Kandrajimo.
    Doch Amara schüttelte den Kopf und wich wieder vor ihnen zurück.
    „Wir wollen niemanden erzürnen, so glaub uns doch“, sagte Kandrajimo, immer noch auf dem Boden sitzend „Wir sind auf der Suche nach einem Mädchen, das in dieser anderen Welt verloren gegangen ist. Sie ist in großer Gefahr. Wir wollen sie retten.“
    Amara sah ihn nachdenklich an. „Ich war auch noch ein Mädchen – damals.“
    „Würdest du uns deine Geschichte erzählen?“, fragte Kandrajimo.
    Amara überlegte lange und betrachtete die drei gründlich. Ihre Angst schien einigermaßen überwunden, doch ihre Vorsicht blieb. Schließlich jedoch nickte sie.
    Tabea und Amaras Enkeltochter waren unterdessen in ein regelrechtes Streitgespräch auf Spanisch verfallen, das Amara jetzt beendete, indem sie ihre Enkelin streng in ihrer Muttersprache zurechtwies. Die junge Frau verschränkte wütend die Arme, lauschte aber den Erklärungen ihrer Großmutter. Schließlich ging sie in die Hütte und holte zwei Stühle heraus. Kandrajimo musste lachen, erhob sich verlegen und klopfte sich den Staub von der Hose, während zwei weitere Stühle herbeigetragen wurden. Sie setzten sich, auch Tabea und der junge Mann. Dann begann Amara zu erzählen:

    „Ich bin nicht in diesem Dorf aufgewachsen“, begann sie, „bis ich zwanzig war, lebte ich in einem Dorf weiter im Nordosten, dichter am Regenwald. Wir hatten andere Bräuche als die anderen Dörfer. Wir beteten Götter an, von denen andere nicht einmal gehört hatten. Einmal im Jahr machte sich eine Gruppe von uns auf dem Weg zum alten Inka-Tempel, um dort die Welt der Götter zu betreten. Von dort brachten sie jedes Mal andere Gaben zurück. Sie brachten unserem Dorf Glück, oder auch das Gegenteil, wenn die Götter uns nicht wohlgesonnen waren.“
    „Meines Wissens verehrten die Inka die Sonne“, erklärte Kandrajimo seinen Begleitern. „Aber auch andere Gottheiten, die die Naturgewalten repräsentierten: Mond, Erde …. Ich glaube es ist recht komplex.“
    „Wir waren keine Inka“, sagte Amara, „die gibt es hier schon lange nicht mehr. Wir waren eine kleine Gemeinschaft, recht abgeschieden von den anderen Dörfern der Region. Wir hatten unseren eigenen Glauben. Und es war nicht einfach nur Glaube – wir waren auserwählt. Die Götter wachten über uns und beschenkten uns. Wir kannten den Weg zu ihnen. Jedes Jahr bestimmte das Los ein Dorfmitglied, das neu zur Gruppe der Gesandten hinzustieß. Im ersten Jahr durfte man die Welt der Götter nicht selbst betreten, sondern musste vor dem Eingang ausharren und Wache halten. In jenem Jahr wurde ich erwählt. Doch es geschah ein schreckliches Unglück.“ Sie suchte den Blickkontakt zu Kandrajimo und sog ein paar Mal zitternd Luft ein. „Ich habe lange nicht über jenen Tag gesprochen“, erklärte sie. Kandrajimo versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln. Sie strich sich nervös über das Haar, nahm sich zusammen und fuhr fort: „Ich war fünfzehn Jahre alt. Es war mein erstes Jahr, also durfte ich nicht mit in die Welt der Götter. Ich wartete am Eingang zum Tempel, wie man es mir aufgetragen hatte. Bei Sonnenaufgang sollten die anderen zurückkehren …“ Sie ließ die Worte verhallen und Kandrajimo brauchte ihre nächste Erklärung nicht, um zu wissen, was passiert war. „Niemand kam …“, flüsterte sie.
    „… und du bist aufgebrochen, um sie zu suchen“, beendete er ihren Satz. „Du hast die andere Welt – die Welt der Götter – allein betreten. Hast du sie gefunden? Die anderen aus deiner Gruppe?“
    Amara nickte, doch als sie weiter sprach merkte man, wie schwer es ihr selbst nach all diesen Jahren noch fiel. „Ich betrat den Tempel, um sie zu suchen. Ich sah die Wunder dieses Gebäudes: Er war groß und prachtvoll, wenn auch alt und verfallen. Das meiste davon war bloß noch eine Ruine und trotzdem war es ein erhabener Ort. Ich gelangte auf einen großen Platz und dort stand es: Ein riesiges, blau schimmerndes Tor.“
    Kandrajimo merkte, wie ihn bei dieser Beschreibung die Aufregung packte. Es gab tatsächlich ein weiteres Tor hier und den Erzählungen Amaras nach, konnte man es sogar in beide Richtungen benutzen. Sie hatten es geschafft, vorausgesetzt Amara konnte ihnen den Weg dorthin beschreiben.
    Die alte Frau sprach leise weiter: „Als ich hindurch ging, war es plötzlich Nacht. Die Sterne funkelten am Himmel. Ich war nicht mehr im Tempel, sondern stand auf einer weiten, grünen Wiese. In einiger Entfernung war ein Gebäude – prachtvoller noch als der Inka-Tempel, errichtet auf hohen Felsen. Ich ging hin …“ Ihr Blick wurde hart, ihre Stimme distanziert. „Dort habe ich sie gefunden … Sie waren alle tot.“
    Kandrajimo machte ein ernstes Gesicht. Die Sache gefiel ihm ganz und gar nicht, Menschen fielen nicht einfach so tot um. „Woran sind sie gestorben? Und hast du dort andere Menschen getroffen?“
    „Keine Menschen“, sagte Amara. „Aber dort war jemand. Vielleicht ein Gott, vielleicht ein Geist. Ich konnte ihn sehen, aber er hatte keinen Körper. Er hat zu mir gesprochen. Und Yaruk war dort: zweimal.“
    „Yaruk?“
    „Einer meiner Freunde. Er lag tot am Boden und doch sprach er mit mir. Er wollte dass ich dort bleibe. Der alte Mann sagte er wollte mich töten.“
    Kandrajimo wechselte einen Blick mit Tabea und Jonathan, doch sie wirkten so verwirrt wie er. Er überlegte, was er tun sollte? Weiter nachhaken? Doch Amara schienen die Ereignisse sehr zu belasten und das Wichtigste war nun, den Standort des Tores herauszufinden.
    „Ich rannte so schnell ich konnte fort von dem Gebäude“, erzählte sie weiter, „zurück zum Tor und in diese Welt. Ich fühlte mich schuldig, dass ich meine Gruppe verloren hatte, deshalb traute ich mich nicht, in mein Dorf zurückzukehren. Ich kam stattdessen hierher. Viele Jahre später kamen andere aus meinem ehemaligen Dorf in dieses. Auch sie hatten das Tor einst durchquert. Ein paar von ihnen leben noch, aber für gewöhnlich sprechen wir nicht darüber. Nicht zu Außenstehenden jedenfalls.“
    „Wir sind keine Außenstehenden“, sagte Kandrajimo. „Wir waren selbst schon in dieser Welt, aber an einem anderen Ort.“
    „Dann erklärt mir, was ich gesehen habe“, forderte Amara, „denn mir jedem Jahr, das vergeht, jedem Jahr in dem ich diese jungen Menschen hier heranwachsen sehe“, sie machte eine Geste, die über das Dorf deutete, „macht es weniger Sinn.“
    Kandrajimo fasst sich kurz: „Das Tor führt nicht in die Welt der Götter, aber sehr wohl an einen anderen Ort. Eine andere Welt, ähnlich wie diese und doch verschieden. Wir drei wurden dort geboren. Es gibt noch andere Tore wie dieses, aber sie verbinden jeweils unterschiedliche Orte. Ich weiß nicht, wer euch diese Gaben geschenkt hat und auch nicht, wer oder was deine Freunde getötet hat. Vielleicht waren es Menschen, nicht auszuschließen, dass es übernatürliche Wesen oder Götter waren. Möglicherweise kann ich es herausfinden, wenn ich dort bin, aber versprechen werde ich nichts, denn vor allem muss ich das Mädchen finden, von dem ich erzählte. Kannst du uns den Weg zum Tor beschreiben? Du hast unser Wort, dass wir es geheim halten werden.“
    Amara nickte. „Mir ist egal, was mit dem Tor geschieht. Aber ich kann euch nur raten, nicht hindurch zu gehen. Ihr könntet sterben.“
    „Ich hole die Karten und die Tagebücher aus dem Auto“, sagte Tabea, stand auf und verließ sie.
    Kandrajimo lehnte sich ein wenig zurück und beobachtete, wie Amara sich nun mit ihrer Enkeltochter auf Spanisch unterhielt. Er wünschte, nicht Tabea sondern er wäre zum Auto gegangen, denn sie hätte wenigstens etwas von dem Gespräch verstehen können, das sich nun um ihn herum entwickelte. Amara schien ihrer Enkeltochter ein paar Erklärungen zu geben, denn diese wirkte nun beruhigter. Auch ihr Aufpasser entspannte sich sichtlich, murmelte schließlich selbst ein paar Worte und verließ sie schließlich in Richtung Westseite des Dorfes. Kandrajimo sprach Amara noch einmal an und in dem Versuch, eine normale Unterhaltung mit ihr zu beginnen, fragte er, ob sie noch weitere Enkelkinder hatte. Sie lächelte und begann ein wenig von ihrem Leben in Erisa zu erzählen, dann stellte sie auch Kandrajimo Fragen, die er sehr vorsichtig beantwortete. Er wollte ihr Weltbild nicht zu sehr erschüttern und auf den Kopf stellen, außerdem wusste er nicht, inwieweit er sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen konnte. Vielleicht hätte er ihr Vertrauen gesucht und ihr alles erklärt, wenn er länger Zeit gehabt hätte, doch diese rann ihnen durch die Finger.
    Tabea kam mit MacLyarks Tagebüchern und einem Stapel Karten der Region zurück. Sie glichen Amaras Informationen mit beidem ab und schafften es schließlich, ein kleines Gebiet einzugrenzen, in dem das Tor liegen musste. ‚Klein‘ war dabei allerdings relativ.
    Noch am selben Tag fuhren sie los, weiter nach Süden. Als sie die dortigen Bergnebelwälder erblickten, verwarfen sie ihre ursprüngliche Idee, sich Pferde zu besorgen. So weit wie möglich fuhren sie mit dem Auto auf den Straßen, dann ließen sie es stehen und machten sich zu Fuß auf den Weg durch den Urwald. Wie sie weiter kommen würden, wenn sie die Welt ohne Namen erreichten, wussten sie noch nicht. Tabea würde dort als Eule weite Gebiete absuchen können, Kandrajimo hingegen hatte es seit seinem Zusammentreffen mit der verrückten schottischen Zauberin nicht mehr gewagt, die Verschiebung anzuwenden. Es ging ihm zwar wieder besser und er fühlte sich gesund genug, den Urwald zu durchqueren, aber etwas in seinem Inneren kam ihm nicht richtig vor. Während sie sich unter Ästen hinwegduckten und kleine Wasserläufe überquerten, sprach er Tabea darauf an.
    „Du hattest einen Unfall, niemand macht dir Vorwürfe, dass du dich unsicher fühlst“, beschwichtigte sie.
    „Ich hatte keinen Unfall, eine durchgeknallte Magierin hat mich angegriffen.“
    Tabea sprang anmutig einen Hang hinauf. Sie sah nun wieder jung und kräftig wie eine 20-jährige aus, balancierte geschickt über einen Holzstamm und reichte Kandrajimo die Hand, um ihn ebenfalls hinaufzuziehen. Ihre Augen trafen sich und sie schien den Zweifel in seinen zu erkennen. „Es war sicher ein traumatisches Erlebnis für dich“, sagte sie mitfühlend. „Gib dir Zeit. Fürs Erste kommen wir ohne deine Fähigkeiten aus. Und irgendwann wirst du es einfach wieder versuchen müssen. Wie wenn man vom Pferd fällt – das Aufsteigen danach ist schwierig.“
    „Aber was ist, wenn ihre Magie etwas kaputt gemacht hat?“, fragte er zweifelnd. Die anderen und ich konnten nie richtig erklären, warum wir die Verschiebung beherrschen und warum sie bei uns allen so unterschiedlich funktioniert. Meister Wolf und Tamor verstehen es sicher noch am ehesten, aber auch für sie ist es ein Rätsel. Und irgendetwas fühlt sich jetzt anders an. Als wenn diese Zauberin mich aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Ich habe das Gefühl, die Verschiebung jetzt nicht benutzen zu können. Ich traue mich nicht einmal, es zu versuchen. Es ist wie eine Blockade und ich habe Angst, sie zu überwinden.“
    „Wenn etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, kann es auch wieder ins Gleichgewicht kommen“, meinte Tabea zuversichtlich. „Du bist einfach noch nicht wieder ganz genesen. Gib dir und deinem Körper Zeit.“
    Doch ihre Worte konnten Kandrajimo nicht beruhigen. Er hatte das Gefühl, etwas für immer verloren zu haben.

