Kräuter und die Mondelfen

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  • Kräuter und die Mondelfen

    10.Kapitel

    Tante Meg

    2.Teil

    Während ich mich wieder setzte, vernahm ich Getrampel und Stimmengewirr. Schnell wurde es voll in meinem Zimmer. Ich zählte fünf Heiler und zwei Heilerinnen, die um mein Bett herumstanden und angeregt diskutierten. "Kann er sich aufrichten?", fragte Meister Grimma, der, nach Tante Meg, als bester Chirurg des Hauses galt. "Kann er sehen, kann er sprechen, weiß er, wer er ist?"

    Ich erhob mich und meldete gehorsamst: " Gustav Wasa, Sohn von Gustav Wasa und Mia Ulquist, keine Erinnerungslücken, keine Schwierigkeiten mit der Wortfindung. Ich nehme an, Meister Grimma, dass Ihr den Eingriff vorgenommen habt, der wie immer ein Erfolg war. Wie könnte es auch anders sein!" Ein wenig Schmeichelei war nie verkehrt, wenn man für normal gehalten werden wollte. Von den Gelobten.

    Meister Grimma starrte mich verdattert an. "Kann ich mir die Wunde einmal genauer ansehen?", fragte er. Es war erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit dieser kleine, dicke Mann mit seinen Wurstfingern den Verband aufwickelte, der mein Haupt zierte. "In der Tat", stellte er selbstzufrieden fest, als er sein Werk begutachtete. "Der Heilungsprozess verläuft gut". Er wandte sich an seinen Nebenmann, Meister Uppsa. "Da habt Ihr das Ableben des armen Jungen wohl etwas zu früh voraus gesagt." Der Angesprochene wirkte nicht überzeugt. "Er ist ein bisschen zu lebhaft", bemerkte er. "Kennt Ihr das nicht? Bei Todgeweihten lässt sich oftmals ein letztes Aufbäumen beobachten. Sie scheinen voller neu gewonnener Kraft zu sein, entwickeln einen herzhaften Appetit, so dass man denken könnte, sie seien auf dem Wege der Besserung, aber dann.... Bumm! Plötzlich brechen sie zusammen, und es ist aus. Ein letztes Strohfeuer!"

    Eingehend betrachtete er mich, wohl auf der Suche nach Anzeichen meines bevorstehenden, endgültigen Zusammenbruchs. "Eigentlich fühle ich mich gar nicht so gut", sagte ich. "Ziemlich zerschlagen, und mein Schädel brummt noch. Hunger habe ich zwar, aber keinen Heißhunger. Ich fürchte, Eure Erfahrungen auf diesem Gebiet lassen sich auf meinen Fall nicht anwenden." Meister Uppsa wirkte wie ein Mann, dessen Hoffnungen sich gerade zerschlugen. Das war kein Wunder, bekleidete er doch das Amt des obersten Begutachters im Heilerhaus. Es war an ihm zu entscheiden, wer als aussichtsloser Fall in ein Sterbezimmer eingewiesen wurde. So weit ich wußte, hatte er noch nie daneben gelegen. "Vielleicht", warf Tante Meg ein, "solltet Ihr meine Theorie doch noch einmal überdenken. Zweifellos habt Ihr eine völlig korrekte Diagnose gestellt, die aber auf unserem bisherigen Wissensstand basierte. Doch macht die Forschung ständig Fortschritte. Hier haben wir zum ersten Mal einen gut dokumentierten Vorgang, der darauf hinweist, dass es die tief verborgene Lebensenergie geben könnte. Der Körper wartet bis zum letzten Augenblick und setzt sie dann frei, schlagartig. Ich denke, so war es hier."

    "Eines ist richtig.", sagte Meister Grimma. "Keine der Geschichten über solche Geschehnisse erfüllte die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Hypothese. Keine begleitenden Gelehrten, keine akribischen Aufzeichnungen. Aber das hier...." Es handelt sich aber nur um einen Fall", widersprach sein Kollege. "Doch immerhin. Meisterin Ulquist, das genügt wohl als Grundlage für eine Diskussion Eurer These". Mittlerweile hatte Schwester Hildegard meine Mahlzeit hereingebracht, einen Teller Suppe und ein Butterbrot. Ich begann langsam zu essen, ohne allzuviel Eifer an den Tag zu legen. Das schien den guten Meister Uppsa zu enttäuschen. Seine Felle schwammen davon, wie man so schön sagte. "Wir sollten den Jungen jetzt allein lassen", sagte eine der Heilerinnen, eine kleine, rothaarige Frau. "Für weitere Untersuchungen ist später immer noch Zeit." Die Gelehrten verliessen debattierend das Zimmer. Nachdem Tante Meg die Schwestern verscheucht hatte, kehrte Ruhe ein. Sie wirkte erschöpft, aber zufrieden. "Jetzt werden sie meinen Aufsatz ins Jahresjournal aufnehmen müssen." sagte sie triumphierend. Am Rechtbehalten hatte sie immer ihre Freude gehabt. Ich verzichtete darauf, ihr schonend beizubringen, dass sie völlig daneben lag.

    "Nein, Tante Meg, ich bin nicht von den Scheintoten zurück, weil es in meinem Leib noch so etwas wie einen Reservelebensfunken gab. Sondern weil der Geist oder was auch immer der vor siebzehn Jahren verschwundenen Erbtochter Agnatha meine Seele oder was auch immer aus einem Traumreich geschubst hatte, in der das Wasser grün war und der Himmel voller unbekannter Sterne. Jetzt, Tante Meg, befinde ich mich auf einer Mission für Agnatha, um sie aus ihrem Grab zu befreien und mit ihr zusammen in den Kampf gegen die Mondelfen zu ziehen. Und, Tante Meg, vergiss die Wissenschaft!"

    Ich musste lachen. Tante Meg sah mich fragend an, nickte dann aber scheinbar wissend. "Meister Uppsas Gesichtsausdruck war wirklich zu komisch. Wie ein enttäuschter Geier, der miterlebt, wie das für tot gehaltene Reh sich aufrappelt und davon läuft." Mit seinem länglichen Gesicht, das von einer imponierenden Nase geziert wurde, und dem fast kahlen Schädel erinnerte der Mann tatsächlich an einen dieser wenig attraktiven, aber nützlichen Vögel. "Man nennt die Geier die Gesundheitsmiliz der Natur", bemerkte ich. "Das passt zu einem Heiler" Tante Meg unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. Sie musste wirklich sehr müde sein, denn normalerweise ließ sie sich nie etwas anmerken, ganz egal, wie hart sie gearbeitet hatte. "Rück mal ein Stück beiseite", forderte sie mich auf. "Ich möchte mich ein wenig hinlegen". Bereitwillig machte ich ihr Platz. Sie war schon eingeschlafen, bevor ich ihr auch nur eine Frage hätte stellen können. Wie war es meinen Freunden ergangen? Was war geschehen, nachdem ich in den Teich gestürzt war? Und wie hatte das Schulamt auf unsere Erlebnisse reagiert? Zwar hatte die Mondelfen außer mir keiner erblickt, von Agnatha ganz zu schweigen.

    Wandelnde Tote und ein Blut saugender Mond dürften aber ausreichen, um die Verfechter der aufgeklärten Vernunftordnung ordentlich zu verunsichern. Würden sie die Fakten akzeptieren? Beweise waren schließlich in ausreichender Menge vorhanden.

    Der Blutstein, das Fenster aus unzerstörbarem Glas, unsere von den sengenden Mondstrahlen durchlöcherten Umhänge und nicht zuletzt die Überreste der armen Tanne und des Gemüsehändlers. Dessen Kopf hatte Lehrer sogar mitgenommen, wenn ich mich recht erinnerte. Vielleicht ließ sich dies alles mit einer sehr fortgeschrittenen Technik aus dem Alten Reich erklären. Was ich für recht unwahrscheinlich hielt. Beunruhigend war, dass unsere Erlebnisse im Geisterhaus in den Gesprächen, die die Heiler in meinem Zimmer geführt hatten, keine Erwähnung gefunden hatten. Verglichen mit dieser Schreckensnacht wirkte Tante Megs Theorie vom verborgenen Lebensfunken eher wenig aufregend. Offensichtlich wussten die Gelehrten von nichts. Das Schulamt schien auf Geheimhaltung gesetzt zu haben.

    Onkel Bernie hatte der Behörde stets misstraut. Seiner Meinung nach war diesen Dunkelmännern, wie er sie immer nannte, alles zuzutrauen. Hinter jedem Unglück steckte das Schulamt. Und natürlich auch der Familienrat. Das Geschehen in der Stadt und im Land, so war er überzeugt, wurde von geheimen Zirkeln gesteuert, aus dem Hintergrund. Während er selbst, in aller Heimlichkeit, über alten Texten brütete, die jeden, der sich all zu intensiv mit ihnen beschäftigte, in den Wahnsinn trieben. Falls man Agnatha Glauben schenken wollte, die vielleicht genau in diesem Augenblick über mir schwebte und ungeduldig darauf wartete, dass ich ihren Körper aus dem Grab herausholte. Warum musste mein Leben nur so kompliziert sein?

    Ich blickte zu Tante Meg hinüber. Sie konnte jederzeit schlafen, genauso lange, wie sie wollte, um sich sodann sofort wieder hellwach in die Arbeit zu stürzen. Eine Fähigkeit, um die ich sie beneidete. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten. Sie ohne vernünftigen Grund zu wecken, war keine gute Idee. Da ich nicht länger untätig im Bett liegen wollte, stand ich auf und stellte mich vor die Wand mit den Ahnenbildern. Womöglich bot sich hier die letzte Gelegenheit, sie noch einmal zu sehen, bevor ich, hoffentlich in ferner Zukunft, zum letzten Mal in einem Sterbezimmer landen würde. Da waren sie also, Vorfahren aus beiden Familien, den Wasa meines Vaters und den Ulquists meiner Mutter. Vor tausend Jahren hatten die sieben großen Familien die Bergstadt begründet. So wollte es die offizielle Geschichtsschreibung, die von einigen Historikern, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, für eine fromme Legende gehalten wurde, zumindest, was die frühen Jahrhunderte betraf. Den ersten Gustav Wasa betrachteten sie sogar als Sagengestalt. Trotzdem hing da ein Gemälde, das ihn in all seiner Pracht darstellte. In der Familienchronik der Wasa wurde er sogar als der Mann gefeiert, dessen Führung die anderen Siedler seinerzeit vertrauensvoll gefolgt waren. Das sahen die übrigen sechs hochedlen Sippen naturgemäß nicht so. Nicht anders als der Rest des Volkes.

    Plötzlich stand Tante Meg neben mir. So lautlos. wie sie sich bewegte, hätte sie ohne Weiteres als Kundschafterin dienen können. Lange betrachtete sie das Hochzeitsbild meiner Eltern. "Mia war mutiger als ich", sagte sie. "Sie nahm sich immer, was sie wollte, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich wünschte, ich hätte etwas von ihrem Wagemut. Ihrer inneren Freiheit. Ein wenig auch von ihrer Verrücktheit. "Alle sagen, dass ihr euch perfekt ergänzt habt", entgegnete ich. "Und jetzt bin ich ja da. Ich bin auch innerlich frei. Und manche meinen, auch etwas verrückt." Das brachte Tante Meg zum Lachen. "Das dürfte noch untertrieben sein", sagte sie. "Ich hoffe, sie verpassen dir eine vernünftige Ehefrau, die dich im Zaum hält." Ich wusste, an wen sie dachte. Schwester Hildegard sah ihr nicht nur ähnlich, sie verehrte meine Tante als großes Vorbild. Trug ihr Haar wie sie, sprach wie sie und wirkte überhaupt wie eine jüngere Ausgabe ihrer Vorgesetzten. Tante Meg hätte es sehr begrüsst, wenn der Familienrat uns am Tag der Jugend einander zusprechen würde, Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich liebte meine Tante, jedenfalls meistens, aber mit ihrem Echo verheiratet zu werden, das ging entschieden zu weit.

    "Wie lange war ich bewusstlos?", fragte ich. "Fünf Tage und fünf Nächte", antwortete sie. "Und stelle mir keine Fragen zu eurer Vernunftprüfung. Das Schulamt hat mir strikt untersagt, mit dir darüber zu reden. Morgen werden sie dich einvernehmen. Sag ihnen einfach die Wahrheit. Nicht das, was sie deiner Meinung nach hören wollen. Du hast nichts von ihnen zu befürchten. Sie dienen schließlich unserem Staat." Anders als Onkel Bernie und noch extremer als Onkel Gerd vertraute sie der Obrigkeit. In dieser Hinsicht setzte ihre Klugheit aus. Das hatte sie mit Onkel Bernie gemeinsam, auch wenn die beiden ganz unterschiedlich dachten. "Eines kann ich dir doch sagen", korrigierte sie sich. "Einer deiner Freunde, der Junge aus der Sägewerksfamilie, ist leider umgekommen. Den anderen geht es gut." " Ich hätte da noch zwei Fragen, die nichts mit der Vernunftprüfung zu tun haben", sagte ich. "Stimmt es, dass meine Eltern ihre Zugesprochenen sitzen ließen und gegen den Willen des Familienrats heirateten? Und haben wirklich Frauen im Krieg gekämpft? Sogar junge Mädchen?" "Wer behauptet das? "Eine Frau hat das gesagt", gab ich zurück. "Welche Frau?" "Ich habe sie vorher nie gesehen". Was, streng genommen, der Wahrheit entsprach. Zum Glück stellte Tante Meg keine weiteren Fragen.

    "Beides ist richtig", stellte sie fest. "Behalte das aber lieber für dich. Der Familienrat wird nicht gerne an diese Pleite erinnert, und das Schulamt fürchtet um den Wehrwillen, wenn herauskommt, wie knapp unser Sieg damals in Wirklichkeit war. So, den restlichen Tag nehme ich mir frei. Schlafe mich einmal richtig aus. Kann ich noch etwas für dich tun?" "Vielleicht noch einen Teller Suppe", bat ich. "Ach ja, und meine Schulbücher. Besonders das Heimatkundebuch, das mit den Landkarten." Tante Meg sah mich entsetzt an, nahm mein Gesicht in ihre Hände, berührte dann meine Stirn, als ob sie schlimmes Fieber vermutete, und fühlte anschließend meinen Puls. "Sehr witzig", sagte ich. "Danke", entgegnete sie."Wer hätte gedacht, dass ein Schlag auf den Kopf eine solche wünschenswerte Wirkung entfallen könnte. Lasse ich dir alles zukommen". "Und wenn du mich aus diesem Sterbezimmer herausholen könntest." "Selbstverständlich", sagte sie wütend. "Niemals hätten sie das tun dürfen. Es war doch völlig klar, dass du wieder zu dir kommen würdest!" Sie nickte mir zu und ging. Sicherlich war sie die ganze Zeit, in der sie mich bewusstlos wähnte, auf den Beinen gewesen. Es tat mir Leid, ihr nicht die Wahrheit sagen zu können. Nicht der Lerneifer ließ mich nach den Schulbüchern verlangen. Vielmehr benötigte ich die Landkarten, um mir den Weg näher anzusehen, der von der Bergstadt nach Kirschgarten führte. Dort war der Ort zu finden, an dem ich als Kind beinahe gestorben wäre. Ganz in der Nähe musste das Trümmerfeld aus dem Alten Reich liegen. Wo Agnatha begraben lag.

    Den Rest des Tages verbrachte ich mit dem Studium der Karten. Mir fiel auf, dass ich über die Wälder am Rande des Weges rein gar nichts wußte. Im Heimatkundeunterricht waren sie nie durchgenommen worden. Warum hatte niemand die Ruinenstätte der Alten entdeckt? Kurz bevor ich schlafen ging, blickte ich noch einmal aus dem Fenster. Ein großer, schlanker Mann und eine tief verschleierte Frau in Witwentracht gingen schnell am Heilerhaus vorbei. Die Frau sah nach oben. Ganz kurz. Ich glaubte, ihre Blicke zu spüren durch den dichten Witwenschleier. "Verdammt!", sagte ich.

  • Kräuter und die Mondelfen

    11. Kapitel

    Traumweiß

    Teil 1

    Am nächsten Morgen fragte ich mich, wie dämlich man sein musste, um sich nach einem solchen Anblick sorglos schlafen zu legen. Das waren sie höchstwahrscheinlich gewesen, die Schwarze Witwe und der Schulmeister. Sie hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie mit mir noch Einiges vorhatten. Wie leicht wäre es gewesen, mich aus dem unbewachten Heilerhaus herauszuholen! Aber eine solche Aktion hätte erhebliches Aufsehen erregt. Das sie vielleicht scheuten. Wieder einmal war das Glück mir hold gewesen, wenn auch unverdienterweise. Meine Ahnen schienen denselben Standpunkt zu vertreten. Skeptisch sahen sie aus ihren Gemälden auf mich herab. Besonders der erste Gustav hielt offenbar gar nichts von mir. Dabei hatte es ihn vermutlich noch nicht einmal gegeben!

    Die Wanduhr zeigte die siebte Stunde an. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Patienten gewöhnlich geweckt, abgesehen von denen in den Sterbezimmern. Die durften so lange schlafen, wie sie wollten. Es klopfte an der Tür. Schwester Hildegard trat ein, mit einem Bündel Kleider unter dem Arm. Sofort kam sie zur Sache, genauso, wie Tante Meg vorzugehen pflegte, wenn sie es eilig hatte. "Guten Morgen", sagte sie, ohne das sich der Eindruck aufdrängte, sie sei übermässig an meinem Wohlergehen interessiert. "Zieh dich an, gehe frühstücken und sei zur achten Stunde im Schreibzimmer der Obfrau. Dort wird dich dann ein Herr vom Schulamt aufsuchen." "Du kommst besser nicht zu spät", fügte sie hinzu, während sie meine neuen Sachen auf einen Stuhl legte. Kurz bevor sie mein Zimmer wieder verließ, hielt sie für einen kurzen Moment inne. In ihrem Blick glaubte ich ein wenig Unsicherheit zu bemerken. "Wirst du am Tag der Jugend dabei sein?", fragte sie. "Ich meine, angesichts deiner Verletzungen könntest du dich auch für ein Jahr zurückstellen lassen." "Wann ist der nochmal?", fragte ich zurück. "Schon in zehn Tagen". "Nun", sagte ich. "Das bringe ich lieber gleich hinter mich. Ansonsten würde ich erst in einem Jahr für mündig erklärt. Wer will das schon!" Die Schwester nickte nur kurz. Ich nahm an, dass sie Erleichterung empfand, denn es war schließlich ihr Traum, Tante Megs Schwiegertochter zu werden. Dafür hätte sie auch einen Esel geehelicht. Und in Ermangelung eines solchen sogar mich. Sie ließ sich aber nichts anmerken, sondern stolzierte davon, als ob ihr meine Antwort vollkommen egal gewesen wäre.

    Ja, der Tag der Jugend. Die Stunde der Wahrheit, der alle Jungen und Mädchen jahrelang entgegenfieberten, so gleichgültig und unbeeindruckt manche auch auftreten mochten. In der Bergstadt herrschte seinerzeit die Auffassung vor, dass man so etwas Wichtiges und Folgenreiches wie eine Ehe nicht auf der Grundlage verschwommener, romantischer Gefühle errichten durfte. Liebesheiraten gehörten in schwülstige Romane, die von vielen Frauen auch eifrig gelesen wurden. Vielleicht sogar, heimlich, von einigen Männern. Doch wenn es ums Heiraten in der wirklichen Welt ging, war Sachverstand gefragt. Über den verfügte der Familienrat. Von Geburt an hatte dieses Gremium jeden Bürger der Stadt und des Landes im Blick. Schon die Hebammen verfassten Berichte und lieferten sie beim Rat ab. Ebenso die Kindermädchen, die Lehrer und Lehrerinnen, die Ausbilder bei der Jugendmiliz und auch die Heiler und Heilerinnen, war doch der Gesundheitszustand der künftigen Ehekandidaten von erheblichem Interesse. All diese Informationen wurden ausgewertet, mit dem Ziel, die Paare zu ermitteln, die am besten zueinander passten.

    Dabei kam es immer wieder zu Überraschungen. Weshalb die Stadt und das Land in den Monaten vor dem grossen Tag nur ein Thema kannten. Wer würde wem zugesprochen werden? Welche Familien würden sich plötzlich als Verwandte wiederfinden? Da der Familienrat niemals auch nur den kleinsten Hinweis nach draussen dringen ließ, waren die Leute auf Spekulationen angewiesen, denen sie sich auch hemmungslos hingaben. Am meisten natürlich die Jugendlichen selbst. Die Mädchen träumten davon, einen der gut aussehenden, begehrten Kandidaten abzubekommen, während sie gleichzeitig fürchteten, in einer Ehe mit dem dicken Jungen zu landen, der bei den Waffenübungen immer als Letzter ausgesucht wurde. Den jungen Männern erging es nicht besser. Ihnen drohte nicht nur eine Verbindung mit einer unattraktiven Frau, sondern auch ein Dasein als Pantoffelheld, falls sich die Zugesprochene auch noch als herrschsüchtig entpuppen sollte. Das war aber noch nicht einmal das Schlimmste, was einem am Tag der Jugend zustossen konnte. In unserem Jahrgang war das Zahlenverhältnis zwischen den Geschlechtern nicht ausgeglichen. Es gab drei junge Männer zu viel. Also würden sich für drei von uns auch keine Partnerinnnen finden. Es war stets das gleiche, grausame Ritual. Die zukünftigen Paare strömten in die Halle des Volkes, gefolgt von ihren Verwandten. Alle nahmen ihre Plätze ein. Dann begann die Sprecherin des Familienrates, Namen vorzulesen. Zuerst den des Mädchens, dann den des Jungen. Beide traten vor, wurden einander zugesprochen und gingen Hand in Hand zurück zu den Zuschauern, wo sie sich, mehr oder weniger glücklich, nebeneinander setzen durften. Für den Rest ihres Lebens. Man konnte sich nicht scheiden lassen.

    Wir waren etwa fünfhundert Siebzehnjährige, also wiederholte sich der Vorgang zweihundertundfünfzig Mal. Trotzdem wurde es nicht langweilig, zumindest nicht für diejenigen, die in den ersten Stunden nicht ihre Namen vernahmen. Schließlich würden in diesem Jahr, ganz zum Schluss, noch ein Mädchen und vier Jungen auf ihre Zuordnung warten. Das letzte Paar kam an die Reihe. Und drei Jungs blieben übrig. Keiner kümmerte sich um sie. Während all die anderen aufgeregt zusammenströmten und dann zu den Familienfeiern aufbrachen, standen sie abseits. Selbst ihre eigenen Sippen behandelten sie wie Versager. Als ob sie etwas für die Launen des Rates konnten. Ich hatte diese Vorgehensweise immer für barbarisch gehalten. Warum teilte man die Übriggebliebenen nicht dem nächsten Jahrgang zu, für eine zweite Chance? Lieber wurde in Kauf genommen, dass sich die Meisten, denen solches wiederfuhr, das Leben nahmen. Manche meldeten sich auch zu den Grenztruppen, was auf dasselbe hinauslief. Oder widmeten den Rest ihres Daseins dem Met und dem Heidelbeerwein.Zwar standen ihnen alle Berufswege offen, zumindest in den Grenzen ihres Standes. Sobald sie das fünfunddreissigste Lebensjahr erreicht hatten, war es ihnen auch erlaubt, eine Witwe zu heiraten. Onkel Bernie hatte das gleich zwei Mal gemacht und war darüber reich geworden, da er beide Frauen überlebt hatte. Ihm war auch eine erfolgreiche Laufbahn als Schulmeister gelungen. Ich hatte immer den Eindruck gewonnen, dass er mit seinem Schicksal sehr gut zurecht kam. Aber womöglich hatte Agnatha ja recht. Den Makel, übrig geblieben zu sein, wurde man nie ganz los. Das mochte an ihm genagt haben, auch wenn ihm nie etwas anzusehen war.

    Ob er wirklich, wie er es oft erzählt hatte, schon mit siebzehn Jahren so gelassen, ja so überlegen gewesen war, dass er in der ganzen Veranstaltung nur einen lächerlichen Mummenschanz erblickte, den man nicht ernst nehmen musste? Und grinsend davon schritt, um im Roten Viertel ordentlich zu feiern? Was erlaubt war. Sofern ein junger Mann an der Zeremonie teilgenommen hatte, galt er als mündig. Versehen mit allen Freiheiten. Ohne eine Zugesprochene und spätere Gattin, die vielleicht Einwände gegen seinen Lebensstil erhob. Zwar war Onkel Bernie schließlich wegen seiner Trunksucht und vor allem seiner Verweigerung jeder Therapie in die Verbannung geschickt worden. Aber erst fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tag der Jugend. Ein Zusammenhang musste da nicht zwingend vorgelegen haben. Gesoffen wurde in der Bergstadt viel, wobei sich die Verheirateten nicht zurückhielten. Unser Heilerhaus unterhielt eine eigene Abteilung ausschließlich für Kranke, deren Leber nicht mehr so richtig ihren Dienst verrichtete.

    In diesem Jahr gab es aber einen jungen Mann, der die Gelassenheit in Person sein würde. Mich. Da meine Eltern geheiratet und ein Kind bekommen hatten, ohne sich um den Familienrat zu kümmern, fügte sich mein Dasein nicht in das erwünschte Gesamtbild der Stadt und des Landes ein. Es war nicht vorgesehen, dass es mich überhaupt gab. Demzufolge passte auch keine junge Frau zu mir. Ich würde mit Sicherheit übrig bleiben. Vom Tag meiner Geburt an war das völlig klar, auch wenn Tante Meg hoffte, dass man mir doch noch eine tüchtige Ehefrau verpassen würde. Andernfalls, so fürchtete sie, würde ich Onkel Bernie, ihrem älteren Bruder, nur all zu eifrig nacheifern. Das hatte ich durchaus vor, wenn auch mit deutlich weniger Alkohol. Die Missachtung, unter der die Übriggebliebenen zu leiden hatten, brauchte ich nicht zu fürchten. Mutter und Vater genossen immer noch grossen Respekt. Mit meinen Elixieren hatte ich mir zudem eigene Anerkennung erworben. Niemand erwartete am Tag der Jugend, meinen Namen zu hören, und ebenso wenig würde mir dies als Versagen angekreidet werden. Ich galt als Ausnahme. Ein Außenseiter, aber mit zwei eigenen Häusern, welche mir mein Onkel hinterlassen hatte, und einem beachtlichen Vermögen aus dem Verkauf der Alles-Weg-Salbe. Tante Meg würde das Geld herausrücken müssen, sobald man mich für mündig erklärt hätte. Und keine nörgelnde Angetraute! Perfekt. Jetzt mussten sich die Mondelfen nur noch dazu entschließen, zum Morgenstern auszuwandern. Gerne unter Mitnahme der Schwarzen Witwe.

    Und da waren ja auch noch die Tanzmädchen aus dem Roten Viertel, die, wenn man Onkel Bernie Glauben schenken wollte, recht nett waren. Zu denen, die Geld hatten. Beflügelt von derlei Aussichten, kleidete ich mich an und eilte durch die Gänge zum Speiseraum. Im Sterbeflügel herrschte tiefe Stille. Hin und wieder huschte eine Krankenpflegerin vorbei. Lebhafter wurde es, als ich den Bereich der Lebergeschädigten erreichte, wie sie netterweise offiziell hießen. Es wimmelte geradezu von Leuten, so dass kaum ein Durchkommen war. Damals glaubten die meisten Heiler, dass es den Kranken gut tat, wenn sie möglichst viel Kontakt untereinander und zu ihren Verwandten hatten. Also durften sie umherlaufen und unbegrenzt Besuch empfangen. Es ging zu wie auf dem Marktplatz, besonders bei den Säufern. Ich erblickte einige Zechkumpane Onkel Bernies und hätte Grüße erwartet, aber sie taten so, als ob sie mich nicht wahrnähmen. Genauso hielten es ihre Besucher. Nur ein kleines Mädchen lächelte mich an, bis es von seiner Mutter weggezogen wurde. Das war die Art, wie man Geächtete behandelte. So stolz die Bergstadt auf den zivilisatorischen Fortschritt war, der in der Abschaffung der Todesstrafe und der Folter bestand, so erfinderisch war man bei der Entwicklung neuer Strafen gewesen. Neben verschiedenen Varianten der Verbannung gehörte hierzu auch die Ächtung.

