Endlich habe ich meine neue Kurzgeschichte fertig. Zwar bin ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt präsentierbar ist, aber andererseits will ich die Geschichte auch nicht einfach verstauben lassen. Sie ist eine Adaption zu meiner anderen Kurzgeschichte Purpur .
Big City Life
Stanville: 21.6.2017
Thekla ~27 Jahre
Es war zehn Uhr vormittags und ich stand im Bad vorm Spiegel. Die Augen voller Schlaf, meine neongrünen, schulterlangen Haare zerzaust und ein trockenes Gefühl im Mund. Ich öffnete das Hängeschränkchen daneben und nahm meine Zahnbürste, Zahnpasta und Kamm sowie ein kleines Etui heraus, auf dessen Deckel mein Name geschrieben stand.
Mein Etui.
Mit eiskaltem, leicht braunen Wasser machte ich mich frisch, durchtränkte meine Haare und putzte mir das flaumige Gefühl aus dem Mund. Der weiche Schaum kribbelte auf meiner Zunge und tropfte mir am Kinn hinab ins Waschbecken.
Mit Zahnbürste im Mundwinkel, krempelte ich mir den linken Ärmel meines grauen Shirts bis zum Oberarm hoch, öffnete das Etui und nahm die in Alkohol eingelegte Rasierklinge heraus. Dann ritzte ich mich an der bereits vernarbten Stelle. Blutstropfen bildeten sich und benetzten augenblicklich das dünne, scharfe Metall.
Schmerz durchströmte mich und brachte meinen Arm dazu, sich anzuspannen.
Ich kniff die Augen zusammen und gab mich der Empfindung hin. Es brannte und kribbelte.
Es war ein wunderbares, ein befreiendes Gefühl. Beflügelt war ich, erregt vom Schmerz.
Ich ritzte mich erneut. An dieselbe Stelle. Immer mehr Blut floss heraus und rann langsam den Arm hinab. Ich war so vertieft in mein Tun, als plötzlich die Tür aufsprang.
Erschrocken zuckte ich zusammen.
Und ließ dabei die Klinge fallen, die mit leisem Klirren im Waschbecken landete.
„Thekla“, rief die Person neutral meinen Namen. Es war Dora, unschwer an ihrer heiseren Stimme zu erkennen. „Brauchst du noch la...“
Ihre Worte verschwammen, wurden nebensächlich für mich. Ich fühlte mich ertappt, geriet in einen Tunnelblick. Schnell versuchte ich meine Spuren zu beseitigen. Panisch schnippte meine linke Hand zur Rasierklinge, während die andere zum Hahn schnellte. Mit einem kräftigen Dreh öffnete ich ihn bis zum Anschlag, was bewirkte, dass der harte Wasserstrahl kurzzeitig vom Waschbecken abprallte und wie eine Fontäne mir entgegen spritzte.
„...alles in Ordnung mit dir? Du wirkst gestr...“
Reflexartig öffnete ich den Mund und sah nur noch die Zahnbürste herausfallen, ebenso im Waschbecken landen. Wie ferngesteuert versuchte meine Hand sie abzufangen, aber ich rutschte vom glitschigen Rand ab und schlug mit dem Kinn hart auf.
„Hey, lass das Waschbecken ganz“, spöttelte Dora lachend.
Ich blickte kurz zu ihr rüber und nickte.
Sie verdrehte nur die Augen und stieß einen leisen Pfiff aus.
Währenddessen konnte ich die Rasierklinge aus dem Waschbecken fischen und behutsam in meiner Hand verstecken. Ich krämpelte meinen Ärmel wieder herunter und stellte die Utensilien zurück in das Schränkchen.
Vorsichtig ließ ich die Hände in den Hosentaschen verschwinden und ebenso die Rasierklinge. Dann verließ ich das Bad und gesellte mich an den kleinen Esstisch im Nebenraum, wo bereits Amber saß und sich frisch aufgebrühten Tee eingoss.
Ich setzte mich auf den nackten Stuhl ihr gegenüber, der schon vom bloßen Anstarren anfing zu knarren. Zurücklehnen konnte ich mich nicht, sonst wäre er komplett auseinander gefallen.
Die frische Wunde am Oberarm tat immer noch weh und ein kleiner Blutfleck bildete sich auf dem Stoff. Ich nahm mir ein Messer und eine Scheibe Graubrot und Amber schüttete mir ebenfalls Tee ein in meine Tasse, die ich vor mir stehen hatte.
Wie paralysiert starrte ich auf diese, sah dem heißen Dampf beim Aufsteigen zu und ließ mich vom Duft umströhmen.
Pfefferminz.
Ich nahm das Messer, schnitt mir eine Ecke von der viel zu weichen Butter ab und strich sie hauchdünn auf mein Brot. Dann betrachtete ich es wieder, ohne irgendeinen aufkommenden Gedanken. Hohl fühlte sich mein Inneres an. Unwichtig und nutzlos.