  • Hey, ich hab gerade in deinen ersten Abschnitt reingelesen und fand ihn richtig gut! Du hast danach geschrieben, dass du ihn nicht so ereignisreich findest, aber ich fand es direkt spannend und hat mich in die Geschichte gesogen ^^ dann hab ich ab gesehen, dass das Kapitel von 2017 ist. Deshalb die Frage: ist das noch aktuell und bringt dir mein Feedback überhaupt noch was?

    Ich versuche definitiv am Ball zu bleiben! Dauert bei mir leider ewig, weil ich selber schreibe und auch andere Geschichten versuche zu verfolgen. Aber mich interessiert total wie’s weitergeht!

    Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz (Tintenherz, Cornelia Funke)

    Meine Geschichte: Staub im Mondlicht

    Mein Blog

  • Hallo sophia_me

    danke für dein neugieriges Hereinschnuppern und es freut mich, dass es dir gefallen hat. :) Die Geschichte ist so halbaktuell. Ich möchte auf jeden Fall weiter schreiben, aber es dauert immer ein bisschen, manchmal auch ein paar Monate. In der letzten Woche habe ich zum Beispiel wieder drei Kapitel gepostet.

    Du solltest wissen, dass Amara nicht die Hauptperson der Geschichte ist und dass dies außerdem der dritte Teil einer Reihe ist. Also könnten Dinge passieren, bei denen dir Vorwissen fehlt. Ich habe natürlich im Text versucht, solche Dinge ein wenig zu erklären - nicht immer ist das gelungen. Trotzdem bist du natürlich herzlich eingeladen zu lesen und ich beantworte auch gerne Fragen.

    Für Feedback bin ich natürlich immer offen, solange niemand erwartet, dass ich jetzt im Nachhinein noch ganze Handlungsstränge auf den Kopf stelle. Kleine Verbesserungen kann ich aber ausmerzen, also immer her mit Ungereimtheiten und Stilhilfen. :newspaper: Nur Rechtschreibfehler kann behalten, wer sie findet. Da ich die Geschichte schon mehrfach erneut gelesen habe, sind die meisten vermutlich schon verbessert worden. ;)

    Viele liebe Grüße

    Din

  • Dieses Kapitel über Karim noch, dann geht es bei Maja weiter. Wir nähern uns dem Finale.


    Anziehungskraft


    Mit schwachen Beinen stand Karim vor dem Wirtshaus an ein Geländer gelehnt und beobachtete, wie Merin ein weiche Decke auf dem Karren ausbreitete, den er extra für seinen jungen Begleiter besorgt hatte. Karims Pferd, Darlino, hatte er dafür eingetauscht, sein eigenes würde den Karren ziehen. Der Verlust seines tierischen Begleiters schmerzte Karim, aber es war nicht der einzige Grund für das beklemmende Gefühl, das sich in seiner Kehle ausbreitete. Sie würden in die falsche Richtung aufbrechen. Schattenschrei lag im Norden, doch Merin wollte nach Westen, nach Illster, wo er hoffte einen Heiler zu finden. Und das nur wegen ihm. Weil er krank war. Seine Gedanken streiften das Wort „schwach“, aber er verbot es sich. Niemand wusste, was dieser Spuk mit dem menschlichen Körper anrichtete, gut möglich, dass es jedem anderen genauso ergangen wäre. Wenn er doch nur schnellere Reflexe gehabt hätte – dem Spuk ausgewichen wäre. Er dachte an Jonah … auch dieser hatte etwas von der seltsamen schwarzen Masse abbekommen. Ob er auch krank geworden war? So wie Karim?
    Dieser fühlte sich seit den Tränken des Arztes Mylonas wieder etwas besser, auch wenn sich in seinem Körper eine seltsame Schwäche ausgebreitet hatte. Laut Mylonas würde es nur eine vorübergehende Besserung sein – der Spuk habe sich in Karims Zellen festgesetzt und würde sich bald erneut ausbreiten. Aber andererseits hatte er selbst zugegeben, dass diese Krankheit Neuland für ihn war. Dass er keine Ahnung hatte, was wirklich passieren würde. Es konnte genauso gut sein, dass Karim es überstanden hatte und nun bloß noch ein paar Tage brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen.
    Doch Merin wollte kein Risiko eingehen. Neben der Decke stellte er nun ihr Gepäck auf den Wagen und winkte Karim herbei. „Mach es dir gemütlich.“
    Widerwillig kletterte Karim hinauf und setzte sich dorthin. Er würde es vermeiden sich hinzulegen – er war doch nicht schwerkrank. Merin warf ihm noch einen Schlauch mit Wasser zu, dann stieg er auf das Pferd und trieb es an. Gemächlich setzte sich der Karren in Bewegung.
    Sie überquerten mehrere Wassergräben, bevor sie die Häuser Gegos’ hinter sich ließen. In der Ferne konnte Karim den Berg sehen, auf dem Schattenschrei gestanden hatte. Er glaubte sogar, die Umrisse der Ruine auf dessen Kuppe auszumachen. Darüber hingen dunkle Wolken. Eigentlich sollten sie dorthin unterwegs sein. Sie war nur wenige Stunden entfernt.
    Plötzlich richtete Karim sich auf und drehte sich zu Merin um. „Bis Schattenschrei ist es gar nicht weit“, sagte er. „Wir sollten zuerst dort hingehen. Es ist nicht so ein großer Umweg. Und ich fühle mich wirklich besser.“
    Doch Merin schüttelte den Kopf. „Ich will auf dieser Unternehmung nicht noch jemanden verlieren. Dein Zustand kann sich jederzeit wieder verschlechtern und mit diesem Karren brauchen wir mehr als einen Tag nach Illster.“
    „Was, wenn das hier wichtiger ist als ich?“, fragte Karim. „Das Schicksal unserer Welt könnte davon abhängen.“
    „Jetzt übertreib mal nicht. Wenn bei ihnen alles gut gegangen ist, haben Idela und Jonah die Flasche mit den Spuk bereits nach Miriam gebracht. Die Magier werden sich darum kümmern und dieses Rätsel lösen.“
    Karim verschränkte frustriert die Arme und wandte sich ab. „Das dachten wir schon einmal und dann hat sich niemand dafür interessiert“, grummelte er. Dann blickte er wieder zu den Burgruinen, die immer mehr mit dem Himmel verschwammen. Warum nur hatte er dieses nagende Gefühl, sie erreichen zu wollen? War es nur der Wunsch, das Rätsel zu lösen? Nicht darauf warten zu wollen, bis sich irgendwer in Miriam der Sache annahm, sondern diese selbst in die Hand zu nehmen? Die Bedrohung für diese Welt abzuwehren? Oder zog ihn noch etwas anderes nach Schattenschrei? Nachdenklich rieb er sich über den Hals. Die Stelle, an der ihn der Spuk berührt hatte, prickelte unangenehm, als er darüber strich.
    Im nächsten Moment legte sich ein Schatten über ihn, als sie einen Wald erreichten und unter dessen Blätterdach eintauchten.

    Es war sicherlich einfacher, auf dem Wagen zu liegen, als ein Pferd zu reiten, doch dieser war nicht gefedert und so entpuppte sich die Fahrt als holprig und unruhig – umso heftiger, je schlechter die Straße war. Nach einiger Zeit bekam Karim Kopfschmerzen davon und schließlich bat er Merin um eine Pause. Sie setzten sich am Wegesrand ins Gras, aßen ein paar Kleinigkeiten und Karim schloss ein Weilchen die Augen. Es war ein herrlicher Sommertag und hier im Wald herrschte genau die richtige Temperatur. Die Vögel zwitscherten und es war schwer sich vorzustellen, dass es in dieser perfekten Welt irgendwelche Probleme und Sorgen geben könnte. Doch diese holten Karim ein, als er zu träumen begann:
    Er kämpfte sich durch hohes Gras und Efeuranken, die von den Bäumen herabhingen. Alle paar Meter musste er erschöpft stehen bleiben und nach Luft schnappen – die Hände auf die Knie gelegt, den Oberkörper nach vorne gelehnt, stand er dort und versuchte den Schwindel zu bekämpfen und seine Umgebung scharf zu sehen. Dann entdeckte er etwas im Gras: eine schwarze, faserige Substanz, langgezogen und klebrig, wie geschmolzener Käse. Wie ein Faden zog sie sich durch die Wiese. Sein Blick fuhr daran entlang, bis sie einige Meter vor ihm nicht mehr zu erkennen war – in der Ferne mit dem Unterholz verschmolz. Er begann, dem Faden zu folgen.
    Zwischen Sträuchern und Gestrüpp, wilden Blumen und Felsen hindurch führte er ihn. Dann trat Karim zwischen kahlen Bäumen hervor und vor ihm tauchte Burg Schattenschrei auf - nicht als Ruine, sondern so, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Mit hohen Mauern, noch höheren Türmen, unheilvoll und bedrohlich. Doch vollkommen verlassen.
    Karim folgte dem schwarzen Faden auf das Tor der Burg zu. Jener war breiter geworden und hatte unheimlich zu glühen begonnen – glimmende Funken zogen sich darüber. Einen Moment waren sie alles, was er sah, als er durch den ungewöhnlich düsteren Torbogen schritt. Dann erschien vor ihm der Hof der Burg und in seiner Mitte wieder das Tor – das Weltentor. Noch dichter war die schwarze Masse darüber gewachsen, die schimmernde, hellblaue Membran war kaum noch zu erkennen. Unheilvoll ragte es in den Himmel. Obwohl kleiner als die Gebäude der Burg, schien es diese zu überragen. Wieder hatte Karim das Gefühl, dass er dringend hindurch musste, dass dahinter etwas Überlebenswichtiges auf ihn wartete, doch dieses Mal hielt die Angst vor dem schwarzen Spuk ihn davon ab. So stand er nur davor und starrte sehnsüchtig auf die hellblauen Lichtflecken, die durch das schwarze, klebrige Netz drangen.
    Dann wachte er auf.
    Es dauerte eine Weile, bis Karim sich wieder orientiert hatte und wusste, wo er war. Er lag im Gras am Wegesrand, das Pferd fraß die grünen Büschel neben seinen Füßen und Merin lehnte neben ihm an einem Baum und schnarchte. Karim konnte es ihm nicht verübeln, soweit er wusste, hatte der Schwertkämpfer die ganze Nacht damit zugebracht, herauszufinden wo der nächste Heiler lebte und den Karren aufzutreiben. Viel Schlaf hatte er jedenfalls nicht bekommen und hier, auf diesem idyllischen Fleckchen Wald fiel es leicht, seine Sorgen und Vorsicht zu vergessen.
    Karim stand auf, humpelte zum Karren und griff nach seiner Tasche. Was er tat war keine bewusste Entscheidung in diesem Moment. Vielleicht hatte er sie schon lange zuvor getroffen, vielleicht hatte auch jemand anderes sie für ihn getroffen. Während er sich die Tasche umschnallte, war er sich sicher, seine Sinne nicht mehr ganz beisammen zu haben, trotzdem ließ er nicht ab. Einen Moment überlegte er, das Pferd zu nehmen, doch es gehörte Merin und selbst ohne alle seine Sinne war Karim kein Pferdedieb. Stattdessen nahm er die Decke vom Karren. Er tätschelte dem Tier noch einmal den Hals und mit einem letzten Blick auf den schlafenden Schwertkämpfer machte er sich auf den Weg in den Wald. Wenn Merin bloß noch ein wenig länger schlief, würde er ihn abseits der Wege nicht mehr finden.

    Sobald er zu Fuß unterwegs war, fühlte er sich gut. Gesund, stark, eins mit sich. Er war auf dem richtigen Weg, das spürte er einfach. Zielstrebig lief er in nordöstlicher Richtung. Wieder war es nicht sein Bewusstsein, das diesen Weg vorgab. Die Sonne konnte er hier unter dem Blätterdach nicht sehen und trotzdem wusste er genau, in welche Richtung er gehen musste. Als würde ihn etwas dorthin ziehen – ein unsichtbarer Faden.
    Karim erreichte den Waldrand, als die Abendsonne den Himmel in Flammen setzte. Die weite, offene Fläche vor ihm, mit ihren Feldern und Wiesen, überforderte seine Augen. Die Luft schien zu flirren und er hatte Schwierigkeiten, Einzelheiten zu fokussieren. Er fasste sich an die Stirn, sie kam ihm heiß vor. Er brauchte Schlaf und Nahrung, also breitete er die Decke aus, nahm etwas Brot, Wurst und einen Apfel aus seiner Tasche und begann ein knappes Abendessen. Dann rollte er sich auf der Decke ein und versank in tiefem Schlaf. Wieder träumte er von dem Spuk, von Schattenschrei und dem Weltentor.

  • Hallo liebe Leserinnen und Leser,

    hier kommt eine kleine Warnung: Ich beende nun dieses Jahr mit einem fiesen Cliffhanger und starte erst im neuen wieder mit Teil 5. Da werde ich mich aber bemühen, direkt in der ersten Woche wieder einzusteigen. Das Kapitel ist schon geschrieben.