    Die Betroffenen wurden für den Zeitraum, den das zuständige Gericht für angemessen befunden hatte, wie Luft behandelt. Niemand sprach mit ihnen. Als ob sie gar nicht existierten. Verhungern und erfrieren mussten sie nicht, weil die Behörden für sie ein kleines Haus in der Unterstadt bereit hielten, wo sie schlafen konnten und Nahrung vorfanden. Abgesehen davon führten sie ein Geisterdasein. Ein wenig wie Agnatha, nur dass die wirklich unsichtbar war. Falls es sie überhaupt gab. Wovon ich erst einmal ausging. Schließlich hatte Tante Meg ihre Erzählungen bestätigt. Warum wurde ich so behandelt? Wollte das Schulamt mich und die anderen, die im Spukhaus gewesen waren, auf diese Weise isolieren, damit wir unsere Erlebnisse nicht weiter geben konnten? Spätestens im Speisesaal würde ich das herausfinden, denn ein Geächteter durfte sich nicht einfach etwas zu essen nehmen. Er durfte gar nichts berühren. Also marschierte ich weiter bis zur Kantine, deren Wände mit lauter bunten Kinderzeichnungen bedeckt waren. Auch das sollte eine Stimmung erzeugen, die der Heilung zuträglich war. Die Leute saßen an ihren Tischen, aßen und tranken, unterhielten sich lebhaft und ignorierten mich vollständig. Allerdings erhob auch niemand Einwände, als ich mir am Buffet den Teller vollud und auf einem freien Stuhl Platz nahm.

    Falls das eine Ächtung war, dann die Seltsamste, von der ich je gehört hatte. Da es keine gute Idee darstellte, zu einer Vorladung durch das Schulamt zu spät zu kommen, machte ich mich nach dem Frühstück sogleich auf den Weg. Während ich die Treppen zum obersten Stockwerk erklomm, wurde es zunehmend leiser. Dicke Teppiche dämpften meine Schritte. Rote Teppiche, die mich in unangenehmer Weise an das Sommerhaus der Sverrig erinnerten. Vor der Tür zu Tante Megs Arbeitsräumen blieb ich stehen und klopfte mehrmals. Unverhofft bei ihr hereinzuplatzen, war nicht ratsam. Niemand reagierte. Daher öffnete ich die Tür vorsichtig und blickte in den Raum hinein, in dem meine Tante ihren Papierkram zu erledigen pflegte, Die Ausstattung war edel, aber nicht protzig. Ein großer Schreibtisch aus Eichenholz, Ledersessel für Besucher und jede Menge Regale, auf denen sich Krankenakten und Bücher stapelten. In einer Ecke stand eine Liege. Hin und wieder, wenn es sehr viel zu tun gab, ging die Obfrau gar nicht erst nach Hause, sondern nächtigte hier. Die Wanduhr zeigte an, dass jetzt mein Termin beginnen sollte. Doch es erschien niemand. Nach einer halben Stunde fasste ich mir ein Herz, betrat das Zimmer und machte es mir in einem der Sessel bequem. Die Zeit verging. Ich betrachtete das Gemälde, welches Tante Meg an der Wand hinter ihrem Schreibtisch hatte anbringen lassen.

    Mein Großvater Gustav hatte es geschaffen. Eines seiner letzten Werke, bevor sich sein Verstand zersetzt hatte. Es zeigte die alte Heeresstrasse, wie sie sich die Berge emporwand, durch die Vorstädte führte, und dann weiter nach oben durch die Unterstadt und die Oberstadt bis zum Burgberg, der über allem trohnte und auf dem die großen Familien ihre Herrschaftssitze errichtet hatten. Von dort aus konnten sie auf den Rest des Volkes herab blicken, was ihnen wohl allzugut gefiel. Die Gründer hatten es für eine brillante Idee gehalten, die mächtigen Clans nahe beieinander zu platzieren, damit auf diese Weise Harmonie und gute Nachbarschaft Einzug hielten. Leider war das Gegenteil der Fall gewesen, wie diverse Bürgerkriege im Lauf der vergangenen Jahrhunderte bewiesen. Vielleicht wäre ein wenig mehr Distanz vernünftiger gewesen. Wenn man sich gegenseitig in die Kochtöpfe schauen kann, ist das Zusammenleben nicht unbedingt einfacher, besonders unter Rivalen, die erbittert um jedes bisschen Macht und Einfluss kämpften.

    Die Tür ging auf. Tante Meg trat ein, gefolgt von einem ganz in Schwarz gekleideten, mittelgroßen Mann, dessen Haupthaar sich bereits bedenklich gelichtet hatte. Der Vertreter des Schulamtes, wie ich vermutete. Respektvoll erhob ich mich. Er winkte lächelnd ab, wobei er ungewöhnlich weiße Zähne sehen ließ. "Meister Arrund, darf ich Euch meinen Neffen Gustav Wasa vorstellen", sagte Tante Meg. "Und Gustav, du kennst ihn vermutlich noch nicht. Das ist Meister Arrund, Oberaufseher im Schulamt." In der Tat hatte ich den Herrn noch nie gesehen. Bei vierzigtausend Einwohnern kannte eben nicht mehr jeder jeden in der Stadt. "Sehr erfreut", entgegnete ich und verbeugte mich. "Ebenso", gab der Meister zurück und brachte eine nicht ganz so tiefe Verbeugung zustande. Wäre ich ein vollwertiger Wasa gewesen mit allen Rechten, hätte er mich unterwürfiger begrüssen müssen als ich ihn. Aber das war jetzt meine geringste Sorge. "Setz dich doch", forderte er mich freundlich auf, nachdem er selbst und Tante Meg Platz genommen hatten. Rangunterschiede wurden sehr ernst genommen. "Du weißt, warum ich dich hierher zitiert habe?", fragte er. "Wegen der Vorkommnisse im Sommerhaus der Sverrig, nehme ich an." "So ist es", bestätigte meister Arrund. "Ich möchte, dass du mir genau schilderst, was geschehen ist." "Und", fuhr er nach einer Kunstpause fort, "du sollst dabei keinerlei Rücksicht auf das nehmen, was ich deiner Meinung nach hören will. Oder was mich ärgern könnte. Oder den Lehren der Aufklärung zuwiderliefe, nach denen wir alle leben. Nur die Wahrheit will ich hören, wie auch immer sie lauten mag."

    Das bezweifelte ich allerdings.

  • Kräuter und die Mondelfen

    11.Kapitel

    Traumweiß

    Teil 2

    Geschichten über Sauger, Grabwandler und Mondelfen passten ganz und gar nicht in die herrschende Lehre. Um dem Narrenhaus zu entgehen, wäre hier Lügen mehr als angebracht gewesen. Andererseits hatte das Schulamt bereits fünfzehn meiner Kameraden befragt. Was Verhörmethoden anging, brauchte sich diese Behörde nicht vor der Stadtmiliz zu verstecken. Diese Meinung vertrat zumindest Onkel Gerd, der es ja wissen musste. Falls sie die Wahrheit aus den anderen herausbekommen hatten, würde ich ziemlich schlecht dastehen, wenn ich ihnen mit Falschaussagen kam. Und schließlich konnte man uns ja nicht alle ins Narrenhaus stecken. Hoffte ich und entschied mich für eine kombinierte Vorgehensweise. Die Wahrheit bis zu der Sache mit den Mondelfen, den die konnten meine Mitschüler von der Strasse aus gesehen haben. Und kein Wort über Agnatha und ihre seltsame Insel. Von der wusste keiner außer mir.

    Ich klopfte mit den Knöcheln meiner rechten Hand auf Tante Megs Schreibtisch. "Ich möchte voranschicken, dass alles, was ich erlebt habe, genauso real ist wie dieses Möbelstück", erklärte ich. "Wie jeder andere Gegenstand hier. Ja sogar wie Ihr, Meister Arrund, und Du, Tante Meg. Es war kein Traum und auch keine Halluzination. Dazu wirkte die ganze Szenerie zu echt, zu detailliert. Mir ist kein Mittel bekannt, das Wahnvorstellungen hervorrufen könnte, die sich genauso anfühlen wie das, was wir Realität nennen. Wenn das eine Halluzination war, dann seid Ihr auch eine." Das brachte den Mann vom Schulamt zum Lachen. "Also, das hat mir noch keiner vorgeworfen", kommentierte er. "Mir auch nicht", stimmte ihm Tante Meg zu. "Also gut, dann erzähl mal, was dir an wahrhaft Wirklichem widerfahren ist. Sie sagte das in einem eigenartigen Tonfall. Irgendetwas war da noch. Wovon ich keine Ahnung hatte. Hintergrundwissen, das mir fehlte. Es galt,äußerste Vorsicht an den Tag zu legen.

    "Am Tag der Vernunftprüfung standen wir vor dem Sommerhaus der Sverrig", begann ich meinen Bericht. "Zwanzig Schüler des siebten Jahrgangs der Höheren Schule Nr.4 in der Oberstadt, sowie der Schuldiener Dietmar. Zwei Fenster waren plötzlich beleuchtet. Blutrot. Und der Vollmond nahm dieselbe Farbe an. Dann war die Haustür auf einmal geöffnet, und wir gingen hinein." "Und vorher?", unterbrach mich Meister Arrund. "Vorher?", fragte ich irritiert. "Gab es vielleicht etwas zu essen oder zu trinken?", wollte er wissen. "Da stand ein Suppenkessel", erinnerte ich mich. "Wir nahmen alle von der heißen Brühe, wegen der Kälte." "Jeder gleich viel?", lautete die nächste Frage. Mir war zwar schleierhaft, was den Oberaufseher an unserem Suppenkonsum interessierte, aber ich antwortete wahrheitsgemäß. Soße und ich hatten je zwei Becher geleert, während sich Schlichter mit einem begnügt hatte. Er mochte keinen Kümmel. Über die anderen Schüler wusste ich nichts zu sagen. "Gut", sagte der Meister. "Dann weiter!"

    "Wir gingen also hinein", fuhr ich fort, "und fanden uns im Empfangssaal der Sverrig wieder. Überall hingen Bildnisse der verschwundenen Erbtochter als kleines Mädchen. Es gab auch Porzellanfiguren von ihr. Ein Gemälde zeigte sie als Siebzehnjährige. Da stand außerdem ein Blutstein aus dem Alten Reich. Hervorragend erhalten. Sogar die Inschriften waren zu erkennen. Der neue Lehrer forderte mich auf, sie vorzulesen, und etwas von meinem Blut auf den Stein herabtropfen zu lassen. "Meister Nossfu", korrigierte mich der Mann vom Schulamt. "Das war sein Name. Meister Nossfu. "Aha", sagte ich. "Nun, nachdem mein Blut auf die Schriftzeichen gelangt war, gingen die Lampen aus. Glockenklang wa zu hören. Und die Gestalten der sieben Opfer des Vollmondmörders schwebten plötzlich in der Luft. Meister Nossfu behauptete, die Mädchen seien in Wirklichkeit von Agnathas Mutter ermordet worden. Daraufhin hätten ihn die Sverrig beinahe erstochen. Er wies uns noch darauf hin, dass die Vernunftprüfung trotzdem weiter gehe, und wir uns auf einen Sauger, Grabwandler und Mondelfen einstellen sollten. Mit wissenschaftlichen Methoden hätten wir zu ermitteln, welche technischen Vorrichtungen hinter diesen Erscheinungen steckten. Tja, und dann ging es los!"

    Ich eröffnete mit dem Blut saugenden Mond und schilderte sodann unseren Kampf mit Schlichters toter Großmutter und den lebenden Leichen, ohne dass weitere Zwischenfragen gestellt wurden. Tante Meg und Meister Arrund hörten sich die haarsträubende Geschichte ungerührt an. Vermutlich vernahmen sie sie nicht zum ersten Mal. Erst als ich auf die Mondelfen zu sprechen kamm, zeigten sie wieder echtes Interesse. Das war ihnen wohl neu. Mein Fehler. "Wie sahen sie denn aus?", fragte der Oberaufseher begierig. "Sie ähnelten sehr den Zeichnungen, wie man sie in den Märchenbüchern für Kinder findet." "Und du hast ihnen tatsächlich einen Keks angeboten, woraufhin sie dich vom Dach warfen?" "Ich weiß, wie das klingt", sagte ich. "Es kommt mir auch immer verrückter vor, je länger die Ereignisse zurück liegen. Aber das sind meine Erinnerungen. Ich kann es auch nicht ändern." Nun", erwiderte Meister Arrund, "ich danke dir zunächst für deine Ehrlichkeit. Außer dir hat es nur einen Schüler gegeben, der uns seine Erlebnisse mit der gleichen, rückhaltlosen Offenheit mitgeteilt hat. Alle anderen passten ihre Geschichten dem an, was ihrer Meinung nach zu den Lehren der Aufklärung passte, und ließen Vieles unter den Tisch fallen."

    "Der andere Schüler war wohl Schlichter", vermutete ich. "Benutze doch bitte die richtigen Namen und nicht eure Spitznamen", verlangte Tante Meg. Meister Arrund widersprach. "Lasst ihn nur". meinte er. "Die Jungs reden sich nun einmal so an, und ich wollte ja eine möglichst genaue Schilderung der Geschehnisse. Ich hatte damals übrigens auch einen Spitznamen. Er lautete "Schönhaar". "Ja ich weiß", bemerkte er, als Tante Meg und ich uns bemühten, nicht laut loszulachen, und strich über seine Halbglatze. "Die Zeit nagt an uns allen. Besonders an uns Männern". Er wurde wieder ernst und fragte mich eindringlich: "Worin bestehen die Lehren der Aufklärung? Was ist ihr Kern? Worauf laufen sie hinaus?" "Auf die Erkenntnis der Wahrheit", antwortete ich, "wie immer sie auch aussehen mag. Wenn es Mondelfen wirklich gibt, dann müsste die Wissenschaft dies anerkennen. Die Phantasten wären diejenigen, die vor dieser Tatsache die Augen verschlössen." "Und du glaubst an die Mondelfen", wollte er wissen. "Ich glaube nicht, ich habe sie gesehen", stellte ich fest. "So wie Euch jetzt."

    Mit dieser Ansicht hatte ich mich sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Eine Zukunft im Narrenhaus lag durchaus in Reichweite. Das Schulamt hatte einige Leute schon für weniger dorthin verfrachtet. Andererseits konnte ich auch nicht mehr zurück. Ich musste auf meinem einmal beschrittenen Weg bleiben. Alles andere hätte verlogen, unsicher und opportunistisch gewirkt. Der Mann schien Offenheit zu schätzen. Doch vielleicht lag ich mit dieser Einschätzung falsch und würde den Rest meines Lebens unter Verrückten verbringen dürfen. Zumindest würde es in solcher Gesellschaft nie langweilig werden. Zu meiner Erleichterung rief Meister Arrund nicht die kräftigen, weiß gekleideten Männer herbei, die für die weitere Betreuung übergeschnappter Mitbürger zuständig waren, sondern sprach: " Du hast vollkommen recht. Dein Freund Schlichter und du, ihr wart die Einzigen, die die richtige Antwort gaben. Alle anderen meinten, die Aufklärung bestünde darin, die Manifeste der Vernunft herunterzubeten, wie sie vor achtzig Jahren von Luitgart dem Erleuchteten verkündet wurden. Er wollte uns aus der Finsternis des Aberglaubens befreien. Und was ist Aberglaube?" Der Einfachheit halber beantwortete er seine Frage gleich selbst. " Das für wahr Halten dessen, was nicht existiert, und die Leugnung dessen, was existiert. Das ist Aberglaube. Wenn Mondelfen tatsächlich in unserer Welt vorkämen, wäre dies anzuerkennen. So wie das Dasein von Pferden, Steinen oder Sternen. Sie müssten wissenschaftlich erforscht werden, und das Schulamt wäre dabei federführend." "Dann glaubt Ihr mir also?", fragte ich verblüfft. "Ihr akzeptiert, dass es Mondelfen gibt? Und den Blut saugenden Mond?" Meister Arrund lehnte sich ein wenig zurück. "Das habe ich nicht gesagt", gab er zurück.

    Tante Meg übernahm jetzt die Gesprächsführung. "Du meintest", begann sie, "dass du kein Mittel kennen würdest, das solche Trugbilder hervorrufen könnte, wie du sie erlebt hast". "Das trifft zu", antwortete ich. "Das stärkste Elixier, das Wahnvorstellungen erzeugt, wird aus dem blauen Eschenpilz gewonnen. Es sorgt für täuschend echte Hör-und Seh-Erlebnisse, aber man kann die Halluzinationen nicht berühren. Sie können niemandem das Genick brechen oder vom Dach werfen. Was mir widerfuhr, war etwas ganz anderes!." "Das kann ich bestätigen", kam mir Meister Arrund unerwarteter Weise zur Hilfe. "Während einer Übung meiner Jugendmiliz habe ich einmal von diesem Pilz probiert. Ich sah Elfen! Winzig klein, mit Krönchen auf den Köpfen. Ich habe mich sogar mit ihnen unterhalten!" "Und ich lauschte den Gesängen von Laubfröschen, als ich im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments den Stoff zu mir nahm", gestand Tante Meg. "Sie hatten wunderschöne Stimmen. Aber man konnte sie nicht berühren. Damit hast du recht, Gustav. Aber denke doch einmal in größeren Dimensionen. In weiteren Räumen." Das sagte sie mit ihrer Lehrerinnenstimme. Gerade eben hatte sie den Tonfall gewählt, der dem Schüler signalisierte, dass er die Antwort zu wissen hatte, weil die Sache im Unterricht schon durchgenommen worden war. Ich kramte in meinen Erinnerungen.

    Ein noch wirkungsvolleres Elixier, das es irgendwo auf der Welt gab? Das mir handgreifliche Mondelfen vorgaukeln konnte? Sie meinte doch nicht etwa..... "Traumweiß?", fragt ich ungläubig. "Ganz genau", sagte Tante Meg. "Aber das ist völlig unmöglich", widersprach ich. "Dieser Trank besteht aus achtundzwanzig Zutaten, die aus der gesamten bekannten Welt zusammengesucht werden müssen. Einige verderben sehr schnell, so dass es nur einen Ort gibt, wo er zubereitet werden kann. Die Alte Kaiserstadt.

    Sie liegt genau in der Mitte unseres Erdteils. Und nur dort leben die Trankmeister, die ihn herzustellen vermögen. "Wäre Traumweiß denn imstande, solche Wahrnehmungen zu produzieren, wie ihr sie Im Sommerhaus der Sverrig erlebt habt?" fragte Meister Arrund. "Zumindest nach der Meinung einiger Wissenschafter?" "Solche Einschätzungen gibt es, ja", bestätigte ich. "Habe ich zumindest gelesen. Trotzdem ist es nicht machbar, das Mittel von der Alten Kaiserstadt hierher in die Bergstadt zu bringen, weil er, einmal gebraut, nur wenige Tage wirksam bleibt. Er müsste also vor Ort bereitet worden sein. Aus achtundzwanzig Zutaten, von denen einige aus sehr weit entfernten Regionen stammen und sich auch nicht sehr lange halten." "Und wenn ich dir nun sage, dass wir in den Resten der Suppe, die ihr zu euch nahmt, Spuren von Traumweiß gefunden haben?", fragte Tante Meg ruhig. "Insgesamt sechzehn der Zutaten konnten wir bestimmen."

    Das verschlug mir die Sprache. Traumweiß! Großmutter Swanhild, die in ihrer Jugend viel gereist war, hatte mir von den Türmen des Schweigens in der Alten Kaiserstadt erzählt. In diesen Bauwerken lebten steinreiche Aristokraten, wenn man das noch "leben" nennen konnte. Zurückgezogen von unserer Welt, erlebten sie phantastische Abenteuer, fanden die große Liebe, erkundeten neue Länder, retteten die Menschheit vor schrecklichen Gefahren, aber nur in ihren Träumen. Künstlichen Träumen, die ihnen ihre Trankmeister zusammen gemischt hatten. Großmutter Swanhild hatte es seinerzeit für wahrscheinlicher gehalten, dass die geldgierigen Verwandten der angeblichen Träumer diese aus dem Weg geschafft und in den Türmen entsorgt hätten, um deren Vermögen zu kassieren. Großmutter Swanhild neigte aber auch ein wenig zum Zynismus. Großvater Gustav hingegen, so fiel mir gerade ein, hatte der Versuchung nicht widerstehen können, das Gebräu zu probieren. Seiner Ehefrau hatte er nie erzählt, welche Träume ihm beschert worden waren, meinem Vater aber schon. Jede Menge umwerfend schöner Frauen seien ihm begegnet, Halluzinationen zwar, doch hätten sie sich alle sehr real angefühlt. Ich hatte mir das Rezept für Traumweiß angesehen. Es wirkte fremdartig und war mit nichts zu vergleichen, was mir je untergekommen war. Konnte man damit Menschen in Illusionswelten versetzen, die von der Alltagsrealität nicht zu unterscheiden waren? Großvater Gustav war jedenfalls noch Jahrzehnte später von seinem Erlebnis begeistert gewesen.

    "Diese sechzehn Zutaten", sprach ich Tante Meg an. "Gehörten sie alle zu denen, die in der Bereitungsanleitung aufgeführt sind?" "Woher kennst du die überhaupt", wollte sie wissen. "Du hattest mich doch einmal gebeten, alte Bücher in den Keller zu bringen", antwortete ich. "In Einigen stöberte ich ein bisschen herum. Da ist mir das Rezept aufgefallen." "Du solltest die Texte doch nicht lesen", stöhnte meine Tante. "Welchen Titel hatte denn das Werk?, mischte sich Meister Arrund ein. "Die größten Trankmeister und ihre dunkelsten Geheimnisse", zitierte ich aus dem Gedächtnis. Der Mann sah Tante Meg an. "Und Ihr wundert Euch, dass er da mal hineingeschaut hat?" Er wandte sich an mich. "Warum fragst du,ob die Bestandteile allesamt mit den im Buch aufgeführten übereinstimmen?" "Weil es nur eine Erklärung geben kann, warum Traumweiß bei uns auftaucht", erläuterte ich. "Jemand muss die Zusammensetzung verändert haben, und zwar so, dass das Elixier und seine Zutaten länger haltbar blieben. Ohne dass die Wirkung verloren ging". "Das ist richtig", stellte Tante Meg fest. "Vier der von uns in der Suppe entdeckten Substanzen waren neu. Euer Blut haben wir im Übrigen auch untersucht. Mit demselben Ergebnis". Die Mondelfen, der Blutmond, die Grabwandler - Erzeignisse unserer von dem Rauschgift entfesselten Phantasie? Möglich. Doch nur allzu gut passend zur Doktrin des Schulamtes.

    Innerlich schwankte ich, während ich, nach außen gerichtet, ein wenig schauspielerte. Linientreue zu bekunden war manchmal angebracht, angesichts der Konsequenzen.

    "Traumweiß!", rief ich aus. "Damit hätte ich ja nie gerechnet!" "Keiner von uns hätte das", sagte Meister Arrund. "Du hegst also keine Zweifel mehr?" "Tante Megs Untersuchungsergebnisse sprechen für sich", erwiderte ich. "Außerdem erinnere ich mich wieder an das, was mir mein Vater über Großvater Gustavs Abenteuer in der Alten Kaiserstadt berichtete, der sich mit einem der Trankmeister angefreundet hatte. Er dufte eine Traumreise antreten. Alles, was ihm widerfuhr, erschien ihm so realistisch, dass er bis zu seinem Lebensende nicht sicher war, ob er es nicht doch alles in Wirklichkeit erlebt hatte." "Hat er wohl nicht", meinte Tante Meg. "Mir hat er auch davon erzählt. Als der Rausch einsetzte, fand er sich auf einer Insel wieder, wo nur Blondinen lebten. Dort verbrachte er einen Monat, obwohl er nach wenigen Stunden wieder aufwachte. Traumweiß verändert auch das Zeitempfinden. Und es unterdrückt jegliche Fähigkeit zur Selbstkritik. Deswegen wurdest du auch nicht misstrauisch, als du wie nebenbei das Mittel gegen die Nachwirkungen des Berserkertranks entdecktest. Woran all unsere Weisen seit Jahrhunderten gescheitert sind. Aber es kam dir ganz natürlich vor." "Ausschließlich Blondinen", murmelte Meister Arrund. "Ein bisschen einseitig, würde ich sagen."

    "Einen Augenblick mal", sagte ich. "Wenn wir tatsächlich unter dem Einfluss dieses Giftes standen, woher will ich dann wissen, dass die Wirkung nicht noch anhält? Ich könnte immer noch vor dem Haus stehen und halluzinieren. Was ich hier sehe und erlebe, ist vielleicht genauso pure Einbildung wie die Mondelfen." "Und wie finden wir heraus, ob dies der Fall ist?", fragte Tante Meg mit ihrer Lehrerinnenstimme. Mein Blick fiel auf die Bücherregale. "Ganz genau", sagte sie zufrieden. "Ich suche schon einmal das Passende heraus." Meister Arrund sah mich verständnislos an. " Falls Ihr wissen wollt, ob Ihr Euch gerade in einer vom Traumweiß herbeigeführten Illusion befindet, ist Lesen das richtige Mittel", dozierte ich. "Das Elixier vermag alle möglichen Wahnvorstellungen herbeizuführen, aber es verleiht keine Kreativität. Ich kann mir zwar ein Buch einbilden, das nicht da ist. Ich kann es auch aufschlagen. Aber sofern ich daraus vorlesen wollte, müsste ich es im gleichen Moment, zumindest im Geiste, verfassen. Dazu wäre nur ein sehr geübter Autor fähig, und selbst der stieße an seine Grenzen, wenn das Buch von etwas handelte, wovon er keine Ahnung hat. In meinem Fall wäre ein Mathematikbuch genau das Richtige." "Bei mir auch", kommentierte der Mann vom Schulamt.

    "Ich habe etwas viel Besseres anzubieten", verkündete Tante Meg und knallte ein umfangreiches Werk auf ihren Schreibtisch. Ich nahm es an mich, sah mir den Umschlag an und las: "Herzeleid und Liebesschmerz. Band 9." "Ach du lieber Himmel!", rief Meister Arrund aus. "Der größte Kitsch aller Zeiten! Und das Lieblingsbuch meiner Mutter! Ich habe gar nicht gewusst, dass schon wieder eine neue Fortsetzung auf dem Markt ist." "Schlag es irgendwo auf und lies vor", sagte Tante Meg. Ich kam der Aufforderung nach und begann:

    "Gestreichelt vom sanften Mondenscheine, lag Prinzessin Jamina in Ihrem Himmelbett. Die Sehnsucht ließ sie erbeben, als ihre Gedanken zu Prinz Adi eilten, ihrer wahren, großen Liebe. Ach, wie sie ihn vermisste! Seine blonden Locken, die zum Herumwühlen einluden! Die sanften, blauen Augen. Die kräftigen und doch so zärtlichen Hände! So gern hätte sie sich angelehnt an seine starken Schultern, doch hatten die Winde des Schicksals den Schönen davon geweht, hin zu den schrecklichsten Gefahren! Jaminas kleines Herz pochte vor Kummer, als sie sich vorstellte, wie es dem Geliebten wohl ergehen musste. In den schrecklichen Einöden der Endlosen Berge! Womöglich vor Kälte zitternd! Ganz, ganz allein! Wenn sie doch nur bei ihm sein könnte! Mit zärtlichen Küssen seine edle Stirn bedecken könnte! Ihre Wärme und Liebe mit ihm teilen....."

    Mir versagte die Stimme. Was für ein grauenvoller Mist, und doch die erfolgreichste Buchreihe in der Geschichte der Bergstadt. Auch noch verfasst von einem Mann, einem Buchhalter im Ruhestand. War das zu fassen?

  • Kräuter und die Mondelfen

    11.Kapitel

    Traumweiß

    Teil 3

    Meister Arrund tat so, als ob er sich übergeben müsste. Tante Meg lächelte. "Na schön", sagte ich. "So etwas kann ich mir unmöglich ausdenken. Doch wenn wir uns die Geschehnisse im Haus der Vernunftprüfung nur eingebildet haben, was ist dann wirklich passiert? Sind wir überhaupt in dem Gebäude gewesen?" "Das wart ihr", antwortete Meister Arrund. "Nach unseren Erkenntnissen brach im Erdgeschoss ein Feuer aus. Ihr seid nach oben geflohen und habt euch über das Dach in den Garten gerettet." "Was ist mit Holzer geschehen?", unterbrach ich ihn respektlos. Er schien es mir nicht übel zu nehmen. " Wir nehmen an, dass er sich das Genick brach, als er vom Dach stürzte. Ähnliches ist dir zugestossen, aber glücklicherweise hast du überlebt. In den Trümmern fanden wir die verbrannten Überreste eures Schuldieners und die des Meisters Nossfu. "Wie schrecklich", sagte ich erschüttert. "Und die Gegenstände, die wir in dem Haus vorfanden? Die Bilder und die Porzellanfiguren, der Blutstein...". "Nichts davon", lautete die Antwort. "Auch kein unzerstörbares Fenster. Ich fürchte, das Traumweiß hat euch all dies nur vorgegaukelt". Womit die Vernunftordnung wieder hergestellt war. Sehr bequem für das Schulamt. Doch nicht völlig abwegig. "Dann hätte uns das Elixier eine reale Gefahr, das Feuer, in einer ins Phantastische verfremdeten Form gezeigt, als Blutmond, Untote und Mondelfen", überlegte ich laut. "Dennoch konnten wir uns retten. Damit haben die Urheber wohl nicht gerechnet. Die wollten uns wohl alle tot sehen.