„Ich will nicht mehr.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Amber, nahm die zerklüftete, ranzige Butter und hielt sie mir entgegen. „Darf ich anmerken, dass du die letzten Tage schon nicht viel gegessen hast?“
„Nein“, stöhnte ich entnervt und zeigte mit dem stumpfen Messer auf die kahlen, von Stockschimmel gezeichneten Wände. „Ich meine das alles hier.“
„Thekla“, raunte sie mit leichtem Säuseln durch ihre unübersehbare Zahnlücke. „So schlecht hast du es doch gar nicht.“
Ich seufzte enttäuscht und nahm halbherzig einen Bissen vom Butterbrot.
Amber sprach weiter: „Du hast ein Dach überm Kopf, eine Arbeit und Essen.“
Allein schon der Gedanke an meine Arbeit machte mich jeden Tag aufs neue traurig. Wie konnte ich nur dort hineingeraten? Ich dürfte gar nicht hier sein. Aber trotzdem war ich es.
Und wieder war es soweit. Ich fing an zu weinen. Zuerst nur dezent, kaum wahrnehmbar, da ich die Tränen so gut es ging zu unterdrücken versuchte. Aber je mehr ich mich konzentrierte, keinen Nervenzusammenbruch zu kriegen, umso näher kam ich ihm.
Beschämt wischte ich mir die ersten Tränen aus den Augen, in der Hoffnung, dass sie niemand sehen würde. Aber mein zitternder Mund verriet mich.
„Thekla, komm wieder runter“, meinte sie nur und wühlte in ihrer Jackentasche herum. Sie überreichte mir ein kleines Tütchen mit Crystal. „Ich sehe ja, dass du es dringender brauchst als ich.“
Dankend nahm ich es entgegen und legte es neben mich auf den Tisch. Aber selbst diese Aufmerksamkeit war schlimmster Hohn. Dass ich so tief gesunken war, dass ich nur noch mit Meth fröhlich sein konnte, machte mich dagegen übermäßig melancholisch, was mein Verlangen nach der Droge noch größer machte.
Nun schmeckte mir sogar mein fades Butterbrot nicht mehr, dessen harte Kruste meinen Mund austrocknen ließ.
„Kopf hoch, meine Kleine“, versuchte sie mich aufzubauen und schenkte mir noch etwas Tee ein. „Wir alle haben mal ein Tief. Stimmt’s?“
Dann schaute sie rüber zur schwarzen Ledercouch, auf der Natasha, unsere vierte Mitbewohnerin, wie ein halb voller Sack Kartoffeln lag. Die Beine angewinkelt, einen Arm quer übers Gesicht gelehnt und den anderen schlaff herunterhängend.
Sie brummte nur tief und deutete ein Nicken an. Sie hatte letzte Nacht wieder ein Rendezvous mit ihren zwei Liebsten. Johnnie Walker und Jack Daniel's.
„Das... ist aber nicht so ein Tief“, dementierte ich unter lautem Schlürfen des Tees.
„Ach nein?“, fragte Amber fordernd. „Und was sonst?“
Ich wollte gerade antworten, da kam Dora wieder aus dem Badezimmer. In ihrer Anwesenheit wollte ich ungern über dieses Thema sprechen. Sie hatte mich eh schon auf den Kieker wegen der Sache mit unserem Vermieter.
Aber was sollte ich sonst machen? Ich konnte nicht tatenlos daneben stehen, wenn sie Mietnachlass einforderte und ihm im selben Atemzug unverbindlichen Sex anbot. Zumal der Kerl offensichtlich einen Ehering trug.
Ich wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwand.
Und Natasha quälte sich nun auch hoch und schlupfte wie ein Zombie Richtung Bad. „Jetzt geh' ich erstmal kotzen!“
Ich hatte meine Antwort bereits wieder vergessen. Was teilweise auch an fehlenden Argumenten lag. Offenbar schien sich das Thema auch für Amber erledigt zu haben. Nebenher schüttete ich das Crystal auf den Esstisch und zerkleinerte es mit der Rasierklinge zu feinem Pulver. Dies nahm einige Minuten in Anspruch, in denen ich mich ausschließlich darauf konzentrierte. Es wirkte fast schon hypnotisch, jeden Fingerstreich mitzuverfolgen. Vermutlich hätte ich damit Stunden verbringen können.
Irgendwann wurde ich aus meiner Trance gerissen. „Thekla, brauchst du noch was?“
Verwirrt schaute ich auf, Richtung Wohnungstür.
Natasha, die lässig mit dem Schlüssel klimperte. Sie wirkte wieder nüchtern. „Ich will nochmal schnell zur Tanke. Brauchst du irgendwas?“
Ich überlegte kurz. „Kaugummis wären nett.“ Anschließend wandte ich mich wieder dem Crystal zu, nahm den gekürzten Trinkhalm und zog es durch die Nase. Erst links dann rechts.
Wie jedes Mal kribbelte es und wie jedes Mal musste ich den Niesreiz durch sanftes Streicheln der Nasenflügel unterdrücken.
Ein großer Schluck vom heißen Tee half zusätzlich.
„Jetzt geht’s mir besser.“
Und Amber schmunzelte.