Ein altes Sprichwort besagt, dass man sich immer zweimal im Leben trifft...
Ein alter Verbündeter
Schatten ließ Maja in dem leer stehenden Haus zurück. Er wollte sie auf keinen Fall mit in sein Zuhause nehmen und er hatte auch sonst keinen Ort, an den sie gehen konnte. Also hockte sich Maja in eine Ecke des Raumes und ließ die Zeit verstreichen. Regungslos döste sie vor sich hin. Am Abend kam Schatten und brachte ihr ein Paket mir Nahrungsmitteln: Brot, Schinken und ein paar süße Früchte, die Maja nie zuvor gesehen hatte. Das meiste davon aß sie noch am Abend, den Rest bewahrte sie fürs Frühstück auf.
Die Nacht wurde sehr unbequem und sehr unheimlich. Immer, wenn Maja gerade am Einschlafen war, hörte sie draußen Schritte, ein Kratzen oder einfach nur Geräusche, die sie sich einbildete. Und in Ermangelung eines Schlafplatzes hatte sie sich einfach auf den Boden gelegt. Er war hart und staubig, ständig musste Maja niesen und immer wenn das geschah, zog sie sich wieder in die dunkelste Ecke zurück und lauschte angstvoll auf Schritte.
Als der Morgen anbrach und sie noch immer niemand entdeckt hatte, löste sich ihre Anspannung etwas. Und nach dem Frühstück war sie ganz verschwunden. Maja wurde im Gegenteil ziemlich ungeduldig. Sie ging im Zimmer auf und ab und sah ständig aus dem Fenster. Bei dem Gedanken, dass sie noch bis zum Abend auf Schattens Rückkehr warten musste, stöhnte sie auf.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und verließ das Haus. Es gab vielleicht hier Bilder von ihr, aber sie hatte sich verändert, seit sie gemacht worden waren. Niemand erwartete, dass sie hier sein würde. Schatten hatte sie vielleicht erkannt, aber er war ein Spion, war es nicht sein Job, Menschen genau zu beobachten und sich ihre Gesichter zu merken?
Sie trat auf die Hauptstraße und sah zur Burg hinauf. Dass ihr Verderben so nah war, machte ihr nur wenig Sorgen. Fürst Dreizehn war irgendwo in dieser Festung und es ließ sie völlig kalt. Vielleicht hatte sie nach der unheimlichen Nacht ihren Vorrat an Angst aufgebraucht.
Die Straße war nicht unbedingt das, was man als belebt bezeichnet hätte, aber hier und dort waren Menschen unterwegs. Die meisten von ihnen gingen in dieselbe Richtung und Maja entschied, ihnen zu folgen. So dauerte es nicht lange, bis sie im Zentrum der Stadt einen großen Platz erreichte, auf dem Händler Stände aufgebaut hatten und ihre Waren anboten. Ein Markt.
Maja trat neugierig näher. Ihr kam ein Gedanke: Dass Käse nicht hier war bedeutete, dass ihre Reise noch lange nicht zu Ende war und sie hatte keinen Proviant mehr. Eigentlich besaß sie fast nichts mehr. Und vielleicht sollte sie sich langsam mal Gedanken darüber machen, wie sie die weitere Reise überstehen sollte.
Sie öffnete ihre Tasche auf der Suche nach Dingen, die sie vielleicht gegen Essen eintauschen konnte. Als erstes fiel ihr das Messer ins Auge. Dafür würde sie bestimmt eine Menge Essen bekommen. Aber sie widerstand der Versuchung. Tabea hatte ihr das Messer anvertraut, mit den Worten, dass Dreizehn danach suchte und es niemals in die Hände bekommen durfte. Sie würde es nicht in Andraya verkaufen, nicht solange sie noch eine andere Wahl hatte. Genau wie das Schwert aus Taroq, ebenfalls ein Gegenstand, den Dreizehn nur zu gerne sein Eigentum nennen wollte. Es wehrte Magie ab und würde Dreizehn vielleicht noch um einiges gefährlicher machen. Einmal hatte er es schon in den Händen gehalten, doch zum Glück hatte er damals nicht mit Matthias gerechnet.
Der dritte Gegenstand, den sie besser nicht ausgerechnet im dreizehnten Königreich verkaufen sollte, war das dritte Tor. Dreizehn wollte alle Tore zerstören, er durfte es nicht in die Finger kriegen. Maja wog es einen Moment in der geöffneten Hand, dann steckte sie es in ihre Hosentasche. Dort wäre es auch sicher, wenn ihr jemand die Tasche stahl.
