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Als der in Fachkreisen bekannte Sprachforscher und Weltreisende Augustus von Holm-Seppensen mit annähernd sechsundneunzig Jahren starb, hinterließ er eine Vielzahl seltsamer Gegenstände und Artefakte, deren Bedeutung zum Teil bis heute noch nicht geklärt ist. Holm-Seppensen war eine eigenartige, ja, man kann schon fast sagen bizarre Erscheinung gewesen. Hoch aufgeschossen, dürr, stets im weißen Gewand und mit wallendem Silberhaar, hatte man an seinen Füßen nie anderes Schuhwerk als Mao-Latschen gesehen.
Mit der Sichtung seines umfangreichen Nachlasses wurden zwei Doktoranden des Instituts für fernöstliche Kulturen an der Universität zu B. beauftragt. Der eine, Juri Grabow, ein deutschstämmiger Weißrusse, erschien eines Morgens nicht zur Arbeit. Als nach einer Woche immer noch keine Krankmeldung vorlag und Anrufe seitens der Institutsleitung bei ihm zuhause ohne Erfolg blieben, und da man wusste, dass er allein lebte, meldete man ihn nach vierzehn Tagen als vermisst. Da ein Gewaltverbrechen nicht auszuschließen war, untersuchte die Kriminalpolizei seine Wohnung nach entsprechenden Hinweisen.
Auf dem Nachttisch neben Grabow s Bett lag ein Gegenstand, der entfernt an eine silberne Taschenuhr erinnerte und aus dem Nachlass des verstorbenen Professors stammte. Anscheinend hatte Grabow den Gegenstand mit nach Hause genommen, um sich nach Feierabend damit zu beschäftigen.
Im Übrigen sah die Wohnung nicht danach aus, als sei ihr Bewohner zu einer längeren Reise aufgebrochen, eher, als habe er sie Hals über Kopf verlassen. Auf dem Küchentisch standen noch die Reste einer Mahlzeit, und in der Garderobe hing seine Jacke mit Personalausweis, Führerschein und anderen wichtigen Dokumenten.
Nun verschwinden in Deutschland jedes Jahr mehrere Tausend Menschen aller Altersstufen, und viele tauchen tatsächlich nie wieder auf. In solchen Fällen wird der Vermisste nach einiger Zeit amtlicherseits für tot erklärt und, wenn keine Verwandten aufzufinden sind, fällt sein Nachlass an den Staat.
Insofern war Juri Grabows Verschwinden nicht weiter aufregend; der Fall wurde dem Internationalen Suchdienst übergeben, die Wohnung versiegelt.
Sechs Wochen später erhielt der Leiter der Kriminaldirektion 1, Holger Abendschweisz, einen Anruf aus Minsk, Weißrussland. Eine weibliche Stimme behauptete, sie heiße Anastasia Golubew und sei die Verlobte des Juri Grabow. Sie habe erfahren, dass die Kriminaldirektion 1 mit dem Verschwinden Grabows befasst sei und teilte dem Kriminaldirektor in perfektem Deutsch mit, die Suche nach ihrem Verlobten werde ergebnislos bleiben. Man werde weder ihn noch seine Leiche finden. Er sei auch keinem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, sondern er habe sich zurück an den Ursprung seiner Existenz begeben.
Abendschweisz grunzte ungehalten. „Ursprung seiner Existenz? Wo soll der denn liegen?“ Das sei nicht so einfach zu erklären, antwortete sie, und via Handy schon gar nicht. Sie werde ihm Grabows Briefe schicken, daraus gehe alles hervor.
„Briefe? Gibt´s denn bei euch kein Telefon oder dergleichen?“, ätzte der Kriminaldirektor weiter.
Auch das gehe aus seinen Briefen hervor, sagte Frau Golubew in bewundernswürdiger Gelassenheit. Im übrigen sei Grabow ein leidenschaftlicher Briefschreiber gewesen; der elektronischen Nachrichtenübermittlung habe er gründlich misstraut.
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Die Briefe des Juri Grabow
Mittwoch, den 3. März 20.. , abends
Meine liebes Täubchen*,
ich weiß nicht, was neuerdings mit meinem Kopf los ist. Jedesmal, wenn ich mich in der Nähe eines eingeschalteten Handys oder dergleichen aufhalte, bekomme ich nach einiger Zeit Kopfschmerzen. Sie sind nicht besonders stark, die Schmerzen, damit könnte ich leben. Viel unangenehmer ist eine eigenartige Benommenheit, die sich dann einstellt. Und ich habe Wortfindungsprobleme. Noch heute morgen sorgte ich ungewollt für Heiterkeit, als ich statt 'angenommen' Agamemnon sagte. Wahrscheinlich sind es Strahlungen, die von diesen verflxten Geräten ausgehen.
