Es gibt 62 Antworten in diesem Thema, welches 23.445 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (12. Oktober 2018 um 20:43) ist von Kyelia.

  • Endlich habe ich meine neue Kurzgeschichte fertig. Zwar bin ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt präsentierbar ist, aber andererseits will ich die Geschichte auch nicht einfach verstauben lassen. Sie ist eine Adaption zu meiner anderen Kurzgeschichte Purpur .

    Big City Life


    Stanville: 21.6.2017
    Thekla ~27 Jahre


    Es war zehn Uhr vormittags und ich stand im Bad vorm Spiegel. Die Augen voller Schlaf, meine neongrünen, schulterlangen Haare zerzaust und ein trockenes Gefühl im Mund. Ich öffnete das Hängeschränkchen daneben und nahm meine Zahnbürste, Zahnpasta und Kamm sowie ein kleines Etui heraus, auf dessen Deckel mein Name geschrieben stand.
    Mein Etui.
    Mit eiskaltem, leicht braunen Wasser machte ich mich frisch, durchtränkte meine Haare und putzte mir das flaumige Gefühl aus dem Mund. Der weiche Schaum kribbelte auf meiner Zunge und tropfte mir am Kinn hinab ins Waschbecken.
    Mit Zahnbürste im Mundwinkel, krempelte ich mir den linken Ärmel meines grauen Shirts bis zum Oberarm hoch, öffnete das Etui und nahm die in Alkohol eingelegte Rasierklinge heraus. Dann ritzte ich mich an der bereits vernarbten Stelle. Blutstropfen bildeten sich und benetzten augenblicklich das dünne, scharfe Metall.
    Schmerz durchströmte mich und brachte meinen Arm dazu, sich anzuspannen.
    Ich kniff die Augen zusammen und gab mich der Empfindung hin. Es brannte und kribbelte.
    Es war ein wunderbares, ein befreiendes Gefühl. Beflügelt war ich, erregt vom Schmerz.
    Ich ritzte mich erneut. An dieselbe Stelle. Immer mehr Blut floss heraus und rann langsam den Arm hinab. Ich war so vertieft in mein Tun, als plötzlich die Tür aufsprang.
    Erschrocken zuckte ich zusammen.
    Und ließ dabei die Klinge fallen, die mit leisem Klirren im Waschbecken landete.
    „Thekla“, rief die Person neutral meinen Namen. Es war Dora, unschwer an ihrer heiseren Stimme zu erkennen. „Brauchst du noch la...“
    Ihre Worte verschwammen, wurden nebensächlich für mich. Ich fühlte mich ertappt, geriet in einen Tunnelblick. Schnell versuchte ich meine Spuren zu beseitigen. Panisch schnippte meine linke Hand zur Rasierklinge, während die andere zum Hahn schnellte. Mit einem kräftigen Dreh öffnete ich ihn bis zum Anschlag, was bewirkte, dass der harte Wasserstrahl kurzzeitig vom Waschbecken abprallte und wie eine Fontäne mir entgegen spritzte.
    „...alles in Ordnung mit dir? Du wirkst gestr...“
    Reflexartig öffnete ich den Mund und sah nur noch die Zahnbürste herausfallen, ebenso im Waschbecken landen. Wie ferngesteuert versuchte meine Hand sie abzufangen, aber ich rutschte vom glitschigen Rand ab und schlug mit dem Kinn hart auf.
    „Hey, lass das Waschbecken ganz“, spöttelte Dora lachend.
    Ich blickte kurz zu ihr rüber und nickte.
    Sie verdrehte nur die Augen und stieß einen leisen Pfiff aus.
    Währenddessen konnte ich die Rasierklinge aus dem Waschbecken fischen und behutsam in meiner Hand verstecken. Ich krämpelte meinen Ärmel wieder herunter und stellte die Utensilien zurück in das Schränkchen.
    Vorsichtig ließ ich die Hände in den Hosentaschen verschwinden und ebenso die Rasierklinge. Dann verließ ich das Bad und gesellte mich an den kleinen Esstisch im Nebenraum, wo bereits Amber saß und sich frisch aufgebrühten Tee eingoss.
    Ich setzte mich auf den nackten Stuhl ihr gegenüber, der schon vom bloßen Anstarren anfing zu knarren. Zurücklehnen konnte ich mich nicht, sonst wäre er komplett auseinander gefallen.
    Die frische Wunde am Oberarm tat immer noch weh und ein kleiner Blutfleck bildete sich auf dem Stoff. Ich nahm mir ein Messer und eine Scheibe Graubrot und Amber schüttete mir ebenfalls Tee ein in meine Tasse, die ich vor mir stehen hatte.
    Wie paralysiert starrte ich auf diese, sah dem heißen Dampf beim Aufsteigen zu und ließ mich vom Duft umströhmen.
    Pfefferminz.
    Ich nahm das Messer, schnitt mir eine Ecke von der viel zu weichen Butter ab und strich sie hauchdünn auf mein Brot. Dann betrachtete ich es wieder, ohne irgendeinen aufkommenden Gedanken. Hohl fühlte sich mein Inneres an. Unwichtig und nutzlos.
    „Ich will nicht mehr.“
    „Bist du dir sicher?“, fragte Amber, nahm die zerklüftete, ranzige Butter und hielt sie mir entgegen. „Darf ich anmerken, dass du die letzten Tage schon nicht viel gegessen hast?“
    „Nein“, stöhnte ich entnervt und zeigte mit dem stumpfen Messer auf die kahlen, von Stockschimmel gezeichneten Wände. „Ich meine das alles hier.“
    „Thekla“, raunte sie mit leichtem Säuseln durch ihre unübersehbare Zahnlücke. „So schlecht hast du es doch gar nicht.“
    Ich seufzte enttäuscht und nahm halbherzig einen Bissen vom Butterbrot.
    Amber sprach weiter: „Du hast ein Dach überm Kopf, eine Arbeit und Essen.“
    Allein schon der Gedanke an meine Arbeit machte mich jeden Tag aufs neue traurig. Wie konnte ich nur dort hineingeraten? Ich dürfte gar nicht hier sein. Aber trotzdem war ich es.
    Und wieder war es soweit. Ich fing an zu weinen. Zuerst nur dezent, kaum wahrnehmbar, da ich die Tränen so gut es ging zu unterdrücken versuchte. Aber je mehr ich mich konzentrierte, keinen Nervenzusammenbruch zu kriegen, umso näher kam ich ihm.
    Beschämt wischte ich mir die ersten Tränen aus den Augen, in der Hoffnung, dass sie niemand sehen würde. Aber mein zitternder Mund verriet mich.
    „Thekla, komm wieder runter“, meinte sie nur und wühlte in ihrer Jackentasche herum. Sie überreichte mir ein kleines Tütchen mit Crystal. „Ich sehe ja, dass du es dringender brauchst als ich.“
    Dankend nahm ich es entgegen und legte es neben mich auf den Tisch. Aber selbst diese Aufmerksamkeit war schlimmster Hohn. Dass ich so tief gesunken war, dass ich nur noch mit Meth fröhlich sein konnte, machte mich dagegen übermäßig melancholisch, was mein Verlangen nach der Droge noch größer machte.
    Nun schmeckte mir sogar mein fades Butterbrot nicht mehr, dessen harte Kruste meinen Mund austrocknen ließ.
    „Kopf hoch, meine Kleine“, versuchte sie mich aufzubauen und schenkte mir noch etwas Tee ein. „Wir alle haben mal ein Tief. Stimmt’s?“
    Dann schaute sie rüber zur schwarzen Ledercouch, auf der Natasha, unsere vierte Mitbewohnerin, wie ein halb voller Sack Kartoffeln lag. Die Beine angewinkelt, einen Arm quer übers Gesicht gelehnt und den anderen schlaff herunterhängend.
    Sie brummte nur tief und deutete ein Nicken an. Sie hatte letzte Nacht wieder ein Rendezvous mit ihren zwei Liebsten. Johnnie Walker und Jack Daniel's.
    „Das... ist aber nicht so ein Tief“, dementierte ich unter lautem Schlürfen des Tees.
    „Ach nein?“, fragte Amber fordernd. „Und was sonst?“
    Ich wollte gerade antworten, da kam Dora wieder aus dem Badezimmer. In ihrer Anwesenheit wollte ich ungern über dieses Thema sprechen. Sie hatte mich eh schon auf den Kieker wegen der Sache mit unserem Vermieter.
    Aber was sollte ich sonst machen? Ich konnte nicht tatenlos daneben stehen, wenn sie Mietnachlass einforderte und ihm im selben Atemzug unverbindlichen Sex anbot. Zumal der Kerl offensichtlich einen Ehering trug.

    Ich wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwand.
    Und Natasha quälte sich nun auch hoch und schlupfte wie ein Zombie Richtung Bad. „Jetzt geh' ich erstmal kotzen!“
    Ich hatte meine Antwort bereits wieder vergessen. Was teilweise auch an fehlenden Argumenten lag. Offenbar schien sich das Thema auch für Amber erledigt zu haben. Nebenher schüttete ich das Crystal auf den Esstisch und zerkleinerte es mit der Rasierklinge zu feinem Pulver. Dies nahm einige Minuten in Anspruch, in denen ich mich ausschließlich darauf konzentrierte. Es wirkte fast schon hypnotisch, jeden Fingerstreich mitzuverfolgen. Vermutlich hätte ich damit Stunden verbringen können.
    Irgendwann wurde ich aus meiner Trance gerissen. „Thekla, brauchst du noch was?“
    Verwirrt schaute ich auf, Richtung Wohnungstür.
    Natasha, die lässig mit dem Schlüssel klimperte. Sie wirkte wieder nüchtern. „Ich will nochmal schnell zur Tanke. Brauchst du irgendwas?“
    Ich überlegte kurz. „Kaugummis wären nett.“ Anschließend wandte ich mich wieder dem Crystal zu, nahm den gekürzten Trinkhalm und zog es durch die Nase. Erst links dann rechts.
    Wie jedes Mal kribbelte es und wie jedes Mal musste ich den Niesreiz durch sanftes Streicheln der Nasenflügel unterdrücken.
    Ein großer Schluck vom heißen Tee half zusätzlich.
    „Jetzt geht’s mir besser.“
    Und Amber schmunzelte.

  • Hey, @Zarkaras Jade, ich finde den Anfang (?) gar nicht schlecht. Dein Stil ist sehr nüchtern, was ich anfangs etwas zu nüchtern fand, aber später irgendwie passend. Das unterstützt irgendwie die Weltfremde bzw. geistige Abwesenheit und den Tunnelblick der Protagonistin Thekla.

    Spoiler anzeigen

    , rief die Person neutral meinen Namen. Es war Dora, unschwer an ihrer heiseren Stimme zu erkennen.

    Das empfand ich beim ersten Lesen als seltsame Formulierung. Wenn der Name und die Person bekannt sind, warum schiebst du sie dann in den zweiten Satz? Wenn du damit allerdings betonen möchtest, dass Thekla die Welt zeitverzögert wahrnimmt, dann passt es super. Nur weiß man das als Leser/in natürlich am Anfang noch nicht.

    Die frische Wunde am Oberarm tat immer noch weh

    Hier könntest du meiner Meinung nach etwas poetischer schreiben bzw. einfach die Art des Schmerzes genauer darstellen.

    Wie konnte ich nur dort hineingeraten?

    Ich würde "Wie hatte ich dort nur hineingeraten können?" schreiben, aber das ist nur Bauchgefühl. ^^

    Sie hatte letzte Nacht wieder ein Rendezvous mit ihren zwei Liebsten. Johnnie Walker und Jack Daniel's.

    Der Witz gefällt mir! ^^

    Es wirkte fast schon hypnotisch, jeden Fingerstreich mitzuverfolgen. Vermutlich hätte ich damit Stunden verbringen können.

    An der Stelle fände ich etwas mehr show und weniger tell gut. Bzw. es würde sich anbieten zu beschreiben, wie sie sich völlig dieser hypnotischen Tätigkeit hingibt, was sie sieht, denkt etc. Ich bin da gedanklich gerade bei dem Film "Rock'n'Rolla", da gibt es mehrere solcher sehr ruhigen, behäbigen Szenen, die irgendwie leicht phisolophisch anmuten, nicht viel erzählen, aber einfach eine super Stimmung verbreiten.
    ... Nachtrag: Jetzt lese ich auch das "fast schon hypnotisch"xD ... naja, kannst ja trotzdem mal darüber nachdenken, ob du meine Idee mal ausprobieren magst. ^^

    Ich bin gespannt, ob's bzw. wie's weitergeht!

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • Danke, @Asni, für den Kommentar und die Anmerkungen. Ich freue mich, dass es dir gefallen hat.

    An der Stelle fände ich etwas mehr show und weniger tell gut. Bzw. es würde sich anbieten zu beschreiben, wie sie sich völlig dieser hypnotischen Tätigkeit hingibt, was sie sieht, denkt etc. Ich bin da gedanklich gerade bei dem Film "Rock'n'Rolla", da gibt es mehrere solcher sehr ruhigen, behäbigen Szenen, die irgendwie leicht phisolophisch anmuten, nicht viel erzählen, aber einfach eine super Stimmung verbreiten.