    Viel Spaß beim Lesen wünscht

    Din


    Mit letzter Kraft

    Maja war seit drei Tagen unterwegs. Sie hatte mehrere kleine Bäche überquert und der Gebirgszug vor ihr kam immer näher. Auch hinter ihr waren vereinzelte Berge, das große Gebirge, das auch in dieser Richtung liegen musste, konnte man jedoch nicht sehen. Es musste noch weiter entfernt sein. Die Landschaft war ziemlich karg geworden. Flache Hügel soweit das Auge reichte, bewachsen mit violettem Heidekraut, Beeren und struppigem Gras, sandige Wege und Waldstücke mit niedrigen, dunkelgrünen Bäumen. Für Maja, deren Augen grünes Gras und helle Wälder gewohnt waren, hatte diese Heidelandschaft etwas Fremdes. Sie wirkte karg und voller Leben zugleich.
    Maja mobilisierte ihre letzten Kräfte – Kräfte, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß. Und es schien ihr, als wären diese Kräfte nicht mehr sonderlich menschlich. Ihr war klar, woher sie kamen: das Amulett auf ihrer Brust fühlte sich warm an. Maja wusste immer noch nicht, wie es eigentlich funktionierte oder auch nur, wann es funktionierte, doch es hatte sie die letzten Tage mit einer unfassbaren Kraft versorgt. Sie war drei Tage gewandert ohne ein einziges Mal zu schlafen. Unermüdlich schleppte sie sich vorwärts. Sie wusste nicht, wie lange sie das noch durchhalten würde, aber jetzt, wo auch ihre letzten Lebensmittel verbraucht waren, wollte sie nicht mehr rasten, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte. Wenn sie sich jetzt schlafen legte, wenn sie sich auch nur hinsetzte, würde sie nicht mehr weiter gehen können. Und so setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie fühlte sich nicht so erschöpft, wie sie eigentlich sein sollte. Sie hatte noch Kraft und sie war noch klar bei Verstand. Und sie wusste, dass sie das einzig und allein dem Zeichen von Pheris zu verdanken hatte. Allerdings fühlte sie den Abgrund der Erschöpfung und der Verzweiflung bereits lauern. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie hinabfiel.
    Irgendwann am Nachmittag des dritten Tages schleppte sie sich auf den Gipfel einer kleinen Hügelkette und erblickte plötzlich unter sich ein provisorisches Lager. Rot-Grüne Zelte, sowohl rund als auch eckig, waren dort aufgebaut, in ihrer Mitte blieb ein kleiner Platz frei. Dort hatte man eine Fahnenstange aufgestellt, an der die grün-weiße Flagge Andrayas wehte. Sofort war Maja ganz aufgeregt. Sie ließ sich zu Boden sinken und begann, in Richtung des Lagers zu schleichen. Alles an ihr war aufs Äußerste gespannt. Sie würde endlich ihren Bruder finden, ihn retten können ... An die Möglichkeit, dass er vielleicht gar nicht dort war, versuchte sie lieber nicht zu denken. Sie wusste, dass sie das nicht überstehen würde. Dies war ihre letzte Chance. Aber es gab hier nur so wenig Gelegenheiten, sich zu verstecken. Sollte sie wirklich auf ihr Glück und das Amulett vertrauen? Oder sollte sie bis zur Dunkelheit warten? Nein, wenn sie wartete, würde sie einschlafen und wer wusste schon, wann sie wieder aufwachen würde. Außerdem konnte sie keine Sekunde länger warten. Jetzt oder nie!
    Sie erreichte tatsächlich beinahe die ersten Zelte, doch dann stand plötzlich eine große Gestalt in der Ausrüstung der Dreizehnten Armee vor ihr. Der Mann stützte sich auf seinen Speer und sah Maja interessiert an.
    „Hey Luko!“, rief er, „schau mal, hier ist jemand.“
    „Wer soll denn da sein?“
    „Äh. Ein Mädchen. Ich weiß auch nicht, ob ich sie mir einbilde.“
    „Lass mich in Ruhe, du Spinner. Du willst mich doch nur reinlegen.“
    Maja und der Soldat sahen sich in die Augen. Maja ärgerte sich über ihre eigene Dummheit, wusste aber gleichzeitig, dass sie keine andere Entscheidung hatte treffen können. Dann sprang sie auf, zog das Schwert aus Taroq und stürzte sich auf den Soldaten.
    Er war so überrascht, dass er es nur mit Mühe schaffte, den Speer hochzuheben und ihren Schlag abzublocken. Das Holz des Schaftes zersplitterte unter der Wucht, der Soldat fiel zu Boden und Maja mit ihm. Sie rollte sich über ihn hinweg und lief auf das Lager zu. Die Plane eines Zeltes war schnell angehoben und Maja quetschte sich darunter hindurch in das Innere des Zeltes. Vorsichtig sah sie sich um. Niemand war hier, sie hatte Glück gehabt. Aber noch einmal sollte sie das wohl besser nicht wagen. Sie musste ihren Bruder finden ohne zuvor gefangen zu werden und das, obwohl sie bereits entdeckt worden war. Keine leichte Aufgabe. Sie versteckte sich hinter ein paar großen Kisten und ließ ein wenig Zeit vergehen. Draußen waren wütende Stimmen zu hören. Der Soldat erklärte seinen Kollegen, was passiert war, aber die hielten ihn für bescheuert. Ein kleines Mädchen sollte ihn mitten in der Heidelandschaft mit einem Schwert attackiert haben? Das klang eher, als hätte der gute Mann zu lange in der Sonne gelegen.
    „Sie ist da lang gelaufen. Wir müssen ihr folgen“, rief der Soldat, aber sie lachten ihn bloß aus.
    Maja hingegen kämpfte im dämmrigen Zelt mit Müdigkeit und Schwindel. Sie entschied, dass es Zeit war, zu gehen. Dieser eine Soldat wusste, was er gesehen hatte, und er würde nach ihr suchen. Sie schlich durch das Zelt und verließ es, wie sie hereingekommen war, nur diesmal auf der anderen Seite. Dann huschte sie geduckt zwischen zwei Reihen eckiger Zelte entlang. Als sie Stimmen aus dem Zelt neben sich hörte, verharrte sie regungslos. Vielleicht konnte sie etwas über ihren Bruder erfahren. Doch das Gespräch drehte sich bloß um das Waschen der Unterhosen der werten Herren. Leise schnaubend setzte Maja ihren Weg fort. Doch dann schlich sie ausgerechnet in dem Moment an einem Zelteingang vorbei, in dem ein halb bekleideter Soldat heraus trat. Er reagierte schneller als sein Kollege. Bevor sie ihre Situation begriffen hatte, hatte er sie schon im Schwitzkasten und brüllte nach Verstärkung. Maja rammte ihm ihren Hinterkopf ins Gesicht, gerade als fünf weitere Soldaten zu ihnen stießen. Das Mädchen wirbelte herum und versetzte dem ersten Angreifer einen Schwerthieb gegen den Helm, der ihn zu Boden schleuderte. Dann wurde sie von mehreren Händen gepackt und überwältigt, das Schwert wurde ihren Händen entrissen und sie auf den zentralen Platz geschleift.
    „Lasst mich los!“, brüllte Maja und begann, die Männer wüst zu beschimpfen. Diese sahen sich ein wenig ratlos an und entschieden dann, Maja zu ihrem Hauptmann zu bringen. Ihrem Gespräch entnahm Maja, dass der Mann Lemiok hieß und dass seine Männer offenbar so viel Angst vor ihm hatten, dass sie ganze fünf Minuten und genauso viele Holzstäbe in verschiedenen Längen benötigten, um zu entscheiden, wer Maja dorthin bringen sollte. Als sich schließlich zwei Unfreiwillige gefunden hatten, schleiften diese Maja auf das größte Zelt zu. Sie schlugen das Tuch, das den Eingang bedeckte, beiseite und schleiften Maja hinein. Diese weigerte sich, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihr war schwindelig und sie hatte das Gefühl, bloß Beobachterin dieser Situation zu sein. Im wahrsten Sinne neben sich zu stehen. Was hatte sie bloß geritten, völlig übermüdet in dieser Lager zu marschieren? Es war später Nachmittag, das Lager wäre auch am Morgen noch hier gewesen. Sie hätte versuchen sollen ein paar Stunden zu schlafen und dann mit Bedacht vorzugehen. Aber offensichtlich war sie nicht mehr zurechnungsfähig.
    Der Innenraum des Zeltes war rund und relativ schlicht. Kisten standen an den Wänden und jemand hatte einen Tisch und Stühle aufgestellt. An einer Zeltwand gab es eine kleine Öffnung, die wohl in eine Art Anbau führte.
    Gegenüber von Maja war ein großer, bequemer Stuhl aufgestellt, den zu transportieren sicherlich einiges an Aufwand erforderte. Darauf saß ein Mann mittleren Alters mit kurzem, braunem Haar und dunkelblauen Augen. Seine Haut hatte einen leichten Goldschimmer. Über seiner grünen Kleidung trug er einen silbergrünen Brustharnisch. Seiner Aufmachung war eindeutig anzusehen, dass er ranghöher als die anderen Soldaten im Lager war.
    „Hauptmann Lemiok, wir haben dieses Mädchen zwischen den Zelten erwischt. Wir können uns nicht erklären, wie sie hierher kommt.“
    Die Augen des Hauptmannes blieben an Maja hängen und sein Mund klappte überrascht auf. Eine Weile schien er sprachlos. Maja funkelte ihn bedrohlich an. „Das ist doch nicht zu fassen“, sagte er endlich. „Maja Sonnfeld.“
    „Woher - “ Ihr blieb die Frage im Hals stecken. Ihr Mund wurde trocken.
    „Woher ich deinen Namen kenne? Ich habe Bilder von dir gesehen. Du siehst dem kleinen Mädchen darauf nicht mehr sonderlich ähnlich, aber ich habe ein ausgesprochen gutes Gedächtnis für Gesichter.“ Er schmunzelte, als habe er einen Witz erzählt, den nur er verstand und betrachtete sie. Seine dunklen Augen glitzerten vor Faszination. „Wie hast du das bloß angestellt?“, fragte er. „Von der anderen Welt in diese und dann noch bis hierher. Du musst Hunderte von Kilometern zurückgelegt haben. Wieso nur? Was hat dich bloß dazu getrieben?“
    „Ich will meinen Bruder zurück“, sagte Maja. Es klang so leise, dass sie glaubte, er habe sie nicht verstehen können. Sie räusperte sich. „Ich fordere meinen Bruder zurück“, verkündete sie mit mehr Nachdruck. „Er ist doch hier, nicht wahr? Gebt ihn mir und lasst uns beide gehen.“
    „Ich verstehe nicht ganz“, sagte der Hauptmann. „Die Reise hierher muss dich fast umgebracht haben. Und das alles nur für deinen kleinen Bruder?“
    Maja verstand nicht, was er meinte, und sie war nicht die Einzige mit Verständnisproblemen:
    „Du meinst ...“, begann der rechte Soldat, der Maja festhielt, zu stammeln, „Du meinst, dieses Mädchen ist Maja Sonnfeld? Aber wie kommt sie hierher?“
    „Ist doch egal“, sagte Majas linke Wache. „Wir müssen es Fürst Dreizehn mitteilen. Wir müssen sie zu ihm bringen. Oder sollen wir sie gleich töten?“
    Maja verkrampfte sich. Der Hauptmann betrachtete die Szene mit unbeteiligter Miene. Die beiden Soldaten sahen ihn fragend an.
    „Hier wird niemand getötet, bevor ich keine anders lautenden Anweisungen gebe“, sagte er. „Meinetwegen könnt ihr Fürst Dreizehn schreiben. Aber jetzt erstmal werdet ihr mich und Maja alleine lassen.“
    „Seid Ihr sicher, Hauptmann? Sie ist eine Kamiraen und Ihr wisst, was man sich über die erzählt.“
    „Raus!“
    Der Soldat grummelte sich noch irgendetwas in den Bart, dann ließ er Maja los und verließ das Zelt.
    Der andere hob das Schwert aus Taroq, das er Maja abgeknöpft hatte. „Das hier trug sie bei sich“, sagte er.
    Die Augen des Hauptmannes weiteten sich, mit einem Ruck erhob er sich aus seinem Stuhl, durchschritt das Zelt und nahm die Waffe an sich. Er betrachtete sie wie einen alten Freund. Dann sah er Maja in die Augen.
    „Ein außergewöhnliches Schwert“, sagte er leise. „Geh jetzt“, wies er den Soldaten an, der sich so schnell von dannen machte, wie er vermochte, offenbar sehr erleichtert, den Raum verlassen zu dürfen. Es bedeutete, dass Maja nun wieder auf ihren eigenen Füßen stehen musste. Im ersten Moment fiel es ihr sehr schwer und sie schwankte leicht. Jetzt waren nur noch sie und der Hauptmann im Zelt.
    „Spar uns Zeit und versuche nicht, abzuhauen“, sagte er. „Du würdest nicht weit kommen. Hier gibt es nichts, wohin du fliehen könntest.“
    „Geben Sie mir meinen Bruder zurück“, zischte Maja.
    „Nein“, antwortete er schlicht.
    „Ich habe nicht die halbe Welt durchquert, um mich jetzt von jemandem wie Ihnen aufhalten zu lassen.“
    „Ich fürchte doch. Dein Bruder ist ein viel zu wichtiger Teil dieser Mission als dass ich ihn mir von einem vierzehnjährigen Mädchen wegnehmen lassen würde.“
    „Ich bin eine Kamiraen“, sagte Maja drohend.
    Einen Moment blitzte Zorn in seinen Augen auf, dann trat wieder Gelassenheit an seine Stelle. „Ach tatsächlich?“, meinte der Mann unbeeindruckt. „Stell dir vor, das wusste ich bereits.“ Er sah sie an. Seine Augen betrachteten die zerfetzten Turnschuhe, die schmutzstarre Jeans und blieben schließlich an der roten Jacke mit dem langen Riss im Ärmel hängen. „All das, um einen kleinen Jungen zu retten. Du musst ihn wirklich lieben.“
    „Er ist mein Bruder.“
    „Was hat das damit zu tun? Ich habe meinen Bruder getötet.“
    „Warum?“, fragte sie erschrocken.
    „Rache.“
    Maja starrte ihn an. „Messen Sie mich nicht mit Ihren Maßstäben“, sagte sie dann zornig. „Sie arbeiten für Dreizehn.“
    Er sah sie bloß an. In dem Moment schwang der Vorhang, der das Zelt von dem Anbau trennte, zur Seite und eine Frau in einem grünen Kleid kam herein. Maja erkannte sie sofort: Die dunklen Haare, das stark geschminkte Gesicht und diese Art sich zu bewegen. Diese magische Aura.
    „Lil“, stieß sie hervor. Dreizehns rechte Hand.
    Maja wurde bleich und wich zurück. Lil und sie waren sich schon einmal begegnet, damals hatte diese in Dreizehns Auftrag die Burg Basilius Kocks besucht und ihm geholfen, den Dark Forest abzuholzen. Bis der neunte Desprit plötzlich beschlossen hatte, einen Dämon zu beschwören und damit die ganze Welt beinahe ins Chaos gestürzt hatte. An dem Punkt hatte Lil sich gegen ihn gewandt. Die Frau war eine mächtige Magierin und Dreizehn treu ergeben. Wenn er sie hergeschickt hatte, musste diese Mission ziemlich wichtig sein. Doch noch etwas anderes wurde Maja klar, als sie Lil sah: Sie saß in der Falle. Der Magierin würde sie nicht entkommen, dafür war sie zu mächtig und sie würde nicht den Fehler ihrer letzten Begegnung wiederholen und Maja unterschätzen. Auch dass Feodor hier auftauchte und mit seiner Magie das Lager auseinandernahm, war mehr als unwahrscheinlich.
    Lils Augen wurden groß, als sie Maja erkannte. „Unfassbar“, hauchte sie. „Sie kann nicht hier sein, sie sollte ...“
    „Faszinierend“, sagte der Hauptmann.
    „Ja. Faszinierend.“
    „Nicht das. Schau sie dir an: sie hat Angst vor dir.“
    Lils Augen blieben an Majas hängen. „Ja. Ja, wir sind uns begegnet. Oh. Sie weiß es nicht?“
    Weiß was nicht? Maja ging noch einen Schritt zurück.
    „Darf ich es ihr sagen, bitte?“ Lil wirkte mit einem Mal ganz aufgeregt. Ihre Augen leuchteten boshaft.
    Was sagen?
    Der Hauptmann hob die Schultern. „Meinetwegen, aber mach es kurz.“
    Lil begann breit zu lächeln und sah Maja fest in die Augen. „Hierher zu kommen war ein Fehler“, begann sie.
    „Nicht so dramatisch, bitte“, sagte der Hauptmann und fixierte Maja mit seinen dunklen Augen.
    Lil ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Ich bin nicht die, vor der du hier Angst haben solltest. Der Mann, der vor dir steht“, verkündete sie und ihr Lächeln wurde immer breiter, „ist Fürst Dreizehn höchstpersönlich.“

