Ob man es glaubt oder nicht, an sich stehe ich nicht so sehr auf diese Volksfeste, wie Weihnachten oder Ostern.
Selbst in meiner Zeit im Big Easy konnte ich dem Mardi Gras wirklich nichts abgewinnen. Festtagstraditionen sind zum Brechen da. Na schön, meine Ella bringt mich gerade dazu, sie unter günstigen Umständen zu tolerieren, die Zeiten ändern sich eben, auch für mich, das ist jedoch eine völlig andere Geschichte.
Aber seit ich in New York wohne, gibt es eine Zeit im Jahr, da bin ich voll mit dabei:
Ich werfe mich in meinen viktorianischen High-Low-Chiffonrock mit den passenden, fast kniehohen Schnürstiefeln und den zwar nervig dünnen, dafür noch nervigeren hohen Absätzen und dem Rüschenmieder mit dem eng geschnürten Korsett. Dazu kommt noch der passende Gehstock und der etwas zerknautschte Zylinder mit der obligatorischen Schweißerbrille.
Heutzutage trage ich noch ordentlich Schminke auf, um meinem Gesicht die nicht nur leise Andeutung eines Totenkopfes zu geben, früher genügten die ohnehin blasse Haut und ausgefahrenen Reißzähne, aber wie schon gesagt, die Zeiten sind nicht mehr dieselben. Ella steuert zu meiner Verkleidung noch eine hausgemachte Dauerwelle bei. Mal ganz im Ernst, warum tun sich andere Frauen so was das ganze Jahr an?
So ausstaffiert, dass mich selbst die Handvoll guter Bekannter, die ich mir so leiste, mich nicht wiedererkennt, fahre ich mit der U-Bahn zum Central Park, und wenn ich ganz sicher bin, dass mich niemand verfolgt, gehe zu der schwarzen Kutsche, die am vereinbarten Platz steht. Es ist genau Dämmerungszeit. Zwei schwarze Pferde warten vor der Totengräberkutsche, ebenfalls ganz in Schwarz gehalten, und zwei lackglänzende schwarze Särge warten dort auf mich. Der rechte Sarg ist mit einem silbernen Schildchen versehen, wo in geschwungenen Lettern steht: Lady Sinistre Mysteria, Gräfin der Nacht. Den Linken ziert ein neonfarbener, teuflisch grinsender Kürbis, der sogar im Dunkeln leuchtet.
Igor, mein Kutscher - im wahren Leben heißt er Jose Ramirez und betreibt einen Kutschenverleih für extravagante Fahrten – grüßt mich wie immer mit seiner Version einer Grabesstimme:
»Willkommen, Lady der Nacht. Dieselbe Prozedur wie im vorigen Jahr?«
So huldvoll, wie es mir möglich ist - und ich habe es stundenlang vor dem Spiegel geübt - antworte ich selbstverständlich: »Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr, Igor.«
Dann lasse ich mir von ihm den Sarg öffnen, lege mich dort hinein und warte mit über der Brust gekreuzten Armen darauf, dass er den Deckel schließt und losfährt.
In diesem Jahr sind schon etliche Zuschauer vor Ort, vor allem die jüngeren, bei denen es sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass jedes Jahr an diesem Tag die Gräfin der Nacht ihren Auftritt hat.
Dieses Jahr, erst zum zweiten Mal, ist auch eine ganz bestimmte Erwachsene unter den Zaungästen. Eine bezaubernde Hexe in einem unverschämt eng geschnittenen blauen Glitzerkleid, mit einem riesigen spitzen Hut mit auffälliger goldener Schnalle am Hutband und einem Reisigbesen, der garantiert noch nie ein Flöckchen Dreck gekehrt hat. Dass die hübsche Hexe noch ein wenig nach dem scharfen Geruch von Dauerwellenwasser riecht, fällt außer mir keinem auf.
Die Kleinen, alle im Alter von fünf bis dreizehn, stehen um den Wagen herum, bohren ratlos in der Nase, kauen betont unängstlich auf einem Kaugummi herum oder flüstern sich begeistert Dinge in der Lautstärke zu, dass ich sie sogar bei geschlossenem Sarg hören kann.
Früher hatte ich immer einen befreundeten Polizisten in der Nähe, der ein Auge auf mein junges Publikum hatte, schließlich sind sie wegen mir um diese Zeit im Park, und ich mache keine Scherze, wenn ich darauf hinweise, dass mit der Dämmerung die Monster aus ihren Löchern kommen, nicht nur zu Halloween.
Angesichts der wachsamen Hexe, hätte ich mir erst bei einer ausgewachsenen Zombie-Invasion Sorgen machen müssen, und da wahrscheinlich eher um die arme Untotenschar.
Mit einem Ruck fährt die Kutsche an und mit sehr gemütlichem Tempo, immerhin will man sein Publikum ja nicht außer Atem bringen, geht es tiefer in den Park. Aus versteckten Lautsprechern ertönt Toccata und die Fuge in D-Moll von Bach in gerade noch erlaubter Lautstärke.
