Nach einigen stilistischen Edits in den vorherigen Kapiteln geht es nun weiter. Nach meiner Überarbeitung des nun folgenden Teils habe ich beschlossen, aus ursprünglich einem Kapitel zwei zu machen. Wie immer freue ich mich über jegliche Anregung und Kritik. Viel Spaß!
7 - Der Held der Lutin
Die große Wüste, den 293., 1292 Neues Zeitalter
„Ah, du hast Beute gebracht! Endlich bist du von Nutzen“, der Stammesvater der Fuchsbolde verzog sein faltiges, graues Gesicht zu einem abfälligen Grinsen. Kajim lächelte gezwungen zurück. Er ärgerte sich, ausgerechnet Cherbo, den „Vater“ seines Stammes, als Erstes anzutreffen. Der Alte stand vor seiner Riesenechse, einem Giganten selbst unter seinesgleichen.
Die sogenannten Sandkröten, auf denen die Lutin reisten, ließen sich als große Echsen mit flachem Hornrücken und zackenbewehrten, langen Schwänzen beschreiben. „Kröten“ nannte man sie aufgrund ihres ledrigen Hänge-Halses, der sich beim Atmen und Schlucken aufblähte. Ausgewachsene Tiere bewegten sich auf vier kurzen, doch kräftigen Stummelbeinen erstaunlich schnell durch den Wüstensand und beherbergten auf ihrem Rücken entweder ihre eigene Brut oder aber die Zeltwohnungen der Lutin, während Neugeborene kaum größer als gewöhnliche Eidechsen waren. Sandkröten fraßen alles, bisweilen sogar ihre eigenen Artgenossen. Dies geschah entweder nach einem tödlichen Rivalenkampf oder wenn der Hunger groß genug war und kleinere Repräsentanten der Spezies vom Rücken ihrer Mutter gefallen waren.
Die Lutin hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ausgewachsene Tiere in der Wildnis einzufangen und als Transportmittel zu nutzen, denn dies war wesentlich leichter, als eine Sandkrötenherde zu halten. Kajim schauderte bei dem Gedanken an die Schreie und das Chaos, als sein Stamm dies einst versucht hatte. Sandkröten waren – wenn sie Glück hatten – äußerst langlebig und kampfkräftig. Mit dem Alter wurden sie bloß umso größer, und es gab Gerüchte, dass im äußersten Westen der Wüste ein ganzer Lutinstamm auf einer einzelnen, uralten Wüstenkröte lebte. Bei der allzyklischen Versammlung war dieser Stamm jedoch noch nicht aufgetaucht.
Auf dem Rücken von Cherbos Tier thronte ein geräumiges Zelt, mit Nägeln befestigt, die in den Hornrücken des alten Tieres eingeschlagen waren. Auch das übrige Dutzend Sandkröten des Stammes lagerte an der Wasserstelle, die eher die Bezeichnung Wasserloch verdiente, und ruhte sich im Sonnenschatten der Palmen aus. Von hier aus war am westlichen Horizont noch gerade der abgeflachte Gipfel des einsamen Berges auszumachen, an dessen Fuß Yomin, die „Verbanntenstadt“ lag. Am liebsten hätte Kajim sich umgedreht, um sich mit seiner Beute allein dorthin aufzumachen. Dem Alten hätte er vorher noch gehörig die Meinung gesagt. Doch um dessen Tochter Firiya willen machte er gute Miene.
„Der Stamm wird eine Woche lang Fleisch essen! Hört ihr, meine Töchter, es gibt wieder Fleisch!“, jubelte Cherbo, und hinter ihm traten auf dem Rücken seiner Sandkröte besagte Töchter hinter der Zeltplane hervor.
Cherbos Zweit- und Letztgeborene war die schönste Füchsin, die Kajim je gesehen hatte. Ihr Fell betörte durch ein seltenes Muster aus hellstem Rot, Schwarz und Weiß. Ihre dunklen Augen waren groß, klug und verträumt. Sie war dazu eine ausgezeichnete Jägerin, vielleicht nach Kajim die zweitbeste. In seiner Heldengeschichte war sie die holde Jungfrau, die es zu umwerben und durch Heldentaten zu erobern galt. Dies entsprach zwar nicht ganz der Realität, denn sie hatte ihm ihre Liebe schon gestanden und war gewisse keine Jungfrau mehr, doch würde Kajim sich etwas künstlerische Freiheit gestatten, sobald er anfing, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben.