    ... Nachtrag: Jetzt lese ich auch das "fast schon hypnotisch"xD ... naja, kannst ja trotzdem mal darüber nachdenken, ob du meine Idee mal ausprobieren magst.

    Genau an dieser Stelle wollte ich auch wirklich mehr "Show don't Tell" machen, aber mir wollte einfach nicht mehr einfallen.

    Hier kommt der nächste Part. Vielleicht wirst du jetzt bereits erahnen, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird. Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen und hoffe, dass es dir weiterhin gefallen wird. :alien:


    Stanville: 21.6.2017
    Barbara Claris 74 Jahre


    Während ich die Straße entlang ging, rutschte ich plötzlich mit meinem linken Fuß auf etwas aus und konnte mich gerade noch abstützen. Bei näherer Betrachtung stellte sich dieses kleine Objekt als roter Lippenstift heraus, den ich prompt aufhob und in meine Handtasche legte. Ich fragte mich, wem dieser wohl gehört haben könnte, jedoch fand ich keine Passantin, die meiner Vorstellung für solch einen Gegenstand in Frage kam.
    Auf dem weiteren Weg zur Straßenbahnstation kam ich an ein paar Schaufensterläden vorbei und beschloss, weil noch genügend Zeit war, vor einem Modegeschäft stehen zu bleiben und die Ausstellungsstücke zu betrachten. Ziemlich flippige Klamotten, die sie dort präsentierten. Anscheinend erlebte die Hippie-Zeit einen neuen Aufschwung. Schlaghosen, knapp geschnittene farbenfrohe Batik-Oberteile und Boho-Kleider mit extra vielen Fransen. Ich dagegen mit meiner alten, faltigen Haut, dem gekräuselten Grauhaar und der altbacken Kleidung. Ein wenig vermisste ich schon die guten Zeiten von früher, als ich noch ein junges Reh im Alter von zwanzig Jahren war.
    Wie ich so in Erinnerungen schwelgte, bemerkte ich peripher im Glas eine verschwommene Silhouette einer fremden Frau, die hinter mir ungewöhnlich in die Knie ging und anschließend mit strammeren Schritt vorbeizog.
    Geistesgegenwärtig drehte ich mich um und schaute zu meiner Tasche...
    Sie war weg!
    Sofort schwenkte ich um, in Richtung der Frau und tatsächlich hatte sie eine Tasche bei sich, die meiner auffällig ähnlich sah.
    „Halt, bleiben Sie stehen!“
    Und das veranlasste sie genau zum Gegenteil.
    „Hilfe! Haltet die Frau auf! Sie hat meine Tasche geklaut!“
    Panisch versuchte ich schnellsmöglich hinterher zu eilen, aber mir war schon von Anfang an klar, dass ich die Diebin niemals hätte einholen können.
    Umso mehr freute ich mich, dass sich schnell jemand bereiterklärt hatte, mir zu helfen. Die Passantin packte die junge Frau, aber sie wehrte sich heftig und konnte sich schlussendlich doch wieder losreißen. Dabei ließ sie aber meine Tasche los und verbarg sich ebenso schnell wie sie die Beute wieder freigab in der Menschenmenge. Ich hatte sie aus den Augen verloren, irgendwo zwischen der nächsten Straßenlaterne und einer Gasse.
    Mit großen Schritten stakste ich auf meine Retterin zu und bedankte mich überglücklich, wobei solch eine gute Tat wohl nicht genug gedankt werden konnte.
    „Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte sie schmunzelnd und überreichte mir prompt mein Eigentum. Das kleine Mädchen neben ihr wippte ungeduldig auf und ab, was die Frau unheimlich nervös machte. Mit strenger Handführung rüttelte sie das Kind kräftig an der Schulter und spitzte angestrengt die Lippen.
    „Höre auf zu quengeln! Das ist unhöflich!“
    Neutral verfolgte ich diese Situation, aber maßte mich nicht an, mir darauf etwas einzubilden. Vielmehr versuchte ich, die Schweigende zu mimen.
    Um mich abzulenken, kramte ich in meiner Tasche herum, um zu sehen, was gestohlen wurde. Mein Portmonee hatte ich glücklicherweise in meiner Hosentasche bugsiert.

    „Sharon Thomson“, stellte sie sich vor und reichte mir die Hand.
    „Barbara Claris.“ Ich erwiderte die Geste, deutete anschließend auf das Mädchen im schwarzgepunkteten roten Kleid. „Ihre Tochter?“
    Sie nickte, wenn auch verhalten. „Ich habe sie gerade von der Schule abgeholt und wir wollen gleich zum...“ Sie stoppte und wandte sich ihrer Tochter zu. „Mary, du sollst dich benehmen, habe ich gesagt!“
    Dabei hatte das Mädchen meines Erachtens nichts falsches getan. Sicherlich, sie war hibbelig und rannte zwischen den Schaufenstern hin und her, dabei ihren Plüschbären wie ein Flugzeug durch die Luft wirbelnd. Aber das war normal für ein Kind, das sich offensichtlich langweilte.
    „Fehlt irgendwas?“, fragte Sharon nach, während sie weiterhin auf ihre Tochter fixiert blieb.
    Ich schüttelte den Kopf. „Nichts wichtiges...“
    Kaum dies gesagt, packte sie wieder ihre Tochter am Arm und riss sie mit einem Ruck an sich. Die kleine stolperte, fiel hin und begann leise zu wimmern. Kein Laut, kein Geschrei. Nur die verwässerten Augen und erröteten Wangen.
    Es fiel mir immer schwerer, mich nicht einzumischen. So sehr ich die Mutter auch zu verstehen versuchte, wollte mir dennoch kein vernünftiger Grund einfallen, der ihren Wutanfall gerechtfertigt hätte.
    „Höre auf zu flennen“, grimmte sie genervt und zurrte noch heftiger an des Mädchens Arm herum. „Nur dumme Kinder weinen. Bist du ein dummes Kind?!“
    Ich konnte nicht mehr, ich musste mich einmischen. Mit leicht gebückter Haltung sprach ich zu Mary. „Was bedrückt dich denn? Es gibt doch keinen Grund, Trübsal zu blasen. Prinzessinnen weinen nicht.“
    „Prinzessin?!“, jaulte Sharon empört. „Ha, dass ich nicht lache...“
    Ich fand das sehr unhöflich, was ich ihr auch mit rollenden Augen zu signalisieren versuchte.
    Aber sie provozierte weiter. „Ein ungehorsames Balg wohl eher.“
    Jedes weitere Wort aus ihrem Mund schüchterte die kleine Mary weiter ein, die sich als Reaktion darauf ständig aufs neue von ihrer Mutter losreißen wollte.
    Ich dagegen versuchte es weiter mit lieben, guten Worten und etwas Charme. „Solch eine kleine Prinzessin wie du sollte nicht traurig sein.“
    Nichts besänftigt Kinder mehr als Süßigkeiten. Darum hatte ich die Idee, ihr den bunten Lolli zu geben, der eigentlich für meinen Enkel bestimmt war. Aber für mich wirkte dieses Mädchen trauriger als mein Enkel jemals war.
    „Schau mal, was ich für dich hab.“ Mit verschmitztem Lächeln überreichte ich ihr die süße Nascherei, und ihre Augen strahlten so hell, dass selbst die Sonne vor Neid erblasste. Überglücklich war ihr Gesichtsausdruck und ihre grazileren Finger umschlossen wie ferngelenkt den filigranen Stiel des farbenfrohen Lutschers.
    „Der ist extra für kleine Prinzessinnen wie du eine bist.“
    Aber wie zu erwarten, hatte Frau Thomson etwas dagegen und riss sich raffgierig das Geschenk unter den Nagel. „Das kann ich leider nicht zulassen. Meine Tochter braucht keine Süßigkeiten. Die sind ungesund und verleiten zu Gier.“
    „Kinder in ihrem Alter müssen auch mal naschen dürfen“, erwiderte ich und wollte Mary den Lolli wieder zurückgeben. „Außerdem ist es ein Geschenk. Und Geschenke MUSS man annehmen!“
    Aber ihre Mutter blieb streng und wurde sogar etwas beleidigend. „Ihre Lebenserfahrung in allen Ehren, Frau Claris, aber ich entscheide, was für mein Kind gut ist und was nicht!“
    Und da merkte ich, dass meine Worte auf taube Ohren trafen. Mich hielt nichts mehr hier, zumal ich meine Straßenbahn nicht verpassen wollte. Die Handtasche unter den Arm klemmend reichte ich beiden zum Abschied die Hand. „Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter noch einen angenehmen Tag.“

  • Ehrlich gesagt hab ich noch keine Ahnung, wo es genau hingeht mit der Geschichte. :)

    Spoiler anzeigen

    Vielleicht wird es "nur" eine Collage aus verschiedenen kleinen Episoden verschiedener Leute, die alle in der Großstadt leben. Dann vielleicht ohne dass sich die einzelnen Geschichten aufeinander beziehen. Oder es taucht hier plötzlich, für mich noch nicht erkennbar, ein roter Faden auf, der die einzelnen Teile aneinandernäht.

    Wie auch immer, mir ist an diesem Teil nichts negativ aufgefallen. Außer vielleicht das Verhalten gewisser Personen... aber nur, weil mich Diebstahl und schlechtes Benehmen Kindern gegenüber ziemlich nervt. Schriftstellerisch mag ich nur das Wort "schlussendlich" nicht, aber das ist völlig subjektiv. ^^
    Na, jetzt fällt mir doch noch eine Sache ein: Die Hauptcharakterin ist 74 Jahre alt (schreibst du oben), aber das merkt man ihr irgendwie an keiner Stelle wirklich an. In meinem Kopf war sie um einiges jünger und trug hohe Schuhe, so dass ebenfalls an eine schnelle Verfolgung nicht zu denken war. Vielleicht wäre die Szene vor dem Schaufenster geeignet, um der Frau noch ein paar mehr Gedanken und vor allem Erinnerungen zu geben, um ihr Alter anzudeuten? :hmm: Sie könnte z.B. neidisch sein, dass es diese flippigen Klamotten "damals zu ihrer Zeit" nicht gegeben hat. Oder sich fragen, wie die Reaktion ihres Vaters wohl darauf gewesen wäre, wenn sie "in jungen Jahren" so etwas getragen hätte. Vielleicht ist sie natürlich auch eher (sehr) konservativ und lehnt die modischen Klamotten ab (ich meine ganz ehrlich: Hosen für eine Frau? Das geht doch nicht. Und dann noch solche, die völlig kaputt sind. Wer bitte kauft kaputte Hosen? ... [In der Realität sehe ich das mit den Hosen natürlich anders. Da frage ich mich eher, warum Männer im Sinne der Gleichberechtigung nicht häufiger Röcke tragen xD ]).

    Sehr gut gefällt mir der Konflikt zwischen der alten Dame und der Mutter mit Kind und wie die alte Dame ihre Manieren bewahrt und beiden die Hand gibt. Gut, daran sieht man, dass sie etwas älter sein könnte. Nach einer Meinungsverschiedenheit geht man doch eher grußlos auseinander. Wäre zumindest meine Einschätzung. Außer ein genuscheltes "Arschloch" zählt als Abschiedsgruß xD

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • Hey Ho Jade,

    eine etwas andere Geschichte, aber ich mag deine konsequent nüchterne Art selbst eher unübliche Dinge als selbstverständlich darzustellen :)


    Spoiler anzeigen

    Schnell versuchte ich meine Spuren zu beseitigen. Panisch schnippte meine linke Hand zur Rasierklinge, während die andere zum Hahn schnellte.

    Ich krämpelte meinen Ärmel wieder herunter


    Ist vielleicht nicht notwendig, aber ihr Unterarm ist ja eigentlich noch voller Blut, das würde den Ärmel ja "durchtränken"?
    Den zweiten Teil gönne ich mir in der Pause - bin gespannt :P

    edit:

    Die Hauptcharakterin ist 74 Jahre alt (schreibst du oben), aber das merkt man ihr irgendwie an keiner Stelle wirklich an. In meinem Kopf war sie um einiges jünger und trug hohe Schuhe

    ... kam mir auch so vor - bis auf die Szene mit dem Lolli für den Enkel :)

    Der Teil ging zügig und gut zu lesen, nicht ganz so harter Stuff wie im 1. Erwarte gespannt Teil 3 ...

    Einmal editiert, zuletzt von sneaky bastard (31. August 2018 um 12:59)

  • Danke, @Asni und @sneaky bastard, für die Kommentare und Anmerkungen. Ja, das mit Barbara Claris und ihrer nicht vorhandenen äußeren Beschreibung ist mir auch im Nachhinein aufgefallen. Ich werde es ausbessern und wie @Asni vorgeschlagen hat am Anfang einfügen. Dann sollte das mit dem Alter auch schneller erkennbar sein.
    Das mit dem blutverschmierten Arm ist eine gute Anmerkung. Ich denke, ich schreibe noch hin, dass sie sich das Blut schnell mit etwas Wasser hinunterwischt, bevor sie den Ärmel wieder herunterkrempelt.
    Der nächste Part ist wieder etwas trauriger. Aber ich hoffe, ihr verzeiht es mir und auch Sharon.