Was hatte sie noch? Die Karte. Sie war zu verdächtig, man könnte ihr Fragen stellen, wie sie zu einer Karte des stärker bewohnten Teils der Welt ohne Namen kam.
Dann war da noch der Lichtstein. Ebenfalls ein verdächtiger, da offensichtlich magischer Gegenstand.
Schließlich klappte sie die Tasche wieder zu und verwarf den Gedanken, etwas zu kaufen. Sie würde später Schatten um Hilfe bitten. Sie hätte natürlich stehlen können aber darin hatte sie überhaupt keine Übung und dies hier schien ihr nicht der geeignete Ort, um es auszuprobieren. Immerhin war sie in Andraya und wenn man sie erwischte, war es sehr wahrscheinlich, dass man sie erkannte. Außerdem sah sie hier auf dem Platz einige Soldaten. Einige standen an den Zugängen und hatten ein Auge auf die Menge, andere patrouillierten über den Platz und wieder andere gingen offensichtlich eigenen Geschäften nach und kauften ihr Abendessen und andere Dinge.
Maja sah dem Treiben auf dem Markt eine Weile zu und begann darüber fast zu vergessen, wo sie war. Das hier war nicht das Andraya, über das man sich in den anderen zwölf Königreichen Horrorgeschichten erzählte. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Den Menschen schien es ganz gut zu gehen, sie lachten sogar. Vielleicht gab es hier ein bisschen viele Soldaten, wenn man Andraya beispielsweise mit Miriam verglich, verglich man es aber mit Illster, waren es schon nicht mehr so viele. Es gab hier allerdings auch andere, Unheil verheißende Gestalten. Sie fielen dadurch auf, dass die Menge ihnen aus dem Weg ging und ihren Blicken auswich. Maja beobachtete diese Leute genauer. Sie schienen eine Vorliebe für dunkle Umhänge zu haben und legten eine ganz bestimmte Körperhaltung an den Tag. Entweder schienen sie geradezu durch die Menge zu schweben, oder sie schritten erhobenen Hauptes hindurch und wirkten, als würden sie über den Dingen stehen. Und sie alle strebten Marktstände an, an denen die anderen Menschen nicht vorbei kamen, um die sie ehrlich gesagt sogar einen großen Bogen machten. Deren Auswahl umfasste allerlei Kräuter, Tierknochen, Tinte und Pergament, Zähne, Knoten, Amulette und Blut verschiedenster Spezies.
Schwarzmagier, dachte Maja. Sie hatte gehört, dass es im dreizehnten Königreich viele von ihnen gab, sie arbeiteten für Dreizehn. In seinem Namen hatten sie unter anderem den Schwarzen Weg gebaut, eine Straße, die durch die gesamte Welt ohne Namen führte und auf der Dreizehns Gefolgschaft schneller voran kam, als auf gewöhnlichen Wegen möglich war.
Maja nahm sich ein Vorbild an allen anderen und machte einen großen Bogen um die Schwarzmagier. Sie ging zum Brunnen, um ein paar Schlucke Wasser zu trinken. Das kühle Nass tat ihr gut und sie hielt eine Weile ihre Hände hinein.
Es wurde langsam sehr warm, die Sonne prallte vom Himmel und die Luft war sehr feucht und schweißtreibend. Vor einem Jahr hatte Maja schon einmal an diesem Brunnen gestanden, als das ausgebrochen war, was sie für sich selbst ‚Chaos von Andraya’ nannte. Sie wusste immer noch nicht, was es damit auf sich gehabt hatte. Sie nahm sich vor, Schatten danach zu fragen.
Ein junger Soldat trat an den Brunnen heran, nahm seinen Helm ab, schöpfte mit den Händen Wasser und kühlte sein Gesicht damit. Als er aufsah erschrak Maja fürchterlich. Sie kannte ihn. Das lange schwarze Haar war kurz und statt bunten Federn trug er eine grüne Soldatenuniform, doch sie erkannte ihn trotzdem.
„Mirno?“, sagte sie.
Er sah auf und blickte sie verwundert an. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, Erkennen spiegelte sich darin und dann schaute er genauso entsetzt drein wie Maja.