Nur leider war sie für ihn unerreichbar, abgesehen von seltenen, wertvollen Liebesnächten, die sie auf gemeinsamer Jagd heimlich miteinander verbrachten. Cherbo hütete nämlich seine beiden Töchter noch besser als seine Augäpfel, denn der Stammesvater hatte ein Auge verloren. Seit dem Angriff eines Riesenvogels war Cherbo nicht mehr der Alte. Oder vielmehr nicht mehr der Junge, denn jetzt nannte man ihn nur noch den „Alten“. Mit nur einem Auge war es ihm nicht mehr gelungen, an der Jagd teilzunehmen, und so blieb er den ganzen Umlauf, jeden Umlauf, bei der Karawane in seinem Zelt und behielt seine Töchter im Auge. Eine musste daher stets zugegen sein, wenn möglich beide, weshalb sie nur einzeln auf Jagd gehen konnten.
Während die schüchterne Erstgeborene Minya wie gewohnt zu Boden schaute, lächelte Firiya ihn an. Kajim stockte der Atem, und einen Moment lang war er versucht, das Spiel mitzumachen, um in Cherbos und Firiyas Ansehen zu steigen.
Doch er wusste, dass der Alte ihm niemals wirklich wohlgesonnen sein würde. Mit Grauen dachte er an seine Reifeprüfung, zu der auch das Erjagen eines Riesenvogels gehörte. Er hatte den Vogel erlegt, doch als Cherbo herangekommen war, um diesen zu begutachten, hatte der Wüstenläufer noch gelebt. Mit letzter Kraft hatte er Cherbo das rechte Auge ausgepickt. Der Stammesvater hatte Kajim seitdem nicht verziehen, was auch spürbar war. Auch der heutige Erfolg des jungen Lutin würde das nicht ändern.
„Der Vogel“, Kajim holte tief Luft, „wird nicht gegessen!“ Einen Moment lang schien Cherbo wie von einem Sandgeist gelähmt. Firiya hob neugierig ihre Augenbrauen, während Mirya, den Konflikt ahnend, unruhig hin- und her tapste, bevor sie sich unauffällig und ohne ein Wort wieder ins Zelt zurückzog.
„Was?“, platzte es dann aus Cherbo heraus. Der hellgraue Fuchsbold gestikulierte wild mit den Armen. „Bist du besessen vom Geist der Dummheit? Natürlich wird er gegessen. Wir hatten seit Ewigkeiten kein Fleisch mehr!“
Doch Kajim schüttelte entschieden den Kopf: „Ich habe ihn erjagt, er gehört mir und wird nicht gegessen.“
„Was hast du denn mit dem Vogel vor? Die sind doch nutzlos und sterben innerhalb weniger Umläufe, wenn sie von der Herde getrennt werden“, entgegnete Cherbo gereizt. Er hatte vor Unverständnis die Hände auf dem Kopf zusammengeschlagen.
„Sie … sterben an Einsamkeit.“
„Und der hier hat dich, Kajim?“, der Stammesvater lachte gehässig.
„Er wird uns helfen, in der Wüste Wasserquellen aufzuspüren und mein Reittier werden“, verkündete Kajim mit erhobenem Kopf, drehte sich um und zog den Wüstenschlitten, auf dem noch immer der schwarze Prachtvogel festgebunden war, hinter sich her, in Richtung seiner eigenen Sandkröte: Mecham. Und außerdem könnte man mit ihm bestimmt von einem hohen Turm oder einer Klippe aus durch die Lüfte gleiten, fügte Kajim verträumt in Gedanken hinzu.
„Kajim“, die Stimme des Stammesvaters war ruhig und in drohendem Grollen. Kajim drehte sich wortlos um, zur Hälfte. „Kajim, du bist doch ein Jäger unseres Stammes“, diese Einleitung sollte wohl versöhnlich klingen, doch der ärgerliche Unterton war kaum verhohlen, „daher gehört die Beute, die du machst, dem Stamm. Ich, als Stammesvater, bestimme, was mit der Beute geschieht.“ Kajim hatte das Ultimatum zur Kenntnis genommen. Entweder, er gab den Vogel auf, oder er wäre fortan kein Jäger des Stammes mehr – ein Ausgestoßener, weil er auf dem Recht an seiner Beute beharrte.