    Stanville: 21.6.2017
    Sharon 40 Jahre und Mary Thomson 9 Jahre


    Heute war sie wieder besonders anstrengend. Wie aufgezogen hüpfte sie herum und machte nicht nur mich sondern auch die anderen Passanten ganz wuschelig. Man möge glauben, die Kinder würden sich in der Schule genügend verausgaben. Aber offenbar konnte meine kleine Tochter nichts so schnell erschöpfen.
    Immer weiter provozierte sie mich, trieb mich immer mehr zur Weißglut. Keine Ahnung, was sie ständig von mir wollte. Ihren Plüschbären anschauen, wie sie ihn wild um sich herumkreisen ließ, als wäre er ein Satellit im Orbit.
    „Mary, höre auf damit, sonst reißt du ihm noch den Arm ab.“
    Kaum stellte sie das Karussell spielen ein, stellte sie sich vor das nächste Schaufenster und quetschte den Bären fest dagegen, damit er, laut ihrer Aussage, die hübschen Kleider ansehen könne.
    „Mary, komm jetzt hierher und benimm dich!“
    Widerwillig folgte sie meinen Anweisungen und stellte sich neben mich.
    Endlich konnte ich mir in Ruhe den violetten Jumpsuit ansehen, so dachte ich. Aber eine bestimmte Person dachte anscheinend, es würde mir gefallen, wenn sie meinen Faltenrock als Decke für ihren nackten Bären nehmen würde.
    Harsch zupfte ich am Stoff und versuchte mein nervendes Kind vorsichtig aber bestimmt vom sensiblen Kleidungsstück fernzuhalten. Sie quängelte immer mehr, bis es mir zu viel wurde, meine Hand im Affekt ausrutschte und ich ihr einen Klaps auf die Wange gab. Ich zuckte zurück, aber es war bereits zu spät. Mary kniff die Augen zusammen, verzog ihr Gesicht und fing an lautstark zu weinen. Sie wimmerte und winselte, krallte ihre Finger fest ins Kuscheltier.
    Und ich?
    Ich fühlte mich genervt davon. Warum musste meine Tochter heute wieder so stur sein? Peinlich war es mir, solch ein jämmerliches Kind das meine nennen zu müssen.
    Drum strafte ich sie auch sofort mit Desinteresse. Aus Erfahrung wusste ich, dass sie so wieder am schnellsten zur Vernunft käme. Trotzdem machte sie es mir schwer, meine Scheuklappen anzubehalten. Ich spürte schon, wie mir das Blut vor lauter Scham in den Kopf stieg. Der Kloß in meinem Hals wurde erdrückender und erschwerte mir das Schlucken.
    „Was hast du erwartet?“, grummelte ich mit starrem Blick auf das Schaufenster. „Ein ungehorsames Kind verdient auch mal einen Klaps.“
    Das brachte Mary noch mehr zum Heulen.
    Entnervt verdrehte ich die Augen. „Langsam reicht es mir mit dir. Sei jetzt endlich still!“
    Aber sie winselte weiter wie eine Sirene und machte die anderen Leute auf uns aufmerksam. Meine kläglichen Versuche, sie wieder zu beruhigen scheiterten. Um ehrlich zu sein hatte ich auch nicht geglaubt, dass Mary sich wieder einkriegen würde.
    Ich sah nur eine Lösung, auch wenn es gegen meine Prinzipien war. „Gibst du Ruhe, wenn ich dir den Lolli gebe?“
    Ihre Antwort wartete ich nicht ab, sondern riss einfach das Einpackpapier ab und steckte ihr das Ding zwischen die Zähne. Außerdem fungierte er prima als Maulsperre, wodurch sie ohnehin nicht mehr in der Lage war herumzuschreien.
    Zufrieden, ein Mittel zur Besänftigung gefunden zu haben, wandte ich mich wieder dem Laden zu und stellte mir vor, ich würde den ausgespähten Jumpsuit tragen.
    Mein Ex-Mann hielt ja nie etwas auf Mode und Moderne. Das einzige, wofür er sich Interessierte, war sein Fernseher und in Büchsen abgefüllter Gerstensaft. Wenn überhaupt er sich mal für die weiblichen Vorzüge interessierte, dann waren es die Werbeunterbrechungen nach Mitternacht.
    Drei Jahre sind bereits vergangen, seitdem ich ihm den Laufpass gegeben habe. Ich hatte ihn gewarnt, meine Tochter soll nicht mit solch einem Vater aufwachsen. Bereut habe ich diese Entscheidung bis heute nicht. Viel eher, dass ich ihn nicht schon früher verlassen habe.
    Fühle ich mich aktuell bereit für eine neue Beziehung? Absolut!
    Aber wer möchte eine Vierzigjährige mit Kind haben? Ich habe ohnehin keine Zeit für aufwendige Sucherei.
    In Gedanken vertieft bemerkte ich erst nach einer Weile, dass es um meine Tochter ruhig geworden war.
    „Hast du dich endlich wieder beruhigt?“, fragte ich und drehte mich zu ihr um... Aber sie war nicht da. Nirgendwo war sie zu sehen.
    Und wieder war ich genervt. „Mary, lass den Unsinn. Komm jetzt her!“
    Aber sie zeigte sich nicht. Weder hinter den Autos, der Bank oder in der Menschenmenge. Ebenso hörte ich sie auch nicht.
    „Mary, es ist nicht mehr witzig! Ich werde gleich richtig böse!“
    Keine Spur von ihr. Und langsam kam der Gedanke auf, dass sie weggelaufen sei. Aber traute ich es ihr zu?
    Natürlich! Sie ist meine Tochter und ich wäre in ihrer Situation auch weggelaufen. Diese Erkenntnis überrumpelte mich dermaßen, dass ich sofort in Panik geriet.
    Im Kopf spulte ich alles zurück. Aber es brachte mich auch nicht weiter.
    Hektisch schaute ich mich um und sprach wahllos Passanten an. Jedoch wie zu erwarten hatte niemand von ihnen meine Tochter oder generell ein kleines Mädchen gesehen. Auch als ich laut nach ihr rief, kam keine Antwort.
    Verzweiflung.
    Meine Füße trugen mich fort, die Straße hinunter. Ständig rief ich ihren Namen ohne jegliche Resonanz zu erhalten.
    Dort, am Ende der Straße sah ich eine schmächtige Frau mit einem Pappschild. Sie sah sich auffällig hektisch um, genauso wie ich es tat. Als ich ihr näher kam und das Geschriebene darauf erkennen konnte, setzte mein Verstand kurzerhand aus und ich lief schnurstracks auf sie zu.
    Auf halber Strecke nahm auch sie mich war und kam mir ein Stück entgegen. Ich traute meinen Augen nicht, als ich in ihrer Hand den bunten Lolli sah. Es war derselbe, den die alte Dame meiner Tochter gegeben hatte.
    Vom Adrenalin gestärkt packte ich die Frau an der Schulter, deutete provokativ auf die Aufschrift und spie verdrehte Worte heraus. „Tochter! Wohin? Zeigen Sie..? Ich, helfen Sie mir!“
    Meine Hand griff nach dem Lutscher, aber die junge Frau, welche mutmaßlich aus der Gosse stammte, stieß mich vorsichtig zurück.
    „Immer mit der Ruhe“, erwiderte sie und musterte mich von oben bis unten. „Vermissen Sie ihre Tochter?“
    Ich nickte energisch. „Das ist der Lutscher meiner Tochter! Wo ist sie? Haben Sie sie gesehen?“ Irgendwas war faul an der Sache. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor.
    „Wie sieht sie aus, Ihre Tochter?“
    „Was soll diese Frage?“ Wollte sie mich veralbern? „Ich werde ja wohl wissen, wie meine Tochter aussieht...“
    „Ich will nur sichergehen, dass Sie auch wirklich die Mutter sind...“
    Unerhört fand ich das. Was für eine Frechheit, dies in meiner Notlage zu äußern. Die Frau machte sich schnell unbeliebt bei mir.
    Aber sie hatte ja recht. Die Welt ist zu grausam. Es gibt zu viele Personen, die kleine Kinder missbrauchen.
    „Sie hat blondes Haar, trägt ein schwarzgepunktetes, rotes Kleid und hat einen Plüschbären bei sich.“
    „Okay, ich sage es Ihnen. Aber nicht ohne Gegenleistung.“ Dann hielt sie provokativ ihre Hand auf.
    Ich, völlig perplex, starrte sie mit skeptischen Blicke an und erwiderte: „Das ist nicht Ihr Ernst.“
    Sie pflegte offensichtlich nicht zu scherzen. Was ich echt empörend fand. Sie war gewitzt. Sie wusste genau, wie verzweifelt ich war und wollte auch noch Profit daraus schlagen.
    „Ich werde Ihnen garantiert kein Geld dafür geben...“
    „Dann werde ich es Ihnen auch nicht sagen“, konterte sie und rümpfte hart die Nase. „Wir alle müssen von irgendwas leben. Sie werden doch wohl etwas Kleingeld bei sich haben, oder nicht?“
    Dieses Mal zahlte sich Sturheit aus. Ein Glück für sie, dass meine Verzweiflung größer war als ihre Nachsicht.
    Mürrisch kramte ich mein Portmonee hervor und schüttete ihr die Restbestände des Münzgeldes in die Hand. Knappe zehn Dollar waren es.
    Aber sie schenkte dem Geld keine große Beachtung und steckte es sich in die Hosentasche.
    „Sie ist Richtung Kings-Park gerannt.“
    Im Nachhinein fand ich diese Auskunft zu offensichtlich.
    „Wollen Sie mir nicht doch noch mehr helfen und vielleicht mitkommen?“
    Aber sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann nicht.“

  • Hier ist der Part mit dem kurzen Gedicht, das du mir freundlicherweise gedichtet hast, @Asni! Der Part ist etwas länger als die anderen, aber es ging leider nicht kürzer.


    Stanville: 21.6.2017
    Ellie Hampton 18 Jahre


    Ich, meine Person, meine Persönlichkeit.
    Mein schwacher, abgemagerter Körper, die wenige Kleidung am Leib, meine alte, verbeulte Konservendose und die durchgeweichte Kartonpappe mit der Aufschrift ‚Spende erwünscht‘.
    Am Bürgersteig gegen eine Hauswand angelehnt, mich kaum auf den Beinen haltend und die Hände in den Hosentaschen ruhend, hoffte ich auf etwas Nächstenliebe, die ich nicht verdiente. Die Sicht verwaschen und meine Arme am Zittern vom allmorgendlichen Entzug. Ständig auf der Suche nach etwas Kleingeld, um mir neuen Stoff zu holen.
    Mir war bewusst, dass ich schrecklich aussah, nicht mal annähernd so unschuldig und gepflegt, wie es von einer Achtzehnjährigen zu erwarten wäre.
    Aber deshalb über mich richten zu wollen, war sogar für mich verletzend.
    All die verurteilenden Fratzen und unwissenden Schaulustigen mit ihren Allerweltsproblemen und minderschweren Entscheidungen. Sie kotzten mich an!
    Sie hatten keine Ahnung, welche Qualen ich tagtäglich durchstehen muss.
    Es ist mir peinlich, um Geld betteln zu müssen. Es ist mir peinlich, auf andere angewiesen zu sein. So schrecklich das auch klingen mochte, aber es war für allesamt besser, wenn sie mir freiwillig Geld geben würden, bevor ich gezwungen sein würde, es zu stehlen.
    So wie vorhin, als ich einer alten Frau die Handtasche entwendet habe. Leider fand ich auf die Schnelle kein Portmonee, darum nahm ich mir eine Hand voll irgendwas. Es wurden ein Kugelschreiber, ein Lippenstift, ein paar Hustenbonbons, zwei Haarklammern und ein Pflaster.

    Immer wieder auf's neue hatte ich Angst, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben. Doch fragte ich mich gleichermaßen, ob es sich überhaupt noch zu leben lohnte. Um ehrlich zu sein, waren mir schon von Anfang an Steine in den Weg gelegt worden. Mein Vater war Alkoholiker. Das ganze Geld hatte er versoffen. Und ich blieb immer auf der Strecke.
    Mit vierzehn Jahren fing ich an, Drogen zu nehmen. Durch meinen damaligen Freund kam ich dazu.
    Vor zwei Jahren nahm sich dann meine Mutter das Leben, weil sie Vaters Wutausbrüche nicht mehr ertragen konnte. Auch mich hatte er regelmäßig geschlagen, wenn es ihm passte.
    Ich musste dort raus. Ich war verzweifelt. Es war mir egal, wohin es mich verschlagen würde, solange ich nichts mehr mit ihm zu tun haben müsste.
    Leider passierte nichts, was mit Glück gleichzusetzen war. Kein Schulabschluss, keine Ausbildung, kein Zuhause.
    Weder Perspektive noch Träume.

    Ich habe Aids. Keine Ahnung, was der Auslöser war. Aber es gab viele Situationen, in denen es passiert sein konnte. Im Endeffekt macht es keinen Unterschied mehr.