    "Das Traumweiß wirkt sehr viel subtiler, als bisher bekannt war", sagte Tante Meg. "Glücklicherweise. Sicherlich war geplant, dass ihr umkommen solltet. Man wäre von einem tragischen Feuer ausgegangen, während in Wirklichkeit ein Experiment durchgeführt wurde. Wahrscheinlich stecken Agenten der Flusslande dahinter. Sie wollten wissen, welche Auswirkungen ihre Neuentwicklung in der Praxis haben würde. Dazu eignete sich das abgelegene Sommerhaus der Sverrig hervorragend. Folgen sollte wohl ein weitaus größerer Anschlag. Du kannst dir vorstellen, wie es jetzt in der Stadt aussieht. Es herrscht der Ausnahmezustand. Alle Brunnen werden streng bewacht. Das Volk wird über die Wirkungsweise des Giftes aufgeklärt." "Und da könnten wir deine Hilfe gebrauchen", fügte Meister Arrund hinzu. "Leider sind ein paar Einzelheiten eurer halluzinierten Abenteuer durchgesickert. Viele Leute meiden den Friedhof. Es geht die Angst vor Wiedergängern um. Erinnerungen an die alten Geschichten von den Rufern und Klopfern werden wieder wach. Und das im Jahre 80 der Aufklärung!" Diese Legenden waren mir bekannt. Im Dunklen Zeitalter machte sich in jedem Haus Panik breit, wenn es nach einem Todesfall in der Familie an der Tür klopfte. Das konnte der Verstorbene sein. Wer ihm öffnete, fiel sofort tot um. Manchmal verließen die Leichname auch ihre Gräber, um die Namen ihrer Verwandten zu rufen. Es war keine gute Idee, ihnen zu antworten, worauf nämlich ebenfalls sehr schnell das eigene Ableben folgte.

    "Du bist dabei gewesen", sagte der Meister. "Und genießt hohes Ansehen als junger, aufstrebender Kräutergelehrter. Wenn die Leute von dir die Wahrheit hören, wird dies sicherlich sehr zur Beruhigung der Lage beitragen." "Natürlich", erklärte ich mit dem erwarteten, staatsbürgerlichem Eifer. Gründlich nachdenken konnte ich später immer noch im stillen Kämmerlein. "Ich stehe selbstverständlich zur Verfügung." Der Mann vom Schulamt nickte. "Du kannst damit anfangen, indem du einen detaillierten Bericht verfasst. Über alles, was du wahrgenommen hast, und alles, was du darüber denkst. Schreibe lieber zu viel als zu wenig. Du darfst das Schreibzimmer deiner Tante benutzen. Ich lasse dir Papier und Tinte bringen." Er erhob sich. "Es war mir eine große Freude, mit einem so vernünftigen jungen Mann zu sprechen." Gefolgt von Tante Meg, steuerte er auf den Ausgang zu, um dann unvermutet stehen zu bleiben und sich umzudrehen. "Eine Frage noch. Würdest du dir zutrauen, Traumweiß herzustellen? Wenn dir alle Zutaten aus der Formel, die in diesem Buch stand, zur Verfügung stünden?" "Ich denke schon", erwiderte ich. "Falls ich genug Zeit zum Experimentieren hätte." Er nickte und verabschiedete sich. Ich blieb allein zurück. Und in Gedanken versunken.

    Tante Meg traute ich keine Lüge zu. An ihren Untersuchungsergebnissen zweifelte ich nicht. In unserer Suppe hatten sich also zumindest Bestandteile des Rauschmittels befunden. Meister Arrund hingegen war ein wenig zu freundlich gewesen. Zu interessiert daran, unsere Nacht im Spukhaus als pure Drogengeschichte darzustellen. Für alles gibt es eine natürliche Erklärung. Das war die vorgegebene Linie. Ich gratulierte mir dazu, meine Begegnung mit Agnatha verschwiegen zu haben. Denn in ihrem Bücherzimmer hatte ich in einigen Werken geblättert und auch ein paar Texte gelesen. Innerhalb einer Halluzination ein Ding der Unmöglichkeit. Ausgerechnet das Verrückteste meiner Erlebnisse wäre somit keine Illusion gewesen. Manches passte zu der Traumweißtheorie, anderes wiederum nicht. Während ich noch vor mich hin grübelte, vernahm ich ein Geräusch.

    Es kam von der anderen Seite des Zimmers, wo sich die Liege befand, auf der Tante Meg bisweilen zu nächtigen pflegte. Unter diesem Ruhelager hatte sich jemand versteckt, der nun ächzend und stöhnend hervor gekrochen kam. "Schlichter?", fragte ich ungläubig. "Was zum Geier machst du denn da?" Während er sich aufrichtete, signalisierte er mir in der Zeichensprache, die sie uns in der Jugendmiliz zur lautlosen Verständigung beigebracht hatten: "Vorsicht. Sie lauschen an der Tür. Kein falsches Wort. Bleib bei der Traumweißgeschichte." "Ich wollte hören, wie du unsere Erlebnisse beurteilst", beantwortete Schlichter laut die Frage, die ich ihm gestellt hatte. Ich griff nach dem Herzschmerzroman und schlug das Buch schnell auf. "Ich bin keine Halluzination", protestierte mein Freund. "Das würde jedes Trugbild auch behaupten", gab ich zurück. "Zu deiner Information. Traumweiß kann auch Nachwirkungen haben. Selbst Jahre nach dem Rausch besteht die Möglichkeit, dass sich Einbildungen in deine Wahrnehmung mischen. Eine Treppe, die nicht da ist, so dass du dir den Hals brichst. Ein nicht vorhandener Gesprächspartner, der dir dann im Narrenhaus Gesellschaft leistet." "Dir ist schon klar, dass du gerade einer möglichen Halluzination einen Vortrag hälst?", gab Schlichter zu bedenken. "Das haben wir gleich", verkündete ich.

    Und las: "Pferdegetrappel und Trompetenschall! Er nahte, der Geliebte! Prinzessin Jaminas kleines Herz schlug schneller. Gleich, oh gleich würde sie in seine starken Arme fliegen. In seinen dunklen Locken wühlen. Erbeben unter dem Blick seiner warmen, braunen Augen. Sie wusste, nur mit ihm würde das Glück Einzug in ihr Leben halten. Leise sprach sie seinen Namen aus. Gerrick! Welch süßer Klang!" "Einen Augenblick mal", unterbrach ich meinen Vortrag. "Hieß er nicht Adi, und war er nicht blond?" Schlichter winkte ab. "Das war vor etwa hundert Seiten. Die gute Janina ist recht wankelmütig. Meine Mutter kann nicht mehr so gut lesen, ist aber zu eitel, um Augengläser zu tragen. Also muss ich ihr das Zeug vorlesen." Er seufzte. "Du kannst mich als Experten betrachten." "Was ist aus Prinz Adi geworden?", wollte ich wissen. "Starb den Opfertod. Rettete sie vor dem schurkischen Dunkelgrafen, ging aber leider dabei drauf. "Lange hat sie aber nicht getrauert", bemerkte ich. "Sie denkt eher kurzfristig", erläuterte Schlichter. "Da du dir vermutlich nicht zutraust, solchen Mist zu verzapfen, bin ich jetzt hoffentlich von einer Wahnvorstellung zu einer realen Person avanciert. Und die hat Einiges nicht verstanden. Warum haben wir alle das Gleiche gesehen? Hätte der Stoff nicht jeden von uns in seine eigene Phantasiewelt befördern müssen?" "Daran arbeiten sie noch. Sie hoffen, dass du ihnen eine Erklärung lieferst.", signalisierte er mir mit Gesten. Und laut: "Und warum diese gruseligen Bilder? Wieso nichts Nettes?"

    Ich dachte nach. "Das Traumweiß", erklärte ich, "bewirkt, dass innere Vorstellungen als äußere Wirklichkeit wahrgenommen werden. Abhängig davon, welche Ängste oder Wünsche der Einzelne hegt. Allerdings erzeugt es auch eine große Empfänglichkeit für Suggestionen. Wenn du es genommen hast, und jemand ruft: Eine Riesenspinne greift an! Dann siehst du die auch. Großmutter Swanhild hat mir berichtet, dass sich die Träumer in der Alten Kaiserstadt in ihren Türmen isolieren, damit sie nicht gestört werden können. Sie arbeiten die Traumwelten, in denen sie leben wollen, sorgfältig aus, oder beauftragen professionelle Geschichtenerzähler damit. All dies lernen sie auswendig, und erst dann nehmen sie ihre genau bemessene Dosis ein. Auch wir sind vorbereitet worden, durch unsere Erwartungen. Hätte man uns gesagt, im Haus der Sverrig warteten Tanzmädchen aus dem Roten Viertel auf uns, dann hätten wir die erblickt. Aber wir sahen künstlich erzeugten Geistererscheinungen oder Ähnlichem entgegen. Was immer die Lehrer für uns zusammen gebastelt haben würden."

    "Nochmal", beharrte Schlichter". "Wieso bei allen die gleiche Illusion? Hätte man uns Tanzmädchen versprochen, was ich entschieden bevorzugt hätte, wäre dann nicht jedem sein Idealbild erschienen? Der Eine sieht Blond, der Nächste Rothaarig, der Dritte Brünett?" Langsam geriet ich ins Schwitzen. Er machte es mir wirklich schwer. "Nehmen wir an", sagte ich, " du hättest eine Vorliebe für Blondinen. Und hättest gerufen: "Die Mädchen sind ja alle blond!" Dann hätte sich uns diese Haarfarbe gezeigt. So wird es auch bei den Gruselerscheinungen gewesen sein. Einer verkündete: "Der Mond saugt Blut!" Und schon stellte sich bei den Übrigen dieselbe Phantasie ein. "Das war aber nicht so", signalisierte Schlichter lautlos. "Lass dir etwas Besseres einfallen!"

    Na schön. "Außerdem", fuhr ich fort, "darf man nicht vergessen, dass sich das Mittel auch auf das Gedächtnis auswirkt. Nachdem ihr das Dach verlassen hattet, werdet ihr euch sicher über eure Wahrnehmungen unterhalten haben. Ihr habt euch ausgetauscht, so dass eine einheitliche Erinnerung entstand. Um im Bild mit den Tanzmädchen zu bleiben. Wir hätten sie gesehen, weil man uns gesagt hätte, in dem Haus würden welche auf uns warten. Jeder erblickt zunächst seine Lieblingshaarfarbe. Dann schwärmt einer von Blondinen. Das bestimmt die Sichtweise der anderen. Oder allen präsentieren sich unterschiedliche Haarfarben, doch dann, als sie das Erlebte erörtern, tritt einer besonders überzeugend auf, woraufhin sich die geamte Truppe an Blondinen erinnert. Was jetzt in deinem Kopf ist, ist womöglich das verfälschte Abbild von Dingen, die wir uns nur vorgestellt haben. Wir können nicht einmal sagen, was für Wahnvorstellungen wir damals hatten!"

    "Ist das dein Ernst?", fragte Schlichter mittels der Zeichensprache. "Habe ich mir gerade ausgedacht", gab ich auf demselben Wege zurück. "Eine kühne These, zugegeben. Könnte aber sein. Wir wissen viel zu wenig über dieses Zeug." Schlichter wirkte nicht überzeugt, sagte aber laut: "Das leuchtet ein. Ich wusste doch, dass es dir gelingen würde, meine Zweifel auszuräumen!" "Ich denke, damit können sie arbeiten", fügte er unhörbar hinzu. "Traumweiß wurde bisher nur in der Alten Kaiserstadt angewandt, wo sie damit umzugehen wussten", sagte ich nachdenklich. "Dass jetzt offensichtlich eine Variante entwickelt worden ist, die überall hin transportiert oder sogar an jedem beliebigen Ort bereitet werden kann, finde ich zutiefst beunruhigend." "Du solltest dir noch über etwas anderes Sorgen machen", antwortete der Richtersohn. "Gerade eben hast du eingeräumt, dass du die Substanz zusammenrühren könntest. Damit bist du der einzige Verdächtige in der Sache. Für die Miliz auch der einzige Ermittlungsansatz." "Wieso der Einzige?", fragte ich irritiert. "Tante Meg und Trankmeister Thing könnten das auch." "Könnten sie nicht", widersprach Schlichter. "Gegenüber dem Schulamt und der Miliz haben beide ausgesagt, dass sie damit überfordert wären. Nur ein aussergewöhnlicher Trankmeister wäre der Herausforderung gewachsen, etwas so Komplexes zu erschaffen. Damit meinten sie dich."

    Ungläubig starrte ich ihn an. "Tante Meg hat zugegeben, dass ich besser bin als sie? Und auch Thing, der alte Besserwisser, der mich immer behandelt wie einen dummen Lehrling? Der mir ständig erzählt, dass ich gar nichts wüsste, weil mir die Erfahrung fehlte, und noch viel fleißiger lernen müsste?" "Bevor du jetzt vor Eitelkeit platzt", mahnte mein Freund, "sei dir im Klaren darüber, dass sie dir eine solche Aktion durchaus zutrauen. Sogar dein Onkel Gerd." "Das kann doch nicht dein Ernst sein", protestierte ich. "Ich würde doch nie an Ahnungslosen ein so gefährliches Elixier ausprobieren!" Während ich dies sagte, fielen mir allerdings die Augentropfen ein, die ich seinerzeit meinen Klassenkameraden verabreicht hatte, woraufhin Einige wochenlang im Dunklen leben mussten. Das Sonnenlicht war einfach zu viel für sie gewesen. Immerhin hatte ich sie vor möglichen Nebenwirkungen gewarnt, wenn auch vielleicht nicht mit dem nötigen Nachdruck. Und dann war da noch der Saufverstärker. Mischte man ein paar Tropfen davon in ein alkoholisches Getränk, machte es, je nach Körpergewicht des Opfers, drei bis fünf Mal so betrunken wie das Original. Bei der letzten Jahresfeier der Lehrer hatte das wunderbar funktioniert. Nach wenigen Bieren waren die Schulmeister so dicht, dass wir uns tatsächlich, wie beabsichtigt, einiger freier Tage erfreuen konnten. Leider war einer von ihnen im Rausch in den Bergfluss gefallen. Sie konnten ihn gerade noch rechtzeitig aus dem Wasser holen. Zum Glück wussten nur Soße, Schlichter, Lehrer und ich von der Sache.

    "Da habe ich mir ja einen schönen Ruf eingehandelt", stellte ich fest. "So übel ist der gar nicht", erwiderte Schlichter. "Allgemein hält man dich für einen anständigen Kerl. Aber wenn du eine Idee für einen neuen Trank hast, vergisst du jede Vernunft, und auch die Moral geht flöten. Genau deshalb verdächtigen sie dich ja." "Ernsthaft", signalisierte er. "Denk nach. Wer käme noch in Frage?" "Da ist doch noch der alte Trankmeister Thing", rief ich laut aus. "Den haben sie vergessen. Dabei kann er alles, was ich kann, viel besser!" "Er zählt schon einhundertunddrei Jahre", gab Schlichter zu bedenken. "Und er hat sich schon längst aufs Altenteil zurückgezogen." "Nicht längst", korrigierte ich. "Erst vor einem halben Jahr. Bis dahin war er noch sehr agil. Zwar ging er am Stock, verfügte aber immer noch über gute Augen und eine ruhige Hand. Immer wieder half er im Heilerhaus aus, besonders wenn es galt, das Mittel gegen das Winterfieber zu bereiten, das er ja seinerzeit zusammen mit meiner Mutter entwickelt hatte. Er gilt immer noch als der größte Kräutergelehrte aller Zeiten."

    "Zugegeben", antwortete Schlichter. "aber wie du sagst. Seit einem halben Jahr lässt er sich nicht mehr sehen. Das Alter fordert eben doch seinen Tribut." "Warte mal", sagte ich. "Auch vor einem halben Jahr verschwand Fredrik, sein Lieblingsurenkel, als er am Waldrand gespielt hat. Das traf den alten Thing wirklich sehr. Er entließ sein Personal, das ihm jahrzehntelang treu gedient hatte, stellte neues Gesinde aus den Grenzgebieten an und verließ seitdem sein Haus nicht mehr. Komische Leute. Als ich ihn besuchen wollte, jagten sie mich davon wie einen Dieb. Um ein Haar hätte ich Prügel bezogen." "Das wusste ich gar nicht", sagte der Richtersohn überrascht. "Und er hat wirklich alle gefeuert?" "Sie kamen damals verzweifelt zu Tante Meg", bestätigte ich. "Sie hat sie aus Mitleid eingestellt und im Heilerhaus wohnen lassen. Wie wäre es damit? Unbekannte entführen den Jungen, von dem man ja auch nie eine Spur gefunden hat. Sie drohen dem alten Herrn, Fredrik etwas anzutun, falls er nicht Traumweiß für sie herstellt. Natürlich stören die Bediensteten. Er wird gezwungen, sie hinauswerfen. Neue Kräfte kommen, die ihn bewachen. In seinem Heim befindet sich ein hervorragend ausgestattetes Labor. Mit allem, was dazu gehört. Er gebietet über ein überragendes Fachwissen. Das Haus ist abgelegen, abgeschirmt von hohen Bäumen. Eine ideale Basis für die Planung und Vorbereitung eines Anschlags".

    Ich hielt inne. "Ein bisschen sehr konstruiert, oder?", fragte ich. "Klingt wie der verzweifelte Versuch eines Verdächtigen, doch noch im letzten Augenblick seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen". Aber Schlichter sah mich nachdenklich an. "Ganz und gar nicht", meinte er. "Das macht Sinn. Ein Junge verläuft sich im Wald. Tragisch, aber so etwas kommt leider vor. Der Urgroßvater ist voller Gram und igelt sich in seinem Haus ein. Auch verständlich. Weil er niemanden mehr sehen will, schickt er sein Personal weg. Nachvollziehbar. Aber dann holt er sich völlig Fremde? Woher kennt er die überhaupt? Was kannst du über sie sagen? "Grenzgebietdialekt", erinnerte ich mich. "Schwer zu beurteilen, ob von unserer Seite oder der der Flusslande." "Das haben wir übersehen", stellte Schlichter wütend fest. "Es hätte auffallen müssen!". "Bin ich damit vom Haken?", fragte ich. "Vermutlich", antwortete er. "Sehr wahrscheinlich sogar. Das war klug gedacht. Hätte ich dir gar nicht zugetraut." Er sah mich eindringlich an. "Behalte das für dich. Kein Wort zu irgendwem, auch nicht zu Tante Meg. Wenn du richtig liegst, sollen die Schurken nicht vorzeitig gewarnt werden. Warte, bis dich die Miliz anspricht. Deine Theorie werde ich ihnen sogleich vortragen." "Die sie natürlich schon kennen", ergänzte er in der Zeichensprache. "Schließlich hören sie zu. Sei sehr vorsichtig mit dem, was du sagst. Immer schön auf Linie bleiben". Nach dieser Warnung empfahl er sich. Glaubte er wirklich an die Traumweißgeschichte? Glaubte ich selbst daran?

    Ich war mir nicht sicher.

  • Salut,

    Eine radikal-rationale Schulleitung, die Kindern vehement den Aberglauben austreiben will, indem sie sie in Spukhäuser schickt? Das klingt nach einer sehr spezifischen Prämisse, aber interessant.

    Ich habe mal die ersten beiden Kapitel gelesen und finde sie sehr angenehm geschrieben. Ich finde es gut, dass du die Szenen nicht mit einer 100%igen Ernsthaftigkeit beschreibst, da die Situation mit der Vernunftsprüfung ja doch recht skurril ist.

    Ich persönlich würde mehr Zeilenumbrüche setzen. Z.B. jedes Mal, wenn ein Sprecher wechselt oder um, falls man die Geschichte laut lesen würde, eine kurze Pause zu signalisieren.

    Ausserdem finde ich das Verhalten der Schüler wenig glaubwürdig. Das mag eine Stilfrage sein, aber mir kommen sie etwas zu erwachsen rüber, wenn sie über Kunst fachsimpeln oder mit dem Lehrer debattieren. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, konnte der Lehrer froh sein, einen Ganzen Satz aus uns heraus zu bekommen.

    Ich bin gespannt, ob du genauer darauf eingehen wirst, warum der alte Glaube derart unterdrückt wird. Es scheint, als würden die Kinder in einer ziemlich radikalen Gesellschaft leben. Da frage ich mich schon, was da vorgefallen ist.

  • Danke für den Kommentar.

    Die Jugendlichen leben in einer Kultur, die sich von unserer sehr unterscheidet. Zum Beispiel fand vor zwanzig Jahren ein verheerender Krieg statt. Da man einen weiteren Angriff fürchtet, wurde diese Gesellschaft sehr militant. Junges müssen schon seit dem zehnten Lebensjahr ein militärisches Training absolvieren, das durchaus gefährlich werden kann. Sie ähneln daher eher den 17,18-Jährigen, die seinerzeit aus den Kriegen zurück kamen. Die waren erwachsener als wir und liessen sich von den Lehrern nicht mehr viel sagen.

  • Kräuter und die Mondelfen

    12.Kapitel

    Heimkehr

    Teil 1

    Das Schulamt glaubte, dass ich an die offizielle Version glaubte. Drei Tage lang gingen sie dieselbe mit mir durch, waren durchaus offen für Verbesserungsvorschläge und behandelten mich schon fast wie einen der ihren. Meine Idee von den verfälschten Erinnerungen gefiel ihnen. Damit konnte man alles erklären. Schließlich überreichten sie mir eine Aufstellung von dreihundert möglichen Fragen, die mir besorgte Bürger zu den Ereignissen im vermeintlichen Geisterhaus stellen mochten, und lieferten zuvorkommender Weise die Antworten gleich mit. All dies hatte ich mir einzuprägen. Sie hörten mich ab, wobei sie mich sogar nachts aus dem Schlaf rissen, um sicher zu gehen, dass der Lehrstoff auch wirklich saß.

    Besuch erhielt ich auch von der Stadtmiliz. Die Ordnungshüter verlangten von mir einen umfangreichen Bericht über meinen gescheiterten Versuch, dem alten Meister Thing meine Aufwartung zu machen. Dessen wenig freundliche Bedienstete sollte ich beschreiben, damit die Zeichner der Miliz Portraits anfertigen konnten. Da ich früher oft zu Gast bei dem alten Herrn gewesen war und somit wusste, wie es in seinem Heim aussah, wurde natürlich auch das Anfertigen von Lageplänen von mir verlangt. Daraus schloss ich, das sie mich nicht mehr verdächtigten. Vermutlich bereiteten sie die Erstürmung des Anwesens vor. Hierbei durfte ich sogar eine Rolle spielen. Onkel Gerd, ein mittelgroßer, breitschultriger Mann, suchte mich auf und übertrug mir eine Aufgabe, die in seinen Augen wohl eine Kleinigkeit darstellte, welche ein richtiger Soldat mit links erledigte, während ich mir da nicht so sicher war.

    "Wir wissen zu wenig darüber, welche Veränderungen die Verdächtigen in dem Gebäude vorgenommen haben", eröffnete er mir. "Da kommst du ins Spiel. Du warst der Lieblingsschüler des alten Thing. Er hat dir sogar sein Mikroskop geliehen. Also schnappst du dir das Ding, kommst bei ihm vorbei und bestehst darauf, vorgelassen zu werden und es direkt zu übergeben. Lass dich nicht abweisen! Zur Not setzt du dich einfach vor die Tür. Rufe seinen Namen! Mach Krawall! Mal sehen, wie sie reagieren. Und wer weiß, vielleicht lassen sie dich sogar hinein. Du könntest Informationen von unschätzbarem Wert sammeln!"

    "Oder abgemurkst werden", dachte ich bei mir. Mit solch kleinlichen Bedenken durfte man dem alten Kämpfer aber nicht kommen. Also antwortete ich: " Falls sie mich nicht hinein lassen, könnte ich auch anfangen zu singen. Das müsste sie mürbe machen!".

    "Also bei mir würde es funktionieren!", lachte Onkel Gerd in seinen Vollbart. "Natürlich statten wir dich ordentlich mit Waffen aus. Meine Späher werden dich immer im Blick haben. Wenn es drinnen gefährlich wird, zieh dich zurück. Es ist nur eine Erkundungsmission. Also bleib höchstens eine Stunde. Sonst müssten wir den Laden jetzt schon stürmen, um dich herauszuholen."

    Eine Stunde unter Halsabschneidern sowie, falls es sich bei ihr doch nicht um eine Halluzination auf Traumweißbasis handelte, in Gesellschaft der Schwarzen Witwe. Der gute Onkel ging wirklich sehr großzügig mit meinem Leben um. "Natürlich ist die Sache streng geheim", schloss er. "Kein Wort zu irgendwem." In der Überzeugung, dass ich es kaum erwarten konnte, verabschiedete er sich gut gelaunt. Bevor ich meine nach seinen Maßstäben wohl langweilige Heilerlaufbahn einschlagen würde, dürfte ich noch einmal ein richtiges Abenteuer erleben. Hoffentlich hatte ich mir das Rezept für den Zusatzstoff für den Berserkertrank nicht nur eingebildet, als eine reine Wunschvorstellung, wie Tante Meg vermutet hatte. Falls er wirklich funktionierte, blieb mir wenigstens eine kleine Überlebenschance. Die Antwort auf diese Frage wartete in meinem geheimen Arbeitsraum auf mich.

    Am folgenden Tage ließen sie mich endlich gehen. Die Sonne schien mir ins Gesicht, als ich aus dem Heilerhaus hinaustrat. Einer neu aufgekommen, recht kühnen Theorie zufolge handelte es sich bei unserem Tagesgestirn schlicht um einen Haufen Steinkohle, der draussen im Weltraum vor sich hin brannte. Und nicht um das Herdfeuer, das die Sonnengöttin jeden Morgen nach dem Aufstehen entzündete, um es am Abend wieder zu löschen. Mir wäre die Göttin lieber gewesen. Als Unsterbliche hätte sie für ewiges Sonnenlicht sorgen können, während die Kohle irgendwann aufgebraucht sein würde. So war die Wissenschaft. Sie nahm uns die schönen, bunten Tröstungen der Vergangenheit und gab uns dafür vernünftige Mutmaßungen, die recht deprimierend sein konnten.

    Durch einen Pfiff wurde ich auf mehrere Kutschen aufmerksam gemacht, die, in einer Reihe stehend, auf Kundschaft warteten. In den Farben der Familie Lind bemalt, welcher das größte Kutschenunternehmen der Stadt gehörte. Der Alte Mann zählte zu der Sippe, und er war es auch, der das Geräusch verursacht hatte. Er winkte mir zu. Ich nickte und ging ihm entgegen. Meine Verletzungen waren recht gut verheilt und hätten mich nicht an einem Fußmarsch nach Hause gehindert. Doch dazu verspürte ich wenig Lust. Warum sollte ich mir nicht ausnahmsweise eine Kutschfahrt gönnen? Die mir zudem die Gelegenheit bot, mich mit einem der Kameraden austauschen zu können, die mit mir im Sverrighaus gewesen waren.

    "Zum Glück lebst wenigstens du noch", bergrüßte er mich, während ich mich ächzend den Kutschbock hinauf quälte, "nachdem wir den armen Holzer beerdigen mussten. Er bekam noch nicht einmal ein Heldengrab, weil er ja nur vom Dach gefallen ist und nicht im Kampf getötet wurde. Dabei sehe ich es noch genau vor mir! Wie er diesem Ungeheuer ein Messer ins Herz gerammt hat. Kannst du dich noch an das Geräusch erinnern, als sein Genick brach? Ich habe immer noch Alpträume davon. Dass das alles nur eingebildet war!"

    "So wirkt Traumweiß", entgegenete ich. "Das Zeug ist sehr gefährlich. Und imstande, perfekte Illusionen zu erzeugen, die sich wie die Wirklichkeit anfühlen. Das ist schwer zu verstehen. Falls du noch Fragen hast ......"

    Dreihundert vorgefertigte Antworten standen bereit, um auch noch die letzten Reste von Zweifeln bei den Leuten zu beseitigen. Jedenfalls so lange, bis ich die Wahrheit herausgefunden hatte. Bis dahin brauchte ich Ruhe vor dem Schulamt. Der Alte Mann stellte tatsächlich eine Frage. Natürlich keine der erwarteten Dreihundert. So viel zur Allwissenheit der Obrigkeit.

    Nachdenklich sagte er:" Wenn dies alles nur ein Trugbild war, wäre es dann nicht denkbar, dass auch das, was wir gerade erleben, nicht real ist? Stell dir vor, du wärest einer dieser Handelsherren, die in den Türmen der Alten Kaiserstadt schlafen. Du könntest dir eine ganze Welt aus Träumen erschaffen. Nicht nur kurze Szenen. Du nimmst einen Roman, lernst ihn auswendig, und dann lebst du ihn! Ausgearbeitet bis in die kleinsten Einzelheiten. In dieser Realität gibt es nur Bücher, die du schon kennst, so dass der Lesetrick nicht funktioniert. Wie kann ich wissen, dass ich nicht einer dieser Handelsherren bin?"