Hoffentlich geht es bald wieder weg. So war´s doch früher nicht. Damit mein Kopf klar bleibt, fasse ich dieses Teufelszeug nur noch an, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt. Und so kommt es, meine Liebe, dass ich dir meine Erlebnisse schreibe, anstatt sie in die Muschel zu flüstern oder in einen Laptop zu hämmern. Es geht ja täglich ein Bus nach Minsk ab, der die Post mitnimmt.
Also, mein Täubchen, worum geht es nun?
Auf dem Weg vom Institut nach Hause erlebte ich vorhin etwas sehr Merkwürdiges. Ich musste vor einer roten Ampel halten, und da sah ich ihn ganz deutlich auf der anderen Straßenseite – du errätst es nicht: Stand da doch mein Bruder! Ja! Ich habe Viktor wiedergesehen! Du staunst! Und was glaubst du wohl, wie i c h erst gestaunt habe! Er saß auf seinem neuen Motorrad und unterhielt sich mit einer mir unbekannten Frau. Es war die gleiche Maschine, die ihn in den Tod gerissen hat, eine Harley Davidson, sein 'heißer Ofen'. Der Eindruck war so real, dass es mir für einen Moment die Sprache verschlug.
Eine unglaubliche Personenähnlichkeit – hätte so etwas nie für möglich gehalten! Natürlich glaube ich nicht, dass der Mann wirklich Viktor war. Ich bin Realist genug. Aber beeindruckend war es doch, und ich bin immer noch ergriffen. Sollte ich dieser Erscheinung noch einmal begegnen, werde ich sie mir genauer ansehen. Würde nur zu gerne wissen, ob der Mann von Nahem auch noch wie Viktor aussieht.
Ach ja, eines noch. Ich war bei nasskaltem und windigem Wetter losgefahren, und zweimal wehte mir der Zylinder vom Kopf. Jedoch – als ich den Doppelgänger sah, brach plötzlich die Sonne durch, und ein warmer Wind kam auf. Seltsam, sehr seltsam, dieser plötzliche Wetterumschwung. Aber wahrscheinlich hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.
Wie? Der Zylinder? Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Ich war bei einer Burschenschaft eingeladen, und da war Zylinder- und Frackzwang angesagt. Natürlich waren die Sachen geliehen! Wo denkst du hin!
Das ist es, was ich dir berichten wollte.
So, nun zu dir, Anastasia, mein Täubchen.
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*Golubew=Taube
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Montag, den 10. März, 20..
Liebe Anastasia,
hei, schon wieder ist etwas sehr Seltsames passiert, das mir den Schlaf einer halben Nacht gekostet hat. Weil ich weiß, dass du eine geduldige Leserin meiner Briefe bist, wage ich es überhaupt, dir davon zu berichten. Einerseits ist es absolut banal, doch andrerseits – nun höre.
Vorgestern waren meine Kaffeevorräte aufgebraucht. Der Kaufmann um die Ecke warb mit Sonderangeboten, also erstand ich mutig gleich drei Packungen und stellte sie in den Hochschrank, wo der Kaffee immer steht. Das war vorgestern. Gestern morgen nun griff ich in den Schrank und traute meinen Augn nicht – da waren zwei Packungen verschwunden, und die dritte nur noch halb voll. Du lachst! Das Drama ist noch nicht zuende, mein Engel. Heute morgen waren die beiden Packungen wieder da. Verdammt nochmal, ich weiß genau, dass ich sie nicht angerührt habe, und ich kann mich nicht erinnern, irgendwelche Gäste mit Kaffee versorgt zu haben. Und sollte doch ein Unbekannter ohne Spuren zu hinterlassen im Schrank gewühlt haben – wer stiehlt denn zwei Pfund Kaffee und lässt das Silber auf dem Küchentisch liegen!
Kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühle? Erst sehe ich meinen verstorbenen Bruder auf der Straße, und jetzt das! Bin ich noch richtig im Kopf? Ich überlege schon, ob ich mich nicht krank melde und mal wieder richtig ausschlafe. Was sage ich? Ausschlafen? Ha! Davon wird erst einmal nicht die Rede sein! Du kannst dir natürlich vorstellen, dass mir die absonderlichsten Gedanken durch den Kopf gehen! Außerdem liegt mir das Krankfeiern ohne wirklich krank zu sein nicht, und die Arbeit, die ich gerade mache, ist auch viel zu interessant.
Wenn du erlaubst, berichte ich kurz.
Gegenwärtig befasse ich mich mit dem Nachlass eines Professors, der lange in China gelebt hat. Der Nachlass enthält eine Unzahl seltsamer Sachen, von denen niemand weiß, ob sie von wissenschaftlicher Bedeutung sind oder nur ulkige Kuriosa. Ein Kollege und ich nun sollen die Spreu vom Weizen trennen, wie man so sagt. Da ist zum Beispiel ein eigenartiges silbernes Ding, das entfernt an eine Taschenuhr erinnert. Entfernt, sag´ ich, ein richtiger Chronometer kann es eigentlich nicht sein, denn für eine Taschenuhr ist es ungewöhnlich groß, liegt da etwa zwischen Großvaters goldener Uhr und einer dieser zierlichen Untertassen aus eurem Teeporzellan. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht für die Hosentasche eines normale Menschen bestimmt, sondern für weiß Gott wen. Sie tickt nicht, noch höre ich andere Laute, und zum Aufziehen finde ich auch nichts.
Nun weiter. Wenn ich auf den oberen Bügelknopf drücke, springt der Deckel auf und ich sehe zwei Zeiger, einen großen und einen kleinen. Das Zifferblatt enthält keine Zahlen, sondern seltsame Hieroglyphen, die an chinesische Schriftzeichen erinnern. Auf der Position 12 befindet sich ein totenkopfähnliches Gebilde, in dessen Augenhöhlen zwei winzige Diamanten blitzen. Diese Diamanten üben eine eigenartige Wirkung auf mich aus. Wenn ich sie länger anschaue, wird mir schwindlig. Das Zifferblatt ist nicht in zwölf, sondern in vierundzwanzig Abschnitte eingeteilt. An der Uhr befinden sich rechts und links Rädchen, mit denen ich die beiden Zeiger verstellen kann. Deckel und Rückseite sind nach fernöstlicher Art mit allerlei Getier verziert.
Ich frage dich, meine Liebe, ist dies überhaupt ein Zeitmesser? Gut, die Zeiger deuten darauf hin. Und wenn ja, welche Zeit misst dieses Gerät? Die MEZ bestimmt nicht! Kannst du mir vielleicht weiterhelfen? Du hast doch in deiner Verwandtschaft einen Popen, der sich angeblich in magischen Dingen auskennt.– Du meinst, vielleicht ist es ja eine von diesen Uhren, die durch Bewegung in Gang gehalten werden? Wohl kaum, das Teil stammt aus einer Zeit, in der solche technischen Kunststücke noch nicht auf dem Markt waren. Und die Zeiger bewegen sich anscheinend auch nicht. Ich habe das Ding mit nach Hause genommen, um es genauer zu untersuchen. Es liegt jetzt auf meinem Nachttisch und blinzelt mir zu, haha!
Wie geht es deiner Mutter? Ist ihr offenes Bein . . .
*
Sonnabend, den 27. März, vormittags
Meine liebe Anastasia,
eben, beim Frühstück, überlegte ich, wie lange ich es ohne dich noch aushalte. Du fehlst mir doch sehr, allein schon, um dich wieder mal richtig knuddeln zu können. Und auch sonst –
Im letzten Brief schrieb ich dir doch, dass mir dieses komische Ding aus dem Nachlass des verstorbenen Professors zublinzele. Das sollte ein Witz sein, war´s aber wohl nicht. Zwar blinzelt es mir nicht zu, aber das Teil schlägt mich immer mehr in seinen Bann.
Mittlerweile bilde ich mir ein, dass ich das alles nur geträumt habe. Denn als ich nachts gegen zwei Uhr in den Spiegel schaute, wurde es schon hell! Das kann doch gar nicht sein! Anfang März!
Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Ich wache nachts manchmal mit heftigen Kopfschmerzen auf und kann dann stundenlang nicht mehr einschlafen. Jetzt dröhnt mir schon der Kopf, wenn ich den Mikrowellenherd anstelle. Wenn es so bleibt, hole ich mir einen Termin beim Neurologen. Noch gehe ich davon aus, dass es nichts Ernstes ist, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wie es so richtig heißt.