    Heute waren wenige spendabel. Die meisten davon wirkten fast schon erleichtert, ihre Platz wegnehmenden Pennies und Nickel loszuwerden. Papiergeld wurde auch immer seltener.
    Mein Blick schwenkte nach links zur Drogerie, aus der gerade eine Frau kam. Im spießigen, schwarzen Anzug, mit Aktenkoffer, Sonnenbrille und Smartphone am Ohr, stolzierte sie strammen Schrittes in meine Richtung.
    Unbewusst verglich ich mich mit ihr. Meine Kleidung sah dagegen wie eine Lumpensammlung aus.
    Zerrissene, ausgeblichene Jeans und darunter eine von Motten zerfressene schwarze Strumpfhose. Zwei unterschiedlich farbige Turnschuhe mit abgelatschtem Profil und am Oberkörper zwei hauchdünne, durchgeschwitzte Shirts. Heute trug ich das Neongelbe unter dem Grauen.
    Die Frau wirkte vertieft in ihr Telefongespräch und achtete gar nicht auf das Umfeld, was mich innerlich zum Grinsen brachte. Es amüsierte mich in dem Maße, dass sie dadurch so arrogant wirkte, dass sie nichtmal merkte, wie beleidigend ihr Auftreten war. Sie rannte in einen Mann rein, dessen Trinkbecher er sich als Resultat über die Brust kippte. Natürlich grimmte er sie empört an, aber sie schenkte ihrer weißen Bluse mehr Aufmerksamkeit und zeigte ihm nur die schweigende Hand. Hochnäsig stolzierte sie weiter, als sie bemerkt hatte, dass ihr Oberteil keinen Fleck abbekommen hatte.
    Dieses desinteressierte Verhalten bestätigte sich nur Sekunden später, als sie an mir vorbeiging und meine Klingelbüchse unbeachtet wegtrat. Ein Klimpern ertönte, die Münzen wurden heraus geschleudert und verteilten sich über den Gehweg.
    Affektiv murrte ich sie bösen Blickes an: „Pass doch auf, hochnäsige Schnepfe!“
    Doch sie kümmerte es nicht, sie stakste unbeeindruckt weiter. Eher bekam ich noch dumme Sprüche von den anderen Passanten an den Kopf geworfen.
    Ich ließ mich auf die Knie fallen und federte mich mit den Händen leicht ab. Verstreut lag das Geld brach, die Menschenmassen stampften schweigend und blind über es hinweg.
    Verzweifelt versuchte ich die Münzen und Scheine wieder einzusammeln.
    Schweiß; Schmerz; Wut.
    Sie rempelten mich an und traten mir auf die Finger. Mir kamen die Tränen, ich zitterte noch mehr.
    Niemand half mir.
    ...
    ...
    ...
    Da war ein kleines Mädchen, kaum größer als ich in gebückter Haltung. In ihrem wunderhübschen roten Kleid sah sie aus wie ein Marienkäfer. Sie weinte und winselte, die Hände einen Stoffbären knetend. Sie stand da, einsam und verängstigt drein schauend. Niemand interessierte sich für sie, alle waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
    Ich fühlte mit ihr, ich hatte das Bedürfnis, ihr zu helfen. Aber ich zweifelte, ob ein Entgegenkommen meinerseits, eines Junkies, eine gute Option war.
    Meine Absichten empfand ich als gut, drum wagte ich den Versuch und ging zu ihr rüber.
    „Warum weinst du?“, fragte ich und begab mich mit ihr auf Augenhöhe. Sie ließ den Kopf gesenkt und knetete weiter ihren Bär.
    Ich fragte weiter: „Bist du hier allein?“
    Sie antwortete nicht, gab mir keine Signale. Nur tiefes Seufzen und Schluchzen.
    „Wo sind deine Eltern?“ Vorsichtig streckte ich ihr meine offene Hand entgegen, in der Hoffnung, sie würde mir jetzt irgendwie entgegenkommen.
    „Mama...“, hörte ich ihre säuselnde Stimme. „Ich hasse Mama!“
    Mit aufgerissenen Augen starrte ich sie daraufhin an. Etwas, das man ungern hörte.
    „Nein, sowas sagt man nicht“, ermahnte ich sie mit gutgemeinter, sanfter Stimme und schenkte ihr mein schönstes Lächeln. „Du hasst deine Mama bestimmt nicht.“
    „Doch!“, erwiderte sie, verschränkte nun bockig die Arme vor der Brust und linste auffällig unauffällig auf meinen tätowierten Unterarm. „Sie... Sie hat mich gehauen...“
    Ich schluckte kräftig. Sofort schossen mir Bilder meiner Vergangenheit in den Kopf. Grässliche Bilder von Zuhause.
    ...
    ...
    ...
    Ich musste sie wieder verdrängen und mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass ihre Mutter wirklich so sei, wie sie es äußerte. Das Mädchen, sie war noch jung und unwissend. Nicht ahnend, wie verletzend falsche Worte sein konnten.
    „Das hat deine Mama bestimmt nicht so gemeint“, versuchte ich sie zu beruhigen und ferner zur Vernunft zu bringen. Ein sanftes Streicheln ihres Rückens sollte dies begünstigen.
    „Komm, lass sie uns suchen“, sprach ich weiter und rappelte mich unbeholfen auf.
    Aber sie schüttelte den Kopf und starrte wieder auf die Tätowierung. „Nein, ich will nicht mehr zu Mama!“
    „Du starrst die ganze Zeit auf mein Tattoo.“ Vorsichtig krempelte ich den rechten Ärmel hoch und legte es komplett frei. „Willst du wissen, was es bedeutet?“
    Sie nickte andeutend und krallte sich noch fester an ihren Bären.
    Ich schmunzelte. „Das sage ich dir nur, wenn du mir sagst, wie deine Mama aussieht.“
    Offensichtlich lag dies nicht in ihrem Interesse.
    „Oder wir machen es so: Du sagst mir, wie sie nicht aussieht und ich erzähle dir von meinem Tattoo.“
    Stillschweigen...
    „Es soll mir Glück bringen“, gab ich nach und erzählte einfach davon. „Eigentlich wollte ich es dir nicht erzählen, wieso ich es habe, weil du es vielleicht falsch verstehen könntest. Ich habe es mir nach dem Tod meiner Mama stechen lassen, als Andenken an sie.“


    The witch dreams of magic spells
    One and five for six to sell.
    At twenty one the sun will turn
    And on the twenty-sixth the heavens burn.
    Seven is all the hope there is,
    My little daughter who I dearly miss.


    Sie riss die Augen weit auf und schaute mich ängstlich an. Ich erwiderte ihren Blick. Dann streckte sie langsam die Hand nach meiner bleichen Wange aus und befühlte die Narbe dort. Mein Verantwortungsgefühl redete mir zu und ich nahm sofort ihre Hand weg und wischte mir die feuchten, verkeimten Mundwinkel trocken.
    „Bitte tu das nicht. Ich habe eine schwere Krankheit.“
    „Warum gehst du nicht zum Arzt?“
    „Sie ist unheilbar“, erwiderte ich und bedeckte das Tattoo wieder. „Bitte bleibe bei deiner Mama. Ich möchte nicht, dass du auch diese Krankheit kriegst.“
    „Ist die ansteckend?“
    „Ja! Aber die kriegt man nur, wenn man sehr unartig ist.“
    Sie kehrte in sich, ihr Schluchzen wurde leiser. Hatte ich sie nun etwa erreicht? War sie bereit, zu kooperieren?
    Ihre Finger bohrten sich tief in den Plüschbären und dann sagte sie: „Ich glaube dir nicht!“
    Ich wollte sie noch festhalten, doch sie schaffte es, sich loszureißen und rannte schnurstracks die Straße hinunter.
    Panisch steckte ich mir die Büchse samt Geld in den Ausschnitt, unter meine ausgeleierten Shirts, nahm das Pappschild und flitzte dem Mädchen hinterher.
    Bei jedem Schritt klapperten die Münzen im kalten, hohlen Blech, welches mit den scharfen Kanten an meiner nackten Haut rieb.
    Das Mädchen machte es mir nicht einfach, sie im Auge zu behalten. Den Erwachsenen kaum bis zur Hüfte reichend und stürmisch wie eine aufgescheuchte Katze bahnte sie sich einen Weg durch die Massen.
    Meine ausgelatschten Turnschuhe, welche mit jedem Meter dem endgültigen Zerfall näher kamen, waren schlussendlich noch fitter als ich.
    Die Krankheit forderte ihren Tribut und zwang mich auf die Knie. Schmerzhaftes Seitenstechen, Bauchkrämpfe und Atemnot.
    Das Mädchen rannte weiter, Richtung Kings-Park Ich hatte versagt, ich hatte mich wieder einmal selbst enttäuscht.
    Vorsichtig an einen Hydranten gelehnt, musste ich erstmal tief durchatmen und die Situation Revue passieren lassen.
    Dann fiel es mir wieder ein, dass sie ihren quietsch bunten Lutscher verloren hatte, der sich nun irgendwo unter meinem Shirt befand. Normalerweise hätte ich ihn selbst vertilgt oder für einen Dollar verkauft, aber ich empfand es besser, ihn zum Suchen der Mutter mit zu verwenden.
    Zusätzlich nahm ich Pappe und Stift zur Hand und schrieb ‚Mutter von vermissten Kind gesucht‘ darauf.

  • Ha, es hat sich gelohnt, dass ich gestern nicht zum Lesen gekommen bin, so kam für mich der Zusammenhang der Geschichten super zur Geltung. Ich darf sagen, dass mich das Mosaik, dass du hier durch die verschiedenen Geschichten beschreibst, jetzt richtig gepackt hat.

    Spoiler anzeigen

    Ihre Antwort wartete ich nicht ab, sondern riss einfach das Einpackpapier ab und steckte ihr den Zahnkiller zwischen die Kauleiste. Außerdem fungierte er prima als Maulsperre, wodurch sie ohnehin nicht mehr in der Lage war herumzuschreien.

    Die drei Begriffe passen meiner Meinung nach nicht so gut zum Stil des restlichen Textes. Irgendwie ist mir da der Bruch zu groß und zu schnell.

    Sie ist meine Tochter und ich wäre in ihrer Situation auch weggelaufen. Diese Erkenntnis überrumpelte mich dermaßen, dass ich sofort in Panik geriet.
    Im Kopf spulte ich nochmal alles zurück, bis dorthin, als ich sie das letzte Mal wahrnahm. Aber es brachte mich auch nicht weiter.
    Hektisch schaute ich mich um und sprach wahllos Passanten an.

    Vielleicht bin ich hier etwas zu kritisch, aber für mich bedeutet Panik auch, dass man nicht mehr klar und logisch denkt. Genau das tut sie aber, wenn sie stehen bleibt und im Kopf die Ereignisse zurückspult. Dass sie gedanklich zurückblickt, passt, aber vielleicht könnte es mehr sprunghaft sein?

    Aber sie schenkte dem Geld keine große Beachtung und steckte es sich in den Ausschnitt.

    Vorneweg: ich hab natürlich keine Ahnung xD , aber schütten Frauen sich Münzgeld in den Ausschnitt? Wenn das T-Shirt nicht in die Hose gesteckt ist, dann fällt doch da bestimmt wieder was raus :hmm:

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • Danke, @Asni, für die Anmerkungen. Ich freue mich, dass es dir bisher immer noch gefällt. Das kann ich nicht oft genug schreiben. :alien:

    Die drei Begriffe passen meiner Meinung nach nicht so gut zum Stil des restlichen Textes. Irgendwie ist mir da der Bruch zu groß und zu schnell.

    Ich wollte nicht immer Lutscher/Lolli schreiben, darum habe ich dort etwas "kuriosere" Varianten gewählt. Ich werde sie durch "konventionellere" Worte ersetzen.

    Vielleicht bin ich hier etwas zu kritisch, aber für mich bedeutet Panik auch, dass man nicht mehr klar und logisch denkt. Genau das tut sie aber, wenn sie stehen bleibt und im Kopf die Ereignisse zurückspult. Dass sie gedanklich zurückblickt, passt, aber vielleicht könnte es mehr sprunghaft sein?

    Ich werde den von dir eingefärbten Satz kürzen, dann müsste es passen.

    Vorneweg: ich hab natürlich keine Ahnung xD , aber schütten Frauen sich Münzgeld in den Ausschnitt? Wenn das T-Shirt nicht in die Hose gesteckt ist, dann fällt doch da bestimmt wieder was raus

    Ich glaube, ich wollte damit andeuten, dass sie ihre Büchse unter dem Shirt trägt, oder jedenfalls eines der beiden Shirts immer in der Hose drin stecken hat. Aber ich denke, ich könnte das auch so schreiben, dass sie es sich in die Hosentasche steckt.