  • Tja, ich löse den Vorsatz ein, wenn auch jetzt nur ein kurzer Teil kommt. Die Szene hatte ich mir so oft auf unterschiedlichste Weise ausgemalt und auch schon mehrere Versionen geschrieben Aber irgendwie fühlte sich alles nicht ganz rund an. Zu viel Dialog, zu viel "Der Bösewicht plaudert jetzt mal eben seinen ganzen Plan aus". Was haben sie sich schon zu sagen? Majas Reaktion wirkte auch nicht realistisch. Deshalb habe ich das meiste gelöscht und probiere es erstmal so, aber zu hundert Prozent bin ich nicht zufrieden.


    Teil 5


    Im Angesicht des Feindes


    „Nein.“ Majas Furcht vor Lil war auf einen Schlag vergessen. Es war, als existierte die Zauberin nicht einmal mehr. Alles was zählte war der Mann vor ihr, der nun die Arme verschränkte. „Nein“, flüsterte sie erneut.
    Der Mann machte sich nicht die Mühe, Lils Worte noch einmal zu bestätigen. Wozu auch, sie hatte keinen Grund zu lügen. Er war eindeutig Dreizehn, es gab keinen Zweifel. Sie war ihm direkt in die Arme gelaufen. Und dann spürte sie Wut. Kochend heiße Wut. Angst und Wut, wie sie sie nie gespürt hatte, vermischten sich und weckten die Kräfte der Kamiraen, stärker als je zuvor. Sie spürte, wie das Erbe der Kamiraen sie erfüllte. Es ließ sie nicht im Stich, nicht im Angesicht ihres ärgsten Feindes. Sie fühlte sich stärker als je zuvor. Sie griff in ihre Tasche, zog das Messer heraus und stürzte sich auf Dreizehn.
    „Vorsicht!“, rief Lil.
    Dreizehn rührte sich nicht von der Stelle, doch als Maja bei ihm war und mit dem Messer auf seinen Hals zielte, die einzige ungeschützte Stelle, die sie sehen konnte, packte er ihr Handgelenk, drehte es herum, legte seine andere Hand, die den Knauf des Schwertes aus Taroq hielt, auf Majas linke Schulter und drückte sie so fest zu Boden, dass sie auf die Knie fiel. Dort hielt er sie fest und Maja konnte sich kaum noch bewegen, obwohl sie die Kraft der Kamiraen immer noch in sich spürte. Er war stark und verdammt schnell. Dann nahm er die Hand von ihrer Schulter und hielt er ihr das Schwert an die Kehle.
    Es war seltsam, doch in diesem Moment stellte Maja sich zum ersten Mal die Frage, wie es sich wohl anfühlte, zu sterben. Nach allem, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte, machte ihr der Gedanke, tot zu sein, nicht mehr so viel aus. Nur das Sterben fürchtete sie. Den Schmerz.
    „Ihr erinnert Euch doch noch an unser Gespräch über das Schwarze Einhorn?“, fragte Lil besorgt.
    „Sehr deutlich, allerdings finde ich den Gedanken, es zu ignorieren gerade sehr reizvoll.“ Dann fiel sein Blick plötzlich auf das Messer in Majas Hand. Er entwand es ihren Fingern, ließ Maja los und trat einen Schritt zurück. „Sieh dir das an, Lil. Das Schicksal meint es heute gut mit uns.“
    Er hielt ihr das Messer hin. Lil trat heran und nahm es in die Hand. „Das ist eines der Messer von Telaor.“
    „Eines ebenjener Messer, die wir gerade suchen. Ich danke dir, Maja, du hast mir einen weiten Weg und eine anstrengende Suche erspart. Und hierfür danke ich ebenfalls.“ Er betrachtete das Schwert aus Taroq, das Licht spiegelte sich auf der leicht glimmenden Klinge.
    Maja fühlte sich mehr als unwohl, wie sie hier vor ihm kniete. Sie versuchte sich aufzurichten, doch ein Blick von ihm und eine leichte Bewegung des Schwertes wiesen sie an, sitzen zu bleiben. Stattdessen ging Dreizehn in die Hocke und sah Maja ins Gesicht. Seine Augen waren nur Zentimeter von ihren entfernt. „Ich werde dich nicht töten, Maja, nicht heute. Ich hatte es lange Zeit vor, aber Lil meint, es wäre möglicherweise ein Fehler. Und es ist meistens eine gute Idee auf sie zu hören. Zumindest habe ich in meinem recht langen Leben die Erfahrung gemacht, dass übereilte Entscheidungen sich später rächen. Tote lassen sich nicht einfach wiederbeleben, wenn man sie plötzlich braucht. Du wirst uns aber von jetzt an begleiten. Und fang bloß nicht an, hier irgendwas zu versuchen – denk nicht mal an Flucht. Du würdest keine hundert Meter weit kommen.“
    Maja starrte zurück. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen oder auch nur zu verstehen, was er sagte. Er fragte noch etwas, doch die Worte perlten einfach an ihr ab, sie konnte sie gar nicht hören.
    Dreizehn starrte sie einen Moment an, blickte schließlich zu Lil, wechselte ein paar Worte mit ihr und schnaubte dann. Maja fühlte sich erstarrt. Selbst als er plötzlich aufstand und sie am Arm packte, konnte sie nicht reagieren. Alles was sie tun konnte, war nicht zu fallen, als er sie zum Eingang des Zeltes schob.
    Draußen schien die Sonne gleißend hell auf das verlassen wirkende Lager. Während Dreizehn sie an einigen Zelten vorbei führte, drehten sich nur zwei Köpfe zu ihnen um. Als sie ihren Hauptmann sahen, blickten sie jedoch schnell in eine andere Richtung. Angst lag in der Luft.
    Lil folgte ihnen mit etwas Abstand und blieb schließlich stehen. Auch sie wagte offenbar nicht, sich weiter einzumischen.
    Sie erreichten ein kleines, viereckiges Zelt. Dreizehn ließ Maja los, um einige Knoten am Eingang zu lösen, dann schlug er die Zeltwand ein Stück auf. „Ich bin noch nicht mit dir fertig“, sagte er, „aber in diesem Zustand kann ich nichts mit dir anfangen. Wir sprechen uns morgen.“ Seine Hand stieß Maja durch die Öffnung – nicht besonders heftig, jedoch so, dass sie ins Taumeln geriet.
    Sie war mehr damit beschäftigt, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, als ihre Umgebung wahrzunehmen, deshalb erkannte sie bloß eine Schlafmatte mit Decken und eine Tasche. Vielleicht lag es auch daran, dass es in diesem Zelt nichts weiter gab. Dann stürzte eine kleine Gestalt auf sie zu und klammerte sich an ihr fest. Maja hatte nicht einmal die Kraft, sich loszureißen und irgendwo tief in sich spürte sie, dass sie das auch gar nicht wollte. Sie blickte hinab auf einen Schopf brauner Haare. Dann kippte dieser zur Seite und offenbarte ein vertrautes Gesicht: Käse.
    Maja wurde schwindelig und sie klammerte sich ebenso an ihm fest, wie er sich an ihr. Nie, nie wieder wollte sie ihn loslassen. Nach all der Suche und all den Strapazen hatte sie ihn endlich gefunden. Hier stand er und blickte sie an. Auch wenn seine Augen ein wenig von ihrer Strahlkraft verloren hatten, auch wenn tiefe Ringe sie untermalten und seine Wangen hager geworden waren – er lebte.
    „Endlich bist du da“, sagte er.
    „Ja, hier bin ich“, antwortete sie.
    Dann drehte sie sich zum Zelteingang um. Dreizehn stand dort und beobachtete sie. Ihren Blick erwiderte er mit einem spöttischen Kräuseln seiner Lippen. Dann schlug er die Zeltplane zu und war nicht mehr zu sehen.

  • Ein bisschen seltsam im Moment, hier ohne Leser zu schreiben, denn ich schreibe gerade den Showdown, auf den alle gewartet haben, aber ich bin sicher irgendjemand wird es irgendwann lesen.


