Kräuter und die Mondelfen
10.Kapitel
Tante Meg
2.Teil
Während ich mich wieder setzte, vernahm ich Getrampel und Stimmengewirr. Schnell wurde es voll in meinem Zimmer. Ich zählte fünf Heiler und zwei Heilerinnen, die um mein Bett herumstanden und angeregt diskutierten. "Kann er sich aufrichten?", fragte Meister Grimma, der, nach Tante Meg, als bester Chirurg des Hauses galt. "Kann er sehen, kann er sprechen, weiß er, wer er ist?"
Ich erhob mich und meldete gehorsamst: " Gustav Wasa, Sohn von Gustav Wasa und Mia Ulquist, keine Erinnerungslücken, keine Schwierigkeiten mit der Wortfindung. Ich nehme an, Meister Grimma, dass Ihr den Eingriff vorgenommen habt, der wie immer ein Erfolg war. Wie könnte es auch anders sein!" Ein wenig Schmeichelei war nie verkehrt, wenn man für normal gehalten werden wollte. Von den Gelobten.
Meister Grimma starrte mich verdattert an. "Kann ich mir die Wunde einmal genauer ansehen?", fragte er. Es war erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit dieser kleine, dicke Mann mit seinen Wurstfingern den Verband aufwickelte, der mein Haupt zierte. "In der Tat", stellte er selbstzufrieden fest, als er sein Werk begutachtete. "Der Heilungsprozess verläuft gut". Er wandte sich an seinen Nebenmann, Meister Uppsa. "Da habt Ihr das Ableben des armen Jungen wohl etwas zu früh voraus gesagt." Der Angesprochene wirkte nicht überzeugt. "Er ist ein bisschen zu lebhaft", bemerkte er. "Kennt Ihr das nicht? Bei Todgeweihten lässt sich oftmals ein letztes Aufbäumen beobachten. Sie scheinen voller neu gewonnener Kraft zu sein, entwickeln einen herzhaften Appetit, so dass man denken könnte, sie seien auf dem Wege der Besserung, aber dann.... Bumm! Plötzlich brechen sie zusammen, und es ist aus. Ein letztes Strohfeuer!"
Eingehend betrachtete er mich, wohl auf der Suche nach Anzeichen meines bevorstehenden, endgültigen Zusammenbruchs. "Eigentlich fühle ich mich gar nicht so gut", sagte ich. "Ziemlich zerschlagen, und mein Schädel brummt noch. Hunger habe ich zwar, aber keinen Heißhunger. Ich fürchte, Eure Erfahrungen auf diesem Gebiet lassen sich auf meinen Fall nicht anwenden." Meister Uppsa wirkte wie ein Mann, dessen Hoffnungen sich gerade zerschlugen. Das war kein Wunder, bekleidete er doch das Amt des obersten Begutachters im Heilerhaus. Es war an ihm zu entscheiden, wer als aussichtsloser Fall in ein Sterbezimmer eingewiesen wurde. So weit ich wußte, hatte er noch nie daneben gelegen. "Vielleicht", warf Tante Meg ein, "solltet Ihr meine Theorie doch noch einmal überdenken. Zweifellos habt Ihr eine völlig korrekte Diagnose gestellt, die aber auf unserem bisherigen Wissensstand basierte. Doch macht die Forschung ständig Fortschritte. Hier haben wir zum ersten Mal einen gut dokumentierten Vorgang, der darauf hinweist, dass es die tief verborgene Lebensenergie geben könnte. Der Körper wartet bis zum letzten Augenblick und setzt sie dann frei, schlagartig. Ich denke, so war es hier."