    Stanville: 21.6.2017
    Claudia Morgan 32 Jahre


    Das aktuelle Gespräch beendet, jedoch weiterhin mit Smartphone am Ohr entriegelte ich unbeholfen mein Auto, während ich mit derselben Hand den schweren Aktenkoffer hielt. Ein letzter schweifender Blick zurück zum Bürgersteig und ich stieg in meinen schwarzen RollsRoyce ein. Ein Wagen, gerade gut genug für meinen Lebensstil.
    Behutsam legte ich den Koffer auf den Beifahrersitz, wo bereits mein Jackett Platz gefunden hatte, und griff zum heißen Kaffeebecher im Getränkehalter. Anschließend klappte ich den Sonnenschutz herunter und betrachtete mich im eingebauten Spiegel. Leicht posierte ich, strich mir mit den Fingern durch die strenge Kurzhaarfrisur und bewunderte das satte Schwarz. Die Lippen weit in den Mundwinkel geschoben und einen skeptischen Blick aufgesetzt, war ich mir absolut sicher, dass dieses verführerische Gesicht keinem Mann dienen wird.
    Und um diesem Moment einen besonderen Flair zu verpassen, stellte ich den Mediaplayer an. Im Radio lief leider nur dieser Mainstream-Schrott, mit dem man überall zugedröhnt wird. Ich bevorzuge lieber Polka, Dixieland und Jazz. Was die anderen davon halten, interessiert mich nicht. Die nehmen schließlich auch keine Rücksicht auf mich.
    Die ersten Töne erklangen und ich befand mich gedanklich sofort in anderen Sphären. Ich schwelgte in Erinnerungen an das Konzert letzten Samstag Abend im Jazzclub „Purple Hummingbird“. In überschaubarer Runde mit exotischen Cocktails und gemütlicher Atmosphäre, umgeben von gesitteten Leuten mit guten Manieren. Frei von Stress und Hektik. Dort konnte ich sein, ohne mich verstellen zu müssen. Dem Berufsalltag entfliehen und einfach nur den wunderbaren, rhythmischen Klängen lauschen.
    Doch so wundervoll das auch klingen mochte, konnte mir die Musik beim Autofahren trotzdem nicht die Ruhe geben, die ich mir erhofft hatte. Denn wieder kam ein Anruf. Und da ich keine besonders aufmerksame Fahrerin bin, ließ ich das Gespräch über die Freisprechanlage laufen, um es mir erheblich zu vereinfachen, dem Verkehr zu folgen.
    Es war der Fotograf unserer neuen Kampagne. Eine Fotoreihe über die außergewöhnlichsten Orte von Stanville, und was sie so besonders macht. Michelle war sein Name, es ist die erste Zusammenarbeit mit ihm. Ob es die letzte sein würde, sollte sich noch herausstellen.
    „Guten Tag, Frau Morgan. Um gleich auf den Punkt zu kommen: Ich habe gestern Abend eine faszinierende Entdeckung gemacht und will anfragen, ob Sie Platz in ihrem Terminplaner haben, um mit mir gemeinsam die Lokalität in Augenschein zu nehmen.“
    Im äußersten Maße verwirrt schwieg ich erstmal dazu und fragte meine Gedanken, was genau er mir damit sagen wollte. Sicherlich, seine Worte waren klar und deutlich zu verstehen, aber seine Absichten klangen zweideutig. Außerdem unterbrach er das wunderbare Lied, weshalb ich zusätzlich aus dem Konzept gebracht wurde.
    Mit genervtem Unterton erwiderte ich dann: „Um das mal gleich klarzustellen, werter Herr Fotograf, unsere Zusammenarbeit ist rein geschäftlicher Natur!“
    Schweigen seinerseits, weshalb ich sofort weiterredete. „Und um ehrlich zu sein interessiert es mich nur geringfügig, woher Sie ihre Bilder beziehen, solange das Endergebnis überzeugend ist!“
    „Frau Morgan, Sie verstehen mich falsch...“
    „Ach ist das so?“, hinterfragte ich skeptisch.
    „Glauben Sie etwa wirklich, ich wäre an Ihnen als Mann interessiert?“, hörte ich ein leichtes Gelächter heraus. „Ich habe nur gedacht, dass es Sie vielleicht auch inspirieren könnte. Und eventuell könnten wir uns ja doch auf einen Kaffee...“
    „Bisher wurde ich noch von niemandem enttäuscht. Und das sollte auch so bleiben, Michelle!“ Was er sich einbildete, mit wem er es zu tun hatte. Als wenn ich mich auf solch eine mindere Person einlassen würde. „Sie machen einfach nur das, wofür Sie bezahlt werden und nichts weiter! Alles andere, was vielleicht irgendwann eintreten könnte, und sei es nur eine Spinnerei in Ihrem Kopf, wird mit mir in der Hauptrolle auf keinen Fall passieren! Also enttäuschen Sie mich nicht, ist das klar..?“
    Ich legte auf und die Ampel schaltete auf rot. Aber ich war so sehr in Gedanken, dass ich einfach die Kreuzung überquerte. Beinahe wäre mir noch einer reingefahren, hätte er nicht rechtzeitig gemerkt, dass ich mir mit meinem RollsRoyce provokant Vorfahrt verschafft hatte.
    Ich missachte öfters mal die Verkehrsregeln, die meiner Meinung nach ohnehin stellenweise überflüssig sind.
    Außerdem fuhren die anderen heute wiedermal extra langsam, um mich zu provozieren. Und jegliche Versuche, mich mit der Musik abzulenken, schlugen fehl.
    Geradezu auffällig behindernd schlich der Fahrer vor mir in seinem eierschalenfarbenen Chevy, dessen Keilriemen lauter jaulte als eine hungrige Straßenkatze.
    „Fahr schneller!“, brüllte ich ihm entgegen und schlug mit dem Handballen zweimal kräftig auf die Hupe. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Vordermann im vorangeschrittenen Alter war.
    „Typisch Rentner!“ Ich ließ das Fenster runter und streckte meinen Kopf hinaus. „Runter von der Straße, alter Sack! Dir guckt ja schon der Grabstein aus der Hose!“
    Und was machte er? Noch langsamer fahren.
    Ich schaltete zwei Gänge runter, um den Motor laut aufheulen zu lassen, in der Hoffnung, dass der Idiot seinem Ross die Sporen geben würde. Vielleicht weckte dies bei ihm Kindheitserinnerungen an den wilden Westen.
    Was dieser glatzköpfige Humunkulus sich einbildete, mich derart zu behindern?
    Natürlich musste er auch noch einen Biodiesel fahren um die Umgebung mit dem Gestank von ranzigen Frittierfett zu verpesten. In solchen Situationen begann ich ernsthaft an der Evolutionslehre zu zweifeln. Dieser Kerl hatte offenbar noch nicht von der natürlichen Selektion gehört.
    Aber bei der nächsten Kreuzung erwischte ich ihn dann. Er ordnete sich in die rechte Spur ein, während ich auf der Hauptstraße blieb. Zwar waren vor mir zwei Wagenlängen Platz, aber ich wollte diesem Primaten unbedingt meinen Unmut kundtun.
    Und er bemerkte es sofort. „Wer hat Ihnen denn Manieren beigebracht?! Nur weil Sie sich ein teures Auto leisten können, sind Sie noch lange nichts besseres!“
    „Purer Neid!“, konterte ich und streckte ihm den Mittelfinger aus. „Runter von der Straße mit deiner rollenden Frittenbude!“
    Sein dummes Gesicht war zu göttlich, als dass ich mich nicht hätte dran aufgeilen können. Zufrieden, ihm die Meinung gegeigt zu haben, drehte ich die Musik lauter und bekräftigte mein Verhalten mit einem überzeugten Nicken.

    Wieder kam ein Anruf. Diesmal der Florist, von dem wir unsere Blumendekoration für die Büros oder auch ab und an Sträuße für Fotoshootings beziehen.
    „Frau Morgan, ich muss mit Ihnen etwas besprechen...“
    „Sagen Sie schon! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“
    „Wie Sie vermutlich schon mitbekommen haben, sind die letzten Wochen sehr heiß gewesen...“
    „Also ich spüre nichts von der unangenehmen Hitze“, entgegnete ich spöttisch und stellte im gleichen Atemzug die Klimaanlage etwas stärker. „Mein Auto ist wohltemperiert.“
    „Wie dem auch sei, Frau Morgan. Jedenfalls ist es aktuell zu heiß, weshalb sie wohl oder übel die nächste Zeit auf Dekoration verzichten müssen. Wir werden sie für die Kampagne am Donnerstag brauchen...“
    „Das ist inakzeptabel! Ich bezahle Sie für Blumen und Sie liefern uns Blumen, was ist daran so schwer zu verstehen?!“
    „Aber es ist zu warm für frische Sträuße.“
    „Das ist mir egal. Und wenn es das Fünffache kostet. Liefern Sie oder unsere ich suche mir jemand and...“
    Mit einmal scherte vor mir ein gelber Kombi ein, der mich beinahe sogar noch gerammt hätte. Seine grelle Farbe alarmierte meine Sehrezeptoren, die meinen Fokus kurzfristig wieder auf die Straße richteten. In der Aufregung riss ich das Lenkrad leicht herum und begann kurz zu schlingern, bevor ich nach nur wenigen Sekunden das Fahrzeug wieder vollkommen unter Kontrolle hatte. Diese Aufregung machte mich schon wieder dermaßen wütend, dass ich mir erneut den Behinderer als Opfer für meinen Frust rauspickte.
    Instinktiv patschte meine Hand auf das Lenkrad, um dem Vordermann in seinem pissgelben Großfamilientansporter ein kleines aber feines Hupkonzert zu geben.
    „Wie dreist kann man nur sein?! Hat der nicht gesehen, dass ich beschäftigt bin?“
    Erst jetzt bemerkte ich den sich wieder bildenden Stau über alle drei Fahrspuren.
    Immer mehr fragte ich mich, warum ich mir dies regelmäßig antat. Um direkt danach festzustellen, dass es nahezu jeden Tag so war. So ist nunmal das Leben in einer Großstadt.
    Mit Handzeichen und Lichthupe deutete ich ihm an, dass rechts neben uns eine Lücke freigeworden war. Er tat nichts dergleichen. Dabei hatte er mich doch zuvor behindert, also empfand ich es einach nur als gerecht, ihn schnellstmöglich wieder loszuwerden.
    „Mann, da ist doch 'ne Lücke! Bist du blind auf beiden Augen oder einfach nur blöd?!“
    „Frau Morgan, sind Sie noch da?“
    „Ich habe jetzt keine Zeit für Sie!“ Mit diesen Worten beendete ich das Gespräch.
    Und auch nun hatte der dreiste Kerl vor mir bemerkt, dass es für seine Lebensqualität von Vorteil war, wieder die Spur zu wechseln.
    „Hallelujah, na endlich!“

  • Soll ich das Aussehen der Charaktere mehr beschreiben, oder ist es so, wie es aktuell ist, ausreichend? Ich habe nämlich mehr Fokus auf die Story gelegt.


    Stanville: 21.6.2017

    Moira Nova 24 Jahre


    Sonnenschein.
    Fröhlich schaute ich hinauf zum wolkenlosen Himmel. Allein die Kondensstreifen der Flugzeuge vom nahegelegenen West-Stanville Airport erfüllten das strahlende Blau mit dünnen weißen Pinselstrichen.
    So viele Eindrücke, so viel zu entdecken.
    Der süßliche Geruch des Honiggebäcks in meiner rechten Hand, das leise Zwitschern der Vögel in den Bäumen um mich herum und das verspielte Glitzern der Sonnenstrahlen in der kleinen Wasserpfütze zu meinen Füßen. Eine Strähne meines glatten, roten Haares fiel mir ins Gesicht, welche ich mir keck mit dem Zeigefinger wieder hinters Ohr strich. Ein vergnügtes Lächeln wurde mir dadurch entlockt.
    Heute war ein besonderer Tag, denn ich hatte ein Vorstellungsgespräch bei C.M.D-Claudia Morgan Designs. Dafür hatte ich mir extra einen Anzug geliehen, weil mir der Kauf nicht lohnenswert erschien. Denn so naiv das auch klingen mag, hatte ich nicht vor, mich intensiv mit der Jobsuche zu beschäftigen. Dafür gab es aber einen bestimmten Grund, auf den ich ungern eingehen möchte.

    Trotz des schönen Wetters entschied ich mich, mit der Straßenbahn zu fahren, da sie fast bis vor C.M.D fuhr und günstig war. Außerdem war mir der Fußweg etwas zu weit, dies wollte ich meinen Schuhen nicht antun.
    Ich suchte mir einen Platz am Fenster, bevorzugt gesondert von den anderen Fahrgästen. Mein Rücken war an die Wand angelehnt.
    Als ich meinen Handspiegel hervorkramte, bemerkte ich, dass mein roter Lippenstift fehlte. Es war zwar kein Weltuntergang, aber nachdenklich stimme es mich schon. Ich fragte mich, wo ich ihn verloren haben könnte.
    Ich wusste, dass ich ihn heute Morgen noch hatte. Er musste mir aus der Tasche gefallen sein, als ich den Anzug geholt habe.
    Im Endeffekt war es mir ziemlich egal, da ich diese Farbe ohnehin selten benutzte.