Übrigens, ich habe ganz vergessen, Jewgenij zum bestandenen Examen zu beglückwünschen. Hol es bitte für mich nach.
Sonntag, halb elf am Vormittag
Heute Nacht habe ich eine seltsame Entdeckung gemacht. Gegen zwei Uhr morgens wachte ich mit Herzrasen und Kopfschmerzen auf. Ich ging in die Küche, wo jetzt die Tabletten liegen. Ich öffnete das Fenster. Von draußen wehte der Bronzeschlag der Marktkirche herein: Bong – – Bong – – Bong – – Bong . . . zwölfmal. Wieso zwölfmal?, denk ich, Mitternacht ist doch schon längst vorbei! Die Küchenuhr wies auf halb vier. Verdammt nochmal, rief ich, spielen denn jetzt alle Uhren verrückt? Kaum hatte ich mich an den Küchentisch gesetzt, das Glas mit den sprudelnden Tabletten vor mir, da waren Herzrasen und Kopfschmerzen auf einmal wie weggeblasen. Ich ließ das Glas stehen und ging wieder zu Bett. Dabei fiel mein Blick auf dieses verflixte Uhrenungeheuer unter der Nachttischlampe. Die beiden Diamanten in dem Totenkopf funkelten auf eine unheimliche Weise. Mir schien es, als komme das Gefunkel nicht vom Lampenlicht, sondern von innen heraus. Ich knipste die Lampe aus – das Funkeln erlosch nicht. Es waren jetzt zwei winzige Augen, die mich unverwandt anstarrten. In diesem Moment empfand ich einen Druck auf dem Kopf, und mein Herz fing an, wie wild zu schlagen. Wütend ergriff ich das Teufelsding und vergrub es in der untersten Schublade meines Schreibtischs. Auf einmal war der Spuk verschwunden, Kopf und Herz befreit. Mein Wecker stand auf halb acht.
Da mache sich nun einer einen Reim drauf! Ich kann den Spuk noch nicht einmal für absurd erklären, denn das Absurde ist ja bekanntlich nur eine ungewohnte Form des Alltäglichen. Und dies ist nun alles andere als alltäglich. Das ist auch mit ein Grund, warum ich mit dir nicht chatte. Wenn der KGB mithört, stecken sie mich beim nächsten Heimatbesuch gleich ins Irrenhaus. Um es kurz zu machen: Die ganze Narretei hat etwas mit dieser Uhr zu tun. In diesem seltsamen Gerät steckt ein Geheimnis. Ich spüre es deutlich – und ich habe mir vorgenommen, dieses Geheimnis zu lüften, koste es, was es wolle. Wer nichts wagt, trinkt keinen Champagner*! Vielleicht erlange ich ja dadurch sogar noch zu wissenschaftlichem Ruhm.
Wenn ich neue Erkenntnisse habe, schreib´ ich sie dir.
Bis dahin Gruß und Kuss, dein Furzius!
PS. Vielleicht hat euer Pope ja eine Idee.
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*Im Original weißrussisch, wie auch alle weiteren kursiven Textstellen
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Abendschweisz ließ den Briefbogen sinken. Was ist das für ein krauses Zeug, dachte er. Pah! Das Geheimnis der silbernen Taschenuhr. Wenn ich das meinem kleinen Enkel erzähle, lacht der mich aus. In welchem Jahrhundert lebt dieser Grabow eigentlich? Er blickte auf den Poststempel des Couverts. 13. 3. 2020. Ta, ta, ta, na gibt’s denn sowas? Hab diesen Russen noch nie so richtig getraut. Einige leben wohl immer noch im 19. Jahrhundert. Passt auch gut zu ihrem Großmachtgehabe.
Er goss sich Kaffee nach und trank einen Schluck. Brrr . . . „Frau Müller!“, brüllte er, „wie oft muss ich noch sagen, dass ich keinen Zucker im Kaffee will! Also angetanzt und neuen gebrüht! Aber hopp, hopp!“
„Kaffe wird nicht jebrüht, sondern jekocht!“, kam es wütend zurück. „Und Sie würde ich weder jebrüht noch jekocht in eine Tasse jießen.“
Wie kommt es nur, dachte Abendschweisz, dass ich mich mit den Angestellten so schwer tue.
Er seufzte und nahm sich den nächsten Brief vor.
Forts. folgt