Spätestens jetzt wissen alle Eingeweihten in der Nähe, was kommt. Der Mopedfahrerclub aus Werwölfen, sie selbst nennen sich Central Bikers from Hell, haben hoffentlich all ihren Leuten erklärt, dass dieser Teil des Parks für sie nun Off-Limits ist. Ich hasse es, eine Lektion zweimal erteilen zu müssen und seit ein paar Monaten sind meine Beziehungen zum größten New Yorker Werwolfsclan so gut wie nie. Sie verzichten bereitwillig darauf, mir in die Quere zu kommen, und ich verzichte im Gegenzug großmütig darauf, ihnen schon aus Prinzip das Fell zu gerben. An sich würde ich den Zustand gerne so beibehalten. Wie schon erwähnt, die Zeiten ändern sich.
Nach genau abgemessenen neun Minuten, Toccata nähert sich seinem Finale und die tiefen Basspfeifen der Orgel dröhnen noch einmal wie die Posaunen von Jericho, kommt unser Ziel in Sicht. Die Prozession hinter meinem Leichenwagen ist inzwischen auf wenigstens ein Dutzend Kinder und einige zusätzliche neugierige Erwachsene, meistens verkleidete Liebespaare angewachsen.
Wir erreichen The Pond, einen kleinen Weiher nördlich der 59sten Straße. Dort biegen wir in einen Kiesweg ein, der sonst durch ein eisernes Gatter versperrt ist, heute aber offensteht, wenigstens für diesen Abend. An einem Platz, sonst ein freundlicher Treffplatz für Familien, heute Abend aber zu einem schaurig heimeligen Friedhof umgestaltet, hält die Kutsche an.
Hier warten bereits weitere Gäste meiner kleinen Show, auch wieder hauptsächlich Kinder und Jugendliche, aber auch einige weitere Erwachsene. Ich bin jedes Jahr auf Neue erstaunt, wie dieses, doch eigentlich so supergeheime Event, bei dem ich jedem einzelnen geladenen Gast das ernsthafte Versprechen abgenommen habe, kein Sterbenswörtchen zu verraten, sich so weit herumsprechen kann.
Ich warte bis die Musik zu Ende ist und dann noch einmal, bis ich nur noch gespannte Stille vernehme.
Knarrend und quietschend öffne ich den Sargdeckel und registriere zufrieden vereinzelte leise Schreckgeräusche. Es hat mich Stunden bei einem genervten Sargtischler gekostet, diese Geräusche bei den Scharnieren so hinzubekommen.
Langsam erhebe ich meinen Oberkörper und schaue mich um, wie immer hochmütig erstaunt, völlig unerwartet so viele Zuschauer zu sehen.
Geübt elegant steige ich aus dem Sarg, und es hat einige Christopher Lee Draculas gebraucht, bis ich das so hinbekommen habe. Egal was man glaubt, so etwas wird auch einem jungen Vampir nicht in die Wiege, Verzeihung, in den Sarg gelegt.
Unter dem Ohh und Ahh meines Publikums steige ich herab, nehme dabei die galante helfende Hand meines Igors wie selbstverständlich in Anspruch. Zum Glück sind manche hier schon seit der ersten Show dabei und so kann ich auf Agenten im Publikum inzwischen verzichten.
»So viele Gäste bei meiner kalten, mod'rigen Heimstatt?« Betont überrascht ziehe ich meine Augenbrauen hoch und trete mitten zwischen die falschen Grabsteine vor den Steinthron, der wie zufällig vor einem grimmig blickenden Engel mit fletschenden Zähnen platziert ist.
»Igor. Sage er mir, erwarten Wir Gäste?«
Igor grinst über das ganze Gesicht als er antwortet: »Nein, edle Frau Gräfin. Es müssen wohl Eindringlinge sein, die auf Euer Geschmeide aus sind.«
Erbost strecke ich meinen Kopf vor, rufe Beast, den wilden Geist in meinem Innern hervor, der auch begeistert mitspielt, und meine Augen glühen gelb leuchtend auf. Ich gebe mein bestes Ich-bin-ja-dermaßen-angepisst-Gesicht, dass ich einige entsetzte Rufe der Neuen unterm Publikum ernte. Der Rest klatscht und johlt Beifall, wie jedes Jahr.
»Nein, wir wollen nicht Euer Geschmeide!«, ertönt nun der Ruf. Es ist die Stimme von Mr. Herriworth, dem aktuellen Leiter des Martin Luther King Waisenhauses, mit dem die ganze Aktion abgesprochen ist.
Ich beruhige mich scheinbar mühsam, meine Augen flackern noch ein paarmal, bis ich mich hoheitsvoll auf meinen Steinsessel setze und betont pikiert meine Beine übereinanderschlage und an meinen schwarzen Spitzenhandschuhen herum zupfe.
»Und welchen Wunsch könnte so gemeines Volk an die hohe Lady der Nacht richten wollen?«
»Eine Geschichte!«
»Eine Horrorstory«
»Erzähl uns eine Geschichte!«
»Gruseln, uns soll‘s gruseln!«
Meine Schminke verdeckt meine zuckenden Mundwinkel zum Glück sehr gut und ich lasse meine tiefschwarz umrandeten Augen starr durch die Reihen blicken, bis wieder Ruhe herrscht.
»Na schön!« Ich seufze theatralisch. »Vermutlich werde ich Euch sonst nie wieder los?«
Zustimmendes Geheule und lauter Beifall bestätigt mir, aka. Gräfin der Nacht, diese spontane Vermutung.
»Nun denn«, fahre ich fort, als wieder einigermaßen Ruhe herrscht, »setzet Euch und schweiget stille und so will ich Euch erzählen die Mär des Flüchtlings, der eines Tages bei Hallow-Ville aufgegriffen wurde …«