Dabei bestand das gesamte Volk der Lutin im Grunde aus Ausgestoßenen. Sie hatten nicht immer in der Wüste gelebt, so hatte Kajims leiblicher Vater ihm früher einmal erzählt, sondern hatten einst große Grasländer im Osten der großen Wüste besiedelt, sowohl nördlich als auch südlich des Weltgebirges. Nun lebten dort Menschen des Suhel-Imperiums und Orks aus Orekahn, die Lutin jedoch waren in die große Wüste verdrängt worden, wo sie seit unzähligen Generationen zwischen dem Weltgebirge im Norden und dem Königreich Eribien, das für die Lutin im Süden war, ihr Dasein fristeten.
Unter den Menschen der Wüste in ihren Oasen waren die Fuchsbolde dagegen bloß bekannt als äußerst selten anzutreffende Händler, Jäger, Gaukler oder Söldner für Aufgaben, die es erforderten, klein und unauffällig zu agieren. Die meisten Völker außerhalb der Wüste allerdings dürften nicht einmal wissen, dass es Lutin überhaupt gab.
Von den Ausgestoßenen ausgestoßen. Kajim lächelte. Ihm schien dieses Schicksal zu seiner Person und Heldengeschichte zu passen. Natürlich wurde er nicht wegen eines einzelnen Vogels ausgestoßen, sondern Kajim war schon immer aufsässig gewesen und ging eigene Wege, während Cherbo stets versuchte, streng die Traditionen und Regeln der Lutin durchzusetzen. Kajim hielt allerdings nicht viel von der starren Hierarchie der Lutin und ihrer Sozialordnung, in der der Einzelne sich stets unterordnen musste, wenn es um die Gruppe ging. Der aufsässige Lutin glaubte zudem, dass es auch in anderer Hinsicht bessere Wege für sein Volk gab. Wege, wieder in grünenden, fruchtbaren Ländern zu leben, notfalls auch zusammen mit den Menschen. In Yomin könnte es anfangen.
Natürlich gab es ein paar Einzelgänger, die dies versuchten, doch die Traditionen der Lutin sahen vor, keinen Kontakt zu anderen Völkern zu knüpfen. Die Lutin-Stämme handelten dementsprechend nur das Nötigste mit den anderen Völkern Vyrs: hauptsächlich Kräuter, die die Fuchsbolde für ihre Medizin brauchten, die es allerdings nicht in der Wüste oder dem Weltgebirge zu finden gab, magische Artefakte für die Weisen der Lutin und andere Kleinigkeiten wie Bronzespiegel für die Töchter des Stammesvaters. Das jedoch, was die Lutin wirklich zum Leben benötigten – Wasser, Obst, Gemüse, Felle und Unterkunft – ließ sich in der Wüste oder dem Gebirgsland im Norden finden.
Kein Wunder, dachte Kajim, wir haben unseren Lebensbedarf an die Wüste angepasst. Dabei hatte der Rest der Welt sie längst überholt. Die Menschen des Suhel-Imperiums etwa lebten angeblich in Städten, in denen die Dächer golden leuchteten und Türme so hoch ragten, dass es hieß, an manchen Umläufen könnte man von ihrer Spitze auf die Wolken herabblicken. Kajim wollte von so einem Turm auf die Wolken herabsehen. Er wollte jedoch nicht ein Leben im Wüstensand führen, wo der größte Luxus aus einer Woche lang Fleisch bestand.
Kajims leiblicher Vater hatte ihn früher in seinen Träumen bestärkt, doch Cherbo, der Stammesvater, hatte ihn ständig einen Spinner und Narren genannt. Damals hatte Cherbo es auf freundliche und weniger ernste Art getan, ohne Kajim verletzen zu wollen. Doch seit Kajims schicksalhafter Reifeprüfung verhöhnte Cherbo ihn mit einer spürbaren Gehässigkeit. Als Kajims leiblicher Vater zur Jagd aufgebrochen war und nicht mehr wiedergekehrt war, verlor der Stammesvater schließlich vollends die Zurückhaltung und machte Kajim immer mehr zum Gespött. Angeblich, um den Stamm vor solchen gefährlichen Ideen zu schützen. Sie müssten sich auf das besinnen, was sie in der Wüste hatten und ihre Traditionen achten, um zu überleben. Doch in welcher Heldengeschichte haben sich die Helden je dadurch hervorgetan, dass sie mit ihrem gegebenen Leben zufrieden waren und sich auf das Traditionelle besannen?