    Ich musste unwillkürlich lachen. "Stell dir vor, du müsstest in "Herzeleid und Liebesschmerz" leben", sagte ich. "Und alle neun Bände durchstehen. Dabei wüsstest du gar nicht, dass du dich in einer ausgedachten Geschichte befändest. Du hieltest dich für Prinz Sowieso und würdest Jamina hinterher schmachten!".

    Doch der Alte Mann blieb ernst. "Wäre es denn möglich?", beharrte er. Mir fiel das Schmetterlingsgleichnis aus dem Vernunftunterricht ein. Wenn mir ein Dasein als Zitronenfalter genauso wirklich erschien wie eines als Mensch, und ich von einer Existenz in die andere wechselte, sobald ich einschlief, was war dann der Traum? Kam es überhaupt darauf an?

    "Es ist nicht auszuschließen", antwortete ich schließlich.

    "Aber ich frage mich, ob ich mir als steinreicher Kaufmann in der Kaiserstadt von einem Geschichtenerzähler unbedingt ein Dasein wie meines erdichten lassen würde. All die öden Stunden in der Schule. Die Wehrübungen in den Wäldern. Die Nachtdienste im Heilerhaus. Suchte ich mir so etwas aus, wenn ich auf goldenen Drachen durch die Luft fliegen könnte? Exotische Länder sehen, schöne Frauen erobern? Die nie nein sagen würden, weil der Traummacher das so eingerichtet hat?"

    "Vielleicht hast du das alles schon durch", vermutete der Alte Mann. "Und der Sinn steht dir nach etwas Einfachem? Zur Abwechslung, sozusagen." "Jedenfalls", fuhr er fort", ist es denkbar, dass ich nach meinem Tod in einem der Türme erwache. Und alles war nur ein Traum". Diese Vorstellung schien ihn zu trösten. Er war mit Holzer eng befreundet gewesen und hatte auch seine Mutter und einen seiner Brüder verloren. Nach seinem Erwachen würde er sie vielleicht wieder sehen. Sehr logisch war das nicht. Sie hätten ja nie existiert, wie Romanfiguren. Doch wollte ich ihm nicht seine Hoffnung nehmen.

    Also schwiegen wir, während wir durch das kleine Wäldchen fuhren, in dessen Mitte das Heilerhaus errichtet worden war, weit weg vom Lärm der Stadt. Dem wir langsam näher kamen. Der Weg, der vom Heilerhaus weg führte, traf im rechten Winkel auf die Alte Heeresstrasse. Dort war immer etwas los. Schon von Weitem vernahmen wir das Wiehern von Pferden, das Knallen von Peitschen und die Flüche der Fuhrleute. Und in der Tat, wieder einmal hatte sich ein Stau gebildet. Die Wagen, die weiter zum Markttplatz wollten, kamen nicht voran. Milizsoldaten in roten Uniformen rannten zwischen den Fuhrwerken umher und versuchten, die aufgebrachten Leute zu beruhigen. Einer löste sich aus dem Durcheinander und kam auf uns zu. Es war Gerd, der Sohn Tante Megs und Onkel Gerds, und damit mein Vetter. Seiner Mutter sah er sehr ähnlich. Natürlich auch ihrer Zwillingsschwester, meiner Mutter, der wiederum ich sehr ähnelte, so dass auch zwischen mir und Vetter Gerd große Ähnlichkeit herrschen sollte, was aber trotzdem nicht der Fall war. Gerd war nur drei Jahre älter als ich und wirkte schon wie ein erwachsener Mann, während ich froh sein konnte, dass sich "Kräuter" als mein neuer Spitzname durchgesetzt hatte. Davor rief man mich "Milchgesicht", und das mit Recht. Nur meine Körpergröße bewahrte mich davor, für höchstens vierzehn gehalten zu werden.

    "Was ist los?", wollte der Alte Mann wissen, der, bei Licht besehen, gar nicht so alt wirkte. Mit neunzehn Jahren hatte er nur einenn schwachen Bartflaum vorzuweisen. Ohne Weiteres hätte er als Sechzehnjähriger durchgehen können.

    "Ein Unfall am Marktplatz", antwortete Gerd. "Zwei Wagen stießen zusammen. Der Eine transportierte Schweine, die entkamen und sich über den Wein hermachten, mit dem der andere beladen war und sich aus zerbrochenen Fässern auf die Strasse ergoss. Ihr könnt euch vorstellen, was jetzt in der Innenstadt los ist!".

    "Dürfen wir hingehen und uns das ansehen?", fragte der Alte Mann hoffnungsvoll, ohne auch nur im Geringsten die Ernsthaftigkeit eines Herrn in fortgeschrittenen Alter an den Tag zu legen. Er war genauso unreif wie ich. Besoffene Schweine hätte ich auch gerne aus der Nähe betrachtet.

    "Dürft ihr nicht", sagte Vetter Gerd entschieden. "Es sei denn natürlich", führ er fort und sah mich an", du machst von deinen Privilegien als Geehrter Gebrauch. Aber du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun, wenn du darauf verzichtest. Ich habe schon Ärger genug heute!"

    "Was für Privilegien?", fragte ich verständnislos. "Ist heute hereingekommen", antwortete Gerd. "Du stehst neuerdings auf der Geehrtenliste." Bevor ich weiter bohren konnte, mischte sich der Alte Mann ein.

    "Ich erkäre ihm das schon", bot er sich an. "Du weißt ja, er interessiert sich für so gut wie nichts außer seinen Tränken, Elixieren und Salben. Verzichte einfach, Kräuter, und ich setze dich ins Bild!"

    "Na schön", sagte ich. "Aber ich bin sicher, dass es sich um einen Irrtum handelt. Warten wir also, bis sich der Stau aufgelöst hat. Vielleicht kommt ja eines der besoffenen Schweine vorbei."

    "Ich hoffe nicht", sagte mein Vetter, nickte uns zu und gesellte sich wieder zu seinen Milizsoldaten. Ich sah den Alten Mann fragend an. "Mein Vater ist doch von der Erbenliste gestrichen worden", erinnerte ich mich. "Mit Wirkung für seine Nachkommen. Was habe ich dann auf einer Geehrtenliste zu suchen. Was ist das überhaupt?"

    "Also Grundkurs in Rechtslehre", stellte der Alte Mann fest und klang jetzt wirklich wie ein alter Mann. "Hatten wir in der Schule, und du hast direkt vor mir gesessen, aber bitte. Ja, dein ehrenwerter Herr Vater verlor seinen Platz auf der Erbenliste. Aus der Familie verstossen haben sie ihn aber nicht. Das wäre nicht mehr rückkgängig zu machen gewesen. Bei einer Enterbung verhält es sich anders. Deine Großmutter musste einfach nur beim Familienrat einen entsprechenden Antrag stellen, dem wohl statt gegeben wurde. Du kannst dich als legalisiert betrachten. Als echten Wasa, mit allen Rechten und Pflichten, der gleich nach deinem Vetter Lars rangiert. Sollte ihm etwas zustoßen, wärest du das neue Oberhaupt deines Hauses, sobald du das fünfundzwanzigste Lebensjahr beendest hättest. Geehrte nennt man die männlichen Angehörigen einer der sieben großen Familien in der Hauptlinie. Nebenlinien zählen nicht."

    Und die haben Privilegien?", staunte ich. "Welche denn?"

    "Zum Beispiel haben dir alle gewöhnlichen Bürger stets Platz zu machen. Zur Durchsetzung dieses Anspruchs darfst du die Miliz in Anspruch nehmen. Falls du darauf bestehst, muss jeder Mann deine Taschen tragen. Frauen sind verpflichtet, dir etwas zu essen zu machen, jederzeit. Früher gab es auch das Recht der ersten Nacht, aber das haben sie irgendwann abgeschafft.

    "Warum sollte meine Großmutter plötzlich so einen Antrag stellen?", fragte ich.

    "Heiratspolitik", gab mein Lehrmeister zurück und hielt mir einen Vortrag über die aktuellen Machtspiele der Stadtoberen. Dass er hierzu als Erbe eines simplen Kutschenunternehmers imstande war, verwunderte mich nicht. Alle Bewohner der Bergstadt interessierten sich leidenschaftlich für Ahnenforschung und die Verhältnisse in den adligen Sippen. Man hätte jeden Bergmann, Gastwirt oder sogar Müllsammler auffordern können, acht Generationen zurückzugehen und, von dort ausgehend, zu erläutern, wer heute wie genau mit wem verwandt war, und welche politischen Folgen dies nach sich ziehen konnte. Da das Haus Yggdrasil, erläuterte der Alte Mann, auszusterben drohe, weil Sigurd Yggdrasil schwer krank war und seine Tochter Ildico, verehelicht mit meinem Vetter Lars und somit meine Schwägerin, immer noch nicht schwanger, bahne sich ein Konflikt zwischen den ebenso ungeduldigen wie hoffnungsvollen Erben an.

    Auf der einen Seite den Wasa und auf der anderen den Sverrig. Beide suchten Verbündete unter den kleineren Häusern, wobei die Silma besonders umworben waren. Wegen ihrer kampftüchtigen Hausmiliz. Und wie es der Zufall wollte, fand sich in unserem Jahrgang auch eine Silma.

    "Hulda heißt sie", sagte der Alte Mann. "Ein sehr hübsches Mädchen, aber sie interessiert sich für nichts anders als ihre Schuhsammlung. Schuhe aussuchen, kaufen, zu Hause in den Schuhschrank stellen und immer wieder hervor holen. Sie putzt sie sogar selbst. Niemand darf die guten Stücke anfassen. Ich glaube, ihr würdet gut zusammen passen."

    "Aber es gehören auch drei Sverrig zu unserem Jahrgang", wandte ich ein.

    "Die haben aber schon die Jarl, die Borg und die Heimdall auf ihrer Seite", erklärte mein Kutscher. " Deshalb brauchen die Wasa die Silma. Der Familienrat wird das genauso sehen. Die haben immer darauf geachtet, dass niemand zu mächtig wurde. Und da kommst du ins Spiel. Oh, sieh, es geht weiter. Die Schweine befinden sich wohl wieder hinter Schloss und Riegel. Dann mal los!"

    Während er sich in den Verkehr einreihte und die Pferde voran traben ließ, versank ich in schwermütigen Gedanken. So sehr es mir auch widerstrebte, die Argumente des Alten Mannes anzuerkennen, ich musste zugeben, dass er wohl nicht falsch lag. Zumindest grundsätzlich. Großmutter Swanhild wollte mir sicherlich nichts Gutes tun, als sie meine Legalisierung durchsetzte. Ich sollte einen Zweck erfüllen, den zu erraten ich gar nicht erst versuchte. Dafür war das Denken dieser Frau zu komplex. Ein Plan in einem Kalkül in einer Strategie, und das alles ohne Beleuchtung. Noch undurchschaubarer war der Familienrat, von dem es hieß, er dächte in Generationen. Vermutlich war die Theorie des Alten Mannes zu einfach. Für einen Zufall hielt ich es aber nicht, dass ich nur sechs Tage vor dem Tag der Jugend unvermutet auf dem Heiratsmarkt des Adels landete. Ich ahnte Böses. Das ersehnte, freie Leben rückte in weite Ferne.

    Kurz vor dem Marktplatz bog die Kutsche in das Gelehrtenviertel ein, wo das Haus meiner Familie stand. Hier lebten Heiler, Lehrer, Bibliothekare und ähnliche Geistesarbeiter, aber auch Angehörige der Stadtmiliz. Die Gebäude sahen alle gleich aus, weiß getüncht mit roten Ziegeldächern. Es kam vor, dass sich angeheiterte Mitbürger vertaten und im falschen Heim landeten, bisweilen sogar im falschen Ehebett, was nicht selten für erheblichen Ärger sorgte. Der Alte Mann hielt vor einem Haus, das aus der Einheitlichkeit ein wenig heraus stach, und zwar wegen eines ungewöhnlich verwilderten Gartens. Tante Meg vertrat die Auffassung, dass man der Natur ihren Lauf lassen solle. Sehr zum Mißvergnügen der Nachbarn, die akkurat gepflegte Rasenflächen bevorzugten. Lauten Protest äußerte jedoch niemand gegenüber der besten Chirurgin der Stadt. Aus gesundheitlichen Gründen. Man wusste nie, wann man auf ihrem Tisch landete.

    "Ich hätte dich ja wegen unserer Kameradschaft kostenlos gefahren", sagte der Alte Mann. "Aber am Tag der Jugend wirst du reich sein, wenn du die Einnahmen aus dem Verkauf deiner Hautsalbe bekommst. Schweinereich!"

    Ich zückte meine Börse und zählte ihm drei kleine Silbermünzen in die Hand. Anschließend holte ich eine Vierte hervor und fragte:

    "Hat sich jemand ein Trinkgeld verdient, der seinem Fahrgast solches Unheil weissagt? Eine Heirat mit der Schuhprinzessin? Den Tag der Jugend hatte ich mir anders vorgestellt!"

    "Sei realistisch", antwortete er. "Hast du wirklich geglaubt, ein Wasa würde übrig bleiben? Das war von Anfang an nun wirklich eine Illusion!"

    Seufzend ließ ich das Stück Silber in seine aufgehaltene Hand fallen. "Falls ich wirklich einer dieser träumenden Handelsherren sein sollte, werde ich sofort meinen Geschichtenerzähler feuern", versprach ich und verabschiedete mich. Mein Schulfreund winkte mir noch einmal zu und fuhr davon. Da war ich also wieder. Es kam mir vor, als ob Jahre vergangen seien, als ich von hier aus zur Vernunftprüfung aufgebrochen war.

  • Kräuter und die Mondelfen

    12.Kapitel

    Heimkehr

    Teil 2

    Zögernd öffnete ich die Tür. Sofort kamen mir unsere Hunde Schwanz wedelnd entgegen. So hätten sie auch jeden Einbrecher begrüßt. Liebe Tiere, aber als Wachhunde herzlich ungeeignet. "Rolf,Ralf!", ertönte ein Kommando. Die Hunde gehorchten aufs Wort und rannten zu der Besitzerin der Stimme. Es war Tante Meg, die mir entgegen kam, gehüllt in einen Morgenmantel und mit offenen Haaren. "Bist du krank?", fragte ich erschrocken. "Warum? Weil ich mir einmal einen freien Tag gönne, mitten in der Woche, und nicht arbeite?" "Ja", antwortete ich. Sie stutzte einen Augenblick und winkte dann ab. "Na schön", sagte sie. "Nicht nur einen freien Tag. Gleich drei. Und den Ruhetag dazu. In letzter Zeit habe ich wirklich zu viel gearbeitet. Ich brauche genau das, wozu ich unseren Patienten stets rate. Erholung und Entspannung. Und das nehme ich mir jetzt. Los, komm mit in die Küche. Ich habe einen leckeren Möhreneintopf gemacht."

    Das waren ja ganz neue Töne. Tante Meg war so fleissig, dass sich Meister Fruud, der Oberaufseher des Narrenhauses, durch ihr Beispiel dazu inspiriert gefühlt hatte, eine neue Verhaltensstörung zu erfinden. Arbeitssucht. Seine Therapiebemühungen waren an ihrem geharnischten Widerstand gescheitert. Seitdem hing der Haussegen zwischen den beiden mehr als schief. Aber womöglich war er ja doch zu ihr vorgedrungen. Oder die vergangenen Tage waren selbst für sie zu anstrengend gewesen. Nachdem ich die Stiefel ausgezogen und Umhang und Jacke abgelegt hatte, folgte ich ihr. Sie machte sich am Herd zu schaffen und füllte unsere Teller. Wir nahmen Platz. Gegessen wurde in aller Regel in der Küche. Die gute Stube öffnete nur zu besonderen Gelegenheiten.

    "Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen", bemühte Tante Meg eine alte Redensart. "Du wirkst so niedergeschlagen!"

    "Ich habe Gerd getroffen", antwortete ich. "Er war damit beschäftigt, entlaufene Schweine einzufangen, die von ausgelaufenem Wein genascht hatten." Sie musste lachen. "Wenn nur alle Herausforderungen für die Miliz so aussähen", meinte sie. "Dann würden wir in guten Zeiten leben."

    "Er hat mir erzählt, dass sie mich auf die Geehrtenliste gesetzt haben.", fuhr ich fort. "Großmutter Swanhild hat mich wohl legalisiert. Der Alte Mann sagt, dass sie mich verheiraten wollen, und tippt auf Hulda Silma. Das erfüllt mich nicht gerade mit Frohsinn!"

    "Was hast du denn gedacht?", antwortete meine Tante. "Natürlich bleibt ein Wasa nicht übrig. Allerdings möchte ich der Einschätzung deines Freundes widersprechen, auch wenn sie Einiges für sich hat. Übrigens heißt er Friedhart. Gewöhnt euch endlich diese albernen Spitznamen ab! Ihr seid keine zwölf mehr. Es wird aber wohl nicht Hulda sein, der sie dich am Tag der Jugend zusprechen werden. Sondern viel eher Hildegard."

    "Die Krankenschwester?", fragte ich entgeistert. "Natürlich", bekräftigte Tante Meg. "Sie ist eine Sverrig, wusstest du das nicht? Mit ihrer Familie kommt sie nicht zurecht. Deren vornehmes Getue ist ihr zuwider. Sie arbeitet lieber, anstatt sich den lieben langen Tag im Palast ihrer noblen Sippe bedienen zu lassen. Eine Verbindung zwischen euch beiden wäre für die Stadt von größtem Nutzen. Ein Wasa und eine Sverrig. genau das Richtige, um die Gefahr eines Bürgerkriegs zu bannen, falls die Yggdrasil ausstürben. Und sie ist ein gutes Mädchen. Du kannst von Glück reden!"

    Glücklich schien eher Tante Meg zu sein. So gute Laune hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Was mich betraf, so schienen die unerfreulichen Nachrichten kein Ende nehmen zu wollen. Sie gähnte. "Ich denke, ich lege mich noch ein wenig hin. Lass das Geschirr stehen. Den Abwasch erledige ich später." Ich staunte über diese seltene Großzügigkeit. Hildegard als Schwiegertochter. Ein Traum wurde wahr. Für Tante Meg zumindest. Sie erhob sich und hatte, gefolgt von den Hunden, die Küche schon fast verlassen, als sie sich noch einmal umdrehte.

    "Das hatte ich ja fast vergessen", sagte sie. "Morgen sollst du dich bei Meister Fruud melden. Eine seiner Patientinnen möchte dich sprechen. Die Hohe Dame der Sverrig, glaube ich. Sie will eine Botschaft von ihrer verstorbenen Tochter empfangen haben. Die für dich sein soll."

    "Du meinst von Agnatha?", fragte ich ungläubig. Tante Meg nickte. "Die arme Frau!", sagte sie. "Immerhin ist es das erste Mal, dass sie sich für die Außenwelt interessiert und aus ihrer Versunkenheit auftaucht. Meister Frudd ist begeistert. Er hält das für einen Erfolg seiner Behandlung. Ich bin mir da nicht so sicher. Lass dich nicht von seinem Gerede beeindrucken. Der Mann ist ein Schaumschläger!"

    Offenbar hatte sie ihm die Sache mit der Arbeitssucht immer noch nicht verziehen. Ich blieb am Küchentisch zurück. Agnatha versuchte, mich über die Hohe Dame zu erreichen? Einerseits machte das Sinn. Zwischen einer Mutter und ihrem Kind bestand die tiefste Verbindung, die sich denken ließ. Andererseits fragte ich mich schon, warum die Erbtochter das nicht schon früher versucht hatte. Trotzdem, es war weiterhin nicht von der Hand zu weisen, dass meine Erlebnisse auf Agnathas Insel real gewesen sein könnten. Wenn das das Schulamt wüßte! Sicherlich hätten sie mich nicht an einem Besuch im Narrenhaus gehindert. Mein Aufenthalt dort würde sich allerdings etwas dauerhafter gestalten. Sehr viel dauerhafter.

    Am liebsten hätte ich mich auch für ein paar Stunden hingelegt, doch machte es keinen Sinn, das Notwendige hinauszuzögern. Also machte ich mich auf, meinen geheimen Arbeitskeller zu inspizieren. Dort mussten sie sein, die Elixiere, die ich entwickelt hatte. Der künstliche Nebel. Die verbesserten Augentropfen. Und vor allem das Mittel gegen die Nachwirkungen des Berserkertrankes. Falls ich mir all dies nicht nur eingebildet hatte. Ich wusste nicht, was ich mir wünschen sollte. Entweder konnte ich meinen Erinnerungen nicht trauen. Oder da draussen war immer noch die Schwarze Witwe unerwegs und hinter mir her. Womöglich zusammen mit Meister Nossfu. Dessen verbrannte Leiche wollte man zwar gefunden haben, aber heutzutage bedeutete das nicht mehr viel. Es war kaum zu glauben, dass solche Wesen in derselben Welt existieren sollten wie unsere kleine, friedliche Siedlung. Hier hatte sich noch nie etwas Gefährliches zugetragen. Noch nicht einmal etwas Interessantes. Abgesehen natürlich von dem Tag, als sie Meister Drud abgeholt hatten, den Vernunftlehrer, der verbotene Zauberbücher gehortet hatte und nun im Narrenhaus einsaß. Das Haus seiner Familie befand sich direkt neben Onkel Bernies altem Domizil, welches in meinen Besitz übergegangen war. Seit dem Vorfall wurden die Druds von ihren Nachbarn gemieden wie Aussätzige. Gerade deswegen hatte Tante Meg sie demonstrativ besucht und mich ermuntert, es ihr gleich zu tun. Zwar brachte uns das missbilligende Blicke ein, aber mehr trauten sich die Leute nicht. Nicht bei Tante Meg. In dieser Angelegenheit war ich voll und ganz ihrer Meinung. Was konnten die Angehörigen dafür, wenn das Familienoberhaupt überschnappte? Zumal das aufgeklärte Weltbild mittlerweile auch die eine oder andere kleine Lücke aufzuweisen schien.

    Ich betrat das Haus, das eine dankbare Frau Drud peinlich sauber hielt. Doch trotz ihrer bewundernswerten Gründlichkeit wusste sie nicht alles über das Gebäude. Dem äußeren Anschein nach fügte es sich unauffällig in das einheitliche Erscheinungsbild der Siedlung ein. Was auch auf die Inneneinrichtung zutraf. Sollte man meinen. Ich schloss die Haustür hinter mir ab und zog die Vorhänge in der guten Stube zu. Das war ungewöhnlich und würde sicherlich bemerkt werden. Glücklicherweise galt ich als harmloser, weltfremder Nachwuchsgelehrter. Sicherlich würde ich nichts Bedrohliches vor neugierigen Augen verbergen wollen.

    Da lagen die Leute richtig. Dennoch hätten sie gestaunt, wenn sie gesehen hätten, wie ich vorsichtig den Teppich einrollte und mir sodann an dem hölzernen Boden zu schaffen machte. Nacheinander drückte ich mit der Hand auf mehrere Stellen, bis ein Stück des Parketts plötzlich aufschwang und den Blick auf eine Treppe führte, die nach unten führte. Hinein in meinen geheimen Versuchskeller. Onkel Bernie hatte immer behauptet, er hätte dieses Versteck rein zufällig entdeckt. Eine zweifelhafte Geschichte, wenn man bedachte, dass zwölf Punkte in der richtigen Reihenfolge gedrückt werden mussten, mit einem exakt bemessenem Kraftaufwand. Nicht zu stark und nicht zu schwach. Seine Geheimnisse hatte er sorgfältig gehütet, der gute Onkel.

    Nachdem ich aus der Küche eine Öllampe geholt und diese entzündet hatte, kletterte ich hinunter und schloss den Eingang über mir. Der Keller war klein, aber gut ausgestattet. Mit einem Herd, einem Rauchabzug, der mit dem Kamin verbunden war, und sogar einer Wasserleitung. Hier mochten vom Schulamt verfolgte Untergrundmagier Zuflucht gefunden und ihre alchimistischen Experimente durchgeführt haben. Oder es hatten sich im Dunklen Zeitalter Wissenschaftler vor den Nachstellungen verborgen, denen sie seinerzeit ausgesetzt gewesen waren. Irgendwer wurde immer verfolgt. Das gehörte zum Lauf der Welt. Da es nicht Frau Drud war, die in dem Raum Ordnung hielt, sondern ich, sah es entsprechend aus. Auf der Arbeitsplatte standen zahlreiche Gefäße, einige leer, andere halb oder ganz mit allerlei Flüssigkeiten oder Pulvern gefüllt. Dazu eine Feuerschale, Töpfe und Kessel, Bücher und Aufzeichnungen, eine Waage, Pinzetten und Löffel, was man eben benötigte für die Arbeit an neuen Substanzen. Regale bogen sich unter dem Gewicht weiterer, unterschiedlich geformter gläserner Flaschen und metallenen Behältern. So weit stimmte alles mit meinen Erinnerungen überein.

    Würde das auch bei meinem Geheimfach der Fall sein? Ich trat an eine der Wände heran und drückte wieder auf ganz bestimmte Stellen. Eine bislang nicht sichtbare Tür öffnete sich. Und da waren sie, die speziellen Elixiere. Jetzt mussten sie nur noch funktionieren. In der Tat, eine kleine Dosis des Sehverstärkers machte die Öllampe überflüssig. Sie blendete mich sogar, wenn ich sie direkt anblickte. Alles andere nahm ich in hervorragender Klarheit wahr, wobei sich wieder der leichte Grünstich einstellte. Ein Schluck von dem Berserkertrank, und es bereitete mir keine Schwierigkeiten, die schwere Arbeitsplatte mit einem Arm hochzuheben. Es folgte eine Dosis des Ergänzungsmittels. Ich wartete. Ja, genauso hatte ich mich auch im Sverrighaus nach der Einnahme der Elixiere gefühlt. Mit Sicherheit hatte ich sie auch zur Vernunftprüfung mitgenommen und wohl irgendwie zum Einsatz gebracht. Nur auf welche Weise? Um uns aus einem brennenden Haus zu retten? Oder doch zur Abwehr des Blutmondes und der Schwarzen Witwe?

    Während ich darüber nachdachte, vernahm ich Schritte über mir. Der getarnte Einstieg öffnete sich. Zuerst schwang sich Schlichter auf die Leiter und kletterte zu mir herab, dann folgte Lehrer und brachte die Klappe über ihm wieder in ihre ursprüngliche Position. Die beiden und Soße waren die Einzigen, die von meinem Geheimnis wussten. Abgesehen von Onkel Bernie. Bevor ich etwas sagen konnte, gebot mir Schlichter mit einer Geste zu schweigen.

    "Wir haben nur eine Frage an dich", erklärte er. "Falls wir nicht die richtige Antwort bekommen, gehen wir sofort wieder. Wir wollen dich in nichts hineinziehen!"

    "Seit wann seit ihr in Schwierigkeiten, in die ihr mich nicht hineinziehen wollt?", fragte ich. "Normalerweise läuft es doch umgekehrt!"

    "Hör einfach zu", sagte Lehrer. "Kannst du ein Mittel gegen den Wahrheitstrank herstellen? Und zwar sehr schnell, am besten noch heute?" "Das gibt es schon", antwortete ich. "Hat meine Mutter entwickelt. Sie neigte zwar dazu, sich zu verzetteln, und hat tausend Sachen angefangen und kaum etwas beendet. Aber das hat sie durchgezogen. Wie ihr wisst, war sie ein Freigeist. Die Vorstellung war ihr zuwider, dass irgendwer nach Belieben in ihren geheimsten Gedanken herumstöbern könnte. Der Trank wirkt. Ich habe ihn selber ausprobiert."

    Lehrer und Schlichter sahen mich an, als ob ich ihnen gerade mitgeteilt hätte, dass ich heimlich Einhörner und Drachen züchtete, zusammen mit einer guten Fee.

    "Dein Ernst?", fragte Lehrer ungläubig. Ich nickte, erhob mich und holte die Elixiere aus dem Geheimfach. Den Wahrheitstrank und das Gegenmittel.

    "Dir ist schon klar, dass der Besitz des Wahrheitstrankes illegal ist", erinnerte mich Schlichter. "Und die Herstellung erst recht? Ganz zu schweigen vom Brauen eines Anti-Wahrheitstranks".

    "Darauf kommt es nun auch nicht mehr an", widersprach ihm Lehrer. "Bedenke, in was für einer Lage wir uns befinden. Außerdem darf ich dich daran erinnern, dass du selber ein Fläschchen davon aus den Beständen des Richterkollegiums organisierst hast. Du sprachst von übergesetzlichem Notstand. An sich eine zweifelhafte Konstruktion, dachte ich immer. Doch heute passt sie."

    Schlichter holte seufzend eine kleine Flasche hervor, in der eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte.

    "Na schön", sagte er. "Probieren wir zunächst den Wahrheitstrank, um uns von seiner Wirksamkeit zu überzeugen.."

    "Ich hole Gläser", erbot ich mich. Schlichter goss jedem von uns einen kleinen Schluck ein.

    "Zugleich!", kommandierte er.

    Wir warteten auf die sichtbaren, körperlichen Anzeichen, die mit dem Konsumieren des Serums einhergingen. Ein dünner Schweißfilm auf der Stirn, leichter Tränenfluss und glänzende Augen. Hinzu kam noch ein Gefühl von Wärme, das, vom Magen ausgehend, auf den ganzen Leib ausstrahlte.