    „Maja, du siehst schrecklich aus“, sagte Käse.
    Sie konnte nur müde schnauben. „Ich hatte ein paar harte Tage. Wochen, wenn ich ehrlich sein soll.“ Und er sah selber nicht gut aus. „Wie geht es dir? Was hat er dir angetan?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht einfach, vor allem weil ich euch vermisst habe: dich und Mama und Papa. Aber ich gebe mein Bestes, um den Auftrag zu erfüllen.“
    „Welchen Auftrag?“
    „Deinen Auftrag. Ich musste doch fortsetzen, was du angefangen hast.“
    Maja verstand nicht. Was hatte sie angefangen? Und sie hatte das Gefühl, dass auch weitergehende Erklärungen ihr nicht weiterhelfen würden. Ihr Gehirn war wie ein wirbelnder Strudel, die Gedanken kreisten darin so schnell, dass sie nicht einmal mehr erkennbar waren. Ihr Kopf war zum Platzen voll und gleichzeitig leer. Sie war einfach nur froh, Käses Gesicht noch einmal zu sehen. Egal, was danach kommen würde. Seine Augen, sein Lächeln … Wieder überkam sie ein Schwindelgefühl, sodass sie sich an Käse festklammern musste. „Ich glaub ich mmmm setzn …“ murmelte sie unverständlich und ließ sich zu Boden sinken.
    Käse zerrte an ihr und half ihr, wenigstens noch die Schlafmatte zu erreichen. Dort legte sie sich auf den Rücken und schloss die Augen. Sie lauschte dem Klopfen ihres Herzens. Es klang unregelmäßig und viel zu laut. Ihr ganzer Körper zitterte.
    Dann spürte sie, wie Käse zu ihr auf die Matte krabbelte und sich an sie schmiegte. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ohne dich durchgehalten hätte. Ich will nach Hause.“
    Nach Hause …, dachte Maja. Ja da wollte sie auch hin. Aber sie wusste dort nicht hinzukommen. In ihrem Plan gab es kein Kapitel für den Rückweg, nicht einmal eine Fußnote. Wie hätte sie das auch planen sollen? Hatte es überhaupt einen Plan für irgendwas gegeben? Maja hatte einfach immer nur versucht irgendwas zu tun – ihrer Verzweiflung zu entgehen, bis sie schließlich getötet wurde. Aber das war sie nicht und hier lag sie nun und hielt den kleinen Menschen in den Armen, den sie schon verloren geglaubt hatte. Es war ein Wunder.
    Doch was jetzt kam … sie hatte nicht die Kraft, sich darüber Gedanken zu machen. Und dann war da auch noch Dreizehn. Aber sie wollte jetzt nicht an ihn denken, sie wollte bloß hier liegen und Kasimir festhalten.
    Er regte sich in ihren Armen. „Maja?“, fragte er. Sicher hatte er so viele Fragen.
    Aber Maja antwortete nicht. Sie stellte sich schlafend.
    Er musste ihr ihre Erschöpfung ansehen, denn er sprach sie nicht weiter an. Maja hatte ein schlechtes Gewissen, aber sie konnte sich jetzt nicht mit ihm auseinandersetzen. Mit nichts hiervon. Sie war so müde … und doch fand der Schlaf sie nicht.
    Es wurde langsam dunkler im Zelt und mit der Nacht wurde es schwerer, die Fragen auf Abstand zu halten: Warum hatte Dreizehn sie nicht getötet? Monatelang hatte er sie von seinen Leuten verfolgen lassen. Sie hatten darüber gesprochen, sie töten zu wollen. Hatte Tabea nicht gesagt, dass er nur jemanden aus ihrer Generation erledigen musste, um die Kamiraen für immer zu vernichten? Oder wusste er gar nichts von dieser Prophezeiung? Selbst wenn nicht, so hatte er es in der Hand, die Linie der Kamiraen zu beenden. Er musste sie nur umbringen und das Amulett an sich nehmen. Tabea würde es nicht finden. Niemand würde es finden. Und Maja hätte keine Chance gegen ihn, das war ihr klar. Er war unmenschlich schnell und stark. Selbst mit ihren Kamiraen-Kräften, selbst in wachem Zustand kam sie nicht gegen ihn an. Es war ihm so leicht gefallen sie abzuwehren.
    Vielleicht war er wirklich ein Unglücklicher, gegen den diese Kräfte versagten. Oder nährte Magie seine Kraft? Was er auch war, er war mächtig, das spürte Maja. Wie sollte sie ihm nur entkommen? Sie hatte das Gefühl, auf Messers Schneide zu stehen – ein falscher Schritt … und vielleicht brauchte es nicht mal das, vielleicht wäre ihr Leben am Morgen schon verwirkt. Maja hatte nicht den Eindruck, dass Dreizehn jemand war, den man verstehen, dessen Handlungen man nachvollziehen konnte. Vielleicht entschied er in diesem Moment, dass er sie doch sterben sehen wollte. Und warum er Käse entführt hatte, wusste sie immer noch nicht.
    Diese Gedanken wiederholten sich ein paar Mal, verhakten sich zu einem komplizierten Wirrwarr und strudelten schließlich wieder wild umher. Währenddessen ging draußen die Sonne wieder auf. Maja hatte nicht eine Sekunde geschlafen. Wie sollte sie auch in dieser Situation. Das Problem war nur, dass sie seit Tagen auf den Beinen war und sich nicht einmal mehr erinnerte, wann der Schlaf sie das letzte Mal mit seinen Armen umfangen hatte.

    Der Zelteingang öffnete sich mich einem Ratschen und Flattern und gab den Weg für einen Lichtstrahl frei, dann erschien ein wuscheliger, schwarzhaariger Kopf darin, gefolgt von einem einfachen, blauen Kleid mit weißen Schnüren. Es war eine mittelalte, sehr energiereiche Frau, die mit einer Schüssel undefinierbarer Pampe herein kam.
    „Guten Morgen, junger Herr“, verkündete sie munter, dann stockte sie, als sie Maja entdeckte. „Wer ist das?“
    „Meine Schwester!“ Käse strahlte glücklich.
    Die Frau hielt erschrocken den Atem an. „Weiß der Hauptmann, dass sie hier ist?“
    Der Hauptmann – damit meinte sie wohl Dreizehn. „Er hat mich hergebracht“, erklärte Maja.
    „Ach wirklich? Na dann ist wohl alles in Ordnung“, überlegte die Frau. „Ich bringe noch eine zweite Schüssel und dann noch etwas zum Waschen.“ Sie musterte Maja von oben bis unten und rümpfte die Nase.
    Käse sprang auf, nahm die Schüssel entgegen und probierte gleich einen Happen. „Köstlich – Ahornsirup – danke Wanja“, rief er, drehte sich zu Maja um und strahlte sie an. „Ich dachte ich hätte vielleicht nur geträumt, dass du gekommen bist. Aber es war Wirklichkeit.“
    Maja betrachtete ihn aus müden Augen. Wie konnte er so fröhlich und aufgeweckt sein angesichts dessen, was ihm passiert war? Es gab nur eine mögliche Erklärung: Er wusste gar nicht, dass er ein Gefangener war. Das war einerseits gut, denn es bedeutete, dass er die Angst nicht spürte, die sie umtrieb. Aber was hatten sie ihm nur erzählt? Sie wollte fragen, doch sie brachte die Worte einfach nicht heraus.
    Dann war die Frau wieder da, reichte Maja ebenfalls eine Schale mit Nahrung und stellte eine Waschschüssel im Zelt auf.
    Maja betrachtete das Essen in ihren Händen, es sah aus wie Haferschleim. Sie wusste, dass ihr Magen es wieder ausspeien würde, sollte sie auch nur wagen einen Löffel davon zu sich zu nehmen. Ihre Sicht verschwamm. Sie hatte zu lange nicht geschlafen und nicht gegessen. Nun schien beides nicht mehr möglich zu sein, als hätte sie es verlernt. Nicht mal einen klaren Gedanken fassen konnte sie.
    Sie stellte die Schüssel ab und schwankte zur Zelttür, trat hinaus ins Lager. Hier war schon einiges los: Männer liefen hin und her, ein paar Frauen waren auch dabei, die ersten Zelte wurden abgebaut, Pferde gefüttert und gesattelt, Essen heruntergeschlungen. In der Mitte des Lagers stand das Zelt des Hauptmannes noch ungestört im Sonnenlicht, genau wie das von Käse hatte es noch niemand abgebaut. Vor dem Eingang stand Dreizehn in seiner Uniform und blickte sie an. Maja starrte zurück. Er setzte sich in Bewegung und kam auf sie zu. Majas Augen brannten, als ihr Tränen in die Augen traten. Sie spürte ihr Herz wieder rasen. Hatte es überhaupt in der letzten Nacht einmal damit aufgehört? Es klopfte so unregelmäßig … das war definitiv nicht gesund, aber was spielte es für eine Rolle, wenn sie ihrem Erzfeind ins Antlitz blickte? Er blieb vor ihr stehen und betrachtete sie vom Kopf bis zu den Füßen.
    „Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“, fragte er.
    Sie antwortete nicht. Ihm gegenüber fand sie ihre Stimme nicht. Sie hatte vergessen, die Tage zu zählen. Nur eines war klar: ein normaler Mensch, ohne die Kräfte der Kamiraen, wäre vielleicht schon gestorben.
    „Du bist ja völlig fertig. So kann ich dich nicht mitnehmen.“
    Und plötzlich stand er direkt vor ihr. Maja kniff die Augen zusammen, als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte. Dann merkte sie plötzlich, wie ihr Körper schwach wurde, wie sämtliche Gliedmaßen ihre Körperspannung verloren. Einen Moment lang schien sie außerhalb ihres Körpers zu stehen, dann drückte etwas Mächtiges dieses Gefühl erbarmungslos zusammen und alles wurde schwarz.

  • Ich les es sobald ich kann, versprochen! Der Prolog hat mich wirklich gecatcht. Ich schreibe bloß gerade selbst so viel und versuche auch noch von anderen die Texte zu lesen. Aber ich melde mich, sobald ich dazu komme ^^

    Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz (Tintenherz, Cornelia Funke)

    Meine Geschichte: Staub im Mondlicht

    Mein Blog

  • Der Inka-Tempel


    Kandrajimo, Tabea und Niber kamen gut voran, so gut, dass sich Tabea in eine Eule verwandelte, um die umliegenden Berge schon mal nach dem Inka-Tempel abzusuchen. Kandrajimo machte sich Sorgen um sie. Hier gab es wilde Tiere, die einer Eule durchaus gefährlich werden konnten, wie zum Beispiel Raubkatzen oder diese unheimlichen riesigen Raubvögel, von denen sie am Vortag ein Exemplar entdeckt hatten: Harpyien. Wunderschön und doch unheimlich.
    Währenddessen kämpften die beiden Kamiraen sich weiter durch den Dschungel. Kandrajimo hielt sie ein wenig auf. Zwar machte sein Bein keine Probleme mehr, aber seine Gesamtverfassung war doch nicht so gut, wie er erwartet hatte. Er brauchte immer wieder Pausen, um seine Kräfte zu sammeln.
    Leises Rascheln ließ sie aufblicken: Eine weiße Eule hatte ein paar Zweige gestreift und schwebte nun lautlos auf sie zu. Kurz bevor sie sie erreichte, verwandelte sie sich zurück in Tabea und landete leichtfüßig auf dem Waldboden.
    „Ich hab ihn gefunden!“, stieß sie triumphierend hervor. „Vier Kilometer östlich von hier: ein Wasserfall und eine steile Treppe. Der Tempel selbst ist auf dem Berg, aber ihn sieht man nur, wenn man unter das Blätterdach fliegt. Aus der Luft hätten wir ihn nie entdeckt.“
    Vier Kilometer! Kandrajimo stieß erleichtert die Luft aus. Die würde er noch schaffen.
    Tabea musterte ihn kritisch. „Du siehst nicht gut aus“, bemerkte sie.
    „Charmant.“
    „Ich meine es ernst. Wir sollten ein Lager aufschlagen und rasten.“
    Doch Kandrajimo schüttelte den Kopf. „Wir rasten jetzt nicht mehr. Vier Kilometer noch. Machen wir uns in der anderen Welt erst einmal ein Bild der Lage, dann können wir immer noch eine Pause machen. Außerdem habe ich keine Lust, noch einmal von einem Tiger geweckt zu werden.“
    „Wir sind in Südamerika, hier gibt es keine Tiger. Das war etwas Anderes gestern Nacht“, entgegnete Tabea.
    „Es hatte die Größe und Form eines Tigers. Und vor allem die scharfen Zähne. Reicht das nicht?“
    „Tiger sind größer“, widersprach Tabea. „Es hätte ein Jaguar sein können, aber seien wir ehrlich, vielleicht war es auch bloß ein Schatten. Außerdem: Wer weiß, welchen Raubtieren wir in unserer Welt begegnen. Wenn ich die Wahl zwischen einem Jaguar und einem Halbdrachen habe …“
    „Keine Sorge, die halten gerade Sommerschlaf“, erklärte Kandrajimo. „Lass uns jetzt bitte nicht streiten und vor allem keine Zeit verlieren. Wenn das hier die entscheidenden Minuten sind, die wir Maja verpassen …“
    „Sie wird nicht dort am Tor sein, Jimo“, sagte Tabea. „Sie ist seit Wochen in der anderen Welt, sie könnte überall sein – oder tot.“
    „Sie ist eine Kamiraen, sie ist nicht tot.“
    „Ihr seid nicht unsterblich“, mahnte Tabea. „Weit davon entfernt.“
    „Aber zäh. Und deshalb weiß ich auch, dass ich diese vier Kilometer schaffen werde.“

    Der Weg war tatsächlich machbar, allerdings wurde er zum Abschluss von der Treppe des Todes gekrönt. Steile, unregelmäßige Stufen wanden sich den Berg hinauf. Doch Kandrajimo dachte nicht ans Aufgeben und kämpfte sich Schritt für Schritt weiter. Beobachtet wurde er dabei von Tieren, Menschen und dämonenhaften Fratzen, die jemand in den Fels neben ihn gemeißelt hatte. Endlich erreichten Kandrajimo und Niber das Ende der Treppe und folgten dem Pfad in den Urwald. Tabea wartete vorm Eingang des Tempels auf sie. Sie hatte sich geweigert, den Berg zu Fuß zu erklimmen. Nun saß sie als weißes Federknäuel auf einer flachen Mauer neben ein paar Stufen.
    Ein Kloß aus moosbewachsenen Steinstufen, mehr war vom Inka-Tempel nicht mehr zu erkennen. Teilweise hatte über Jahrhunderte herabgefallenes Laub schon eine neue Schicht Erde darüber gezogen, den Rest überwucherten Wurzeln und Farne. Auch das halb eingebrochene Eingangstor war zugewachsen und es bedurfte einiger Schwerthiebe Jonathan Nibers, um einen Pfad in die Büsche zu schlagen.
    Hoffentlich fällt uns das ganze Gebilde nicht auf den Kopf, dachte Kandrajimo, als er seinen Begleitern voran in die Finsternis des Tempels trat. Nur ein paar Schritte und sie erreichten einen dämmrigen Raum und als sie ihn durchquert hatten, gelangten sie wieder ans Tageslicht, auch wenn es ein dämmriges, geheimnisvolles Licht war. Kandrajimo sah sich staunend auf einer Art Innenhof mit herabfallenden Stufen um. Umrandet wurde er von ruinenhaften Tempelmauern, doch nach oben war er offen, begrenzt einzig durch das Dach des Waldes. Lianen hingen von dort herab, Wurzeln krochen über die Stufen, Gräser und Blumen quetschten sich zwischen Mauerspalten hervor und ein paar steinerne Säulen wurden von Kletterpflanzen erklommen… Und in der Mitte dieser wilden Schönheit ragte das Weltentor hervor: vertraut und doch so fremd.
    Der Anblick des Tores erfüllte sie mit Ehrfurcht, obwohl sie alle bereits Weltentore durchquert hatten: Über zehn Meter hoch, mit einer schimmernden Membran im Inneren.
    „Wir haben es tatsächlich gefunden“, sagte Niber. „Das erste Tor, das in den anderen Teil unserer Welt führt. Dieser Tag könnte unser aller Schicksal verändern.“
    „Wir werden es verstecken müssen“, sagte Tabea. „Möglicherweise mit Hilfe mächtiger Magie.“
    „Darum können wir uns später kümmern“, meinte Kandrajimo. „Jetzt müssen wir zuerst nach Maja suchen.“ Sicherheitshalber zog er sein Schwert und mit einem letzten, leicht bedauernden Blick auf die Schönheit um ihn, die er gerne länger betrachtet hätte, humpelte er die Stufen hinab und trat durch das Tor.