    Während der ganzen Zeit, die ich mit mir selbst beschäftigt war und mein von Sommersprossen akzentuiertes Gesicht betrachtete, merkte ich gar nicht, dass mich ein Kerl begaffte, der sich ein paar Schritte entfernt an einem Halteriemen festhielt. Seine Oberarme so prall wie aufgeblasene Luftballons, halsloses Genick und ein viel zu enges Sweatshirt, auf welchem sich sogar seine Nippel abzeichneten. Von der hochglanzpolierten Edelglatze gar nicht erst zu sprechen.
    Ein erstklassiger Macho. Genau der Typ Mann, den ich absolut nicht ausstehen kann.
    Diese Analyse veranlasste mich wiederum zu einem Kontrollblick auf meinen Körper, indirekt über den Spiegel. Das matte Anthrazit des seidigen Stoffes verhüllte gut meine weichen Kurven. Aber ob die Kravatte doch zu viel war, konnte ich dennoch nicht beantworten.

    Keine Ahnung, was den Kerl dann dazu veranlasste, sich neben mich zu setzten, aber einladende Signale habe ich ihm garantiert nicht gegeben. Mit verstörend aussehendem Blick, der offenbar ein Flirtversuch sein sollte, nahm er dann Platz, pumpte seinen Bizeps auf und gab merkwürdiges Räuspern von sich.
    Offenbar hatte er ein Kribbeln im Hals, anders konnte ich mir diese Geräusche nicht erklären.
    Augenrollend kehrte ich ihm den Rücken zu und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust.
    Dann spürte ich, wie er seinen Arm vorsichtig zwischen meinen Nacken und die Fensterscheibe zu quetschen versuchte.
    „Wo will denn so eine hübsche Frau wie du hin?“, erklang seine brummende Stimme.
    „‚Sie‘ bitte!“, erwiderte ich entnervt und drehte meinen Kopf zu ihm um. „Und ich glaube nicht, dass es Sie etwas angeht.“
    „Warum denn gleich so aggressiv?“
    Ich schüttelte nur den Kopf und wandte mich wieder der anderen Raumhälfte zu.
    Und er empfand dies offenbar nicht als Zurückweisung, denn er redete munter weiter. „Ich gehe heute Abend zum Beach. Vielleicht hast du ja Lust, auch mal vorbeizuschauen...“
    „Sagen Sie mal, geht’s noch?“, ermahnte ich ihn erneut. „Sehe ich etwa so aus wie eine Frau, die auf Kerle steht, deren Lebensinhalt aus Anabolika und dummen Sprüchen besteht?“
    Darauf hatte er nichts zu sagen. Offensichtlich entsprach sein Lebensalter seinem IQ. Oder er hatte nicht erwartet, dass eine gut aussehende Frau wie ich dieses Wort ohne Duden aussprechen kann.
    „Geh‘ ins Fitnessstudio und stemm' deine hundertfünfzig Kilo...“
    „Hundertachtzig..!“
    „Als nächstes willst du wahrscheinlich sagen, dass du mich auch einhändig über die Schwelle tragen könntest...“
    „Na wenn du schon soweit vorgreifst, Schätzchen...“
    „Wie hast du mich genannt?!“ Das ging eindeutig zu weit! „Lass mich in Frieden, ja?!“
    Eine ältere Dame kam dazu und klinkte sich spontan mit ins Gespräch ein. Was sie dann sagte, verblüffte mich. „Entschuldigen Sie, junger Mann, aber können Sie bitte meine Enkelin in Ruhe lassen?“
    Heftig zusammenzuckend riss er seinen Kopf zu ihr herum, stammelte unbeholfen Wortlaute und ließ von mir ab.
    Sie und ich, wir schauten uns an und ich begann zu lächeln.
    Das Muskelpaket stampfte mit feuerrotem Kopf Richtung nächster Wagon und presste sich ein „Dumme Schnepfe“ heraus.
    Erleichtert schnaufte ich tief und wischte mir sanft mit dem Handrücken über die Stirn. Kleine Schweißperlen hatten sich gebildet, so angespannt war ich.
    Zum Dank bot ich der Dame den gerade freigewordenen Platz neben mir an, den sie aber ohnehin schon angepeilt hatte.
    „Schrecklich, diese Kerle“, meinte sie halb in den Raum gerichtet und schaute resignierend in ihre Handtasche.
    „Das können Sie laut sagen“, stimmte ich nickend zu und tätigte auch einen Blick in meine Tasche. Ich wusste nicht, warum ich das machte, anscheinend wirkte die Situation etwas peinlich. Andererseits fühlte ich mich genötigt, ihr mehr zu sagen.
    „Danke nochmals, Sie haben mir echt geholfen.“
    Sie winkte nur lächelnd ab, als wäre es für sie eine Selbstverständlich gewesen.
    Aber wenig überraschend, dass sie mich Augenblicke später doch wieder ansprach: „Ich nehme an, das passiert Ihnen öfters.“
    Ich bestätigte. Früher, als ich in der Pubertät war, freute ich mich über jede Avance, die mir gemacht wurde. Aber seit ich als Model anfing, gingen mir diese ständigen sexistischen Anspielungen der Männer auf den Geist.

    „Ein Wenig kann ich es schon verstehen, dass er Sie angesprochen hat“, meinte die alte Dame weiter.
    Ich stutzte, blickte verdutzt drein.
    „Sie haben einen schönen natürlichen Teint.“
    Das schmeichelte mir, andererseits fühlte ich mich etwas gekränkt. Hatte sie mich ertappt?
    Ihr verschmitztes Lächeln kündigte es schon an. „Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“
    Ein Schmunzeln entglitt mir. „Ich glaube, Sie haben bereits eine Ahnung.“
    Ungeniert erwiderte sie: „Ich hätte jetzt irgendwas in Richtung Fotomodel oder generell Modekunst gesagt.“
    Verlegenheit. „Ich sage es ungern in der Öffentlichkeit, weil die Kerle sonst erstrecht angekrochen kommen.“
    „Also sind Sie Fotomodel? Und was so für Fotos?“
    „Nun ja“, fing ich an und rieb mir schüchtern über den Nacken. „Für Modezeitschriften und Firmenwerbung. Aber auch kleinere Aufträge, wenn sie für mich rentabel sind.“
    „Ich würde gern mal eines dieser Fotos sehen. Falls es Ihnen nichts ausmacht.“
    Dem stimmte ich zu und zeigte ihr ein paar Werbebanner, die ich als Bilder auf meinem Smartphone abgespeichert habe.
    Sehr fasziniert wirkte sie davon, besonders lobte sie die Farbgebungen und Designs der Kleider.
    „Moira Nova? Ist das richtig ausgesprochen?“
    „Korrekt“, gab ich verlegen wieder und packte mein Smartphone weg.
    „Barbara“, stellte sie sich nun auch vor. Ein hübscher Name.
    „Ich weiß, das kommt jetzt etwas direkt, aber machen Sie eigentlich auch... luftigere Bilder?“
    „Oh nein, das garantiert nicht!“, dementierte ich sofort und musste mich erstmal etwas bequemer hinsetzen. „Dafür möchte ich nicht bekannt sein.“ Ich fühlte mich gezwungen, das erstmal klarzustellen. „Das ist mir noch ein Schritt zu weit, da fühle ich mich meiner Freiheit beraubt.“
    Skeptisch wirkte sie, was sich sogleich bewahrheitete. „Das hört sich nicht sehr konsequent an, wenn Sie mich fragen.“
    „Ja, gut, Sie haben recht. Ich habe schon mal drüber nachgedacht. Aber ich habe da etwas Angst, an den falschen zu geraten...“
    „Ich verstehe... Aber nicht alle sind schwarze Schafe.“
    „Davon gehe ich auch nicht aus.“
    „Ich möchte Ihnen jetzt nicht reinreden, es ist vollkommen Ihnen überlassen.“
    „Wissen Sie, ich bin erstaunt, dass Sie sich so ungeniert dazu äußern. Andere Frauen, jüngere Frauen hätten mir schon längst einen Vortrag gehalten oder wären neidisch gewesen.“
    „Ach, ich bin zwar alt, aber deshalb noch lange nicht altmodisch. In meiner Jugend war ich auch nicht immer ein schüchternes Mauerblümchen.“ Sie musterte mich genauer und deutete auf meinen Anzug. „Gehen Sie dann eigentlich immer so seriös gekleidet zu einem Fototermin?“
    „Achso, nein“, entgegnete ich sofort. „Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch bei Claudia Morgan Designs. Aber nicht als Model, diesmal richtig als Desginberaterin. Natürlich werde ich nebenher weiterhin als Model arbeiten, sofern es mir möglich ist.“
    Sie nickte verstehend.
    „Und wo geht Ihre Reise hin?“, fragte ich zurück.
    „Ich möchte meine Tochter und meinen Enkel besuchen. Aber vorher werde ich noch einen Blumenstrauß kaufen. So ganz ohne etwas will ich da nun doch nicht aufkreuzen.“
    Dann kramte sie in ihrer Handtasche herum. „Ich prophezeie Ihnen, dass heute Ihr Glückstag ist.“ Sie holte den Geldbeutel hervor, nahm fünf Dollar raus und überreichte diese mir. „Sehen Sie diese als kleinen Start zum Lebensglück.“
    Mit aufgerissenen Augen starrte ich sie an, während meine zitternden Finger sanft das Papier befühlten. „Ich... Es tut mir Leid, aber das kann ich nicht annehmen...“
    „Ich bestehe darauf. Ich verdiene gute Rente, bin Witwe und noch klar bei Verstand.“
    „Ich habe es aber nicht wirklich nötig.“
    „Gönnen Sie sich davon etwas. Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, die den größten Einfluss haben.“
    Mit diesen Worten erhob sie sich und verließ die Straßenbahn.

    Völlig baff von dieser Begegnung und Geste starrte ich noch weiter in ihre Richtung, auch als die Bahn bereits weiterfuhr und die Sicht auf die Dame verdeckt war. In der Hand hielt ich immer noch verkrampft den Schein, den ich dann vorsichtig zweimal in der Mitte faltete und in meiner Hosentasche verschwinden ließ.
    Was bewegte die alte Frau nur dazu, mir zu helfen? Wie kam es dazu, dass ausgerechnet ich ihre Aufmerksamkeit erweckte? Und was wäre passiert, wenn sie nicht diesen Typen abgewimmelt hätte?
    Merkwürdige Fragen, auf die ich keine Antworten finden konnte, die nicht weniger merkwürdig waren. Und sollte ich mich überhaupt weiter damit beschäftigen? Ich war völlig neben mir und fühlte mich zerstreut. Fast schon nicht mehr existent für einen Moment.
    Ehe ich mich noch intensiver mit diesen Gedanken beschäftigen konnte, krachte es plötzlich und die Straßenbahn leitete eine Vollbremsung ein. Alle Passanten wurden kräftig durchgeschüttelt und mich riss es auch vom Sitz. Nur mit Mühe konnte ich mich auf die Schnelle abfangen.
    Wenige Augenblicke später drangen die Verkehrsgeräusche an mein Ohr. Lautes Hupen, quietschende Reifen und heftiges Geschrei.
    Ich schaute auf die Straße und sah ein Auto auffällig nah an einem Wagon stehen. Der Fahrer artikulierte wild. Dahinter eine lange Schlange anderer Autos. Dann wurden wir höflich aufgefordert, die Straßenbahn zu räumen.
    Warum musste das ausgerechnet mir und ausgerechnet heute passieren?
    Ich schaute auf die Uhr. Nur noch eine halbe Stunde Zeit bis zu meinem Termin.
    Mein Blick schweifte hektisch über das Geschehen, ich wollte eine alternative Lösung finden. Der Unfall schwoll schnell zu einem Spektakel mit hunderten Schaulustigen heran. Offenbar war die gesamte Kreuzung blockiert worden, niemand konnte mehr vorwärts kommen.
    Besonders stach mir aber der schwarze RollsRoyce hinter dem Unfallauto ins Auge. Getönte Scheiben und Chromfelgen. Die Frau stieg wutentbrannt aus, zückte ihr Mobiltelefon und ging auf den Mann zu. Ehe er reagieren konnte, stieß sie ihn heftig gegen den Rücken und provozierte beinahe einen Sturz.
    Ihre Reaktion überraschte mich keineswegs, ich hätte vermutlich ähnlich reagiert. Vielmehr zog mich ihr Fahrzeug in den Bann, denn solch einen Schlitten sah man nicht alle Tage.
    Auch wenn die Situation ungünstig war, wollte ich es mir nicht nehmen lassen, einen Schnappschuss davon zu machen. Schnell und heimlich geschah dies, aber offenbar bekamen es der Mann doch mit und stampfte grimmig auf mich zu.
    „Was soll der Scheiß?! Machst du Fotos, oder wie?!“
    Er packte meinen Arm, aber ich reagierte sofort und knüppelte ihm die Handtasche über den Kopf.
    „Lass mich in Ruhe, du Spinner! Ich hab ein Foto von dem RollsRoyce gemacht! Rege dich ab..!“
    Bevor die Situation noch zu eskalieren drohte, nahm ich die Beine in die Hand.

  • Zu dem Part mit Claudia Morgan:

    Spheren

    Das wird, glaube ich, mit ä geschrieben also Sphären.