    "Starker Stoff", keuchte Lehrer.

    "Fragt mich zuerst was", forderte ich meine Freunde auf. "Das Gegenmittel wirkt zeitlich unbegrenzt. Nachdem ich es einmal genommen hatte, bin ich immun. Das Geniale an Mutters Erfindung ist, dass man mir das nicht ansieht. Jeder Verhörbeamte würde denken, dass das Zeug bei mir seine Arbeit verrichtet. Macht es aber nicht."

    "Na schön", sage Schlichter und sah mir in die Augen. "Was ist dein peinlichstes Geheimnis, das niemand wissen darf?"

    Ich lächelte betont unschuldig und antwortete:" Peinlich? Ich? Niemals ist mir etwas Peinliches widerfahren, in meinem ganzen Leben nicht. Jede meiner Taten ist edel, jeder Gedanke rein wie der weißeste Schnee, den ihr je gesehen habt."

    Lehrer schnaubte empört. "Und was ist mit der Geburtstagsfeier meines Vaters vor zwei Jahren? Du hattest von den Früchten in der Bowle gekostet und anschließend auf Mutters Teppich gekotzt. Wir haben ihn nicht sauber gekriegt. Schließlich gab Mutter unserem Hund die Schuld. Das arme Tier musste zur Strafe draussen schlafen!"

    "Zu Recht", gab ich zurück. "Es war ja auch schuld. Das konnte man schon an seinem fiesen Gesichtsausdruck erkennen. Und diesem tückischen Blick! Ich kann es kaum fassen, dass man mich verdächtigt hat!"

    Lehrer sah Schlichter Hilfe suchend an. "Und wenn es nicht an Kräuters Gegenmittel liegt? Vielleicht wirkt der Wahrheitstrank einfach nicht."

    "Das haben wir gleich", sagte ich. "Lehrer! Was ist dein größtes Geheimnis, das keiner wissen darf? Der Angesprochene lief rot an und knirschte krampfhaft mit den Zähnen. Schließlich versuchte er, sich den Mund zuzuhalten, aber es half alles nichts.

    "Ich liebe!", stieß er hervor. Mir drängte sich der Eindruck auf, dass er gar nicht sprach, sondern dass ihm die Worte gegen seinen Willen entflohen, so wie die Schweine heute morgen ihren Käfigen.

    "Wen liebst du?", fragte Schlichter neugierig.

    Lehrer biss in seinen Ärmel. Trotzdem konnte man verstehen, was er widerstrebend von sich gab.

    "Hildegard", vernahm ich. Da dieser Name nicht gerade selten vorkam, setzte ich nach und fragte: "Welche Hildegard?"

    "Die Krankenschwester", antwortete es aus Lehrer. So kam mir das jedenfalls vor. Als ich den Trank seinerzeit probiert hatte, war ich von dem inneren Zwang überwältigt gewesen, den er erzeugte. Wie bei einem Niesanfall.

    "Doch nicht etwa dieses eiskalte Biest?", fragte ich entsetzt.

    "Sie ist nicht eiskalt", protestierte Lehrer. "Sondern warmherzig und mitfühlend. Du schätzt sie völlig falsch ein.

    "Hast du denn jemals mit ihr gesprochen?", wollte Schlichter wissen.

    "Äh, nein", antwortete Lehrer. "Das sieht man doch. Wenn man nur ein wenig Menschenkenntnis hat." "Oh Mann", fügte er hinzu.

    "An der Kraft dieses Tranks kann kein Zweifel bestehen. Du machst nichts dagegen. Nichts!"

    "So peinlich war das ja gar nicht", sagte Schlichter. "Jeder verliebt sich einmal. Und am Ende teilt dir der Familienrat sowieso die richtige Frau zu." Lehrer nickte. Wie fast alle Bürger der Bergstadt glaubte er an die überlegene Weisheit dieser Einrichtung. Seine Gefühle für Tante Megs Schatten würde er als jugendliche Schwärmerei abtun, sobald ihm am Tag der Jugend seine künftige Gattin präsentiert werden würde.

    "Vielleicht wird es bei dir ja interessanter", sprach ich Schlichter an. "Was ist dein größtes Geheimnis, das niemand wissen darf?

    Von dem Richtersohn hätte ich mehr Widerstand erwartet. Doch überraschender Weise sprudelte sein Geständnis geradezu aus ihm heraus.

    "Ich schleiche mich manchmal in Vaters Aktenkeller herab. Dort sehe ich mir die geheimen Dokumente an. Besonders die Personalblätter. Da sind Zeichnungen drin. Auch von weiblichen Kriminellen. Da sind verdammt hübsche dabei. Und die Bilder zeigen sie ohne Klamotten. Damit man die Tätowierungen sieht, die auf die Bandenzuzgehörigkeit hinweisen."

    Er verstummte. "Versuchen wir das Gegenmittel", schlug er vor. "Ich hole nochmal Gläser", kündigte ich an.

    Während ich meinen Freunden Mutters Elixier vorsetzte, sagte ich: "Bevor ihr es einnehmt, solltet ihr vielleicht wissen , dass ..... "es zu Nebenwirkungen kommen kann", stzten die beiden den Satz im Chor fort. "Welche?"

    "Nur eine", wiegelte ich ab. "Der Geruchssinn wird enorm verstärkt. Das kann überwältigend sein. Schnüffelt ihr an einer Rose, kommt es euch vor, als ob ihr in einem ganzen Rosengarten ständet. Und selbst den saubersten Abort solltet ihr nur aufsuchen, nachdem ihr vorher ein sehr starkes Parfüm inhaliert habt."

    "Weiter nichts?", fragte Schlichter.

    "Weiter nichts", bestätigte ich. "Diese Nebenwirkung hält auch nicht lange an. Anders als die Fähigkeit, dem Wahrheitstrank zu trotzen.

    "Klingt interessant", sagte Lehrer. "Also runter damit!" Nachdem sie ihre Gläser geleert hatten, fragte er: Woran erkennen wir, dass die Wirkung einsetzt?"

    "Das wird dir deine Nase verraten", erwiderte ich.

    Plötzlich fasste sich Lehrer an sein Riechorgan.

    "Möhreneintopf", sagte er. "Ich rieche Möhreneintopf. "Als ob ich mitten in einer Küche stünde." Er erhob sich und schnüffelte an meinem Umhang. "Das kommt von dir", rief er. Und ich wittere noch mehr. Schweinebraten, der Duft ist ein wenig schwächer. Außerdem, noch etwas undeutlicher, Kartoffelpuffer. Marmelade. Rosenkohl. Wäscht du denn deine Klamotten nie?"

    Schlichter kam mir zur Hilfe und deutete anklagend auf Lehrer. "Heute morgen Rührei mit Speck und Schnittlauch. Davor Leberwurst auf Schwarzbrot, und davor Schweinebraten mit Rotkohl. Sehr schwacher Brathähnchenduft. Wann gab es das Lettere denn?"

    Lehrer musste erst nachdenken. "Vor einer Woche, glaube ich", meinte er verdattert.

    "Siehst du die Truhe da drüben?", fragte Schlichter. "Ich kann von hier aus riechen, was drinnen ist. Ein rostiges Schwert oder Messer, alte Kleider und Mottenpulver, Bier- und Weinflaschen und etwas Totes.

    Er ging auf die Kiste zu, öffnete den Deckel und kramte so lange herum, bis er das Gesuchte gefunden hatte ud triumphierend präsentieren konnte. Eine schon mumifizierte Maus.

    "Igitt", kommentierte Lehrer.

    Schlichter ließ die sterblichen Überreste des Nagetiers in den Behälter fallen und schloss ihn wieder

    "Und wie steht es mit dem Lügen?", wollte ich wissen. "Was für Akten hast du dir denn nun angesehen?"

    "Grundbuchauszüge", gab Schlichter zurück. "Die sind absolut faszinierend."

    "Und in wen bist du verliebt?, wandte ich mich an Lehrer.

    "In die Schwarze Witwe", gestand er. " Ihr Auftreten mag bedrohlich gewesen sein, aber ich weiß, unter all der Finsternis schlägt ein gutes Herz."

  • Kräuter und die Mondelfen

    13.Kapitel

    Zum Friedhof- die Großmutter besuchen.

    Teil 1

    "Weswegen musstet ihr den Wahrheitstrank überhaupt fürchten?", fragte ich. "Was habt ihr angestellt?"

    "Eine Vernunft zersetzende Haltung sowie mangelndes Vertrauen in unsere staatliche Ordnung an den Tag gelegt", antwortete Schlichter.

    "Wir bieten nicht die Gewähr dafür, jederzeit für die Errungenschaften der Aufklärung einzutreten. So stand es jedenfalls in den Akten, die ich mir kurz ansah, als Meister Arrund meinen Vater in dessen Amtszimmer besuchte und seine Tasche im Vorraum liegen ließ. Ein Verhör mittels der Wahrheitsdroge wurde empfohlen, um die Tiefe unserer verdächtigen Gesinnung auszuloten.

    Wir haben zu viele Fragen zu den Vorgängen im Sverrighaus gestellt.

    Wie konntest du in einem See landen, der vierzig Meter von dem Gebäude entfernt war? Offiziell spricht man von einem Windstoß.

    Aber dafür wäre schon ein ausgewachsener Sturm erforderlich gewesen.

    Und was war mit unseren Umhängen? Alle verbrannt, sagen sie. Doch wies keiner von uns ernsthafte Brandwunden auf.

    Bis auf Stellen am Rücken, die genau zu den Mondstrahlen passen.

    Und als wir uns auf der Landstraße von dem Haus entfernten, sahen wir dort keinen Feuerschein."

    "Wir hätten Theater spielen sollen, wie du", sagte Lehrer reumütig. "Deine Akte lobt dich als Stütze der Wissenschaft, der im Kampf gegen den Aberglauben noch eine leuchtende Zukunft bevorsteht. Dabei zweifelst du genauso wie wir. Du bist hier unten, um herauszufinden, ob du dir die Sache mit den Tränken nur eingebildet hattest. Am Flackern deiner Augen sehe ich, dass das nicht der Fall ist."

    "Alles da" sagte ich. "Der künstliche Nebel, die Augentropfen, der Berserkertrank und das Zusatzmittel. Sicherlich habe ich sie damals mitgenommen. Das Schulamt muss die Fläschchen bei mir gefunden haben. Sie lügen, wenn sie das Gegenteil behaupten. In der Suppe fanden sich aber Spuren von Traumweiß. Zumindest ein Teil unserer Erlebnisse könnte also ein Trugbild gewesen sein.

    Nur welcher? Wie weit reichen die tatsächlichen Geschehnisse, und was hat das Schulamt vertuscht oder verdreht?"

    "Es gibt einen Weg, das herauszufinden", verkündete Schlichter. "Wir besuchen das Grab meiner Großmutter. Liegt sie drinnen, einbalsamiert, wie es sich gehört, haben wir wohl phantasiert. Wenn nicht........"

    "Heute Nacht auf dem Friedhof", sagte Lehrer begeistert. "Bist du dabei?

    Sein harmloses Äußeres und sein Hang zum Strebertum täuschten darüber hinweg, dass er von uns allen der Abenteuerlustigste war. Wenn es galt, fröhlich in ein unheimliches Gruselschloß zu marschieren, zögerte er keine Sekunde.

    "Nicht heute Nacht", korrigierte ihn Schlichter. "Dank Kräuters Geruchsverstärker können wir wittern, was in dem Grab liegt. Es genügt, wenn wir tagsüber vorbeischauen. Das ist mir wesentlich lieber!"

    Dem konnte ich aus vollem Herzen zustimmen.

    Immer noch stand die Möglichkeit im Raum, dass die Schwarze Witwe irgendwo lauerte, samt ihrer Gefolgschaft aus lebenden Leichen. Ihnen im Dunkeln zu begegnen, gehörte nicht zu meinen dringlichsten Wünschen. Tagsüber, so wussten es die alten Märchenbücher, mussten sich die Kreaturen des Bösen vor dem Sonnenlicht verbergen. Also drohte uns keine Gefahr, solange wir nicht gerade bis zur Dämmerung auf dem Friedhof herumtrödelten. Leider hatten die Märchenbücher nicht immer recht, wie mir bald klar werden sollte. Während Lehrer und Schlichter voller Optimismus voran schritten, veranlasste mich irgendetwas, die Fläschchen mit den Tränken in meiner Jacke zu verstauen. Man wusste ja nie.

    Wir verließen die Stadt durch das Westtor. Im Westen, so hatte man früher geglaubt, läge das Reich der Toten. Dort befand sich auch der Friedhof, in sicherer Entfernung von den Lebenden. Wie das Schulamt lehrte, hatten die Menschen im Dunklen Zeitalter in ständiger Furcht vor den neidischen Verstorbenen gelebt, die gerne als Geister oder Grabwandler in Erscheinung traten.

    Bis die Aufklärer kamen und derlei kindische Ängste mit Wissenschaft und Vernunft überwanden. Wenn auch nicht vollständig.

    Immer noch verfiel niemand auf den Gedanken, die Stadt durch das Westtor betreten zu wollen, obwohl das nicht verboten war.

    Dieser Ausgang war Trauerzügen vorbehalten und Leuten, die die Gräber verblichener Freunde und Verwandten besuchen wollten.

    Gleich neben dem Tor hatten Blumenhändler ihren Stand aufgebaut, darunter der Veilchenjörg, so genannt, weil er nicht nur eine Schwäche für Veilchen hatte, sondern sich auch gelegentlich eines einfing, anlässlich einer Meinungsverschiedenheit in einer der Kneipen im Roten Viertel.

    So auch heute.

    "Wir sollten mal den anderen sehen?", nahm Schlichter Veilchenjörgs üblichen Spruch vorweg.

    "Bloß nicht", konterte der Weißbärtige. "Den Anblick könntet ihr nicht ertragen. Er wäre zu schrecklich. Was wollt ihr haben, Jungs?"

    "Ein Strauß Chrysanthemen, bitte", sagte ich.

    "Nehme ich auch", schloss sich Lehrer an, während sich Schlichter für Herbstastern entschied.

    "Mal sehen, ob ihr es bis zum Friedhof schafft", bemerkte Veilchenjörgs junge, rothaarige Enkelin, die er in seinem Geschäft anlernte. "Heute ist ein seltsamer Tag. Die Leute kaufen schon Blumen. Aber dann fällt ihnen ein, dass sie irgendwas vergessen haben, und gehen wieder nach Hause. Keiner wagt sich durch das Tor. Komisch."

    Das war es in der Tat. Würde auch mir eine Ausrede einfallen, wenn ich versuchte, meine Schritte in die Richtung des Friedhofs zu lenken? Würde sich ein Zwang einstellen, dem ich nicht widerstehen konnte? Ich sah Lehrer und Schlichter an, dass sie ähnliche Befürchtungen hegten.

    "Gehen wir", kommandierte Schlichter. Betont gelassen schlenderten wir durch den Ausgang. Einen inneren Widerstand verspürte ich nicht. Nur ein mulmiges Gefühl. Immerhin eignete sich der düstere Wald, durch den unser Weg führte, hervorragend als Versteck für allerlei finstere Gestalten.

    Doch vor uns konnte sich niemand verbergen. Genauer gesagt, vor unseren Nasen.

    "Widschweine", rief Lehrer. "Sieben Stück, hundert Schritte entfernt, diese Richtung. Und da! Eichhörnchen! Lecker, Pfifferlinge!

    Igitt, Stinkmorcheln. Und was ist das?"

    Lehrer bückte sich und förderte eine alte Silbermünze zu tage, die unter einem Stein verborgen war.

    "Ich habe gar nicht gewusst, dass Silber einen eigenen Geruch hat!"

    Seine Begeisterung erinnerte mich an meine ersten Erfahrungen mit dem Trank. Ein neue Welt hatte sich mir erschlossen.

    Das war faszinierend, aber es gab auch Nachteile.

    "Langsamer jetzt", mahnte ich. "Vergesst nicht, wohin wir gehen?"

    "Verwesungsgeruch?", fragte Schlichter beklommen.

    "Anders", erwiderte ich. "Ihr müsst euch daran gewöhnen. Gleich ist es so weit."

    Die Anwesenheit des Todes. Im Heilerhaus hatte ich sie zum ersten Mal wahrgenommen.

    Auch an Patienten, denen es recht gut zu gehen schien. Die glaubten, sich auf dem Wege der Besserung zu befinden.

    Und doch näherte sich ihr Leben dem Ende. Mein verstärkter Geruchssinn hatte mich in dieser Hinsicht nie getäuscht.

    Deshalb hatte ich schließlich darauf verzichtet, das Mittel anzuwenden, bevor ich meinen Dienst antrat. Weil ich mit den Menschen, deren Schicksal ich kannte, nicht darüber reden konnte.

    Niemand außer meinen engsten Freunden durfte wissen, dass es ein Elixier gegen den Wahrheitstrank gab. Sonst hätte das Richterkollegium wieder die Folter eingeführt, wofür ich nicht verantwortlich sein wollte. Hier, in der Nähe des Friedhofs, fühlte sich der Tod ganz anders an als im Heilerhaus. Eine Empfindung von Leere, die uns innerhalten ließ. Als ob man in einem verlassenen Raum stünde, den niemals wieder ein Mensch betreten würde.

    Nur Staub und abgestandene Luft. Das Fehlen jeglicher Bewegung.

    "Da ist ja niemand", sagte Lehrer erstaunt.

    Vorsichtig näherten wir uns dem Eingangstor des Totenackers, wie ein altertümlicher Ausdruck lautete.

    Seltsamerweise war es wie ein Triumphbogen gestaltet, versehen mit bronzenen Lettern, die einen Satz formten.

    "Der Tod ist ein ewiger Schlaf". Mit dieser Parole wollte das Schulamt den abergläubischen Vorstellungen von Geistern und einem Jenseits entgegenwirken. Sehr klug fand ich den Spruch nicht. Schlafen war häufig mit Träumen verbunden. Was mochten das für Träume sein? Passender wären Begriffe wie Bewusstlosigkeit oder gar Nichtexistenz gewesen, sofern zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass mit dem Tod alles vorbei war. Die Gestaltung des Friedhofes hingegen fand ich gelungen. Die Grabstellen fügten sich harmonisch in eine Gartenlandschaft ein. Bäume, Sträucher und Blumenbeete sorgten dafür, dass eine unheimliche Stimmung gar nicht erst aufkommen konnte. Normalerweise. Aus dem Rahmen fielen die wenigen Grabmale. Sie waren harausragenden Verstorbenen gewidmet. Luitgart dem Erleuchteten, beispielsweise, dem weisen Albert und natürlich meinem Vater, dem Retter an den Mauern.

    "Das ist aber nicht der Weg zu den Familiengräbern", sagte ich zu dem voran gehenden Schlichter. "Wollten wir nicht bei deiner Großmutter nach dem Rechten sehen?"

    "Zuerst besuchen wir jemand anderen", gab er zurück.

    Als wir schließlich vor einem Grab stehen blieben, las ich auf dem Gedenkstein: "Thorfinn Hella, gelebt im Zeitalter der Aufklärung, vom 63. bis zum 80.Jahre."

    "Holzer", sagte ich betroffen.

    "Leider konntest du bei der Totenfeier nicht dabei sein", bedauerte Schlichter. "Es war eine würdige Veranstaltung, auch wenn ihm der Heldenstatus verwehrt wurde. Nur siebzehn Jahre waren ihm vergönnt! Wenn es doch Mord war, werden die Schuldigen dafür bezahlen!" Bedächtig legte er seinen Blumenstrauß auf der Grabplatte nieder. Wir folgten seinem Beispiel.

    "Mir war zu seinen Lebzeiten gar nicht bewusst, dass er einen ganz eigenen Körpergeruch hatte", sagte er. "Selbst jetzt, im Tode, ist noch etwas davon übrig. Ich kann es von hier aus riechen. Das müsste auch bei Großmutter möglich sein. Bald haben wir Gewißheit."

    Mir fiel etwas auf. "Was das Riechen betrifft", sagte ich. "Im Wald haben wir allerlei Tiere gewittert. Selbst wenn sie nicht zu sehen waren. Hier ist nichts! Kein Vogel, kein Kaninchen, nicht einmal Mäuse."

    Die beiden schnüffelten angestrengt.

    "Tatsächlich", sagte Lehrer überrascht. "Und nicht nur das. Auch Vogelgesang ist nicht zu hören. Kein Bienengebrumm. Und kein Mensch zu sehen. Wir sind die einzigen Besucher."

    Jetzt wurde es uns doch langsam unheimlich zumute. In den Schauerromanan residierten die meist adligen Sauger stets in gewaltigen, wenn auch ein wenig verfallenen Prunkbauten. Sobald die Vögel verstummten, stand für den Helden fest, dass er sich in der Gefahrenzone befand. Immerhin war ein glückliches Ende garantiert. Darauf konnten wir uns nicht verlassen.

    "Na schön", analysierte Lehrer. "Alle Märchenbücher stimmen darin überein, dass die bösen, mytholgischen Kreaturen das Tageslicht scheuen. Aber in der Finsternis, in Gräbern oder Grüften, können sie sich natürlich auch tagsüber aufhalten. Ihre bloße Ausstrahlung vermag Tiere durchaus vertreiben. Wir sind aber sicher, solange wir nicht in eine dunkle Höhle latschen."

    "Ich habe Berserkertrank dabei, für alle Fälle", sagte ich.

    "Werden wir nicht brauchen", entgegenete Lehrer im Vollgefühl seines Bücherwissens.

    Nachdem wir Holzer die letzte Ehre erwiesen hatten, machten wir uns auf zum hoffentlich letzten Aufenthaltsort von Schlichters Großmutter. Eine große Eiche mit ausladenden Geäst, die am Rande unseres Weges stand, kam mir seltsam vor. Da lauerte etwas. In ihrem Schatten. Es roch eigenartig. Nach Tod, in den Leben eingeschlossen war wie ein Insekt in Bernstein. Was immer sich dort verbarg, war gleichzeitig tot und lebendig.

    "Riecht ihr das auch?", fragte Schlichter. "Sehen wir nach. Aber haltet euch vom Schatten fern."

    Langsam umrundeten wir den Baum, bis wir eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt bemerkten, die in einen weiten Mantel gehüllt war. Der Mann trug einen tief ins Gesicht gezogenen Hut mit breiter Krempe und Handschuhe. Damit war er recht gut gegen die Sonne geschützt. Lagen die Märchenbücher falsch? War es vielleicht nicht das Tageslicht allein, das Grabwandler zu fürchten hatten, sondern lediglich die Sonne? Mir fiel auf, dass sich der Himmel langsam zuzog. Wolken trieben auf das Tagesgestirn zu und würden es bald verdecken.

    Unvermutet machte der Fremde, immer noch im Schatten verharrend, einen Schritt auf uns zu. Seinen Geruch nahm ich nun genauer wahr. So verrückt es klang, aber der Mann war zu vier Fünfteln tot und zu einem Fünftel lebendig. Ich hatte immer die Auffassung vertreten, dass Krebsgeschwüre den widerlichsten Gestank verbreiteten, den man sich vorstellen konnte. Diese Erfahrung hatte ich im Heilerhaus gemacht. Aber das, was von dem Verhüllten ausging, fühlte sich noch abstoßender, noch unnatürlicher an. So roch eine Unmöglichkeit. Etwas, das es nicht geben konnte. Plötzlich hob er den Kopf und sah uns an. Seine gelbliche Hautfarbe wies auf einen übertriebenen Hang zu Met und Branntwein hin. Was immer an ihm lebendig war, die Leber konnte es nicht sein. Er kam mir bekannt vor.

    "Ihr seid der Gärtner Waldemar", sprach ich ihn an, um die bedrohliche Stimmung ein wenig aufzulockern.

    "Wir kennen uns aus dem Heilerhaus. Ihr wisst schon, die Abteilung für,äh, Lebergeschädigte, Es scheint Euch ja wohl besser zu gehen."

    So weit ich mich erinnerte, war er vor sieben Monaten gestorben. Gemessen daran, war ein Grad der Lebendigkeit von einem Fünftel gar nicht so schlecht. Sollte man meinen. Andererseits, wer richtig tot war, konnte auch keine schlechte Laune haben, was von diesem Zeitgenossen leider nicht behauptet werden konnte. Wütend starrte er mich aus ebenfalls gelblichen Augen an.

    "Ah, der feine, junge Herr", brüllte er. "Hat den Gärtner Waldemar wiedererkannt. Den Nachnamen hat er sich nicht gemerkt. Wozu auch! Gärtner Waldemar brauch ja auch keinen. Ist nur ein einfacher Mann. Aus dem Volk. Zählt gar nichts für einen Wasa! Sind so fein. So vornehm!

    "Streng lieber dein Gedächtnis an", flüsterte mir Schlichter verstohlen zu. Ich bemühte mich, aber der Familienname des Mannes wollte mir einfach nicht einfallen. Also versuchte ich es anders.

    "Mein Namensgedächtnis ist ganz schlecht", beteuerte ich. "Das betrifft keineswegs nur Euch. Vor Gärtnern habe ich den größten Respekt. Ich gärtnere selber gern!"

    "Sterben lassen!", brüllte unser Gegenüber plötzlich, ohne auf meine Beschwichtigungsversuche einzugehen. Er riss seinen Mund so weit auf, dass ich seine gelben Zähne sehen konnte.

    "Sterben lassen!" Weil ich ein einfacher Mann bin. Kein feiner Herr. So einer braucht keine gute Behandlung! Ist nur für die da oben. Sterben lassen habt ihr mich!"

    Er ging einen weiteren Schritt auf uns zu, bis an den äußeren Rand des Schattens. Besorgt blickte ich zum Himmel empor. Teilweise war die Sonne schon hinter den grauen Wolken verschwunden. Waldemar bemerkte es auch und grinste hinterhältig.

    "Die Bücher, aus denen ich mein Wissen über Wandler habe, sind nicht gerade wissenschaftliche Werke", sagte Lehrer leise.

    "Ich meine, sie standen in der Kinderbücherei. Vielleicht reichen für Untote ja auch sonnendichte Kleidung und eine bedeckter Himmel?"

    "Los, weg hier", rief Schlichter.

  • Heyho,

    Mein aktueller Stand ist nun bei Kapitel 5.

    Ich muss sagen, ich hätte nicht erwartet, dass es in der Vernunftsprüfung so plötzlich zu Blutvergiessen kommt. Zu Beginn hätte ich eher ein Spuckhaus mit etwas extra erwartet, dass es so schnell lebensbedrohlich wird, hat mich überrascht.

    Mir gefällt, dass sich der rationale, kultivierte Stil der Dialoge und Gedankengänge von Kräuter auch in die Actionszenen weiterzieht. Die Kontrahenten führen während des Kampfs Wortgefechte und wenden Tricks an.

    Auch das Worldbuilding fliesst schön mit ein. Man erfährt erst Stückweise, wie mächtig das alte Reich wirklich war und wie die neue Regierung tickt, die etwas revolutionäres zu haben scheint.

    Ein paar Bemerkungen:

    Die drei drehten sich um und stürmten aus dem Zimmer. Wir anderen blieben ratlos zurück. Was immer jetzt auch geschehen mochte, die Vernunftprüfung war jedenfalls vorbei.

    Die Flucht der Sverrig kommt mir ein wenig plötzlich. Vielleicht kannst du das noch ein bisschen umformulieren oder früher klarstellen, dass sie die Miliz holen und nicht einfach davonrennen?

    Schlichter reagierte sofort. "Abwehrkreis bilden!", befahl er. Wir zogen unsere Messer und stellten uns so auf, dass wir auf Angriffe von jeder Seite reagieren konnten

    Ich fand's gut, wenn die Messer schon früher etabliert würden. So wäre meine Erwartungshaltung wohl auch eine andere gewesen und die Gewalt somit erwarteter.

    Lehrer erschien an meiner Seite. "Es wird Zeit, dass du eingreifst", sagte er. "Wie denn?", fragte ich. "Du hast doch gesehen, was der Gemüsemann mit mir gemacht hat. Was immer diese beiden sind, gegen ihre Kraft haben wir keine Chance. Unverwundbar scheinen sie ja auch noch zu sein. Ja, wenn wir Schwerter hätten. Dann könnten wir ihnen die Arme und am besten gleich die Köpfe abhacken. Aber so? Mit den Messern können wir nichts ausrichten." "Dann muss es eben mit Handarbeit gehen", meinte Lehrer. Ich starrte ihn verständnislos an, während mir gleichzeitig die Absurdität dieses Gesprächs klar wurde. Hier standen wir, gemütlich plaudernd, während am anderen Ende des Saals Soße und Kleiner gerade damit beschäftigt waren, sich vor den lebenden Toten in Sicherheit zu bringen.

    Ich finde das Gespräch auch etwas absurd. Die beiden sind mir definitiv einen Ticken zu ruhig in der Situation. Wenn sie irgendwo Deckung suchen würden, fänd ich es glaubhafter. Ebenso würden einige Ausrufezeichen, sowie die Verwendung von anderen Wörtern als "sagen" und "fragen" die Dringlichkeit der Siutation besser hervorheben.