    Das Gefühl war das gleiche, welches er in den letzten Wochen viel zu oft verspürt hatte. Dann erreichten ihn ein warmer Wind und blendendes Sonnenlicht. Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten und die weite, grasbewachsene Ebene wahrnahmen. Die Sonne stand tief an einem pfirsichfarbenen Himmel. Tabea und Jonathan erschienen neben ihm.
    „Sonnenaufgang“, stellte der andere Kamiraen fest. „War es nicht eben noch Nachmittag?“
    „Zeitverschiebung“, erklärte Kandrajimo. „Wenn man durch das norwegische Tor tritt, hat man einen halben Tag Unterschied, das wird hier ähnlich sein.“
    „Das gibt uns einen ganzen Tag Licht, um uns zu orientieren und die Suche nach Maja zu beginnen“, sagte Tabea voller Tatendrang. „Wir sollten zunächst die Gegend nach Feinden absuchen und dann versuchen, MacLyarks Weg in dieser Welt zurückzuvollziehen. Dann finden wir die silbernen Wiesen, von denen er geschrieben hat und mit etwas Glück einen Hinweis, wo Maja sein könnte.“
    Jonathan Niber seufzte. „Kommt euch das nicht auch alles ziemlich hoffnungslos vor? Es heißt, dieser Teil unserer Welt sei noch größer als der bewohnte. Wie sollen wir sie jemals finden?“
    „Indem wir anfangen zu suchen. Erkundet ihr schon mal einen Unterschlupf, hier stehen wir wie auf dem Präsentierteller. Ich suche die Umgebung ab.“ Mit diesen Worten verschwamm sie in einem Wirbel aus Farben und eine weiße Eule jagte in den Nachthimmel.
    Kandrajimo sah sich weiter um. Die Graslandschaft erstreckte sich in alle Richtungen, doch es gab Auffälligkeiten: „Im Westen sind die Felsen, von denen Amara erzählt hat“, stellte er fest. „Ich glaube ich sehe die Gebäude darauf. Dahinter erkenne ich außerdem eine Bergkette, genau wie im Süden. Richtung Osten ist möglicherweise ein Wald.“
    „Dann lass uns dorthin gehen und zwischen den Bäumen ein Lager errichten“, sagte Niber. „Nach dem, was die Alte über dieses Spukhaus erzählt hat, möchte ich es nicht mal aus der Ferne sehen.“
    Kandrajimo blickte bedauernd nach Westen. Er fand das Bauwerk um einiges anziehender als den Wald, aber sie brauchten einen sicheren Unterschlupf. Ein Ort, an dem siebzig Jahre zuvor eine ganze Gruppe von Menschen unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war, schied ohne Frage aus.

  • In den letzten Wochen nicht viel geschafft, aber das hier hatte ich noch auf Lager. In Gedanken bin ich aber gut weiter gekommen, ich lasse die Geschichte gerade einfach ein wenig fließen und habe ein paar Pläne gemacht. Das Thema dieser Geschichte, dass Maja einen Gegenstand nach dem anderen verliert, setzt sich übrigens fort :rolleyes: Dabei waren da so viele Erinnerungsstücke bei, von denen ich dachte sie würde sie noch auf Jahre herumtragen. (Naja, von meiner Seite aus waren es Jahre :rofl: )


    Orientierung

    Als Maja erwachte, fühlte sie sich immer noch schwach, aber das Chaos in ihrem Kopf hatte sich ein wenig gelegt. Außerdem hatte sie Hunger. Sie brauchte allerdings ein wenig Zeit, um ihre Umgebung zu verstehen. Sie lag bäuchlings auf etwas Großem, das regelmäßige Bewegungen machte, ihr Kopf lehnte an einer Art Balken – warm und fellig. Majas Augen starrten auf Heidekraut, das langsam an ihrem Blickfeld vorbei zog. Schließlich wurde ihr klar, dass sie auf einem Pferd lag und sie versuchte sich aufzurichten. Es war nicht so einfach, jemand hatte sie am Sattel festgebunden und sie brauchte einen Moment, um wenigstens den Oberkörper aus dem Seil zu befreien. Als sie sich schließlich umsah, erkannte sie, dass Käse neben ihr ritt.
    „Was ist passiert?“, fragte sie.
    Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich glaube du bist einfach eingeschlafen. Also mussten sie dich am Pferd festbinden. Das ist aber schon ewig her.“
    Vor und hinter ihnen schritten weitere Reittiere durch das Heidekraut, ein paar Soldaten waren auch zu Fuß unterwegs, einige Pferde zogen Karren mit Gepäck. Das letzte, woran Maja sich erinnerte, war Dreizehn, der vor ihr gestanden hatte. Er musste sie irgendwie verzaubert haben, sodass sie eingeschlafen war. Ein beunruhigender Gedanke. Oder war sie tatsächlich so müde gewesen, dass sie einfach eingenickt war? Vielleicht auch … war sie vor Angst ohnmächtig geworden? Wie peinlich.
    Majas Magen knurrte plötzlich so laut, dass selbst Käse es hören konnte.
    „Ich glaube sie haben Essen an deinen Sattel gebunden“, erklärte er.
    Sie fand einen Lederbeutel mit Brot, Nüssen und Trockenfrüchten. Der Anblick sandte Glücksgefühle durch ihr Gehirn. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Vorsichtig begann sie daran zu knabbern und blickte sich dabei fortwährend um. Weit und breit konnte man nichts als Heidekraut und ein paar entfernte Berge erkennen. Nicht weit vor ihr ritten Fürst Dreizehn und Lil, jedoch so weit weg, dass sie vermutlich nicht hören würden, was Maja sagte.
    „Was ist hier eigentlich los?“, fragte sie Käse leise. „Was ist dir zugestoßen? Wie kannst du so sorglos sein?“
    „Ich dachte das wüsstest du“, antwortete er.
    „Geh einfach mal davon aus, dass ich von nichts weiß. Was ist passiert, nachdem sie dich aus unserem Haus entführt haben?“
    Käse runzelte die Stirn. „Sie sind nicht weit gekommen. Yowin hat mich befreit.“
    „Yowin?“ Maja war verwirrt.
    „So heißt der Hauptmann wirklich, aber hier soll ich ihn Lemiok nennen.“ Er meinte also Fürst Dreizehn, dachte Maja. Dreizehn, Demir, Lemiok, Yowin … wie viele Namen trug er noch? „Die Entführer haben mich drei Tage mit dem Auto weggefahren“, fuhr Käse fort, „aber er konnte mich befreien. Aber er meinte leider, dass sie mich sofort wieder entführen würden, wenn er mich nach Hause zurückbringen würde. Ich habe besondere Fähigkeiten, deshalb wollen diese bösen Entführer mich benutzen.“
    „Was für Fähigkeiten?“, fragte Maja. Ihr Kopf spann noch viele weitere Fragen, aber sie konnte nur eine nach der anderen stellen. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Dreizehn hatte scheinbar eine Befreiung ihres Bruders inszeniert, um ihn auf seine Seite zu ziehen. Was er anschließend zu Käse gesagt hatte, hatte sie so ähnlich selbst vor etwas über einem Jahr aus Tabeas Mund gehört.
    „Ich kann Dinge benutzen“, erklärte Käse. „Zum Beispiel das hier.“ Er hielt den Arm hoch und Maja erkannte das metallene Armband, das er daran trug. Sie erinnerte sich dunkel, wie er es einst auf einem Flohmarkt entdeckt und sie so lange bearbeitet hatte, bis sie ihm fünf Euro dafür geliehen hatte. Seither hatte er es kaum noch abgelegt, aber Maja hatte dieses Verhalten niemals für bedeutsam gehalten. „Durch dieses Armband träume ich von der Zukunft.“
    Sie stutzte. Das passte tatsächlich zu einigen der Gespräche, die sie mit ihm geführt hatte.
    „Demir hat gesagt, dass es einen Weg gibt, meine Verfolger für immer loszuwerden und dass sie dich damals schon verfolgt haben, weil auch du Fähigkeiten besitzt. Du hast einen Gegenstand, der dir Kräfte verleiht, genau wie ich, oder? Deshalb wollten sie dich damals holen, aber auch du wurdest gerettet, nicht wahr? Er meinte du hättest es nicht geschafft, aber ich könnte dein Werk enden.“
    „Beenden“, verbesserte Maja ihn gedankenverloren. Sie hatte Schwierigkeiten, aus der Mischung aus Halbwahrheiten und Lügen schlau zu werden. Ja, die schwarze Garde hatte auch sie versucht zu holen. Aber Dreizehn war der, der dahinter steckte, wie konnte er sich erdreisten, sich als Käses Retter aufzuspielen? Und was war das mit dem Armband? Hatte ihr Bruder wirklich eine besondere Gabe? Es ging hier also tatsächlich nicht um sie, sondern um ihn? Dreizehn hatte sich zumindest Mühe gegeben, ihn auf seine Seite zu ziehen. Er hatte ihm scheinbar eine Geschichte erzählt, die grob zu Majas Erlebnissen passen würde, nicht wissend, dass Maja ihrem Bruder niemals ein Wort davon erzählt hatte. Ja, auch sie war entführt und gerettet worden. Ja, auch sie hatte einen Gegenstand, der ihr besondere Kräfte verlieh. Sie griff an ihre Brust und wollte das Amulett berühren. Es war nicht da.
    Maja taumelte, wurde bleich, vergaß zu atmen und wäre beinahe vom Pferd gefallen. Eine Erinnerung durchfuhr sie – Dreizehn, wie er sie an der Schulter berührte, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. Er musste es ihr abgenommen haben. Das konnte nicht sein!
    Sie brauchte alle Kraft, um sich wieder zu beruhigen und sich einzureden, dass es keine Rolle spielte, ob er das Amulett hatte. Er hatte schließlich sie und wie es aussah, konnte er mit ihr machen, was er wollte. Aber mit dem Amulett hatte sie noch eine entfernte Hoffnung verbunden, dass dieses irgendein Wunder vollbringen und sie befreien konnte. Nun hatte sich auch diese Hoffnung zerstreut.
    Sie kaute verbissen auf einem Stück getrocknetem Apfel herum, während sie Käses weiterer Erzählung lauschte. Dreizehn hatte ihn anscheinend zu einem Weltentor gebracht. Käse glaubte, dass es in Italien war, aber Maja wusste, dass er weder von Sprachen noch von Ländern große Ahnung hatte, deshalb war auf seine Worte nicht viel Verlass. Sie waren jedenfalls mit einem Flugzeug dorthin geflogen.
    In der Welt ohne Namen angekommen, hatte man Käse mit einem Schiff zu einem kleinen Land mit einer riesigen, düsteren Burg gebracht. Maja vermutete, dass er von Andraya sprach. Nach einem kurzen Aufenthalt waren sie hierher gekommen.
    „Aber warum?“, fragte Maja.
    „Er sucht etwas, das mir helfen soll“, sagte Käse. „Damit sie uns nicht mehr verfolgen können.“
    Maja wurde zornig. „Er ist es doch, der …“ Doch sie stockte. Sie konnte es Käse nicht sagen. Was würde die Wahrheit ändern, außer dass er schreckliche Angst bekommen würde.
    Sie hätte gerne mehr seiner Erlebnisse angehört, doch nachdem sie beschlossen hatte, ihn vorerst nicht über die Gefahr aufzuklären, in der sie beide steckten, fand sie es schwierig mit ihm zu sprechen, ohne sich zu verraten. Stattdessen kaute sie wie verrückt die trockenen Früchte und kam – ganz langsam – wieder zu Kräften.