So war Kajim in seinem Stamm, der mittlerweile nur noch aus dreiunddreißig Mitgliedern bestand, fast als Fremder aufgewachsen. Der junge Lutin geriet stets mit Cherbo aneinander, der seinerseits dafür sorgte, dass kaum jemand sich mit Kajim im Gespräch blicken lassen wollte. Natürlich jagten, aßen und schliefen die Lutin meist nicht allein, doch immer, wenn das Mahl vorbei war und die Lutin nachts im kühlen Sand lagen, in die Sterne blickten und miteinander flüsterten und leise sangen, war Kajim unerwünscht. Mittlerweile hatte man ihm eine eigene Sandkröte überlassen – Mecham, „Die Sängerin“. Als Anerkennung seiner Jagdfertigkeiten angeblich, doch Kajim hatte verstanden, dass niemand sich mit ihm ein Zuhause teilen wollte.
Der heutige Vorfall war nur ein Tropfen in den peitschenden Fluten, die zwischen Cherbo und Kajim wogten. Beiden war dies klar. Dennoch hatte der Stammesvater die Drohung ausgesprochen, Kajim aus dem Stamm auszuschließen. Letzterer wusste, dass es unverhältnismäßig war, wegen eines einzelnen Vogels den Stamm zu verlassen. Er könnte einfach nachgeben. Dabei war es nicht Kajims Mitleid mit dem Tier, welches ihn davon abhielt, sondern sein Ehrgeiz und Stolz. Wenn er Cherbo den Vogel überlassen würde, hätte er verloren. Kajim wollte sich aber nicht demütigen lassen. Der Held, der er in seiner Geschichte war, würde nicht klein beigeben.
Er hatte nur wenige Freunde bei seinem Stamm und er war der letzte aus seiner eigenen Familie, der noch lebte oder nicht verschollen war. Viel band ihn also nicht. Er schaute herüber zu Firiya, und sein Herz fühlte sich wie ein klaffendes Loch in seiner Brust an, als er die Trauer in ihren tiefschwarzen Augen erkannte – Firiya verabschiedete sich. Sie würde Kajim nicht begleiten, auch, wenn sie sich bereits ihre Liebe eingestanden hatten. Cherbos zweite Tochter war die einzige, die stets freundlich zu Kajim gewesen war und sich seine Pläne und Träume angehört hatte. Firiya nannte ihn oft scherzhaft einen heldenhaften Verrückten und schönredenden Dichter. Er liebte die Art, wie sie ihn dabei sanft anlächelte und ihre spitzen Reißzähne zeigte. Sie meinte ihre Späße nie böse, sondern in einer Art, die ihre offensichtliche Faszination absichtlich mangelhaft verbergen wollte. Zumindest hoffte Kajim, dass es so zu verstehen war.
Naja, das war nicht mehr wichtig - er würde ihre gemeinsamen Jagden und Nächte vermissen, doch letztlich würde er über sie hinwegkommen, dachte er. Oder er würde eines Tages als berühmter Lutin-Befreier zurückkehren, sodass Cherbo gar keine Wahl hatte, als Firiya mit ihm ziehen zu lassen, so dachte zumindest der romantische Held in ihm. Nein, korrigierte er wehmütig seinen vorherigen Gedanken, er würde nie über sie hinwegkommen. Doch heute blieb ihm keine Wahl.
Der Jäger drehte sich wortlos weg und band mit dafür vorgesehenen Lederschlaufen den Wüstenschlitten auf dem harten Rücken Mechams fest, mitsamt dem Vogel, der dabei aufgeregt blökte. Die riesenhafte Sandkröte machte ihn offenbar nervös, doch Mecham ignorierte ihrerseits den Vogel und kaute genüsslich an ein paar Farnen. Nist hatte Kajim den Vogel getauft, „Den Edlen“. Nist aß noch immer nichts, was ihm angeboten wurde, und war immer noch aggressiv.
Mit einem kräftigen Sprung schwang der Lutin sich dort, wo der lange, raue Hals der Sandkröte nahtlos in dicken Panzer überging, auf Mecham und nahm die Hanfzügel in die Pfoten. Mecham reckte ihren Hals zur Wüstensonne und machte ein hohes, gleichmäßiges und anhaltendes Geräusch, als sie sich stampfend in Bewegung setzte. Der langgezogene Ton stieg langsam in der Tonleiter, sank wieder, um dann plötzlich eine ganze Oktave nach oben zu springen und auszuklingen. Es klang traurig, doch Kajim wusste, dass Mecham voller Tatendrang war. Die Sängerin rief zum Abschied und neuem Abenteuer.