    Mir ist ausserdem aufgefallen, dass du keine Zeilenumbrüche machst, sobald es in einem Dialog einen Sprecherwechsel gibt. Ich würde dir empfehlen, da Umbrüche zu machen, um den Lesefluss zu verbessern. Z.B. so:

    Lehrer erschien an meiner Seite. "Es wird Zeit, dass du eingreifst", sagte er.

    "Wie denn?", fragte ich. "Du hast doch gesehen, was der Gemüsemann mit mir gemacht hat. Was immer diese beiden sind, gegen ihre Kraft haben wir keine Chance. Unverwundbar scheinen sie ja auch noch zu sein. Ja, wenn wir Schwerter hätten. Dann könnten wir ihnen die Arme und am besten gleich die Köpfe abhacken. Aber so? Mit den Messern können wir nichts ausrichten."

    "Dann muss es eben mit Handarbeit gehen", meinte Lehrer.

    Ich starrte ihn verständnislos an, während mir gleichzeitig die Absurdität dieses Gesprächs klar wurde. Hier standen wir, gemütlich plaudernd, während am anderen Ende des Saals Soße und Kleiner gerade damit beschäftigt waren, sich vor den lebenden Toten in Sicherheit zu bringen.

    "Du Narr", sagte sie.

    Das Wort scheint es ihr angetan zu haben. Sie sagt es ganze drei Mal zu Kräuter.

    Das war nicht so abwegig, wie es mir zunächst vorkam. Ein Rädchen innerhalb des Zeitmessers zerbricht. Der Mechanismus

    steht still.


    Ein Herz hört auf zu schlagen. Der Mensch rührt sich nicht mehr. Das Augenlicht erlischt.


    Nur dass die defekte Uhr jahrelang im Keller liegen und doch wieder zum Laufen gebracht werden kann, sobald ein neues Zahnrad eingefügt wird. Weil sie aus stabilem Material besteht. Ein Körper hingegen, mit Ausnahme des Skeletts und der Zähne, setzt sich aus gibberigem Zeug zusammen, das schnell zerfällt. Hirnmasse, Blut, schleimige Eingeweide. Solche unschönen Dinge hatte ich dank der Unfallopfer, die immer wieder einmal ins Heilerhaus eingeliefert wurden, schon gesehen. Allerdings, wie die Geburt jedes Säuglings bewies: All dies konnte auch neu entstehen. Einfach aus der Nahrung, die die Mutter zu sich nahm. Die Natur selbst erschuf Hirne, Organe, Blut, ganze Menschen. Warum sollte die Wissenschaft das nicht auch ereichen? Eines Tages?

    Gefällt mir, der Part :thumbup:

    "Helft mir vom Dach". Diesem Ansinnen konnte in der Tat in mehr als einer Weise entsprochen werden. Klugerweise hätte ich Begriffe wie "lebendig", "in einem Stück" und "mit heilen Knochen" verwenden sollen. Da ich dies versäumt hatte, flog ich nun mit beachtlicher Geschwindigkeit durch die Luft, dem Mond und den Sternen entgegen.

    Die Erklärung empfinde ich als überflüssig. Ich denke, man versteht auch so, dass die Mondelfen seine Bitte wörtlich genommen haben.

  • Danke für den Kommentar.

    Der Hinweis auf die Zeilenumbrüche macht Sinn. Das berücksichtige ich bei den neuen Kapiteln und gehe auch noch mal über die früheren.

    Es ist interessant, dass du erst einmal Spukhauserlebnisse erwartest hast. Denn genau das war ursprünglich geplant. Ich hatte mir Literatur über die Tricks der Illusionisten des 19.Jahrhunderts besorgt - Tische rücken, gefakte Geistererscheinungen , erstaunlich, wozu die schon fähig waren - , bin dann aber davon abgekommen.

    Weil mich etwas anderes mehr interessierte - ideologische Verblendung und Indoktrination.

    Was immer die Jungs erleben, sie versuchen immer nach Erklärungen, die in ihr Weltbild passen.

    Die Absurdität des Gesprächs ist gewollt. Ich versuche, Dramatik und Humor miteinander zu kombinieren.

    Dabei orientiere ich mich an Mark Twains Tom Sawyer. Es gibt lustige Szenen, wenn Tom einen anderen Jungen dazu bringt, Tante Pollys Zaun zu streichen, und gruselige, als Indianer Joe einen Mord begeht. Daraus macht er ein harmonisches Ganzes.

    Das gelingt mir natürlich nicht so gut, schließlich war er Mark Twain, und ich bin nur ein Anfänger.

    Aber ich versuche es.

    Das mit den Messern rührt daher, dass es sich um eine militante Kultur handelt, die einen verheerenden Krieg hinter sich hat.

    Das wird später erklärt.

    Die aus deiner Sicht überflüssigen Erklärungen rühren daher, dass ich einen etwas opulenteren Stil mag, mit der einen oder anderen Girlande.

    Das ist Geschmackssache.

    Auf dieser Seite findet man die unterschiedlichsten Stilrichtungen, was ich gut find.

  • Kräuter und die Mondelfen

    13.Kapitel

    Auf zum Friedhof - die Großmutter besuchen.

    Teil 2

    Wir rannten los. Hinter uns ertönte höhnisches Gelächter. "Sterben lassen", schrie der Gärtner abermals. Sein Wortschatz mochte begrenzt sein. Das nützte uns in diesem Augenblick leider gar nichts.

    "Wohin laufen wir?", fragte Lehrer keuchend.

    "Zum Grabmal meines Vaters", antwortete ich. "Da können wir uns besser verteidigen."

    Die Statue, die ihn in heldischer Pose abbildete, hatte ein echtes Schwert in der Hand und war eingefriedet. Sobald wir sie erreicht haben würden, hätte sich unsere Lage deutlich verbessert. Ich sah mich um. Der Gärtner hatte den schützenden Baum hinter sich gelassen und folgte uns, in ganz normalem Fußgängertempo, ohne sich zu beeilen.

    Trotzdem kam er schnell näher. Mit jedem Schritt, den er machte, schien sich der Weg zusammenzuziehen, um sich hinter ihm wieder auf seine ursprüngliche Länge auszudehnen. Bald würde er uns erreicht haben. Ich warf meinen Umhang ab und knöpfte meine Jacke auf.

    "Was soll das denn?", rief Schlichter.

    Während ich mich im Laufen aus dem Kleidungsstück herauswand, erwiderte ich: "In der rechten Innentasche sind drei Fläschchen. Auf dem einen steht ein A, in die Augen damit. In der mit dem B ist der Berserkertrank, im dritten das Zusatzmittel. In der Reihenfolge!"

    Ich warf die Jacke Schlichter zu und drehte mich um. Waldemar stand hinter mir. Auf den Schluck Berserkertrank vertrauend, den ich in Onkel Bernies Haus zu mir genommen hatte, schlug ich mit aller Kraft zu. Leider ergab sich nicht dasselbe Resultat wie damals bei Schwester Gisela. Immerhin zeigte der Grabwandler Wirkung und taumelte zurück. Sein Blick schien so etwas wie Respekt auszudrücken.

    "Hat ja Kraft, der feine, junge Herr", sagte der fast tote Gärtner. "Nützt ihm aber nichts. Beiß ihm die Kehle durch, ja!"

    Meine Hoffnung, er würde nun, wie die Schurken in den Abenteuergeschichten, dazu übergehen, mir in allen Einzelheiten seine finsteren Pläne zu erläutern, erfüllte sich nicht. Ohne ein weiteres Wort ging er zum Angriff über und zwang mich zu Boden. Während er auf mir lag und nach meinem Hals schnappte, bemerkte ich, dass er nicht atmete. Dafür begann er wieder zu brüllen.

    "Sterben lassen! Nur ein einfacher Mann! Beiß dich tot dafür, ja!"

    "Und wie willst du das ohne Kopf bewerkstelligen?", fragte eine höfliche Stimme.

    Hände griffen nach Waldemars Hals. Ein kräftiger Ruck genügte, und ich hatte es nur noch mit einem Rumpf zu tun, dessen Bewegungen rasch erlahmten. Ich stieß den nun wirklich leblosen Körper von mir, unterstützt von Schlichter. Derweil hatte Lehrer das abgerissene Haupt an den Haaren gepackt und hielt es weit von sich, da es immer noch schrie. Mit gefletschten Zähnen und weit aufgerissenen Augen. Lehrer machte einen leicht angeekelten Eindruck. Schließlich versetzte er seinem Fund einen kräftigen Tritt, so dass Waldemars Kopf durch die Luft segelte und etwa zwanzig Schritte entfernt aufschlug. Das Gebrüll wurde nicht leiser. Es klang nach nacktem Entsetzen.

    "Wieso ist noch Leben in ihm?", wunderte sich Lehrer. "Das war bei denen im Sverrighaus doch auch nicht der Fall."

    "Darüber können wir uns später Gedanken machen", bemerkte Schlichter pragmatisch. "Sehen wir erst einmal zu, dass wir hier weg kommen. Wir müssen zum Ausgang."

    "Das dürfte sich etwas schwierig gestalten", sagte Lehrer gelassen und wies in die entsprechende Richtung. Dort waren tief verhüllte, schwarz gekleidete Gestalten zu sehen, die sich langsam näherten. Der Geruch, der von ihnen ausging, ähnelte dem des Gärtners. Ein leiser Hauch von Wärme und Lebendigkeit, eingehüllt in die Kälte des Todes. Ihre Anzahl schätze ich auf etwa fünfzig.

    "Sie kommen von allen Seiten", warnte der Schulmeistersohn.

    "Dann auf zum Grabmal", entschied Schlichter.

    Seine Augen flackerten rötlich, die von Lehrer, hinter den Brillengläsern, in einem tiefen Blau. Der Berserkertrank tat seine Wirkung. Im Sommerhaus der Sverrig hatte mir das Elixier zwar übermenschliche Kräfte verliehen, auf die aber Erschöpfungszustände gefolgt waren. Was ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte. Wohl dank der geringeren Dosis, die ich zu mir genommen hatte, gelang es mir, mit meinen Freunden Schritt zu halten, ohne ohnmächtig zu werden. Wir schwangen uns über das kupferne Geländer, das das Grabmonument meines Vaters umgab. Schlichter eilte die Stufen empor. Als er die vergoldete Statue erreicht hatte, nahm er ihr das Schwert aus der starren Hand und kam wieder zu uns herunter.

    Die Verhüllten rückten vor. Ihre dunkle Kleidung schien sie vor dem Tageslicht zu schützen, zumindest so lange, wie die grauen Wolken die Sonne verdeckten. Offensichtlich ließen sie mehr Vorsicht walten als der Gärtner, der es immerhin gewagt hatte, sein Gesicht unbedeckt zu lassen. Er war allerdings zu einem Fünftel lebendig gewesen. Seine Artgenossen - sofern man das so nennen konnte - schätzte ich auf höchstens ein Zehntel.

    "Sie sind langsamer als Waldemar", stellte ich fest. "Wohl auch schwächer. Riecht ihr das? Sie sind - nun ja - toter!"

    "Das ist nicht alles", erklärte Lehrer. "Ich wittere noch etwas anderes. Fällt euch das nicht auf? Ich glaube, ich habe eine Idee".

    Mit diesen Worten flankte er über das Geländer, ging selbstbewusst auf die Wiedergänger zu und nahm die Rednerpose ein, die man uns im Rhetorikunterricht beigebracht hatte. Mit dramatischer Geste wies er auf den immer noch wehklagenden Kopf, um den er unseren Verfolger kürzer gemacht hatte.

    "Ist es nicht schrecklich, nicht sterben zu können?", rief er. "Euer Kamerad hat keinen Körper mehr, und dennoch findet er keine Ruhe. Wann wird sein Leiden ein Ende finden? Wenn das Fleisch von seinem Schädel abgefallen ist, verbrannt von der Sonne, verzehrt von Ratten und Würmern? Wird er all dies spüren? Und der Totenkopf? Selbst der Staub, zu dem er letztentlich zerfallen wird? Grauen und Schmerz, in alle Ewigkeit, ohne Hoffnung auf Erlösung?"

    Lehrer breitete die Arme aus.

    "Wir sind stark. Eurem Freund haben wir das Haupt vom Rumpf getrennt, mit unserer Kraft. Genau das werden wir auch euch antun. Vielleicht können wir nicht alle erledigen, aber die meisten schon. Wollt ihr das riskieren? Für wen? "Eure Anführer? Mögen sie vortreten, wenn sie Mut haben!"

    Jetzt nahm ich ihn auch wahr, den besonderen Geruch, der von den Angreifern ausging. Angst! Und mit jedem Wort Lehrers wurde sie größer.

    "Das ist brillant", flüsterte Schlichter. "Das glaubt uns keiner! Lehrer, der eine Horde Untoter das Fürchten lehrt! Oder besser Fasttoter!"

    "Mit etwas, was schlimmer ist als der Tod", antwortete ich. "Ob sie sich tatsächlich zurückziehen werden?"

    Zunächst sah es nicht so aus. Die Vermummten gingen noch ein paar Schritte auf Lehrer zu, so dass Schlichter und ich uns schon bereit machten, ihm zur Hilfe zu eilen, aber dann blieben sie stehen. Einer löste sich aus der Masse. Auffallend groß und schmal, wirkte er so zerbrechlich, als ob man ihn mit Leichtigkeit in seine Bestandteile zerlegen könnte. Trotzdem strahlte er Kraft aus.

    "Zu einem Drittel lebendig", murmelte ich. "Das dürfte der Anführer sein."

    Der Fremde stellte sich direkt vor Lehrer, der furchtlos stehen blieb. Niemand sagte ein Wort. Dann streckte die Gestalt die Arme aus und bewegte ihre Finger, die in schwarzen Handschuhen steckten. Mir wurde klar, dass er uns Signale sandte. In der Gebärdensprache, derer sich die Stadtmiliz bediente.

    Ich las: " Ein ehrenhafter Tod, und ehrenhafte Ruhestätten. wenn ihr euch ergebt, bevor die Sonne untergegangen ist."

    Das war alles. Er drehte sich um und ging gemessenen Schrittes davon. Seine Gefolgsleute schlossen sich an. Schnell verschwanden sie hinter den Bäumen und Sträuchern, so dass wir sie nicht mehr zu sehen vermochten. Aber riechen konnten wir sie noch. Sie kreisten uns ein. Die meisten versammelten sich am Ausgangstor des Friedhofes. Verstärkung war auch eingetroffen.

    Ich zählte mehr als hundert von ihnen.

    Lehrer kam zurück und setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe, die hoch zum Kriegerdenkmal führte. Wir gesellten uns zu ihm.

    "Diese Aktion war absolut geisteskrank", sagte ich. "Allerdings auch tapfer und einfallsreich, das muss ich zugeben."

    Lehrer konnte mit Lob nicht besonders gut umgehen. Man musste es immer mit einer Beleidigung verknüpfen.

    "Oh, vielen Dank", gab er zurück. "Weisst du, das war eigentlich nahe liegend. Die sind ärmer dran als wir. Unser Ausweg ist der Tod, falls es ganz schlecht läuft. Den haben sie nicht. Unser körperloser Freund da hinten führt ihnen vor, was ihnen blühen kann. Da hätte ich auch Angst".

    "Ich kann es nicht fassen", stöhnte Schlichter, der uns offenbar gar nicht zugehört hatte. Verständnislos sahen wir ihn an.

    "So viele unbestrafte Mörder! So schlecht kann unsere Justiz doch gar nicht arbeiten! "

    Dieser Umstand schien ihn in höherem Maße zu bekümmern als unsere momentane, wenig hoffnungsvolle Lage, belagert von fast toten Leichen, die nur darauf warteten, dass wir unsere Deckung verließen.

    "Vielleicht stimmt das mit den unbestraften Mördern ja gar nicht", gab ich zu bedenken. "Immerhin handelt es sich um eine Geschichte aus Märchenbüchern. Die in der Kinderbibliothek stehen!"

    "Das alte Wissen konnte eben nur in diesen Fabeln überleben", erklärte Lehrer. "Natürlich wurde Vieles hinzugedichtet. Und manches auch vergessen. Trotzdem ist das alles, was wir haben."

    "Es gab immer Gerüchte um meine Großmutter und die Art, wie Großvater starb", erinnerte sich Schlichter. "Und dieser Waldemar war der Hauptverdächtige in einer Mordserie im Roten Viertel. Das sind nur zwei Beispiele, aber was, wenn es sich bei den anderen Wandlern ähnlich verhält? Und wer nimmt eigentlich die rechtliche Würdigung vor? Nur Mörder werden wieder erweckt? Was ist mit Totschlag? Körperverletzung mit Todesfolge, fahrlässiger Tötung, Notwehr? Töten im Krieg?"

    Ich dachte nach. "Entweder", fasste ich zusammen, "gibt es schwarze Magie wirklich. Darauf werden die bösesten Menschen natürlich am ehesten ansprechen. Oder es existiert eine wissenschaftliche Erklärung. Womöglich ist es jemandem geglückt, Lebensenergie aufzufangen und umzuleiten, so wie diese neuen Gerätschaften, die auf Dächern befestigt werden, um Blitze unschädlich zu machen. Wenn derjenige finstere Pläne verfolgt, rekrutiert er bevorzugt Verbrecher. Am besten Mörder, und zwar die unbestraften, weil das die Schlauesten sein dürften."

    "Keine schlechte Analyse", meinte Lehrer anerkennend. "Das erklärt auch, warum der Gemüsemann und die Krankenschwester im Geisterhaus stumm blieben, als du ihnen die Köpfe abgeschraubt hast. Da war einfach weniger Lebensenergie als bei Waldemar.

    Doch jetzt zu etwas ganz anderem. Wie kommen wir hier lebend raus?

    "Genau", stimmte Schlichter zu. "Und damit zu dir, Kräuter. Dein Berserkertrank wirkt anders als der, der im letzten Krieg zum Einsatz kam. Ich verspüre keinen wilden Kampfeseifer. Eher eine gewisse Leichtigkeit. Wie nach einem Glas Wein. Doch die Kraft ist da, wie Lehrer bewiesen hat. Und die Nachwirkungen traten noch nicht auf, genausowenig wie bei dir. Wie sollen wir in Zukunft mit dem Zeug umgehen?"

    "Erst die Augentropfen", antwortete ich. "Dann den Trank, dann das Zusatzmittel. Das Ganze wiederholen, wenn man müde wird.

    Wie oft ein Mensch das durchstehen kann? Keine Ahnung! Wir befinden uns eben noch im Experimentierstadium. Ich schlage vor, dass wir eine kräftige Portion von allem nehmen, und uns dann zum Ausgang durchkämpfen." Das erschien mir wie ein guter Plan. Doch Schlichter war nicht überzeugt.

    "Am Tor warten mittlerweile über hundert von ihnen", warnte er. "Sie können uns durch ihre bloße Masse aufhalten."

    "Aber sie haben doch Angst um ihre Köpfe", wandte ich ein.

    "Nicht, wenn wir in Bewegung sind", erklärte Lehrer. "Dass wir sie um einen Kopf kürzer machen, falls sie uns hier attackieren, das nehmen sie uns ab. Wir hätten den Untergang vor Augen und würden unsere Haut teuer verkaufen. Indem wir ihnen das Schlimmste antäten, was sie sich vorstellen könnten. Ohne Rücksicht auf unser Überleben. Als Verteidiger befinden wir uns in einer günstigeren, taktischen Position. Aber als Angreifer? Sie könnten von allen Seiten gegen uns vorgehen. Über den Zaun müssten wir auch noch. Ein sehr riskantes Vorhaben. Noch haben wir Tageslicht. Wir sollten es vielleicht nutzen, um uns etwas Besseres auszudenken."

    "Weil sie nachts stärker sind?", fragte Schlichter."

    "Darin stimmen alle Märchenbücher überein", bestätigte Lehrer. "Die Botschaft ihres Anführers spricht auch dafür. Wofür wir uns auch entscheiden. Bevor die Nacht hereinbricht, müssen wir von hier weg sein."

    "Die Bäume", fiel mir ein. "Vielleicht können sie nicht klettern."

    Ich hatte den Gedanken kaum ausgesprochen, da wurde mir die Blödheit dieser Idee von selbst klar. Wer sagte denn, dass die Wiedererweckten nicht stark genug waren, um die Bäume einfach umzustürzen?

    Und wie lange wollten wir in den Wipfeln ausharren? Ich winkte ab, bevor sich meine Freunde dazu äußern konnten.

    "Der Weiße Bach an der Nordseite", sagte Lehrer plötzlich. "Zwischen unserer jetzigen Position und dem Gewässer lauern nur ein paar der Fasttoten. Mit denen werden wir fertig. Und dann stellen wir uns in den Bach. Den Märchenbüchern zufolge können sie fließendes Wasser nicht überqueren. Wenn wir genau in der Mitte stehen, sind wir vor ihnen sicher. Der Bach ist nicht sehr tief.

    Das Wasser wird uns höchstens bis zum Kinn reichen!"

    "Es ist aber auch eiskalt", stellte Schlichter fest. "Vor den Wandlern dürften wir zwar sicher sein, falls die alten Geschichten richtig liegen sollten. Aber dafür sind wir am nächsten Morgen erfroren!"

  • Kräuter und die Mondelfen

    Kapitel 13

    Auf zum Friedhof - Großmutter besuchen.

    Teil 3

    "Vielleicht hilft da der Berserkertrank", hoffte Lehrer.

    Der verleiht Kraft und Schnelligkeit", antwortete ich. "Und man empfindet keinen Schmerz. Wohl auch keine Kälte. Wir würden trotzdem erfrieren, aber immerhin nichts davon spüren!"

    Mein Blick fiel auf das Mausoleum, in dem der Leichnam meines Vaters lag. Der Rundbau aus schwarzem Marmor stand unmittelbar neben dem Grabmal.

    Ich wies auf das Bauwerk und sagte: "Dort können wir Zuflucht finden. Damals, bei der Grablege vor elf Jahren, hat mein Großvater den Segen gespendet, der diesen Ort vor allem Bösen schützen sollte. Und zwar nach den alten Ritualen. Das Schulamt war wenig begeistert, hat es aber durchgehen lassen. Wohl mit Rücksicht auf die große Beliebtheit, die Vater und Großvater genossen. Wenn das genauso wirksam sein sollte wie Soßes geweihtes Salz im Geisterhaus, werden die Wandler nicht imstande sein, uns dort anzugreifen."

    "Wasser gibt es da auch, in den Blumenvasen, die von den Friedhofsgärtnern regelmäßig neu bestückt werden. Ein paar Tage wird es sich sicherlich aushalten lassen. Ewig können sie die Leute nicht vom Friedhof abhalten, ohne dass es schließlich auffällt. Die Blumenhändler wundern sich ja schon." Dieser Einfall gefiel mir immer besser, je länger ich darüber nachdachte. Bei meinen Freunden fand meine Begeisterung aber keinen Wiederhall. Betreten sahen sie sich an. "Was ist los"?, fragte ich. "Gruseliger als hier draussen kann es in dem Mausoleum auch nicht sein. Dafür säßen wir nicht auf dem Präsentierteller!"

    "Tja", begann Lehrer. "Da ist noch die Sache mit den unbestraften Mördern. Ich meine, dein Vater ...."

    "War natürlich kein Mörder, sondern Soldat", beendete ich den Satz, den Lehrer offenbar nicht vollständig aussprechen wollte. " Das ist etwas ganz anderes. Ansonsten könnten die Schwarze Witwe und ihre Handlanger alle gefallenen Krieger erwecken und auf uns hetzen! Viele Tausende. Stellt euch das mal vor. Wenn sie dazu in der Lage wären, hätten sie es schon längst getan!"

    "Sie haben dir wohl nichts davon erzählt" sagte Schlichter. " Die Geschichtsbücher schweigen. Aber es ist ein offenes Geheimnis. Alle Älteren wissen davon. Doch spricht man nicht darüber. In den meisten Familien. Erst recht nicht in deiner, nehme ich an."

    "Die Hinrichtung der Gefangenen", ergänzte Lehrer. "Nach der Schlacht an den Mauern übernahm dein Vater das Oberkommando von Sigurd Yggdrasil, der schwer verwundet war und unter den Nachwirkungen des Berserkertranks litt. Er beschloss, mit allen noch kampffähigen Soldaten der fliehenden Armee der Flusslande zu folgen und sie noch auf der Alten Heeresstrasse zu stellen, bevor sich der Feind neu formieren und erneut zum Angriff übergehen konnte. Das waren immerhin noch 25 000 Mann! Die Entscheidung war richtig. Der Schlag gelang. Aber es gab ein Problem. Wir hatten zweitausend Gefangene gemacht. Für ihre Bewachung standen nur alte Männer und Frauen zur Verfügung."

    "Die feindlichen Soldaten waren zwar entwaffnet", fuhr Schlichter fort. "Als ausgebildete Krieger aber trotzdem eine Gefahr. Mit Greisen und Frauen wären sie wohl fertig geworden. Die Stadt hätte ihnen offen gestanden. Das wollte dein Vater nicht riskieren. Also befahl er, sie zu töten."

    "Zweitausend Mann?", fragte ich entsetzt. "Leute, die sich ergeben hatten?"

    "Denk an den Schwur an den Mauern", entgegnete Schlichter. "Das gesamte Heer der Flusslande nahm Aufstellung vor der Stadt. Die Kämpfer gelobten feierlich, nicht eher zu ruhen, bis alles vernichtet war. Kein Mann, keine Frau, kein Kind sollte verschont, alles Lebendige ausgemerzt werden, selbst die Tiere. Nur verbrannte Trümmer, auf ewig verflucht, gedachten sie übrig zu lassen. Unsere eigenen Soldaten, die in ihre Gefangenschaft gerieten, haben sie sofort getötet. Verstehe mich nicht falsch, ich mache deinem Vater keine Vorwürfe. Niemand tut das. Sein Befehl war hart, aber notwendig. Doch in den Flusslanden nennen sie ihn einen Massenmörder und Kriegsverbrecher. Welche Maßstäbe legen die an, die die Toten erwecken?"

    Die Grabstätte meines Vaters hatte mir nie Unbehagen eingeflösst. Tante Meg und ich besuchten sie oft, brachten Blumen mit und bewunderten die bunten Wandmalereien, in denen Szenen aus dem Leben des Verstorbenen dargestellt wurden. Jedes Mal erzählte sie mir eine neue Geschichte über Vater. Von dem es hieß, er sei im Herzen ein Poet und Künsler gewesen und hätte das Schwert nur widerwillig ergriffen. So hatte ich ihn in Erinnerung. Ein nachdenklicher, ruhiger Mann, der sich nie seiner Kriegstaten rühmte. Über das vergoldete Denkmal, das ihn in erhabener Pose zeigte, hätte er nur gelacht. Es war mir immer schwer gefallen, ihn mir als Feldherren vorzustellen, auf dessen Kommando eine ganze Armee hörte. Der in die Schlacht zog, um zu kämpfen und zu töten. Auch wenn ich von seinen militärischen Fähigkeiten nur wenig geerbt hatte, war ich stolz gewesen, der Sohn dieses großen Mannes zu sein. Wie sah es jetzt aus? Krieg war eine Sache. Eine Massenhinrichtung eine andere. Agnathas Erzählung fiel mir ein. Unsere Lage war verzweifelt gewesen. Wir hatten am Rande einer totalen Niederlage gestanden, die niemand überlebt hätte. Wie konnte ich, der ich im tiefsten Frieden und Wohlstand aufgewachsen war, mir auch nur im Entferntesten anmaßen, über damals getroffene Maßnahmen zu urteilen? Und damit über meinen Vater?

    Es war ein Vernichtungskrieg gewesen. Wir oder sie. So etwas wollte ich mir nicht einmal vorstellen. Gefangene waren gemacht worden. Laufen lassen konnte man sie nicht, weil sie dann wieder versucht hätten, unser Volk auszurotten. Es war auch nicht möglich, sie zu bewachen. Also hatte Vater keine andere Wahl gehabt. Als abstrakte Erkenntnis machte das Sinn. Die Bilder in meinem Kopf wurde ich aber nicht so leicht los. Zweitausend junge Männer, in unserem Alter, mussten zusehen, wie die Richtblöcke aufgestellt wurden. Wie ihre Kameraden starben, abgeschlachtet wie Tiere. Sie mochten geschworen haben, unsere Leute hinzumorden, aber war das ihre Idee gewesen? Was hatten ihnen ihre Oberen eingeredet? Dass wir sie ausmerzen wollten? Dass wir ein Hort des Bösen waren? Im Geschichtsunterricht hatten unsere Lehrer nie ein Wort darüber verloren, weshalb es überhaupt zum Krieg gekommen war. Die anderen waren böse, und wir die Guten. Damit ließen sie es bewenden. Vermutlich hatten die jungen Soldaten aus den Flusslanden Ähnliches in der Schule gehört. Ihre Geschichtsbücher waren wohl auch nicht wahrhaftiger als unsere. Doch über all dies konnte ich später gründlich nachdenken. Im Augenblick gab es Dringlicheres.