  • Ich bin mir nicht sicher, ob die Geschichte hier gerade die richtige Entwicklung nimmt, aber an diesem Punkt gibt es auch kein Zurück mehr. Es ist allerdings sehr, sehr schwer zu schreiben. Hoffe Dreizehn verliert hier nicht all seine Bedrohlichkeit, wobei er für mich ja schon immer eher kurios als bedrohlich war.


    Offenbar hatte sie fast den ganzen Tag geschlafen, denn schon nach kurzer Zeit hielten sie an einem Bachlauf an und die Soldaten begannen, das Lager aufzubauen. Maja und Käse schauten zu, wie in Windeseile das Hauptmannszelt errichtet wurde, erst danach erhoben sich die anderen Zelte nach und nach. Plötzlich erschien Lil neben ihnen.
    „Ich soll dich zu ihm bringen“, sagte sie zu Maja.
    Maja wurde klamm ums Herz. Sie war nicht bereit, Dreizehn gegenüber zu treten. Sie drückte noch einmal Käses Hand. „Wir sehen uns.“ Hoffentlich.
    Sie folgte Lil durch die Baustelle und betrat nach ihr das Zelt. Dreizehn stand in der Mitte, vor seinem thronähnlichen Stuhl. Außer diesem waren im Zelt noch keine Möbel aufgestellt worden, bloß ein paar Vorhänge grenzten einen seitlichen Bereich ab. Dreizehn hatte seine Hauptmannskleidung bereits abgelegt und gegen ein einfaches, dunkelblaues Leinenhemd und eine cremefarbene Lederhose ausgetauscht. Die Schuhe steckten in halbhohen, weichen Stiefeln, die rechte Hand in einem enganliegenden, braun-weißen Lederhandschuh. Sonst trug er nichts. Keinen Gürtel, keine fürstlichen Abzeichen, keinen Schmuck, keine Waffe. Das war beruhigend und nahm Maja zumindest das Gefühl, ihrem Henker entgegen zu treten. Er hatte die Arme verschränkt und betrachtete sie interessiert. Dann blickte er zu Lil. Die Zauberin schien zu verstehen, was er wollte. Wortlos drehte sie sich um und verließ das Zelt. Sie wirkte ein wenig beleidigt darüber, ausgeschlossen zu werden. Maja wünschte sie würde bleiben. Auch wenn Lil nur wenig besser war als Dreizehn, so war sie doch zumindest irgendjemand. Maja wollte nicht allein mit ihm sein. Schon die Art, wie er sie anschaute: Verwundert, neugierig, als hätte er eine Kuriosität entdeckt.
    „Du siehst besser aus als heute Morgen“, kommentierte er.
    Maja antwortete nicht. Sie hatte einen Kloß im Hals.
    Er wartete noch einen Moment ab, dann sprach er weiter: „Ich denke, nun da du geschlafen hast, sollten wir die Bedingungen unserer gemeinsamen Reise festlegen. Gestern warst du dazu anscheinend nicht mehr in der Lage.“
    Maja wollte nicht über irgendwelche Vereinbarungen sprechen. Sie wollte wissen, was hier los war – wollte Antworten. Was hatte er mit ihr und vor allem mit Käse vor? Warum hatte er ihr Leben zerstört, es aber doch nicht ganz genommen, obwohl ihr alle dies immer prophezeit hatten? Wütend schluckte sie den Kloß hinunter und fuhr ihn an: „Was wollen Sie von meinem Bruder? Und was haben Sie ihm für Lügen erzählt? Und was geht hier überhaupt vor? Was tun wir alle ...?“ Ihre Stimme versagte mit einem Krächzen.
    Dreizehn zog bloß eine Augenbraue hoch und ließ sich Zeit mit der Antwort. Zeit, in der Maja dem Drang widerstehen musste, vor ihm zurückzuweichen. Sie spürte, dass er verärgert über die Unterbrechung war.
    „Wäre es dir lieber, wenn ich ihn in Ketten legte?“, fragte er schließlich. „Du hast gut daran getan, ihm nicht die Wahrheit zu sagen und du wirst es auch weiterhin nicht tun. Das ist die erste Bedingung, die ich stelle. Brich sie und es wird sowohl dir als auch deinem Bruder ein ganzes Stück schlechter gehen. Und ich müsste euch trennen.“
    Der bloße Gedanke versetzte ihr einen Stich ins Herz. Bei Käse zu sein war das Einzige, was jetzt noch für sie zählte. „Na schön“, krächzte sie. Sie hatte ja selbst beschlossen, dass es das Beste wäre.
    Dreizehn nickte und eine Weile beobachteten sie sich weiter. Maja hatte das Gefühl, dass ihr Gegenüber seine Worte mit Bedacht wählte. Dass er unentschlossen schien, worüber er mit ihr reden sollte. Er war so anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Kein spitzer Bösewichtbart, kein vampirblasses Gesicht, kein schwarzer, wehender Umhang mit hochgestelltem Kragen. Nur dieser unscheinbare, dunkelhaarige Mann. Wirklich sehr unscheinbar. Es hieß ja, man könne sich sein Gesicht nicht merken, doch sie hatte ihn heute sofort wiedererkannt. Weil sie wusste, dass es nur er sein konnte, der sie hier empfing? Sie bemerkte, dass er nicht besonders groß war, nur etwas größer als sie selbst. Und er sah jung aus. Viel älter als sie zwar, doch jünger als Kandrajimo. Wie bei Tabea war sein Alter allerdings schwer einzuschätzen. Maja hätte keine genaue Zahl tippen können. Er wirkte jedenfalls wie das komplette Gegenteil von dem, was sie sich vorgestellt hatte, doch das schürte ihre Furcht bloß noch. Denn auch sein Handeln war anders, als sie erwartete und sie hatte keine Vorstellung davon, was er als nächstes tun würde. Ihr kam der Gedanke, dass was auch immer er für sie plante, schlimmer sein konnte als ihre Erwartungen. Schlimmer als der Tod.
    In dem Moment begann er wieder zu sprechen: „Kommen wir zur zweiten Bedingung, ich hatte sie bereits erwähnt: Keine albernen Fluchtversuche. Du würdest nicht weit kommen. Einer meiner Schwarzmagier hat bereits einen Zauber über dich gewirkt, sodass dein Fliehen mich augenblicklich alarmieren würde.“
    „Das hat in Andraya ja schon so gut geklappt“, rutschte es Maja heraus.
    „Bitte was?“ Er wirkte verärgert und verwirrt.'
    Sie verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke und musste husten. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Dies war nicht der Zeitpunkt für ein loses Mundwerk, aber irgendwie war der Gedanke von sehr weit hinten in ihrem Kopf auf ihre Zunge gerutscht. Seine Nachfrage nun nicht zu beantworten, wäre ebenso unhöflich und gefährlich. Sie senkte den Blick und ihre Stimme. „Man sagte mir, dass Sie es merken würden, wenn ein Kamiraen Andraya betritt, aber ich war dort. Zweimal sogar.“ Sie versuchte demütig zu wirken, aber egal wie vorsichtig sie ausgesprochen wurden – es steckte eine Provokation in diesen Worten. Sie fragte sich, wie er diese aufnehmen würde.
    Doch Dreizehn schmunzelte nur. „Ich kann dir sagen, woran das liegt.“ Er griff in seine Tasche und hielt plötzlich Majas Amulett in der Hand – in seinem Lederhandschuh, was ihn vermutlich davor schützte, sich daran die Finger zu verbrennen. Er betrachtete es nachdenklich. „Es hat viel Kraft verloren“, erklärte er schließlich. „Die mächtigen Verzauberungen, die darauf liegen, sind beinahe verblasst. Deshalb konnten meine Schutzmechanismen es nicht aufspüren.“
    „Warum verblassen sie?“, fragte Maja. Moment – hieß das ohne das Amulett konnte jeder Kamiraen in Andraya herumspazieren? Möglich war es. versucht hatte es mit Sicherheit noch niemand.
    „Nun, das kann ich dir nicht sagen“, antwortete Dreizehn, mehr als würde er mit sich selbst sprechen. „Zuerst dachte ich, es wäre in Kontakt mit dem Schwert aus Taroq gekommen. Ich bin nicht sicher, ob du es weißt, aber es widersteht Magie und kann Zauber brechen.“ Maja wurde heiß. Sie hatte das Schwert einst mit dem Amulett abgewehrt. Hatte sie dafür gesorgt, dass es seine Kraft verloren hatte? „Aber die Magie hierauf ist viel zu alt und mächtig, als dass das Schwert ihr schaden könnte“, fuhr Dreizehn fort und sah Maja in die Augen. „Was eine Waffe nicht schafft, vermag die Zeit wohl durchaus. Vermutlich sind die Zauber einfach in die Jahre gekommen.“
    „Das Amulett hat für mich ganz gut funktioniert“, widersprach Maja. „Es hat mir Kraft gegeben und mir mehrmals das Leben gerettet.“
    Dreizehn betrachtete sie mit leicht verkniffenen Mundwinkeln. „Tja nun, ich sagte auch nicht, dass es seine Macht vollständig verloren hat. Aber du wirst fortan ohne auskommen müssen. Ich hätte die Amulette schon vor vielen Jahren an mich nehmen sollen. Mehr als einmal hatte ich die Gelegenheit dazu. Doch sie schützen sich, sie sind schwer zu bemerken und selbst wenn man genau weiß, dass sie dort sind … im entscheidenden Moment vergisst man sie. Aber auch dieser Zauber scheint schwächer geworden zu sein.“ Er lächelte triumphierend und steckte das Amulett in seine Jackentasche. „Das hier bleibt von jetzt an jedenfalls bei mir. Vielleicht kann es ja wirklich so einfach sein, die Linie der Kamiraen zu beenden. Ich glaube es nicht, aber einen Versuch ist es wert.“
    „Wenn Sie nicht glauben, dass es so einfach ist, warum töten Sie mich dann nicht? Warum haben Sie mich nicht getötet, als ich gestern in Ihr Zelt gebracht wurde. Das hatten Sie doch die ganze Zeit vor.“ Ihr stockte der Atem angesichts der Tatsache, dass sie diese Frage ausgesprochen hatte. War es Mut, Verzweiflung, Dummheit, Trotz? Vielleicht der Wunsch, hier nicht einfach nur zu stehen und abzuwarten, was er mit ihr anstellen würde?
    Er sah sie bloß weiterhin an wie ein Kuriosum. „Auch das wäre viel zu einfach“, antwortete er. „Ich hatte den Plan auf Anraten Lils bereits verworfen, bevor du hierher kamst. Doch spätestens nachdem ich dich sah, hätte ich ihn ohnehin geändert.“
    „Warum?“ Majas Mund wurde trocken.
    Dreizehn schwieg wieder eine Weile, während Maja tief durchatmete und versuchte, in diesem Gewirr aus Furcht und Ratlosigkeit sich selbst wiederzufinden. Manchmal spürte sie sie durchblitzen – die Maja, die sie kannte. Andererseits war sie diese Maja schon seit Wochen nicht mehr gewesen. Vielleicht seit sie damals in Tabeas Auto gestiegen war. Hatte es sie überhaupt jemals gegeben? Wer war sie? Und warum stellte sie sich diese Frage, während sie ihrem schlimmsten Feind gegenüber stand?
    „Du erinnerst mich an jemanden“, antwortete dieser endlich. „Mehr dazu vielleicht ein anderes Mal.“ Er wandte sich ab, ging zu seinem wuchtigen Stuhl und setzte sich hin. „Kommen wir zurück zu den Bedingungen deiner Anwesenheit hier. Ich sagte keine Fluchtversuche und das meine ich bitterernst. Erlebe ich auch nur einen einzigen, endet dieses Abenteuer doch noch mit deinem tragischen Tod. Und zu diesem Wort werde ich stehen. Du lebst noch, weil ich neugierig bin, aber so wichtig ist mir die Sache nicht. Wenn du meinen Plänen im Weg stehst, war es das.“
    „Was für Pläne?“, fragte Maja.
    Dreizehn zog die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Meinst du ich plaudere jetzt alle meine Geheimnisse vor dir aus?“
    Nein, meinte sie nicht, aber einen Versuch war es wert. Vielleicht auch einen zweiten: „Immerhin haben diese Pläne etwas mit meinem Bruder zu tun. Also habe ich ein Recht, sie zu erfahren, oder?“
    Dreizehn starrte sie nur an. Er schien nicht zu verstehen, was sie meinte. „Ein Recht? Liegt dieses Recht nicht viel eher bei deinem Bruder selbst?“
    „Vielleicht, aber er ist erst neun und hat keine Ahnung, worum es hier geht, also …“ Sie holte tief Luft. „Also sollten Sie es wenigstens mir sagen.“
    „Ihr“, zischte Dreizehn plötzlich.
    „Was?“
    „Also solltet Ihr es mir sagen“, korrigierte er gereizt. „Als Herrscher eines Landes wirst du mich entsprechend anreden. Das Siezen wird in dieser Welt außerdem nicht benutzt, wie du mittlerweile wissen solltest. Du klingst als hättest du einen albernen Sprachfehler. Abgesehen davon bist du nicht diejenige, die mir sagt, was ich tun oder lassen sollte, haben wir uns verstanden?“
    Maja konnte nicht anders, als erschrocken einen Schritt zurückzutreten. Auf der anderen Seite war sie tatsächlich wütend. Tadelte er sie wegen eines Grammatikfehlers? Am liebsten hätte sie ihn angefaucht, dass es ihr egal war, wie er angeredet werden wollte. Den Kamiraen gegenüber hätte sie das sicherlich getan, aber die hatten ja auch etwas von ihr gewollt und hätten niemals zugelassen, dass ihr etwas zustieß. Dreizehn schien auch etwas von ihr zu wollen, aber was, das verstand sie nicht und es kam ihr eher so vor, als könne er es sich jeden Moment anders überlegen. Sie senkte wieder den Blick und starrte auf ihre Schuhspitzen. „Verzeihung, ich wollte nicht respektlos sein“, sagte sie.
    „Ich hoffe es wird nicht wieder vorkommen“, sagte er. „Kommen wir zur dritten Bedingung, die übrigens auch in deinem Sinne sein dürfte“, sagte er, nun wieder ruhig. „Deine Kleidung wird verbrannt, du bekommst neue. Mal abgesehen davon, dass sie völlig zerrissen und dreckig ist, kann ich dieses Plastikzeug, das sie in der anderen Welt tragen, nicht ausstehen.“ Er rümpfte die Nase angesichts der Turnschuhe. „Du kannst gehen.“
    Maja starrte ihn entsetzt an. Sollte das heißen, sie würde keine Antworten bekommen? Er hatte sie hierher zitiert, um ihr persönlich zu sagen, dass sie nicht fliehen und sich umziehen sollte? Auf der anderen Seite war sie froh, aus diesem Zelt entfleuchen zu können. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging – leicht schwankend – auf das Sonnenlicht hinter dem Ausgang zu. Als sie nach draußen trat, kam ihr Lil entgegen, offenbar hatte sie Majas Entlassung abgewartet und wollte Dreizehn sprechen. Der Aufbau der Zelte war nun ein wenig weiter fortgeschritten. Käse stand am Rande des Lagers und gab seinem und Majas Pferd Wasser zu trinken. Maja blickte an ihm vorbei zu den fernen Bergen. Die Sonne brannte auf ihrem Gesicht, der Boden unter ihren Füßen fühlte sich hart an. Sie schloss die Augen und wünschte sich an einen anderen Ort.