"Eines ist richtig.", sagte Meister Grimma. "Keine der Geschichten über solche Geschehnisse erfüllte die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Hypothese. Keine begleitenden Gelehrten, keine akribischen Aufzeichnungen. Aber das hier...." Es handelt sich aber nur um einen Fall", widersprach sein Kollege. "Doch immerhin. Meisterin Ulquist, das genügt wohl als Grundlage für eine Diskussion Eurer These". Mittlerweile hatte Schwester Hildegard meine Mahlzeit hereingebracht, einen Teller Suppe und ein Butterbrot. Ich begann langsam zu essen, ohne allzuviel Eifer an den Tag zu legen. Das schien den guten Meister Uppsa zu enttäuschen. Seine Felle schwammen davon, wie man so schön sagte. "Wir sollten den Jungen jetzt allein lassen", sagte eine der Heilerinnen, eine kleine, rothaarige Frau. "Für weitere Untersuchungen ist später immer noch Zeit." Die Gelehrten verliessen debattierend das Zimmer. Nachdem Tante Meg die Schwestern verscheucht hatte, kehrte Ruhe ein. Sie wirkte erschöpft, aber zufrieden. "Jetzt werden sie meinen Aufsatz ins Jahresjournal aufnehmen müssen." sagte sie triumphierend. Am Rechtbehalten hatte sie immer ihre Freude gehabt. Ich verzichtete darauf, ihr schonend beizubringen, dass sie völlig daneben lag.
"Nein, Tante Meg, ich bin nicht von den Scheintoten zurück, weil es in meinem Leib noch so etwas wie einen Reservelebensfunken gab. Sondern weil der Geist oder was auch immer der vor siebzehn Jahren verschwundenen Erbtochter Agnatha meine Seele oder was auch immer aus einem Traumreich geschubst hatte, in der das Wasser grün war und der Himmel voller unbekannter Sterne. Jetzt, Tante Meg, befinde ich mich auf einer Mission für Agnatha, um sie aus ihrem Grab zu befreien und mit ihr zusammen in den Kampf gegen die Mondelfen zu ziehen. Und, Tante Meg, vergiss die Wissenschaft!"
Ich musste lachen. Tante Meg sah mich fragend an, nickte dann aber scheinbar wissend. "Meister Uppsas Gesichtsausdruck war wirklich zu komisch. Wie ein enttäuschter Geier, der miterlebt, wie das für tot gehaltene Reh sich aufrappelt und davon läuft." Mit seinem länglichen Gesicht, das von einer imponierenden Nase geziert wurde, und dem fast kahlen Schädel erinnerte der Mann tatsächlich an einen dieser wenig attraktiven, aber nützlichen Vögel. "Man nennt die Geier die Gesundheitsmiliz der Natur", bemerkte ich. "Das passt zu einem Heiler" Tante Meg unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. Sie musste wirklich sehr müde sein, denn normalerweise ließ sie sich nie etwas anmerken, ganz egal, wie hart sie gearbeitet hatte. "Rück mal ein Stück beiseite", forderte sie mich auf. "Ich möchte mich ein wenig hinlegen". Bereitwillig machte ich ihr Platz. Sie war schon eingeschlafen, bevor ich ihr auch nur eine Frage hätte stellen können. Wie war es meinen Freunden ergangen? Was war geschehen, nachdem ich in den Teich gestürzt war? Und wie hatte das Schulamt auf unsere Erlebnisse reagiert? Zwar hatte die Mondelfen außer mir keiner erblickt, von Agnatha ganz zu schweigen.
Wandelnde Tote und ein Blut saugender Mond dürften aber ausreichen, um die Verfechter der aufgeklärten Vernunftordnung ordentlich zu verunsichern. Würden sie die Fakten akzeptieren? Beweise waren schließlich in ausreichender Menge vorhanden.
Der Blutstein, das Fenster aus unzerstörbarem Glas, unsere von den sengenden Mondstrahlen durchlöcherten Umhänge und nicht zuletzt die Überreste der armen Tanne und des Gemüsehändlers. Dessen Kopf hatte Lehrer sogar mitgenommen, wenn ich mich recht erinnerte. Vielleicht ließ sich dies alles mit einer sehr fortgeschrittenen Technik aus dem Alten Reich erklären. Was ich für recht unwahrscheinlich hielt. Beunruhigend war, dass unsere Erlebnisse im Geisterhaus in den Gesprächen, die die Heiler in meinem Zimmer geführt hatten, keine Erwähnung gefunden hatten. Verglichen mit dieser Schreckensnacht wirkte Tante Megs Theorie vom verborgenen Lebensfunken eher wenig aufregend. Offensichtlich wussten die Gelehrten von nichts. Das Schulamt schien auf Geheimhaltung gesetzt zu haben.