    "Selbst wenn er da drin ist", sagte ich und wies auf die Grabstätte. "Er ist mein Vater. Mir wird er doch nichts tun!"

    "Darauf kannst du nur hoffen, wenn er einen freien Willen hat"; gab Lehrer zu bedenken. "Es kommt darauf an, wie viel Lebensenergie sie ihm eingeflösst haben. Denk an Gisela und Gunnar. Denen haben sie nur wenig davon gegeben. Also waren sie nur Puppen aus Fleisch. Bloße Werkzeuge. Falls das bei deinem Vater auch der Fall sein sollte, hätten wir es mit einem seelenlosen Leichnam zu tun. Anders sieht es bei der Schwarzen Witwe und diesem Waldemar aus. Ihre Persönlichkeiten wurden wieder hergestellt. Hängt wohl von der Dosis ab. Doch sind sie frei? Oder beherrscht sie ein fremder Wille? Auch in dem Fall kann uns dein Vater gefährlich werden, wenn wir ihn heraus lassen. Ihm wurde ein Schwert mitgegeben. Dem besten Kämpfer seiner Generation! Kämen wir gegen ihn an? Und selbst wenn? Würdest du ihn köpfen wollen?"

    So deprimierend sich dieser Vortrag auch anhörte, in Wirklichkeit war alles vielleicht noch viel schlimmer. Lehrer hatte meine aus dem Ärmel geschüttelte, wissenschaftliche Theorie, wonach jemand eine Art Blitzableiter und Speicher für Lebensenergie gebastelt hätte, mit Begeisterung aufgegriffen. Dass diese Form von Energie wirklich existierte, bezweifelte ich nicht. Wie wäre es sonst zu erklären, dass vor langer Zeit Leben aus toter Materie entstehen konnte? Aber warum war Soße in der Lage gewesen, die Schwarze Witwe mit geweihtem Salz in die Flucht zu schlagen? Das klang eher nach Magie und damit etwas Fremdartigen, das wir nicht einmal im Ansatz verstanden. Diese Gedanken behielt ich für mich, um meine Freunde nicht zu verunsichern. Jedenfalls konnte niemand vorhersagen, was uns im Inneren des Grabmals erwarten mochte. Ich wollte es auch gar nicht wissen.

    "Also gut", sagte ich laut. "Dann bleibt uns doch nur der Sturm auf das Friedhofstor und danach der Durchbruch zur Stadt. Stärken wir uns mit dem größten Quantum Berserkertrank, das wir gerade noch verkraften können, dazu das Zusatzmittel und die Augentropfen, und dann los! Mit jeder Stunde schwindet das Tageslicht. Das stärkt die Grabwandler. Wir müssen jetzt handeln."

    "Sehe ich auch so", bestätigte Schlichter. "Dann her mit den Elixieren!"

    Nachdem Lehrer seine Portionen zu sich genommen hatte, probierte er aus dem Stand einen dreifachen Salto. "Unglaublich", bemerkte er. "Ich bin ganz entspannt, und trotzdem diese Kraft. Da ist dir etwas gelungen, Kräuter!"

    Schlichter rief ihn zur Ordnung. "Ihr beiden geht voran", befahl er. "Normales Tempo, bis der Feind sich zeigt. Dann rennt ihr. Prügelt alles nieder, was sich euch in den Weg stellt. Ich bleibe dicht hinter euch und lasse jeden die Klinge schmecken, der von der Seite angreift." Er ließ das Schwert in seiner Hand wirbeln, als ob es gar nichts wöge. Das machte mir ein wenig Hoffnung. Womöglich gab es doch noch eine Chance, diesen Tag zu überleben.

    "Halt", rief Lehrer plötzlich, bei dem die den Geruchssinn verstärkende Nebenwirkung des Anti-Wahrheitstranks am stärksten zutage trat. "Da kommt etwas auf uns zu. Von Norden her!" Jetzt nahm ich es auch wahr. Was sich uns näherte, roch nur zu einem Achtel nach Tod, aber zu sieben Achteln nach vibrierendem Leben. So wie die Luft nach einem Blitzeinschlag. Zwischen den Grabreihen erschien wie aus dem Nichts eine Frau in einem roten Witwengewand. Schlank, hochgewachsen. Vor Jahrzehnten hatte Schwarz Rot als Trauerfarbe abgelöst. Heute noch konnte man sehr betagte Damen sehen, die am alten Stil festhielten. Allerdings waren deren Kleider nicht so figurbetont wie die der Roten Witwe. Und sie waren nicht so schnell, so stark und so bedrohlich.

    "Wir brauchen einen neuen Plan!", sagte Lehrer gelassen.

    "Abwehrstellung!", befahl Schlichter

    Einmal editiert, zuletzt von 20thcenturyman (22. Februar 2024 um 17:29) aus folgendem Grund: Korrekturen

  • Hallo 20thcenturyman

    Ich habe hier mal reingelesen und bin noch nicht weit gekommen. Trotzdem schon ein Feedback.


    1.Kapitel Mondelfen

    In den alten Tagen, vor dem Zeitalter der Vernunft, wollten die Leute nicht glauben, dass der Mond nur ein besserer Steinbrocken war, der noch nicht einmal aus eigener Kraft zu leuchten vermochte. Lieber erblickten sie am Nachthimmel die mystische Heimat der Mondelfen, welche bei Vollmomd auf Lichtstrahlen zur Erde ritten, wo sie, je nach Laune, die Sterblichen heimsuchten oder belohnten. Mit Milch und Keksen konnte man sie günstig stimmen. Dann machten sie Wünsche wahr. Wer ihnen ohne diese Gaben begegnete, den belegten sie mit tückischen Flüchen. Noch übler erging es jenen, deren Gebäck den Himmlischen nicht mundete oder deren Milch sauer geworden war. Sie wären besser daheim geblieben.

    Wer ist der Erzähler? Als Leser frage ich mich, ob das jemand ist mit dem ich mitfiebern sollte. Ich bin mir hier noch nicht so sicher. Ist es nicht eher der Autor, der zu mir spricht? Den will ich nicht hören, aber den Protagonisten schon.

    Ich stellte mir vor, welches Bild sich dem Betrachter damals geboten haben musste. Lauter nervöse Menschen, hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Furcht, die Milchkannen und Keksschachteln mit sich trugen. Manche blieben vielleicht die ganze Nacht auf und warteten auf die Mondelfen. Andere, die ihren Backkünsten weniger vertrauten, machten, dass sie rechtzeitig vor Mondaufgang nach Hause kamen. Jahrhundertelang war das so gegangen, obwohl sich nie eines der Zauberwesen gezeigt hatte. Der Glaube kann eben stärker sein als jede Wissenschaft. Oder die Leute fanden den gesunden Menschenverstand damals einfach langweilig.

    Was meinst du mit "damals"? Das ist eher die Erzählstimme eine auktorialen Erzählersm, als eine "Ich" Stimme.

    "Milch und Kekse", sagte ich und wies auf den runden Felsen am Himmel, der, wie jedes Schulkind wusste, sein Licht von der Sonne bezog, welche zwar untergegangen, aber trotzdem noch da war. Jedenfalls behaupteten die Lehrer das. "Stell dir mal vor, jetzt würde eine Mondelfe erscheinen, und wir hätten nichts dabei."

    Schlichter sah mich genervt an. "So etwas solltest du noch nicht einmal im Scherz sagen", erwiderte er. "Das Schulamt verfolgt alles, was nach Förderung des Aberglaubens aussieht. Da wirst du schneller hinter Gittern oder gar im Narrenhaus landen, als du "Mondelfe" sagen kannst."

    Hat "Schlichter" einen richtigen Namen? Wie sieht er aus, was bewegt ihn?

    Jetzt zeigte Schlichter auch auf etwas, und zwar auf das Gebäude, vor dem wir standen. "Was immer sie da für uns vorbereitet haben, lass dich bloss nicht davon beeindrucken und verkneife dir blöde Sprüche. Auf dem Mond werden keine Kekse geknabbert, und in diesem Haus geht auch kein Gespenst um. Bleib dabei. Es gibt für alles eine natürliche Erklärung!"

    Ich wusste, dass Schlichter dies wirklich glaubte, und teilte seine Überzeugung. Wir lebten im Zeitalter der Vernunft. Die Wissenschaft präsentierte immer neue Erkenntnisse. Zweifellos war der Glaube an Geister, Dämonen und Magie dämlich und von vorgestern, aber ich fand, daß das Schulamt seinen Kampf gegen die Reste des Aberglaubens ein wenig zu verbiestert führte. Sollte doch jeder glauben, was er wollte. Aber das Schulamt ließ nicht locker, und so mussten wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, um unser festes Vertrauen in die Vernunft beweisen zu dürfen.

    Unter den argwöhnischen Blicken der Lehrer. Wie würden wir uns machen, im unheimlichsten Spukhaus der Stadt, in dessen Nähe sich niemand freiwillig wagte, nicht einmal tagsüber? An aufgeklärten Lippenbekenntnissen mangelte es nicht. Nur ein paar Verrückte bekannten sich freimütig zum Glauben an Phantasiegestalten. Geisterhäuser gab es offiziell nur in Märchenbüchern. Aber inoffiziell...... Wurde jeder Handwerker plötzlich krank, wenn er an dem Gebäude Arbeiten verrichten sollte. Dabei sah es eigentlich ganz nett aus. Große Fenster ließen viel Licht in die Zimmer. Genug, um bei Vollmond lesen zu können, wie ich vermutete. Tagsüber musste es in den Räumen hell und freundlich sein. Es gab einen Balkon, und das Dach wurde von ein paar zierlichen Türmchen und einem Schornstein geschmückt. Ein harmloses Sommerhaus. Um das ich stets einen Bogen gemacht hatte. Warum eigentlich?

    Das wirkt sehr distanziert, da der Erzähler schon alles weiß. Es kommt keine Spannung auf.

    Soße näherte sich mit einem Tablett, auf dem drei dampfende Becher standen. "Die Alte Mühle wäre mir lieber gewesen", sagte er. " Oder wenigstens das Mordhaus in der Brückenstrasse."

    "Da ist es auch nicht gespenstischer als hier", sagte Schlichter.

    "Weil es keine Gespenster gibt", stellte ich fest. "Aber diese Gemäuer haben wenigstens Ausstrahlung. Da ist es für die Schulmeister leichter, mit etwas Budenzauber für Stimmung zu sorgen. Mein Onkel hätte vielleicht ein bisschen Grusel aus diesem netten Häuschen herauskitzeln können. Aber der neue Lehrer......

    "Ist ein Langweiler", schloss Soße. "Eine öde Nacht steht uns bevor. Immerhin dürfte die Vernunftprüfung kein Problem sein."

    Mittlerweile war das Mondlicht noch fahler geworden. Der Wind frischte auf und heulte wie die Seelen der Verdammten, die ihre Verbannung aus dem Garten der Ahnen beklagten. An was für einen Quatsch sie früher geglaubt hatten! Das alles hätte ausreichen können, um bei empfindlichen Gemütern alte Ängste wieder aufleben zu lassen, so kindisch diese auch sein mochten. Aber nicht bei diesem lichten Sommerhäuschen. Unschuldig stand es da. Wenn ich ein böser Geist gewesen wäre, hätte ich mich dort nicht wohl gefühlt und wäre umgezogen. In die Alte Mühle oder in das Mordhaus, wo mein Onkel legendäre Spukveranstaltungen inszeniert hatte.

    Ich nahm mir einen der Becher, die Soße mitgebracht hatte, und trank dankbar die heiße Suppe. Schlichter holte seine Taschenuhr hervor.

    "Noch eine halbe Stunde", stellte er fest. "Wir sollten langsam zu den anderen gehen".

    Ok. Einer heißt Schlichter, ein anderer Soße. Das ist also eher Comedy und witzig? So heißt ja keiner…

    Damit meinte er die übrigen Schüler unseres Jahrgangs, welche sich um den Suppenkessel versammelt hatten, den uns das Schulamt in seiner Großzügigkeit spendiert hatte. Gelächter brandete zu uns herüber. Was immer die Leute so erheitert hatte, musste nicht einmal besonders lustig gewesen sein. Während der Vernunftprüfung waren die Schüler immer etwas aufgedreht. Jeder gab sich fröhlich und sorglos, weil keiner zugeben wollte, dass er Angst hatte. Nicht vor mit Ketten rasselnden, Blut saugenden, ihren Gräbern entstiegenen Unholden, sondern vor der eigenen Schreckhaftigkeit. Die Lehrmeister, allen voran bis vor kurzem mein Onkel Bernie, legten nämlich einen beachtlichen Erfindungsreichtum an den Tag, wenn es darum ging, ihre Schützlinge mit allen Tricks der Illusionskunst in Panik zu versetzen. Und wehe dem, der sich sichtbar davon beeindrucken ließ, mädchenhaft aufschrie oder gar davon rannte. Das kam immer wieder vor. Die Unglücklichen, denen solches widerfuhr, fristeten den Rest ihres Daseins als Witzfiguren. Schlimmer noch, sie konnten auch in den Verdacht geraten, dem alten Aberglauben anzuhängen oder für diesen zumindest empfänglich zu sein.

    Wir setzten uns in Bewegung. Soße ging voran. Er war einen Kopf größer als ich, wesentlich breiter in den Schultern und erweckte den Eindruck, dick zu sein, obwohl das gar nicht stimmte. Vielleicht lag es an seinem runden Gesicht und dem Umstand, daß er der Sohn eines Gastwirtes war und schon den Ruf eines begabten Nachwuchskochs genoss, spezialisiert auf leckere Soßen. Er hatte sogar schon ein paar neue erfunden. Schlichter und ich folgten ihm. Unsere Umhänge flatterten im Wind, der leider keine wilde Jagd ruheloser Seelen darstellte, was viel faszinierender gewesen wäre als die kalten und warmen Luftströmungen, die, den Lehrbüchern zufolge, das Phänomen verursachten. Die warme Luft dehnte sich aus und kam der kalten ins Gehege. Das Ergebnis war Wind. Aber wieso machte die warme Luft das eigentlich? Was trieb sie an?

    Während ich noch darüber nachdachte, erreichten wir den Suppenkessel und das Pferdefuhrwerk, das diesen zu uns gebracht hatte. Die Schüler hatten sich dicht zusammengedrängt, denn es wurde langsam unangenehm kalt. Etwas abseits stand der Schuldiener Dietmar, scheinbar unbeeindruckt von dem rauen Wetter. Er mußte darußen bleiben, während wir bald hinein durften. Ins gemütliche Geisterhaus. In dem sich immer noch nichts rührte. Gerade als ich dachte, dass es nun wirklich Zeit wurde für Unheimliches, geschah etwas Banales. Das Licht ging an. Nicht im ganzen Haus, sondern nur in zwei Zimmern im ersten Stock. Rotes Licht. Aus zwei Fenstern, die eng beieinander lagen. Es war, als ob man von zwei Dämonenaugen angestarrt wurde.

    "Kein schlechter Effekt", sagte Lehrer, der noch kein Schulmeister war, aber unter Garantie einer werden würde. Er redete wie ein Lehrer, wusste immer alles, kannte sämtliche Schulbücher auswendig und erfreute sich trotzdem großer Beliebtheit, weil er jeden abschreiben ließ und außerdem die Kunst des Erklärens beherrschte. Selbst den schlichtesten Geistern vermochte er den Lehrstoff in einer Weise näher zu bringen, dass sie zumindest ansatzweise so etwas wie Verständnis entwickelten und sich dabei nicht allzu doof vorkommen mussten. Er war besser als die richtigen Lehrer.

    "Wieso flackert das Licht nicht?", wollte Schlichter wissen. "Rote Lampenschirme?"

    "Eher rotes Glas", antwortete Lehrer. "Genauer gesagt, Fensterscheiben aus rotem Glas, beleuchtet von bereit gehaltenen Öllampen, die alle gleichzeitig entzündet wurden." Das machte Sinn. Welche Farbe das Fensterglas hatte, war im Dunkeln nicht zu erkennen gewsen.

    Jetzt heiß jemand "Lehrer". Es sind also keine Personen gemeint, sondern Klischees?

    "Was für ein Aufwand", sagte ich. Einer der anderen Schüler, dessen Vater Glaser war, weshalb wir ihn auch so nannten, pflichtete mir bei.

    "Das dürfte Goldrubinglas sein. Sehr teuer in der Herstellung, weil man dafür Goldstaub braucht, der bei der Glasschmelze hinzugegeben werden muss", erläuterte er. "So etwas können nur zwei Meister in der Stadt. Und bei denen wurde das nicht gemacht, sonst wüßte ich das."

    "Goldstaub", schimpfte Schlichter. "Für so etwas haben sie Geld, aber die Schule ist seit zwanzig Jahren nicht mehr renoviert worden."

    Das stimmte zwar, aber dieser Umstand änderte nichts daran, dass ich mich unter dem Blick der blutroten Augen äußerst unwohl fühlte. Der Eindruck, von etwas Boshaften tückisch belauert zu werden, ging auch dann nicht weg, wenn man sich nüchtern den Herstellungsprozess von Goldrubinglas und die Funktionsweise von Öllampen vor Augen führte. Alles Technik, alles Wissenschaft, und doch......

    Lehrer sprach es aus. "Diesmal meinen sie es wirklich ernst mit der Vernunftprüfung. Leute, bleibt gelassen und vertraut auf die Wissenschaft. Ich glaube, daß wir heute Nacht noch ganz andere Sachen erleben werden. Seid aufmerksam und sucht nach der natürlichen Erklärung!"

    "Mit ein paar roten Fenstern kriegen die uns nicht klein", machte sich Kleiner Mut, der so hieß, weil er mit über zwei Metern der Größte von uns war. Zustimmendes Murmeln war seine Belohnung, dem ich mich aber nicht anschloss, weil ich in diesem Augenblick zufällig nach oben gesehen hatte.

    Zum fahlen Mond. Der sich langam, fast unmerklich, aber unaufhaltsam, rot färbte. Ich wies zum Himmel und sagte: "Blutmond". Meine Stimme klang dabei unheilsschwanger wie die eine antiken Geisterbeschwörers, wie ich zu meinem Ärger feststellte. Trotz aller Vernunfterziehung, die ich seit frühester Jugend genossen hatte, spürte ich, wie sich der längst überwundene Aberglaube in mir regte. Das Schaudern vor dem Übernatürlichen. Zum Glück hielten die anderen meinen Ausruf für einen Witz und lachten.

    "Sehr lustig", meinte Lehrer. "Erkläre lieber mal, durch welche Naturkräfte so ein Blutmond zustande kommt. Das könnte durchaus in der Abschlussprüfung abgefragt werden."

    "Äh", sagte ich und kratzte mühsam die Wissensreste zusammen, die mir vom Unterricht geblieben waren. "Das Licht kommt von der Sonne und wird von den drei Leuchtkräften angetrieben. Rot, Grün und Blau. Und dann trifft es den Mond." Damit war mein Wissensvorrat erschöpft.

    "Und?", bohrte Lehrer. "Wieso wird der Mond dadurch rot?"

    Zur allgemeinen Überraschung meldete sich Kleiner zu Wort. "Wenn das Licht die Mondluft trifft, werden die grüne und die blaue Leuchtkraft zurückgehalten, weil sie schwächer sind als die rote. Die dringt durch, aber nur manchmal, wenn die Mondluft durch Stürme besonders viel Staub enthält", sagte er. Zwar hatte noch niemand den Mond besucht, um diese These zu bestätigen, aber so stand es nun mal in unseren Schulbüchern. Wer war ich, um dies in Zweifel zu ziehen, obgleich ich mich schon fragte, warum dann nicht auch die Erde gelegentlich rot wurde, wenn der Wind ordentlich Sand in den Himmel blies. Vielleicht war der Erdtrabant viel staubiger als sein Planet?

    Nun heißt jemand "Kleiner". Das geht für mich nicht so gut.

    "Schlichter", wandte sich Lehrer nun an meinen Nebenmann. " Wenn wir schon einmal dabei sind. Nenne die bekannen Naturkräfte!" Eigentlich hätte Lehrer gar keine Autorität ausstrahlen dürfen. Niemand entsprach dem Streberklischee so vollkommen wie er. Klein, schmächtig, mt gewaltigen Augengläsern ausgetattet, schaffte er es dennoch mühelos, einen Kerl wie Schlichter zu beeindrucken, den Richtersohn, der, lässig und ruhig, von allen anerkannt und imstande war, jeden Streit beizulegen und zu einer gerechten Lösung zu gelangen.

    Und so zählte Schlichter auch brav die Naturkräfte auf, die damals als der wissenschaftlichen Weisheit letzter Schluss galten. "Die drei erwähnten Leuchtkräfte natürlich", begann er und fuhr fort: "Dann die Warmkraft und die Kaltkraft, die stets im Streit stehen. Die Blitzkraft. Die Bewegungskraft, ohne die alles still stünde. Die Anziehungskraft, ohne die wir nach oben fliegen würden, die Klebekraft, ohne die alles auseinanderfiele, und schließlich die Lebenskraft, ohne die alles tot wäre."

    "Und nicht zu vergessen die Lachkraft, ohne die alles traurig wäre", fügte ich hinzu.

    Ich weiß nicht mehr, warum ich das von mir gegeben habe. Vielleicht, weil mir langsam flau im Magen wurde. Denn mittlerweile hatte der Mond dieselbe blutrote Farbe angenommen wie die beiden Fensteraugen. Exakt denselben Farbton. In diesem Licht sah das Haus gar nicht mehr harmlos aus. Nichtsdestweniger erntete ich mit der Bemerkung einen Heiterkeitsausbruch, der sich gewaschen hatte.

    Selbst Lehrer konnte sich nicht mehr beherrschen. Formvollendet verbeugte er sich vor mir. "Welche Ehre, den Entdecker einer neuen Naturkraft zu meinem Freundeskreis zählen zu dürfen! Aber du solltest doch bei deinen Tränken und Tinkturen bleiben, Kräuter." Das war mein Spitzname. Soße war der Sohn eines Kochs und Gastwirts, Schlichter entstammte einer Richterfamilie, und meine Tante war Obfrau des Heilerhauses, Kräutergelehrte und Trankmeisterin. Nicht nur wir drei, sondern auch die anderen waren auf dem besten Wege, das zu werden, was uns unsere Familien vorgaben. Warum fiel mir das jetzt zum ersten Mal auf?

    Lehrer, der natürlich einer Schulmeistersippe entstammte, holte seine Taschenuhr hervor. "Noch eine Minute", verkündete er. Dank der von mir neu entdeckten Lachkraft waren wir trotz Blutmonds und Dämonenaugen guter Dinge. Neugierig blickten wir auf die Tür. Mein Onkel Bernie hätte dafür gesorgt, daß sie sich, mit einem unheimlichen Knarren, ganz langsam geöffnet hätte. Blutrotes Licht hätte den Eingang erleuchtet und mit den Fenstern und dem Mond ein gruseliges Ensemble gebildet.

    Der neue Schulmeister pflegte einen anderen Stil. Die Tür stand plötzlich offen, ohne dass einer von uns hätte sagen können, wann und wie sich das vollzogen hatte. Und es war dunkel im Hauseingang. Pechschwarz.

    "Nett", sagte Schlichter.

    "Dann wollen wir mal", rief Lehrer und setzte sich in Bewegung. Wir folgten ihm, und als er das Gebäude betrat, wirkte es so, als ob es ihn mit Haut und Brille verschluckt hätte. Er verschwand in der Finsternis. Als auch ich durch den Eingang schritt, stellte ich fest, daß es wirklich fast stockdunkel war. Nur am Ende des Flurs schimmerte ein schwaches Licht, das uns immerhin davor bewahrte, über unsere eigenen Füße zu stolpern.

    Und als wir endlich in der Empfangshalle ankamen, erwartete uns das echte Grauen. In einer sehr speziellen Form.

    Fazit: Mache deine Figuren lebendig. Gebe ihnen echte Namen und stelle dar wofür sie stehen. Klassisch: "Show don't Tell". Die Erzählweise ist distanziert. Das kann man machen und es kann trotzdem spannend sein. Hier sehe ich das noch nicht.

    Tipp: Etabliere die Protagonisten zuerst und lass sie dann handeln. Echte Personen. Mit Wünschen und Ängsten, dann fängst du Leser besser ein.

    Disclaimer: Nur mein erster Eindruck. Du bist der Boss. Ich lese noch zwei-drei Posts weiter und schaue dann, ob ich dabei bleibe.:)

  • Hallo,

    danke für deine Einschätzung.

    Das Meiste, das du kritisierst, ist allerdings genauso gewollt.

    Die Geschichte spielt in einer fremden Kultur. Dort ist es üblich, dass sich die Jugendlichen mit ihren Spitznamen anreden.

    Das mit dem allwissenden Erzähler ist auch nicht so einfach. Kräuter erzählt aus seiner Jugend. Er ist also einerseits Ich-Erzähler, aber auch allwissender Erzähler, wobei er aber manchmal aus der Perspektive seines jüngeren Ichs berichtet, das eben noch nicht wusste, was kommen würde.

    Der Anfang sollte langsam sein. Tempo sollte folgen.

  • Kräuter und die Mondelfen

    14.Kapitel

    Die Rote Witwe

    Teil 1


    Ein rotes Witwenkleid. Rote Stiefel und rote Handschuhe. Ein hoher, roter Hut, mit dem ein dichter, das Gesicht verbergender, ebenfalls roter Schleier verbunden war. Ihre Sicht schien dadurch nicht beeinträchtigt zu sein. Zielstrebig ging die Frau auf uns zu. Je näher sie kam, desto intensiver nahm ich ihren Geruch wahr. Als ob ein Gewitter in der Luft läge. Als ob sich dunkle Wolken zusammenballten, in denen schon Blitze zuckten. Verglichen mit dieser Erscheinung wirkten die Gefolgsleute der Schwarzen Witwe wie blasse, kraftlose Schatten. Und dennoch gab es eine Gemeinsamkeit. Nur schwach wahrnehmbar bei dieser roten Witwe. Zu sieben Achteln war sie lebendig, und nur zu einem Achtel tot. So dass auch sie sich vor dem Sonnenlicht in Acht nehmen musste. Eine kleine Ansprache Lehrers würde in ihrem Fall aber kaum ausreichen, um sie in die Flucht zu schlagen.

    Ich setzte all meine Hoffnung auf den Berserkertrank. Noch nie hatte jemand so viel von dem Zeug zu sich genommen, wie wir das gerade getan hatten. Falls uns das Elixier nicht doch noch umbrachte, trotz des Zusatzmittels, stellten wir für jeden Gegner eine ernst zu nehmende Herausforderung dar. Zumal wir mit Schlichter den besten Schwertkämpfer unseres Jahrgangs aufbieten konnten, der mit einer erstklassigen Waffe ausgestattet war. Doch die Fremde griff uns nicht an. Was sie statt dessen tat, als sie uns erreicht hatte, war allerdings nicht weniger beunruhigend. Gemütlich lehnte sie sich an das Geländer, hinter dem wir uns verschanzt hatten, und sah uns einfach nur an. Ich konnte ihre Blicke durch den Schleier spüren, genau wie bei der Schwarzen Witwe. Das verhieß nichts Gutes.

    Nach einer Weile hörten wir eine kühle Stimme mit einem leicht ironischen Unterton sagen: "Na Jungs, in Schwierigkeiten?" Lehrer und mir verschlug es die Sprache. Nur Schlichter blieb wie immer unbeeindruckt.

    "Danke der Nachfrage", antwortete er. "Uns geht es gut. Alles im Griff."

    "Hm", sagte die Rote Witwe. "Ich möchte einmal versuchen, eure Lage zu beschreiben. Ihr könnt hier bleiben. Dann werden die Wiedererweckten über euch herfallen, sobald die Sonne untergegangen ist. Die Nacht stärkt sie. Dunkelheit ist ihr Element. Oder ihr geht nach Westen, Norden oder Süden. Dort ist nur Wildnis. In der sie euch genauso erwischen werden wie an diesem Ort. Bleibt nur der Osten. Hin zum Ausgangstor und weiter in die Stadt. Über hundert von ihnen werden versuchen, das zu verhindern. Zu viele für drei junge Krieger, auch wenn sie sich mit dem Berserkertrank gestärkt haben. Der Kommandeur der feindlichen Truppen war ein berühmter Feldherr, zu seiner Zeit. Auch ihn nannte man den Retter an den Mauern. Trotz fünfhundert Jahren in der Erde hat er nichts verlernt. Ich fürchte, Jungs, ihr seid so gut wie tot."

    Diesmal war es Lehrer, der antwortete. "Das wissen wir alles selbst", sagte er. "Hört Ihr Euch gerne reden, oder habt Ihr einen brauchbaren Vorschlag zu machen?" Ich wunderte mich immer wieder über den Mut, den dieser Bücherwurm gelegentlich aufbrachte. Die Rote Witwe nahm ihm die Frechheit nicht übel. Sie lachte.