„Maja?“, fragte er ungläubig.
„Pscht“, zischte Maja und sah sich hektisch nach allen Seiten um, ob ihn jemand gehört hatte. Dann wurde ihr plötzlich klar, was sie hier tat. „Oh nein.“ Sie sprach mit einem Soldaten des dreizehnten Königreichs und er wusste, wer sie war. Hätte sie nicht einfach die Klappe halten können? Warum ging sie nicht gleich in Dreizehns Burg und schrie ihren Namen durch die Hallen.
Einen Moment fragte sie sich, was dann wohl passieren würde und ob sie bereits lebensmüde genug war, es auszuprobieren. Einfach so zum Spaß. Dann holte sie die Realität ein und zwar in Form von Mirno, der vor ihr stand und verwirrt den Mund auf und zu klappte. Er sah so seltsam aus, dass Maja laut lachen musste, worauf Mirno sie noch merkwürdiger ansah.
„Was machst du bloß hier?“, fragte er. „Ist dir nicht klar, was Dreizehn tun wird, wenn er dich hier erwischt?“
„Der soll sich mal nicht so ins Hemd machen“, sagte Maja. „Ich bin vierzehn und meine Kampflektionen sind eher mies verlaufen. Was soll ich Dreizehn schon antun?“ Sie musste wieder lachen. War sie endgültig wahnsinnig geworden?
Mirno schien das ebenso zu sehen.
„Wie kommst du überhaupt hierher?“, fragte er. „ich weiß, dass ihr damals hier wart, aber ich dachte, ihr wärt längst weg. Das ist ein Jahr her.“
„Ich bin schon wieder hier. Eine Mischung aus Pech und Dingen, die du dir nicht mal vorstellen kannst, hat mich hergebracht. Ich bin da in Sachen reingeraten, die ...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ach, ich weiß auch nicht. Ich denke, zu erklären wie ich hergekommen bin, würde Stunden dauern und selbst dann würdest du es nicht verstehen.“
„Gut“, sagte Mirno. „Aber wenn du schon nicht erklären kannst, wie du hergekommen bist, dann vielleicht, warum? Oder versuchst du immer noch, Karims und Jinnas Mutter zu retten?“
„Nein. Das haben wir geschafft. Diesmal ist es persönlicher. Dreizehn hat meinen Bruder entführen lassen.“
„Deinen kleinen Bruder? Den, von dem du so viel erzählt hast? Käse, nicht wahr?“
„Ja“, bestätigte Maja, überrascht, dass er seinen Namen behalten hatte. „Aber ich sehe im Moment schwarz. Er ist nicht hier, man hat ihn vor wenigen Tagen fortgebracht und langsam weiß ich nicht mehr, was ich noch tun soll. Es grenzt bereits an ein Wunder, dass ich es hierher geschafft habe und ich habe einfach nicht mehr die Kraft, weiter zu machen. Ich glaube, ich bin kurz davor, einfach aufzugeben.“ Sie sprach damit eine Befürchtung aus, die sie die ganze Nacht gequält hatte.
Mirno nickte nachdenklich. Er sah müde aus. Unter seinen Augen waren Ringe und seine Wangen waren hohl.
„Was ist mit dir?“, fragte Maja. „Wie ist es dir ergangen?“
Mirno sah sich unauffällig auf dem Platz um. „Beschissen, wie sonst?“, sagte er leise. „Aber wir sollten nicht länger hier miteinander reden. Die Leute schauen schon misstrauisch. Naja, vermutlich vermuten sie nur, ich wollte mit dir anbändeln, aber trotzdem. Hör zu: Geh von hier aus geradeaus an der Mühle vorbei, dann die fünfte rechts und die zweite links. Dort ist eine Gasse und irgendwo darin führt eine kurze Treppe in einen Hinterhof. Ich nehme einen anderen Weg und treffe dich dort.“
„Kannst du denn hier einfach so weg?“, fragte Maja. „Musst du nicht“, sie betrachtete seine Kleidung, „Wache halten oder so?“
„Das ist kein Problem. Jetzt geh schon, bevor jemandem diese Situation komisch vorkommt.“ Und mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und tauchte die Hände ins Wasser. Wieder wusch er sich das Gesicht. Mit vom kalten Wasser gerötetem Gesicht blickte er dann wieder auf und sah, dass Maja ihn immer noch anstarrte.
„Geh“, zischte er.