    Ansonsten ist mir die Protagonistin mega unsympathisch, was aber sicherlich beabsichtig ist. Zu der Frage, ob du mehr das Aussehen der Protagonisten beschreiben sollst, würde ich mit "ja, ein bisschen" antworten. Wahrscheinlich reichen kleine Akzente, so könnte Claudia sich vor dem Losfahren nochmal kurz im Spiegel angucken und sich gleichzeitig ärgern, dass sie ein wenig ausgelaugt und überarbeitet aussieht, sich aber auch freuen, dass sie trotz nur dezentem Make-Up mehr wie Mitte 20 aussieht (oder sich einfach so schön / attraktiv fühlt). Sie könnte auch gefühllos in ihre stahlgrauen Augen blicken und stolz darauf sein, dass sie sich in einer Männerwelt mit kaltem Gefühl und ihrem attraktiven Körper so leicht durchsetzen kann, weil Männer nunmal Marionetten sind.

    In dem Part sind mir ein paar "Logiklücken" bzw. nicht erzählte Zeitsprünge aufgefallen. So startet Claudia mit einem Smartphone am Ohr (was ich als "sie telefoniert" interpretiere) und bekommt dann später einen Anruf, ohne dass sie das erste Gespräch beendet hat. Auch das Gespräch mit dem Fotographen beendet sie nicht explizit. Ich weiß nicht, ob das andere Leser auch stört, ich meine nur, dass der Fotograph dann ihr Fluchen etc. mitbekommen würde und darauf reagieren müsste bzw. sie müsste das Gespräch wieder aufnehmen oder so.

    Den nächsten Part lese ich um Mittag rum, denke ich.

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • Hey,

    habe mal den ersten Teil gelesen und bin schnell reingekommen. Das sind ja mal richtige Schätzchen die vier :)
    Eine WG aus Alkoholikern und Drogenabhängigen...ich finde, du hast die Trostlosigkeit dahinter ziemlich cool beschrieben. Da war so eine Art "distanzierte Verzweiflung", die man wahrscheinlich empfindet, wenn man noch ein bisschen high ist und sich über die Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst wird. Bin gespannt, in welche Richtung du die Geschichte weiterspinnen wirst.

    Hier noch ein paar Anmerkungen von mir:

    Spoiler anzeigen

    Reflexartig öffnete ich den Mund und sah nur noch die Zahnbürste herausfallen, ebenso im Waschbecken landen. Wie ferngesteuert versuchte meine Hand sie abzufangen, aber ich rutschte vom glitschigen Rand ab und schlug mit dem Kinn hart auf.

    ich versuche gerade, mir das vorzustellen...wie bitteschön hat sie es geschafft, in der Situation auszurutschen und sich das Kinn aufzuschlagen? ich dachte, ihr fällt nur die Zahnbürtse aus dem Mund? :hmm: Rainbow steht sicher wieder mal auf dem Schlauch :)


    Zurücklehnen konnte ich mich nicht, sonst wäre er komplett in auseinander gefallen.

    das "in" ist zu viel

    Sie überreichte mir ein kleines Tütchen mit Crystal. „Ich sehe ja, dass du es dringender brauchst als ich.“

    Neeeeeiiiiin!

    Ich bleibe dran!

    LG,
    Rainbow

  • Danke, @Asni und @Rainbow für die wunderbaren Kommentare und Berichtigungen. Ja, Claudia Morgan ist ein ziemliches Biest. Das war von mir so beabsichtigt, dass sie so cholerisch ist. Ich habe nochmal die beiden Textstellen durchgelesen und du hats vollkommen recht. Ich habe sie das Gespräch nicht beenden lassen. Das werde ich sofort hinzufügen. Und die Vorschläge mit dem im Spiegel betrachten werde ich auch unverzüglich einbauen. :thumbsup:

    ich versuche gerade, mir das vorzustellen...wie bitteschön hat sie es geschafft, in der Situation auszurutschen und sich das Kinn aufzuschlagen? ich dachte, ihr fällt nur die Zahnbürtse aus dem Mund? Rainbow steht sicher wieder mal auf dem Schlauch

    Die Zahnbürste fällt raus und landet im Waschbecken. Danach will sie nach der Zahnbürste greifen, aber im selben Moment rutscht sie mit dem Fuß aus und knickt mit den Beinen ein. Vielleicht hätte ich Spagat schreiben sollen.


    Barbara Claris 74 Jahre


    Den Blumenladen mit einem kleinen Strauß verlassen, wollte ich mich auf dem Weg zur nächsten Straßenbahnhaltestelle begeben. Der Weg über den Supermarktplatz und durch die Blocks bot sich dafür an.
    Bereits jetzt schon war der Parkplatz maßlos überfüllt, gab es schließlich im Umkreis von einem Kilometer keinen anderen Supermarkt. Für mich als Passantin wurde dies glatt zu einem Hürdenlauf, der dennoch zeitlich kürzer war, als die Hauptstraße entlang.
    Rücksichtslos drängten sich die Autofahrer gegenseitig in die letzten verbliebenen freien Parklücken. Ein Fußgänger war dabei der Bedeutsamkeit eines Bordsteines keineswegs übergeordneter. Alle waren im Stress und von Hektik verfolgt.
    Und inmitten dieses Spektakels pickten verirrte Tauben seelenruhig Dreck und Körner aus den Steinfugen. Von den mit verklebten Kunststoffpapier überfüllten Mülleimern ganz abzusehen, deren Modergeruch ein Paradies für Wespen, Käfer und anderes Getier zu sein schien.
    Heidenfroh, diesen kleinbürgerlichen Kriegsschauplatz unbeschadet passiert zu haben, stellte ich mich schon auf den nächsten Angriff auf meine Sinne ein. Ich erinnerte mich an letztes Mal, im Frühjahr, als die Außenfassaden mit Gerüsten zugestellt waren. Es war auch bitter nötig, die maroden Wände vom bröckeligen Putz und der ausgeblichenen Farbe zu befreien. Dabei sahen sie nackig immer noch schöner aus als vorher. Doch nun, zu meiner Überraschung, erstrahlten die frisch gestrichenen Fassaden wieder im satten Fliederblau und die sonst gewohnt tristen Balkongeländer wurden von den neu gepflanzten Zierblumen verschönert. Ebenso war der Bauschuttcontainer vom Rasen verschwunden und durch eine Sitzbank aus rauem Marmor ersetzt worden. Und die jetzt bestehende Baumallee spendete ausreichend Schatten auf den Bürgersteigen, um das Flanieren auch um die Mittagszeit zu einem wohltuenden Erlebnis zu machen.
    Die Freude auf das strahlende Gesicht meines Enkels versüßte mir zusätzlich den Moment inmitten dieser idyllischen Hartgehölzanlage, während ich dem immer schmaler werdenden Weg weiter folgte. Völlig vertieft in Gedanken, entschwanden mir Umgebungsgeräusche, was mich buchstäblich taub durch die Gegend schlendern ließ.
    Dementsprechend erschrocken war ich auch, als plötzlich ein Auto mit mörderischer Geschwindigkeit um die Kurve schoss. Ich war vollkommen unvorbereitet, immerhin war es auch noch Einbahnstraße. Nur durch ein Wunder kam das Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen, bevor es mich auf den Asphalt quetschen konnte.

    ***

    Claudia Morgan 32 Jahre


    Kaum vergingen zehn Minuten, hatte ich ein paar Straßen weiter wieder einen Mann vor mir, der dachte, er könne mich provozieren. In diesem speziellen Fall hielt er es offenbar nicht für nötig, stehenzubleiben und versenkte zum Dank unser aller seine Rostlaube in der Straßenbahn. Solch ein ohrenbetäubendes Scheppern hatte ich noch nie gehört.
    „Wunderbar hast du das gemacht“, merkte ich ungemein sarkastisch an. „Jetzt sind wir alle sehr stolz auf dich.“
    Mir war ohnehin klar, dass er das mit Absicht getan hatte, nur um mir eins auszuwischen! Jedes Mal machten mir solche Idioten mit derartigen Aktionen Probleme, weil sie keine Kritik vertragen. Nun mussten wir anderen leiden, weil er zu dämlich war, seine Bremse zu betätigen.
    Ohne mir weiter darüber Gedanken zu machen, schaute ich mich um und wollte eine Kehrtwende machen. Aber wie zu erwarten, waren die anderen hinter mir so dicht aufgefahren, dass ein schnelles und sicheres Wenden nicht möglich war. Im Gegenteil, sie schienen sogar noch dichter aufzufahren, als wären sie der Meinung, dadurch das Problem schneller beseitigen zu können.

    Ich setzte an, schlug die Räder voll ein und gab langsam Gas. Dann lief plötzlich ein Passant vor meinem Auto entlang und zwang mich wieder zum Stehenbleiben. Dann entschied sich jeder zweite Fußgänger, meine Fahrbahn zu kreuzen.
    „Die raffen das nicht. Leute, das wird so nichts!“
    Fuchsteufelswild machte mich das! Pausenlos hupte irgendwer von diesen grenzdebilen Primaten und raubte mir den letzten Nerv. Angestachelt vom Wahnsinn jener Reagenzglaskinder mit ihren spastischen Verbalzuckungen, wusste ich keinen anderen Ausweg, als mich ebenfalls auf dieses primitive Niveau herabzulassen.
    Der Rage verfallen, stieg ich mit gefühltem Puls dreihundert aus, knallte die Tür zu und stampfte mit drohendem Finger auf meinen Hintermann zu.
    „Fahre dein scheiß Auto zurück!“ Anders verstand er es offensichtlich nicht. „Ich will drehen und wenn ich auch nur einen Kratzer bekomme, dann reiß ich dir den Kopf ab!“
    Gesagt, getan. Mit Ach und Krach gelang es mir dann irgendwie, auf diesem schmalen Streifen Asphalt zu wenden. Dass ich dabei den halben Bürgersteig blockieren musste, nahm ich gerne in Kauf.
    Als ich dann die nächste Straße rechts entlangfuhr, stolperte mir auf einmal so eine alte Schabracke vor den Kühlergrill. Heute konnte ich mich gar nicht vor potentiellen Selbstmördern retten.
    Ihr dummer Gesichtsausdruck fehlte mir dabei noch.
    „Was glotzen Sie so blöd?!“ Mit ausladender, scheuchender Handbewegung forderte ich sie auf, die Fahrbahn schnellstmöglich zu räumen. Aber sie schlupfte nur im Schneckengang.
    „Haben Sie Kleister unter den Schuhen, oder warum laufen Sie so langsam? Das Krematorium ist auf der anderen Seite der Stadt!“
    „Sind Sie noch ganz bei Trost?!“, fauchte sie zurück und schlug ihre Handtasche auf meine Motorhaube. Dann zeigte sie zum Verkehrsschild. „Das hier ist Einbahnstraße!“
    Ich verstand ihre Aufregung nicht. Bis auf sie war hier kein einziges Hindernis zu sehen. Außerdem wollte ich eh gleich die nächste Abzweigung reinfahren.
    „Verschwinden Sie doch endlich mal! Sie sind das einzige Wesen, das gerade vollkommen überflüssig ist!“
    'Nen Teufel tat sie! Großkotzig verharrte sie mit ihren geschätzten dreihundertachtzig Jahren vor meinem Wagen und machte auf Politesse.
    Mir reichte es hin mit diesem Wahnsinn. Wutentbrannt stieg ich aus, riss ihr die vergammelte Tasche, die einem Trostpreis des Rummels gleichsah, aus den Händen und schleuderte diese im hohen Bogen auf die Rasenfläche hinter ihr.
    Anschließend griff ich nach meinem Portmonee und drückte der alten Schachtel einen Hunderter in die runzlige Hand. „Jetzt machen Sie gefälligst Platz!“

    Erst im Nachhinein wurde mir klar, wie unschön das hätte enden können. Da konnte man mal sehen, wie sehr die Zeitnot und Dummheit diverser Untermenschen mich um meinen Verstand gebracht hatten, dass ich zu so einer halsbrecherischen Aktion gebracht wurde, die ich wirklich niemandem weiterempfehlen will. Und dies meine ich tatsächlich mal ernst!
    Keine Ahnung, wie sehr mein Gehirn bereits gelitten haben musste, dass mir dieses rote, kreisrunde Schild mit dem weißen Streifen nicht aufgefallen war. Jedenfalls war es für mich in jenem Moment nicht existent. Allein schon die falsch parkenden Autos hätten bei mir die Alarmglocken angehen lassen müssen.

  • Ich nochmal :)

    Die Zahnbürste fällt raus und landet im Waschbecken. Danach will sie nach der Zahnbürste greifen, aber im selben Moment rutscht sie mit dem Fuß aus und knickt mit den Beinen ein. Vielleicht hätte ich Spagat schreiben sollen.