Onkel Bernie hatte der Behörde stets misstraut. Seiner Meinung nach war diesen Dunkelmännern, wie er sie immer nannte, alles zuzutrauen. Hinter jedem Unglück steckte das Schulamt. Und natürlich auch der Familienrat. Das Geschehen in der Stadt und im Land, so war er überzeugt, wurde von geheimen Zirkeln gesteuert, aus dem Hintergrund. Während er selbst, in aller Heimlichkeit, über alten Texten brütete, die jeden, der sich all zu intensiv mit ihnen beschäftigte, in den Wahnsinn trieben. Falls man Agnatha Glauben schenken wollte, die vielleicht genau in diesem Augenblick über mir schwebte und ungeduldig darauf wartete, dass ich ihren Körper aus dem Grab herausholte. Warum musste mein Leben nur so kompliziert sein?
Ich blickte zu Tante Meg hinüber. Sie konnte jederzeit schlafen, genauso lange, wie sie wollte, um sich sodann sofort wieder hellwach in die Arbeit zu stürzen. Eine Fähigkeit, um die ich sie beneidete. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten. Sie ohne vernünftigen Grund zu wecken, war keine gute Idee. Da ich nicht länger untätig im Bett liegen wollte, stand ich auf und stellte mich vor die Wand mit den Ahnenbildern. Womöglich bot sich hier die letzte Gelegenheit, sie noch einmal zu sehen, bevor ich, hoffentlich in ferner Zukunft, zum letzten Mal in einem Sterbezimmer landen würde. Da waren sie also, Vorfahren aus beiden Familien, den Wasa meines Vaters und den Ulquists meiner Mutter. Vor tausend Jahren hatten die sieben großen Familien die Bergstadt begründet. So wollte es die offizielle Geschichtsschreibung, die von einigen Historikern, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, für eine fromme Legende gehalten wurde, zumindest, was die frühen Jahrhunderte betraf. Den ersten Gustav Wasa betrachteten sie sogar als Sagengestalt. Trotzdem hing da ein Gemälde, das ihn in all seiner Pracht darstellte. In der Familienchronik der Wasa wurde er sogar als der Mann gefeiert, dessen Führung die anderen Siedler seinerzeit vertrauensvoll gefolgt waren. Das sahen die übrigen sechs hochedlen Sippen naturgemäß nicht so. Nicht anders als der Rest des Volkes.
Plötzlich stand Tante Meg neben mir. So lautlos. wie sie sich bewegte, hätte sie ohne Weiteres als Kundschafterin dienen können. Lange betrachtete sie das Hochzeitsbild meiner Eltern. "Mia war mutiger als ich", sagte sie. "Sie nahm sich immer, was sie wollte, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich wünschte, ich hätte etwas von ihrem Wagemut. Ihrer inneren Freiheit. Ein wenig auch von ihrer Verrücktheit. "Alle sagen, dass ihr euch perfekt ergänzt habt", entgegnete ich. "Und jetzt bin ich ja da. Ich bin auch innerlich frei. Und manche meinen, auch etwas verrückt." Das brachte Tante Meg zum Lachen. "Das dürfte noch untertrieben sein", sagte sie. "Ich hoffe, sie verpassen dir eine vernünftige Ehefrau, die dich im Zaum hält." Ich wusste, an wen sie dachte. Schwester Hildegard sah ihr nicht nur ähnlich, sie verehrte meine Tante als großes Vorbild. Trug ihr Haar wie sie, sprach wie sie und wirkte überhaupt wie eine jüngere Ausgabe ihrer Vorgesetzten. Tante Meg hätte es sehr begrüsst, wenn der Familienrat uns am Tag der Jugend einander zusprechen würde, Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich liebte meine Tante, jedenfalls meistens, aber mit ihrem Echo verheiratet zu werden, das ging entschieden zu weit.