  • Mini-mini-Part ... aber damit ist das Kapitel beendet und es lohnt sich nicht, noch ein neues anzufangen ...


    Lil blieb neben dem Pfosten stehen, der gemeinsam mit einem zweiten das schwere Zeltdach empor hielt. Sie ließ die Augen durch den Raum wandern, bemerkte die Leere. Noch hatte niemand die wenigen Möbelstücke hergetragen, die das Hauptmannszelt gewöhnlich schmückten. Auch Dreizehn trug keinen Schmuck, keine Rüstung, keine Abzeichen. In dem blauen Hemd hätte er als einfacher Handwerker durchgehen können und trotzdem fand Lil, dass seine Ausstrahlung herrschaftlich war.
    „Und?“, fragte sie. „Was meint Ihr?“
    „Sie hat keine Manieren“, antwortete Dreizehn schroff. „Aber darin unterscheidet sie sich nicht von den meisten meiner Untergebenen.“
    Lil verharrte verwirrt. Dann räusperte sie sich. „Was sagt Ihr zu meiner Idee?“
    Dreizehn starrte an ihr vorbei auf den Lichtstrahl, der durch einen Spalt am Zelteingang fiel. „Es ist ein Risiko“, seufzte er.
    „Sie ist nur ein dummes, wütendes Mädchen“, sagte Lil. „Allgemein halte ich die Kamiraen für überschätzt.“
    „Und seit wann bist du Expertin für Kamiraen?“, fragte Dreizehn gereizt. „Oder war deine Bekanntschaft mit Jimo Kandrajimo länger als du zugeben willst?“
    „Nein, natürlich nicht“, antwortete sie erschrocken. Er misstraute ihr immer noch wegen jenes Vorfalls.
    „Die Kamiraen waren einst mächtig“, erklärte Dreizehn, „aber schon seit mehreren Generationen bemerke ich, dass sie unbedeutender werden. Schwächer.“ Er hielt plötzlich wieder Majas Amulett in der Hand. Den ganzen Tag schon hatte er es immer wieder hervorgeholt und betrachtet wie einen Schatz. „Dieses Amulett hat auf jeden Fall an Kraft verloren, die anderen vielleicht ebenfalls. Früher oder später sind sie bloß noch Schmuckstücke. Möglich, dass das Einhorn deshalb sagte, die dreizehnte Generation würde die letzte sein. Und weder ich noch Tabea noch sonst jemand können etwas daran ändern. Helden mit Ablaufdatum. Soll es wirklich so einfach sein?“
    Lil dachte eine Weile darüber nach. „Ich bleibe bei dem, was ich bereits gesagt habe“, erklärte sie schließlich. „Mit oder ohne Amulett, mit oder ohne besondere Kräfte, werden die Kamiraen ihren Namen und ihre Mission weitergeben. Und sind es nicht der Name und die Traditionen, die ihr zerstören wollt? Das Mädchen ist das angreifbare Glied in dieser Kette. Ihr habt bereits ihr Amulett, aber mit ihr habt ihr die Macht, die Kette für immer zu sprengen.“
    „Ich könnte mit ihr noch ganz andere Dinge erreichen“, sagte er. Er stieß ein kurzes, fasziniertes Lachen aus. „Sie ist … interessant …“ Er kam plötzlich auf Lil zu, bis er kurz vor ihr stand und ihr fest in die Augen sah. Die seinen glitzerten merkwürdig. „Die Familie Sonnfeld hat offenbar viele Talente. Ihres ist vollkommen anders als das ihres Bruders, aber noch viel außergewöhnlicher. Und sie hat keine Ahnung. Die Kamiraen haben keine Ahnung … Sie könnte mir tatsächlich nützlich sein. Sehr, sehr nützlich.“

  • Deine Geschichte geht mysteriös weiter. Dann aber wieder vertraut weiter, sobald du wieder bei den Maja-Abschnitt ankommst.

    Etwas irritiert mich schon, weshalb sie Maja nicht auf eine andere Schule schicken. Sie wissen, dass sie Probleme hat und angeschaut wird wie ein bunter Hund. Du hast den Teil ansonsten sehr realistisch rübergebracht. Der war dir gut gelungen.

    Aber der Teil mit Karim war schon besser. Er ist erwachsen geworden. Wie ich schon schrieb, ist altersmäßig Karim so ziemlich am authentischsten. Das merkt man auch hier. Er musste früh Verantwortung übernehmen und hat ein paar harte Zeiten hinter sich. Das ist dir richtig gut hier gelungen.

    Ich finde es auch gut, dass deine Charaktere sich verändern und realistisch altern. Sie erleben einiges Traumatisches. Das stecken Kinder nicht einfach weg. Das finde ich, ist dir bei Karim und Maja hier am besten gelungen rüberzubringen.

    Irritiert hat mich der Speiseplan. Das sind Nahrungsmittel (zum Teil leicht verderbliche) aus unserer Welt und die Welt ohne Namen hat zahlreiche eigene Obst und Gemüsesorten. Warum zudem Tomatensalat, wenn es doch viel regnet? Die sind sehr empfindlich, bleiben geschmacklos ohne Sonne und schimmeln gern.

    Auch bin ich etwas irritiert, dass einer der Jungen am Wagenzug als 'dumm' bezeichnet wird. Bislang dachte ich, sind Libellen eine Art Elite und es irritiert, dass die dann jeden nehmen oder gar auf eine Geleitschutzmission schicken.

  • Jetzt habe ich Teil 1 deines dritten Bandes durch. Was mir gut gefiel, war der Angriff der Wolfwandlerin. Das war ziemlich gut. Da kam wieder Spannung.

    Ansonsten ist dein Erzähltempo langsamer geworden und dein Schreibstil ausschweifender. Vor allen im Vergleich zum ersten Band deiner Geschichte.

    Etwas unlogisch ist der Fernsehsender auf Paterak. Es gibt hierzulande zu viele staatliche Akteure, die irgendwann die Sprache knacken und zu scharf auf eine leicht zu eroberne Welt sind. Genau dasselbe mit den Internetinformationen. Ich dachte, die Kamiraen ist nichts wichtiger, als die Welt ohne Namen geheim zu halten? Das müssten die aber konsequent durchziehen. Und selbst wenn sie echte (selbstverschuldete) Probleme mit dem arg unfähigen Großkönig haben, haben sie in unserer Welt eine deutlich größere Macht.

    Ich muss jedoch gestehen, dass ich Jillian auch schon im ersten Band deiner Geschichte unnötig fand. Hier dasselbe. Allerdings würde ich vorschlagen, du schreibst einen Halbsatz dazu, da ich den Charakter nur zuordnen konnte, da ich den ersten Band kürzlich gelesen habe.

    Was das Alter deiner Charaktere angeht, wäre das einfachste, sie alle zwei Jahre älter zu machen. Du müsstest nur aufpassen, dass du nicht plötzlich einen "Fürst Fünfzehn" hast. :D

  • Die Szenen mit der Entführung war gut geschrieben. Auch die Szenen mit den schottischen Schwarzmagiern. Auch die mit Karim und die Szenen mit Maja auf den Wiesen. Also eigentlich alle Szenen. ;)

    Du schreibst sehr malerisch. Die Beschreibungen sind sehr gut. Das Kopfkino kommt in Schwung. :)

    Nur leider neigst du gerade etwas dazu, nicht alle nötigen Hintergrundinformationen in deiner Geschichte einzubauen, was dann zu Logiklücken führt.

    Du schreibst, dass Maja von sieben Personen indirekt überwacht wird. Einer davon ist dieser Theobald. Der Kerl wohnt aber ewig weit weg? Wozu macht man ihn zu einem Wächter, wenn er noch nichtmal in der Nähe von Maja lebt? Was ist mit den anderen sechs Wächtern? Es macht keinen Sinn, dass man alle abgezogen hat, bloß weil Maja wiederholt ihr Böckchen hat. Dazu ist sie zu wichtig.

    Du schreibst interessanterweise von sechs Morden in der Stadt. Diese Information wäre nur dann relevant (und müsste man Majas Eltern sagen), wenn das die anderen Wächter (oder ein Teil davon) sind. Das würde auch die Rachegedanken eines wütenden Vaters beenden. Ansonsten stellt sich schon die Frage, wieso es Jimo/Tabea überhaupt wissen.

    Ansonsten müsstest du schreiben, warum niemand von den Wächtern sofort bei Maja ist. Geschweige denn, wieso die Entführung von Kasimir ohne Widerstand von den Wächtern stattfand. Vor allen, warum sie die schwarze Garde nie bemerkten. Solche Fragen müsste sich Jimo als Verantwortlicher auf jeden Fall stellen.

    Bei den Schotten ist das Verhalten ebenso unlogisch. Jimo besteht darauf, die Beweise/Tagebücher zu vernichten, obgleich die schottische Familie das Recht hat, dass Wissen an die Familie weiterzugeben? Gleichzeitig gibt es Informationen im Internet, die jedes Kind finden kann? Geschweige denn von Nachrichtensender auf Paterak? Das ist extrem unlogisch.

    Das Verhalten der schottischen Magierin, die sofort bei fremden Magiern das Feuer eröffnet, ist hingegen absolut plausibel. Sie kann die Fähigkeiten von Jimo und Tabea nicht einsortieren und sie muss davon ausgehen, dass zumindest Jimo deutlich stärker ist als sie. Immerhin beherrscht der Mann die Verschiebung, was in Band 1 immerhin als Meisterleistung der Magie zählt und nur sechs Personen können.

    Als nächstes irritiert es mich das das Rückkehrer-Tor für die Schotten in Bolivien steht. Das sind dann schon sehr weite Strecken bis nach Schottland. Vor allem vor etwa ein bis zweihundert Jahren, weil da der Handel mit den Spinnwebern stattfand. Das da ein solches hochkarätiges Geschäft abgeschlossen wurde, verwundert mich sehr.

  • Hallo Schreibfeder ,

    für mich ist es zumindest gut zu wissen, dass es diese Fragen gibt, sodass ich da mehr Klarheit schaffen kann (Z.B. ist Theobald keiner der Wächter. Die Wächter habe ich übrigens nachträglich eingeführt, weil ich es unlogisch fand, dass so gar niemand auf Maja achtet. Das war aber wohl nicht ganz durchdacht. Bei den Tagebüchern hast du theoretisch recht, vielleicht kann ich das mit ein paar kleinen Änderungen retten.) Das ein oder andere lässt sich bestimmt im Nachhinein noch verbessern. (Bei dem Fernsehsender weiß ich aber noch nicht wie, ohne ihn komplett zu streichen. Und er liegt mir so am Herzen :hmm:.)

    Aber zumindest gut zu wissen, was da noch nicht so passt.

    Viele Grüße

    Din