    Vielleicht hättest du es einfach genauso schreiben können? Du schreibst an der Stelle nur, sie rutscht mit der Hand vom Waschbeckenrand ab und danach schlägt sie direkt mit dem Kinn auf. Naja, im Nachhinein (wenn man denn um ihren Zustand weiß, erklärt sich das ein stückweit...aber am Anfang dachte ich Hä? Was? Wieso?)...Ich fände es gar nicht verkehrt noch eine halben Satz einzufügen...es reicht ja schon, zu sagen, dass ihre Beine wegknicken...

    nur so ne Idee...damit es auch so Deppen, wie ich verstehen ^^

  • So, jetzt habe ich die jüngsten Parts auch noch gelesen. Ich habe keine großen Anmerkungen. Mir gefällt immer noch der Wechsel zwischen den Charakteren und wie die eigentlich alltäglichen Ereignisse so miteinander verwoben sind, dass sie irgendwie spannend sind und die Handlung vorantreiben. Außerdem guckt man immer noch, ob man diesem Charakter schon begegnet ist, oder ob er vielleicht nochmal auftaucht. Mir gefällt das gerade ganz gut! ^^

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • So wie fang ich an. Also ich finde die Idee cool das jeder Charakter so sein eigenes Weltbild hat und das geniale wie du das verbunden hast. Nur bei den ersten und letzten Eintrag konnte ich nicht zuordnen. Aber das war das einzige was mich "störte". Ansonsten hat mir das echt gefallen zu lesen. Zuerst dacht ich auch das sei so eine dystriopia (Gegenteil von Utopie). Aber da irrt man es ist wirklich Echtzeit. Am geilsten ist dieser Lippenstift da musste ich echt schmunzeln als Nova den suchte und als Leser weiß man wo der ist. Also echt gute Arbeit frage zum Schluss sind deine Werke alle in den styl ?

  • Danke, @Asni, @Rainbow und @Falkefelix für die Anmerkungen und Kommentare. :alien:

    Außerdem guckt man immer noch, ob man diesem Charakter schon begegnet ist, oder ob er vielleicht nochmal auftaucht.

    Ich bekenne mich schuldig und muss sagen, dass die Hauptcharaktere alle nur weiblich sind. Mir sind Männer/Jungen um ehrlich zu sein zu langweilig oder zu berechenbar. :alien:

    Nur bei den ersten und letzten Eintrag konnte ich nicht zuordnen. Aber das war das einzige was mich "störte".

    Was genau meinst du damit? Der erste Part ist aus Theklas Sicht und der letzte Part ist aus Claudia Morgans Sicht. Oder meinst du das, was sie erleben? Übrigens sehe ich gerade, dass ich noch Claudias Alter im letzten Part editieren muss.

    Also echt gute Arbeit frage zum Schluss sind deine Werke alle in den styl ?

    Also mein Schreibstil ist vermutlich unverwechselbar, wenn man schon mehrere meiner Texte gelesen hat. Ansonsten ist dieser Präsentationsstil bezüglich durchrotierender Sichtweisen ein Experiment von mir gewesen. Ich wollte das mal so versuchen, wie es in manchen TV-Serien gemacht wird, wo auch verschiedene Charaktere direkt oder indirekt miteinander interagieren und sich das Puzzle mit jeder weiteren Folge langsam komplettiert.


    Thekla ~27 Jahre


    Ich machte mich schick für die Arbeit. Knallig pinke High Heels, schwarze grobmaschige Netzstrümpfe mit Strapsen, darüber einen karierten Minirock und als Oberteil ein hautenges weißes T-Shirt mit tiefem Ausschnitt.
    Die Tür öffnete sich und Natasha linste herein. Sie war bereits fertig geschminkt. „Thekla, du bist spät dran.“ Kaum gesagt, machte sie die Tür wieder zu.
    Ich blieb unbeeindruckt von ihrer Stichelei, nahm mein Schminktäschchen und ging ins Bad.
    Minuten vergingen und ich wollte anfangen, den Lidstrich zu ziehen, als Dora plötzlich die Tür aufriss und laut fragte, ob ich wüsste, wo ihre Jacke hingekommen sei.
    Ich erschrak mich dabei so sehr, dass ich mir mit dem Stift glatt ins Auge stach.
    „Nein!“, krächzte ich. „Nein!“
    Mit schmerzverzerrtem Gesicht und zugekniffenem Auge schaute ich in den Spiegel und sah wiederum sie mich verdutzt anglotzen, bevor sie sich wieder zurückzog.
    Schon nach so kurzer Zeit wurde das Auge feuerrot, was mich extremst fuchste, weil ich nun noch mehr Make-Up verwenden musste, um diesen Makel wieder auszugleichen.
    Derweil hörte ich draußen die Damen weiter schnattern. Aber was sie sich erzählten, konnte ich durch die Wand nicht verstehen.
    Es klopfte leise, gefolgt von Ambers gedämpfter Stimme. „Thekla, kommst du?“
    „Fünft Minuten“, antwortete ich wie jedes Mal. Und immer wurde es deutlich länger.
    „Wir gehen schonmal zum Kino“, kam zurück und kurz darauf war es totenstill. Alleinig das dumpfe Hallen der Stöckelschuhe im Treppenhaus drang an mein Ohr.
    Nach nur einer viertel Stunde war ich endlich fertig. Geschminkt bis zum geht nicht mehr, mit markantem dunkelblauen Lippenstift und üppig genug eingedieselt, um über mir ein eigenes Ozonloch entstehen zu lassen. Ein letztes Mal betrachtete ich mich im Ganzen im Spiegel und verließ mit einem breiten Grinsen das Bad. Anschließend steckte ich mir noch eine Hand voll Pariser in meine schwarze, mit Nieten beschlagene Lederhandtasche und zog mir die neongrüne Kunststoffjacke über.

    ***

    Moira Nova 24 Jahre


    Der nächste Bus fuhr erst in fünfzehn Minuten, ein Taxi war auch nirgends zu sehen und die Straßenbahn hatte sich ohnehin erledigt. Es blieb nur der Weg durch und um den Madisson-Park. Da letzte Woche aber bei der südöstlichen Straße eine Baustelle war und die Baumallee im Parkwesten vermutlich wieder voller Fahrräder war, entschied ich mich für die goldene Mitte, andererseits zu dieser Jahres- und Tageszeit auch nicht ohne Tücken.
    Hundebesitzer, die mit ihren Vierbeinern spielten und Leute wie mich damit bedrohten und wilde Kinder, die mir Fußbälle in den Weg schossen. Der ganze Weg war bedeckt von gelbem Blütenstaub der hochgewachsenen Pappeln und die pralle Mittagssonne schien mir erbarmungslos auf den Kopf. Schon nach kurzer Zeit wurde es mir so heiß im Anzug, dass ich das Jackett ausziehen musste. Da halfen die eifrig berieselnden Rasensprinkler auch nichts, die mir bei jeder Windböe einen kalten Nebel entgegenwarfen.
    Eine gefühlte Ewigkeit stapfte ich durch den Park und schwitzte am Ende doch die weiße Bluse durch. Quittegelb vom klebrigen Blütenstaub und die schwarzen Pumps feucht-grün vom sommerlichen Gras erreichte ich das andere Ende der Wiese, doch hatte ich keine Zeit, zu verschnaufen. Nur noch siebzehn Minuten und der Berufsverkehr war im vollen Gange. Eifrig tippelte ich weiter Richtung Westen und unterdrückte den stechenden Schmerz in den Fersen, hervorgerufen von dem steifen Schuhleder. Nebenher kämmte ich mir die lästigen Pusteblumensamen und Pappelschwänze aus dem Haar.

    Den Kreisverkehr erreicht, wollte ich schnell zur anderen Seite, da erhaschte mich ein Fahrradkurier beim Überqueren des Zebrastreifens. Wie aus dem Nichts kam er angeschossen und fuhr direkt in mich hinein. Trotz scharfen Bremsens gelang es ihm nicht, rechtzeitig zum Stehen zu kommen.
    Unter Schock lag ich grätschend auf dem heißen Asphalt, den Rennradreifen halb zwischen meinen Beinen. Völlig perplex starrte der Kurier mich an und dann das kleine Paket neben mir, deren Ecken durch den Sturz eingedellt worden waren.
    „Geht’s noch?!“, brüllte ich ihn an und versuchte mich angestrengt hochzuhieven.
    Hinter ihm bildete sich eine kleine Schlange, die schnell den kompletten Kreisverkehr lahmlegte. Doch der Radfahrer hatte nichts besseres zu tun, als mit langem Arm nach dem Paket zu greifen, es wieder auf seinen Gepäckträger zu bugsieren und ohne eine Entschuldigung weiterzufahren.
    Angestrengt wütend und am ganzen Körper zitternd passierte ich schleunigst den Kreisverkehr und folgte der Nebenstraße. Es war mir unfassbar peinlich. Meine Hände waren klamm und die Beine weich wie Pudding.
    Und als ich dachte, es könne nicht noch schlimmer werden, machte mir das Schicksal prompt einen Strich durch die Rechnung, in Form eines rangierenden Trucks mit extralangem Anhänger. Über die komplette Breite blockierte er den Durchweg für mehrere Minuten.
    Die Uhr tickte und ich wurde ungeduldiger. Der erste Eindruck zählt schließlich und was würden die von mir denken, wenn ich schon zum Vorstellungsgespräch zu spät erscheinen würde?

  • Mir sind Männer/Jungen um ehrlich zu sein zu langweilig oder zu berechenbar.

    Wäre das nicht eine Herausforderung (bzw. Motivation) für dich, mal einen unberechenbaren, nicht langweiligen männlichen Charakter zu schreiben? Ich meine jetzt nicht in dieser Geschichte, sondern so grundsätzlich.

    Den Kreisverkehr erreicht, wollte ich schnell zur anderen Seite, da erhaschte mich ein Fahrradkurier beim Überqueren des Zebrastreifens. Wie aus dem Nichts kam er angeschossen und fuhr direkt in mich hinein.

    Vom Gefühl her würde ich sagen, dass hier eine andere Formulierung besser passen würde. Vielleicht "Als ich den Kreisverkehr erreichte". So wirkt das auf mich sehr abgehackt :hmm:
    Bei "erhaschte" war ich etwas irritiert. Ich kenne das vorallem in dem Sinn, dass man einen Blick auf etwas bekommt oder meinetwegen auch, dass man jemanden "erwischt" - etwa ein Lehrer einen Schüler beim Rauchen auf dem Klo oder so. In dem letzten Sinn verstanden wird der Satz oben irgendwie lustig. Wie wäre es mit "erfasste"? Alternativ könnte ich mir auch eine Formulierung mit "aus dem Augenwinkel sah ich einen Fahrradkurier auf mich zu rasen" oder so in der Art vorstellen :hmm:

    Ansonsten fand ich gerade im Thekla-Part, dass du viele eher umgangssprachliche Begriffe verwendest (etwa. "fuchste mich", "eingedieselt" etc.), die sind einerseits ziemlich cool, weil sie dem Text eine ungewöhnliche, lockere Note verleihen, aber andererseits bin ich mir nicht so sicher, ob sie so gut zum restlichen Stil passen, der eher nüchterner, sachlicher wirkt.
    Inhaltlich: Thekla will / muss zur Arbeit gehen und macht sich dazu fertig. Die anderen Mädels "gehen schon mal zum Kino". Für mich wirkt das eher so, als wollten sie gemeinsam einen schönen Abend verbringen, evtl. nach dem Kino noch Feiern gehen oder so. Hast du dich da nochmal umentschieden oder arbeitet Thekla im Kino?

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • Hey,

    da ich gerade mal einen funktionierenden PC zur Hand habe, muss ich doch schnell noch einen Kommentar für dich verfassen. :)
    Ich fand diesen Teil hier recht beeindruckend: Sharon 40 Jahre und Mary Thomson 9 Jahre

    Diese Sharon ist ja ein echter Kotzbrocken, da kann einem die kleine Mary nur leid tun.Aber die Mutter hast du ziemlich gut beschrieben...wie sie da vor diesem Schaufenster steht, diesen Jumpsuit bewundert :rofl: ...die abfälligen Gedanken über ihre Tochter...da läuft es einem wirklich kalt den Rücken herunter.
    Hier kommen noch ein paar Kleinigkeiten, die ich gefunden habe:

    Spoiler anzeigen

    Drei Jahre sind bereits vergangen, seitdem ich ihn den Laufpass gegeben habe.

    ihm


    „Hast du dich endlich wieder beruhig?“, fragte ich

    beruhigt

    Auf halber Strecke nahm auch sie mich war und kam ein Stück mir entgegen.

    ...und kam mir ein Stück entgegen...(?)


    Vom Adrenalin gestärkt packte ich die Frau an der Schulter, deutete provokativ auf die Aufschrift und spie verdrehte Worte heraus. „Tochter! Wohin? Zeigen Sie..? Ich, helfen Sie mir!“
    Meine Hand packte nach dem Lutscher, aber die junge Frau,

    Wiederholung...vielleicht alternativ "griff" (?)


    Ich, völlig perplex, starrte sie mit skeptischen Blickes an und erwiderte: „Das ist nicht Ihr Ernst.“

    entweder skeptischen Blickes...oder mit skeptischem Blick...würde ich sagen :hmm:


    Ein Glück für sie, dass meine Verzweiflung großer war als ihre Nachsicht.

    größer

    LG,
    Rainbow