"Wie lange war ich bewusstlos?", fragte ich. "Fünf Tage und fünf Nächte", antwortete sie. "Und stelle mir keine Fragen zu eurer Vernunftprüfung. Das Schulamt hat mir strikt untersagt, mit dir darüber zu reden. Morgen werden sie dich einvernehmen. Sag ihnen einfach die Wahrheit. Nicht das, was sie deiner Meinung nach hören wollen. Du hast nichts von ihnen zu befürchten. Sie dienen schließlich unserem Staat." Anders als Onkel Bernie und noch extremer als Onkel Gerd vertraute sie der Obrigkeit. In dieser Hinsicht setzte ihre Klugheit aus. Das hatte sie mit Onkel Bernie gemeinsam, auch wenn die beiden ganz unterschiedlich dachten. "Eines kann ich dir doch sagen", korrigierte sie sich. "Einer deiner Freunde, der Junge aus der Sägewerksfamilie, ist leider umgekommen. Den anderen geht es gut." " Ich hätte da noch zwei Fragen, die nichts mit der Vernunftprüfung zu tun haben", sagte ich. "Stimmt es, dass meine Eltern ihre Zugesprochenen sitzen ließen und gegen den Willen des Familienrats heirateten? Und haben wirklich Frauen im Krieg gekämpft? Sogar junge Mädchen?" "Wer behauptet das? "Eine Frau hat das gesagt", gab ich zurück. "Welche Frau?" "Ich habe sie vorher nie gesehen". Was, streng genommen, der Wahrheit entsprach. Zum Glück stellte Tante Meg keine weiteren Fragen.
"Beides ist richtig", stellte sie fest. "Behalte das aber lieber für dich. Der Familienrat wird nicht gerne an diese Pleite erinnert, und das Schulamt fürchtet um den Wehrwillen, wenn herauskommt, wie knapp unser Sieg damals in Wirklichkeit war. So, den restlichen Tag nehme ich mir frei. Schlafe mich einmal richtig aus. Kann ich noch etwas für dich tun?" "Vielleicht noch einen Teller Suppe", bat ich. "Ach ja, und meine Schulbücher. Besonders das Heimatkundebuch, das mit den Landkarten." Tante Meg sah mich entsetzt an, nahm mein Gesicht in ihre Hände, berührte dann meine Stirn, als ob sie schlimmes Fieber vermutete, und fühlte anschließend meinen Puls. "Sehr witzig", sagte ich. "Danke", entgegnete sie."Wer hätte gedacht, dass ein Schlag auf den Kopf eine solche wünschenswerte Wirkung entfallen könnte. Lasse ich dir alles zukommen". "Und wenn du mich aus diesem Sterbezimmer herausholen könntest." "Selbstverständlich", sagte sie wütend. "Niemals hätten sie das tun dürfen. Es war doch völlig klar, dass du wieder zu dir kommen würdest!" Sie nickte mir zu und ging. Sicherlich war sie die ganze Zeit, in der sie mich bewusstlos wähnte, auf den Beinen gewesen. Es tat mir Leid, ihr nicht die Wahrheit sagen zu können. Nicht der Lerneifer ließ mich nach den Schulbüchern verlangen. Vielmehr benötigte ich die Landkarten, um mir den Weg näher anzusehen, der von der Bergstadt nach Kirschgarten führte. Dort war der Ort zu finden, an dem ich als Kind beinahe gestorben wäre. Ganz in der Nähe musste das Trümmerfeld aus dem Alten Reich liegen. Wo Agnatha begraben lag.
Den Rest des Tages verbrachte ich mit dem Studium der Karten. Mir fiel auf, dass ich über die Wälder am Rande des Weges rein gar nichts wußte. Im Heimatkundeunterricht waren sie nie durchgenommen worden. Warum hatte niemand die Ruinenstätte der Alten entdeckt? Kurz bevor ich schlafen ging, blickte ich noch einmal aus dem Fenster. Ein großer, schlanker Mann und eine tief verschleierte Frau in Witwentracht gingen schnell am Heilerhaus vorbei. Die Frau sah nach oben. Ganz kurz. Ich glaubte, ihre Blicke zu spüren durch den dichten Witwenschleier. "Verdammt!", sagte ich.