    "Nicht so ungeduldig, Kleiner", erwiderte sie. "Einen Vorschlag habe ich in der Tat für euch. Oder, besser gesagt, ein Angebot. Ob wir ins Geschäft kommen, hängt davon ab, was dein Freund zu bieten hat, Der, den ihr Kräuter nennt." Dabei wies sie auf mich.

    "Wie meint Ihr das?", fragte ich verwirrt.

    "Dein Berserkertrank", erläuterte sie. "Ich möchte wissen, ob er etwas taugt. Würdest du also eine Dame zu einem Getränk einladen?"

    "Eine mysteriöse Fremde mit undurchschaubaren Absichten noch kampftüchtiger machen?", fragte ich. "Das scheint mir keine gute Idee zu sein!"

    "Guter Einwand", stellte die Rote Witwe fest. Mit einer Hand packte sie das kupferne Geländer und drückte so fest zu, dass das Metall ein protestierendes Kreischen von sich gab und schließlich zerbrach. "Ich denke", sagte sie gelassen, "dass meine Kraft ausreicht, um mit euch fertig zu werden. Den Trank benötige ich für andere Zwecke. Aber ich will euch zu nichts zwingen. Wenn ihr nicht wollt, dann gehe ich halt wieder."

    "Ihr seid doch nicht etwa mit der Schwarzen Witwe im Bunde?", platzte Lehrer heraus.

    "Mit der?", fragte die Frau empört. "Diese alte Krähe würde ich nicht einmal als Putzfrau einstellen!"

    "Der Feind unseres Feindes", signalisierte mir Schlichter lautlos. " Gib ihr den Trank. Was haben wir schon zu verlieren!"

    "Hoffentlich liegst du richtig", gab ich zurück.

    " Na schön", wandte ich mich an die rot Gekleidete. "Doch muss ich Euch warnen. Bevor Ihr das Elixier zu Euch nehmt, sind einige Vorsichtsmaßnahmen zu beachten.

    "Du meinst die Tropfen, die ihr euch in die Augen reibt, und den zweiten Trank? So soll wohl der Berserkertod verhindert werden.Funktioniert das wirklich?"

    "Das tut es", versicherte ich. "Ich habe es selbst ausprobiert".

    "Gut zu hören", bemerkte die Rote Witwe. "Aber ich brauche nur den Trank selbst."

    "Ich hoffe, dass Ihr wisst, was Ihr da tut", sagte ich.

    Sie nickte nur. "Mach ruhig voll", ermunterte sie mich, als ich die Flüssigkeit vorsichtig in den Verschluss des Fläschchens goß. Diese Dosis hätte den stärksten Mann sofort erledigt. Sein Herz wäre geplatzt. Was das Elixier bei einer Frau anrichten würde, die zu einem Achtel tot war und nach Blitzen roch, wagte ich nicht vorherzusagen. Gespannt sah ich zu, wie sie ihren Schleier leicht lüftete, ohne dass wir ihr Gesicht sehen konnten, und das Gebräu in einem Zug hinunter stürzte. Ihr Geruch veränderte sich augenblicklich. Sie war jetzt durch und durch lebendig, befreit vom Hauch des Todes. Eine Hitze ging von ihr aus, so intensiv, als ob ich direkt vor einem großen Lagerfeuer gestanden hätte. Oder eher einem mittleren Waldbrand. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie augenblicklich in Flammen aufgegangen wäre.

    Aber sie pfiff nur leise durch die Zähne und sagte: "Du verstehst deine Kunst wirklich, mein kleiner Kräuterdoktor. Das Zeug, das ich im Heilerhaus organisiert habe, taugte nicht viel. Aber das hier ist der richtige Stoff! Sag mir, Junge. Kannst du ihn noch stärker machen? Zwei Mal so stark, oder besser zweieinhalb Mal? Das wäre ideal."

    "Das vermag ich schon", antwortete ich. "Den Trank zu bereiten, ist nicht schwer, egal, wie konzentriert er ist. Das Problem besteht darin, ihn zu überleben. Was Ihr da verlangt, würd einen Waldelefanten zu Boden strecken."

    "Zum Glück gehöre ich nicht zu dieser Spezies, wie du vielleicht bemerkt hast. Wie lange wirst du für ein Fläschchen brauchen?"

    "Höchstens zwei Tage", gab ich zurück.

    "Und du verfügst über alle erforderlichen Zutaten?

    Ich nickte.

    "Und wäre es möglich, ein wenig Geschmack hinzuzufügen? Kirsche wäre schön. Oder Erdbeere."

    "Klar", sagte ich. "Das kriege ich hin."

    "Das kriegst du hin", wiederholte sie. "Ja, das denke ich auch. Nun, dann schlage ich dir einen Handel vor. Du wirst mein persönlicher Trankbereiter und sorgst für Nachschub. Dafür hole ich euch hier raus. Lebend, versteht sich."

    "Einfach so?", fragte Schlichter ungläubig. "Am Ausgangstor warten über hundert Wiedergänger auf uns!"

    "Gut geschätzt", sagte die Rote Witwe.

    In diesem Moment öffnete sich eine Lücke zwischen den grauen Wolken. Die Sonne kam zum Vorschein. Das veranlasste die Frau, sich umzudrehen und langsam ihren Hut abzunehmen, den sie zielsicher, ohne hinzusehen, Lehrer zuwarf. "Wie ich das vermisst habe", sagte sie. "So lange Zeit." Aus einer Tasche ihres Kleides holte sie einen Spiegel hervor und hielt ihn ins Licht. Für einen kurzen Moment schien sich der Himmel zu verdunkeln, als ob der Sonnenschein von etwas aufgesogen würde. Der Himmel bedeckte sich wieder, und die Rote Witwe wandte sich um. Sie sah uns direkt an.

    Als die schönsten Frauen der Stadt galten Tante Meg, sofern sie sich für ein Fest aufbrezelte, und Ildico, die Gattin meines Vetters Lars, die immer aufgebrezelt war. Es herrschte die allgemeine Meinung vor, dass sie einander ebenbürtig waren, aber auf unterschiedliche Weise gut aussahen.Tante Meg strahlte Stolz und Würde aus, und Ildico die kalte Perfektion einer hervorragend gestalteten Statue. Diese Frau erinnerte mich an eine Berglöwin, die mir einmal während einer Übung unserer Jugendmiliz begegnet war. Die Raubkatze war mit tödlicher Eleganz vorbei geschlendert und hatte mir aus gelben Augen Blicke zugeworfen, die zum Ausdruck brachten, dass ich als Mahlzeit durchaus in Frage kam. Aber nicht an diesem Tag. Sie hatte wohl schon gefressen. Und da sie kein Mensch war, tötete sie nicht aus Grausamkeit, sondern nur, wenn sie hungrig war oder sich bedroht fühlte.

    Die Rote Witwe hatte tiefschwarze Augen. Ihre Haut war schneeweiß, ihr Haar feuerrot. Neben ihr wirkten Tante Meg und Ildico farblos. Und harmlos. Sie lächelte. "Dann wollen wir mal", sagte sie. "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Da sind noch Einkäufe zu erledigen". Ohne sich davon zu überzeugen, dass wir ihr auch wirklich folgten, ging sie voran. Wir stolperten hinterher. Schlichter mit dem Schwert meines Vaters in der Hand und Lehrer mit dem Hut unserer neuen Verbündeten unter dem Arm. Wir näherten uns dem Ausgang. Wie Lehrer und Schlichter voraus gesehen hatten, standen die wiedererweckten so, dass sie uns, mit ihrer Hauptmacht, an der Flucht hindern und gleichzeitig von den Seiten angreifen konnten. In einer Hufeisenformation. Und sie trugen Waffen. Damit hatten wir nicht gerechnet.

    In den Abenteuergeschichten verliessen sich die bösen Kreaturen immer nur auf ihre übersinnlichen Fähigkeiten. Schwerter und Lanzen gelangten nie zum Einsatz, vermutlich deshalb, weil es den Autoren der Erzählungen auf diese Weise leichter fiel, den schlussendlichen Sieg ihrer Helden einigermaßen glaubhaft erscheinen zu lassen. So viel Glück hatten wir nicht. Fast jeder der Untoten war mit einem Mordwerkzeug ausgestattet. Mit fast allem, was die Waffenschmieden zu bieten hatten, sogar Wurfspeeren. Wenigstens verfügten sie nicht über Bogenschützen. Schlichters Plan konnte dennoch schon jetzt als gescheitert angesehen werden. Berserkerkraft schützte nicht gegen scharfen Stahl. Die Kämpfer, die den Trank eingenommen hatten, trugen überschwere Rüstungen. Wir hingegen waren leicht zu verwunden. Sollte sich die Rote Witwe überschätzt haben, sah es nicht gut für uns aus.

    Sie blieb stehen, förderte ihren Spiegel zu Tage und ordnete erst einmal ihre Frisur. "Bedeckt eure Augen", sagte sie leise. "Gleich könnte es etwas grell werden."

    Ich dachte an Schönhaars Spiegel, mit dem ich die gekrümmten Strahlen des Blutmonds aufgehalten hatte, und nahm mir vor, mich über nichts zu wundern, was unsere Begleiterin mit ihrem Exemplar wohl anstellen mochte. Hatte sie wirklich Sonnenlicht eingefangen? Und wie viel konnte das wohl sein, in einem kleinen Handspiegel?

  • 14.Kapitel

    Die Rote Witwe

    Teil 2

    Sehr viel, wie ich sogleich feststellte. Es wurde so heiß, dass wir das Gefühl hatten, an einem Sommertag der ganzen Kraft der Mittagssonne ausgesetzt zu sein. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Während die Rote Witwe in aller Ruhe den Spiegel wieder in ihrem Gewand verstaute, lagen die meisten Wiedergänger zuckend am Boden. Einige standen in Flammen. Nur wenige hielten sich noch aufrecht. Sie stolperten verwirrt umher, wohl geblendet und unfähig, ihre Umgebung wahrzunehmen. Nur einer war noch zu einem Angriff in der Lage. Der Anführer. Mit gezücktem Schwert kam er auf uns zu. Schlichter nahm die Herausforderung an. Bevor sie die Klingen kreuzen konnten, griff ich mit meinen Messern in den Kampf ein und traf genau die Stellen, wo, hinter einer Kapuze verborgen, die Augen sein mussten. Schlichter nutzte die Ablenkung, indem er dem Vermummten zuerst den Schwertarm und dann den Kopf abschlug.

    "Es geht eben nichts über gutes Zusammenwirken", kommentierte Lehrer. "Wartet mal, ich muss etwas nachprüfen." Vorsichtig zog er die Kapuze von dem abgetrennten Haupt. "Tatsächlich", rief er triumphierend. "Ein Totenschädel. Ich habe nur Knochen gerochen, als er mir gegenüberstand. Unglaublich, was fortschrittlich angewandte Lebenskraft vermag. Skelette, die umher wandeln!"

    Sein Glaube an die Wissenschaft war wohl durch nichts zu erschüttern. Ich fragte mich, was noch alles geschehen musste, damit ihn in dieser Hinsicht Zweifel beschlichen. Mir ging es jedenfalls so. In einem Totenschädel verbarg sich immer noch Leben? Vielleicht Bewußtsein? Wie fühlte sich das an? Gab es einen Ausweg? Etwas Verrückteres hätte Schwarze Magie jedenfalls auch nicht anrichten können.

    "So vergeht der Ruhm", sagte die Rote Witwe nachdenklich. "Einst war dieser Krieger groß. Auch ihn nannte man den Retter an den Mauern, wie deinen Vater, Kräuter." "Du hättest dich widersetzen sollen", sprach sie den Kopf an. "Nun ist es zu spät" Sie klatschte in die Hände. "Los, Jungs. machen wir, dass wir hier weg kommen!"

    "Öffnet das Tor", befahl sie. Die Untoten hatten es verschlossen und zusätzlich mit schweren Ketten gesichert. Lehrer zog meine Messer aus dem Schädel, gab sie mir zurück und drückte mir den Hut der Witwe in die Hand.

    "Lasst mich mal", sagte er. Es erfüllte ihn stets mit Begeisterung, wenn er mit Berserkerkräften arbeiten konnte. Mit einem Ruck zerriss er die Ketten. Als wir den Friedhof verliessen, stieg mir zu meiner Erleichterung sofort der Geruch der Waldtiere in die Nase. Da waren sie wieder, die Wildschweine und die Eichhörnchen, aber auch Rehe und eine Vielzahl verschiedener Vögel. Die Wandler schienen uns, soweit welche übrig geblieben waren, nicht zu folgen. Mit etwas Glück würden wir in einer halben Stunde die Stadt erreicht haben. Doch Lehrer blieb plötzlich stehen und warnte: "Da ist etwas. Es riecht nach Stahl. Und etwas Giftigem."

    "Schlangen", ergänzte ich. "Unterschiedliche Arten. Mindestens sechs. Eher mehr."

    Lehrer wandte sich Hilfe suchend an die Rote Witwe. "Giftschlangen aus Stahl? Gibt es so etwas? Vielleicht eine Waffe aus dem Alten Reich?" Er schien die Frau für eine Expertin für alles Unheimliche zu halten. Wobei er sicherlich nicht falsch lag.

    "Denk noch mal nach, Kleiner", forderte sie ihn auf.

    "Vergiftete Klingen?", wagte er einen neuen Anlauf. Er machte einen enttäuschten Eindruck. Im Gegensatz zu ihm verzichtete ich gern auf den Anblick mechanischer Ungeheuer aus den Hexenküchen einer glücklicherweise verflossenen Vergangenheit. Begegnungen mit rätselhaften Fremden, die eine Vorliebe für scharfe Schwerter und Giftschlangen hatten, reichten mir völlig. "Zwei Leute", sagte Lehrer. "Ein Mann und eine Frau. Waffenstarrend. Über ein Dutzend verschiedener Gifte."

    Schlichter reichte ihm sein Schwert. "Gib Lehrer den Hut", sagte er zu mir. "Wir gehen voran und erledigen sie mit Wurfsteinen, sobald wir nah genug sind. Welche Reichweite bringt der Trank?"

    "Im Krieg konnten die Berserker ihre Speere doppelt so weit werfen wie die normalen Krieger", erinnerte ich mich.

    "Dann mal los", sagte Schlichter. Während wir uns in Bewegung setzten, suchte ich in meinen Taschen nach einem geeigneten Exemplar. In der Jugendmiliz hatten sie uns im Umgang mit allen möglichen Waffen ausgebildet. Neuentwicklungen wie der Armbrust, die nicht einfach zu bedienen war, aber auch den primitivsten Kampfmitteln überhaupt. Steinen. Die konnte jeder werfen, mochte man meinen. Aber auch dafür war Talent erforderlich. Als Schwertkämpfer hatte ich nur durchschnittliche Leistungen vorzuweisen. Werfen hingegen konnte ich gut. Wo immer ich einen Stein erblickte, dessen Form mir brauchbar erschien, las ich ihn auf. Damit ließen sich sehr gut Stare und Krähen von Kirschbäumen vertreiben.

    Und auch menschliche Gegner bekämpfen. Endlich erblickten wir sie. Sie bewegten sich langsam, nicht wie Krieger, eher wie ältere Leute. Die allerdings bis an die Zähne bewaffnet waren.

    "Jetzt", kommandierte Schlichter. Wir schickten unsere Wurfgeschosse auf die Reise. Locker aus der Hüfte. So gelenkt, dass sie die Unbekannten an den Schläfen treffen mussten. Das gelang. Sie brachen zusammen. Als wir sie erreicht hatten, erlebten wir eine Überraschung. Vor uns lag ein Bauernpaar, gekleidet in die übliche Tracht der Landbevölkerung. Der Mann war ausgestattet mit einem grauen, knielangen Kittel, groben, schwarzen Hosen und schweren Stiefeln. Auf dem Kopf hatte er einen Strohhut getragen, der nach seinem Sturz auf den Waldweg gerollt war. Die Frau hatte sich für ein farbenprächtiges Gewand entschieden, das fast schon elegant wirkte und zu dem die Stiefel nicht recht passen wollten. Ebenso wenig wie der Wurfstern, den sie mit ihrer rechten Hand umklammerte. Offenbar hatte sie unseren Angriff in letzter Sekunde bemerkt. Zu einem Gegenschlag hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Zum Glück. Der Wurfstern stank geradezu nach Schlangengiften. Braune Baumschlange und Buschmeister konnte ich heraus riechen, und noch eine unbekannte Art. Der kleinste Kratzer, zugefügt mit diesem Mordinstrument, wäre absolut tödlich gewesen.

    Schlichter und ich hatten die beiden genau da erwischt, wo wir sie treffen wollten. Beide bluteten jeweils an der rechten Schläfe. Das genügte für eine tiefe Bewußtlosigkeit, von der wir allerdings nicht wußten, wie lange sie anhalten würde. "Entwaffnen wir sie erst einmal", schlug Schlichter vor.

    "Aber vorher die Handschuhe an", ergänzte ich. "Wir sollten nichts ungeschützt anfassen. An den Leuten kann alles vergiftet sein."

    "Gute Idee", antwortete der Richtersohn. "Ich habe schon eine Ahnung, mit wem wir es hier zu tun haben könnten." Mt seinem Messer zerschnitt er den Kittel und das Hemd des Mannes, so dass dessen nackter Oberarm zu sehen war. Ich sah Dutzende von Tätowierungen in Gestalt winziger, doppelköpfiger Schlangen. "Für jeden Mord eine", erläuterte Schlichter. "So halten es die Berufskiller des Schlangenclans aus der Alten Kaiserstadt. Es gibt sie auch in den Flusslanden. Nimm du dir die Frau vor."

    Das Waffenarsenal, das die falschen Landleute mit sich führten, ließ keine Wünsche offen. Kurzschwerter, Dolche und Messer, Totschläger, Wurfsterne und Würgeschlingen, verborgen unter der Kleidung und sogar in den Stiefeln. Ihre Oberkörper hatten sie mit Harnischen geschützt. Teure Qualitätsarbeit. Prall gefüllte Geldbeutel bezeugten, dass ihre Auftraggeber keine Kosten scheuten. Sogar ein Kartenspiel hatten sie dabei, wohl, um die Pausen zwischen den Morden zu überbrücken. Die Frau trug an jedem Finger einen Ring. Ungewöhnlich für eine Bäuerin, ganz besonders im Hinblick auf die Tatsache, dass es sich durchweg um Giftringe handelte. Ohne unseren besonderen Geruchssinn wäre uns das entgangen. Der tödliche Inhalt der Schmuckstücke bestand wohl aus pulverisierten Substanzen, die dazu gedacht waren, unauffällig in Getränke gemischt zu werden.

    "Die Frau kommt langsam wieder zu sich", warnte Lehrer, der zu uns aufgeschlossen hatte. "Ich kann es riechen".

    "Kein Problem", erwiderte ich, nahm mir einen der Totschläger und verabreichte der Ohnmächtigen eine weitere Dosis eines sehr primitiven, aber wirksamen Mittels, um ein verfrühtes Erwachen zu verhindern.

    "Nicht so heftig", mahnte Schlichter. "Denk an den Berserkertrank."

    "Und was wollt ihr jetzt unternehmen, Jungs?", meldete sich die Rote Witwe zu Wort. "Der Bann ist aufgehoben. In jedem Augenblick können hier ganz normale Bürger aus der Stadt erscheinen." Der Bann. Das klang nicht sehr wissenschaftlich. Darüber nachdenken konnte ich später, denn jetzt musste eine andere Frage entschieden werden.

    "Was machen wir mit denen?", fragte ich. "Einfach liegen lassen?"

    "Schaut euch das mal an", sagte Lehrer. Er hatte das Spiel an sich genommen und reichte mir eine der Karten. Auf der ich abgebildet war. Über meinem Gesicht war ein Schriftzug zu erkennen. Ein Wort aus der Kaisersprache, die einst in unserer Heimat vorgeherrscht hatte, als wir noch zum Kaiserreich gehört hatten. Dieser Staat war zerbröckelt und bestand nur noch aus der einstigen Hauptstadt, aber die Sprache galt als klassisch und wurde daher an unseren Schulen gelehrt. Wer sich als gebildet betrachten wollte, hatte sie zu beherrschen. Verglichen mit der Sprache des noch früheren Alten Reichs konnte sie relativ leicht erlernt werden. Das fragliche Wort lautete "vincari", was so viel bedeutete wie "besiegen", aber auch "gefangen nehmen."

    "Und das haben sie mit uns anderen vor", erklärte Lehrer und verwies auf die weiteren Spielkarten. Die Bildnisse Lehrers, Schlichters und Soßes waren mit der Anweisung "necari" versehen. Töten. Dazu gab es noch Portraits unserer Familienmitglieder. In meinem Fall handelte es sich um Onkel Gerd und Tante Meg, Vetter Gerd und seine Zugesprochene Thusnelda sowie meine beiden kleinen Nichten, Meg und Mia, Tante Megs sechsjährige Nachzüglertöchter. "Necesse necari", lautete die Empfehlung an die Mörder. "Wenn erforderlich, töten".

    "Wir können sie nicht laufen lassen", stellte ich fest. "Das sind Eliteverbrecher. Uns weit überlegen. Diesmal haben wir Glück gehabt, weil sie nicht mit unserer Reichweite gerechnet haben. Vom Berserkertrank wussten sie wohl nichts. Wenn wir ihnen eine weitere Gelegenheit geben, haben sie vielleicht Erfolg. Und sie sind bereit, unsere Familien umzubringen!"

    "Dann übergeben wir sie der Miliz", schlug Schlichter vor. "Sie sind mindestens fällig wegen illegalen Waffenbesitzes, unerlaubter Einreise und natürlich Mitgliedschaft in einer Verbrecherbande."

    "Und was wollen wir der Miliz erzählen?", gab ich zu bedenken. "Dass diese Söldner uns angegriffen hätten? Und wir locker mit ihnen fertig geworden wären? An ihren Wunden lässt sich leicht erkennen, dass sie von Wurfsteinen getroffen wurden. Wie wollen wir das erklären? Ein harmloses Bauernpaar, um die sechzig Jahre alt. Es kam uns irgendwie verdächtig vor, und deshalb schickten wir sie gleich auf die Bretter. Das Verhör überstehen wir nie! Man wird uns nichts mehr glauben, und am Ende landen wir doch noch im Narrenhaus."

    Schlichter dachte darüber nach. "Dann nehmen wir sie eben selbst gefangen", meinte er.

    "Wie stellst du dir das vor?", wollte ich wissen. "Wo sollen wir sie unterbringen? Und könnten wir sie an der Flucht hindern, auf Dauer? Die gefährlichsten Schwerverbrecher der Welt? Sie haben auch Bilder deiner Eltern und deines kleinen Bruders. Und meiner jungen Nichten. Ich bin nicht bereit zu riskieren, dass sie ihre Mordpläne wahr machen. Die kommen nicht an meine Familie heran!"

    "Du willst sie töten", sagte er. "Das werde ich nicht zulassen. In unserer Stadt herrscht das Gesetz. Nicht nur dann, wenn es bequem ist. Selbst diese Mörder haben Rechte. Auch einen Anspruch auf einen fairen Prozess. Die Todesstrafe ist übrigens abgeschafft, wie du weißt. Was du vorhast, wäre ebenfalls Mord." Er sagte das in aller Ruhe, als ob er ein abstraktes Problem erörtern würde. Aber er meinte es ernst. Todernst. Seine Prinzipien waren ihm heilig. Selbst wenn er dafür das Leben seiner Familie aufs Spiel setzen und gegen seinen besten Freund aus Kindertagen kämpfen musste. Um ein paar Schurken zu beschützen! In manchen Momenten war er mir wirklich fremd. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

    Lehrer rettete mich. "Doch, es geht rechtlich", warf er ein. "Unter Kriegsrecht."

    Schlichter wirkte überrascht. "Ich ahne, worauf du hinaus willst", sagte er langsam.

    "Wir drei sind Mitglieder der Jugendmiliz", begann Lehrer. "Damit sind wir befugt, uns zu einer selbstständigen Kampfeinheit unter dem Kriegsrecht zu erklären, falls wir in einen Angriff gegen die Stadt oder das Land geraten und keine Möglichkeit besteht, das Oberkommando zu informieren. Feindliche Attacken sind gegeben, sogar mehrere. Unsere Vorgesetzten würden uns aber nicht glauben. In der Tat steckten sie uns ins Narrenhaus, wenn wir ihnen die Wahrheit erzählten. Wir sind also auf uns allein gestellt."

    Er wandte sich an Schlichter. "Irgendwelche rechtlichen Einwände?" Der Richtersohn widersprach nicht, wirkte aber ausgesprochen unbehaglich. "Nachdem dies festgestellt wurde", dozierte Lehrer weiter, "besteht der nächste Schritt darin, einen Kommandanten zu wählen."

    "Du machst es?", fragte ich. Jetzt war es Lehrer, der sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen schien.

    "Ich gebe dir recht, Kräuter, dass wir diese Verbrecher töten müssen. Wir sind nicht in der Lage, sie zuverlässig zu bewachen. Über den Bildern meiner jüngeren Geschwister steht "nötigenfalls töten" Das genügt mir für meine Entscheidung. Es ist legitim, gefährliche Gefangene umzubringen, wenn sie sich befreien und den eigenen Leuten in den Rücken fallen könnten und keine andere Möglichkeit zu sehen ist. Dafür gibt es Präzedenzfälle." Er vermied es, mich anzusehen.

  • Kräuter und die Mondelfen

    14.Kapitel

    Die Rote Witwe

    Teil 3

    "Für mich steht ohne Zweifel fest, dass das, was Kräuter vorgeschlagen hat, erforderlich und rechtmäßig ist" sagte Lehrer. "Aber als Kommandant müsste ich die Entscheidung treffen und dann auch selbst die Ausführung übernehmen. Und das kann ich einfach nicht. Ich bringe es nicht fertig."

    Während er betreten zu Boden schaute, wunderte ich mich über mich selbst. Ich empfand keinen Haß gegen die Banditen. Ihren Tod wollte ich nicht. Es machte mir aber auch nichts aus, sie um ihr Leben zu bringen. Der Gedanke an das Töten ließ mich seltsam unberührt. Hatte mein Vater ähnlich empfunden, als er die Hinrichtung der zweitausend Gefangenen befohlen hatte?

    "Ich mache es", verkündete ich. "Ich erkläre uns zur selbstständigen Einheit der Streitkräfte der Stadt und des Landes im Kriegszustand. Wer schließt sich dem an?" Zum Zeichen der Zustimmung hob ich die rechte Hand. Meine Freunde taten es mir nach. "Unter dem Kriegsrecht stelle ich mich zur Wahl als Kampfkommandant. Wer stimmt für mich?" Nur Lehrer meldete sich.

    "Du musst dich selbst wählen für eine Mehrheit", klärte mich Schlichter auf. "Nimm es nicht persönlich, aber ich enthalte mich."

    "Na schön", sagte ich. "Es wird festgestellt, dass ich mit den erforderlichen zwei Stimmen gewählt bin. Einwände? Keine. Mein erster Befehl lautet, die Gefangenen als nicht beherrschbare Gefahr für die Sicherheit unserer Truppen und die Erreichung unserer Verteidigungsziele zu exekutieren. Ich führe die Anordnung selbst aus."

    Nach dieser Ankündigung wählte ich aus dem Arsenal der Bandenmitglieder den Dolch aus, der am intensivsten nach Schlangengiften roch. Dann brachte ich den beiden Bewusstlosen sehr leichte Schnitte an den Armen bei. Bei der Frau musste ich mich schon überwinden. Sie ähnelte einer Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits, die in einem Dorf auf dem Lande lebte. Dort hatte ich des Öfteren meine Sommerferien verbracht.

    "Kein dummer Gedanke", kommentierte die Rote Witwe, die sich bis dahin darauf beschränkt hatte, uns interessiert zuzuhören. "So vermeidest du auffällige Blutlachen. Durchaus elegant. Doch etwas hast du nicht berücksichtigt." Bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, was sie wohl meinte, richteten sich der Mann und die Frau ruckartig auf. Mit Schaum vor dem Mund und blutunterlaufenen Augen wanden sie sich in krampfartigen Zuckungen.

    "Was haben wir vergessen?", fragte unsere Begleiterin in einem Ton, der mich an Tante Meg erinnerte, die sich im Unterricht einen begriffsstutzigen Schüler vornahm. Vielleicht war die Rote Witwe ja auch einmal Lehrerin gewesen. Ihre Klassen hatte sie mit Sicherheit im Griff gehabt.

    "Ach ja", erinnerte sich Schlichter. "Ich habe gelesen, dass sich die Mörder aus der Alten Kaiserstadt systematisch gegen ihre eigenen Gifte immunisieren. Für den Fall, dass sie sich einmal versehentlich schneiden."

    Jetzt wurde es richtig unangenehm. Ich musste unseren Gefangenen die Kehlen durchtrennen, denn gegen Stiche ins Herz waren sie durch ihre Brustpanzer geschützt. Als ich den Dolch am Hals des Mannes ansetzte, legte mir die Rote Witwe sanft ihre Hand auf meinen Arm.

    "Lass mich das machen", sagte sie. Ein wohl gezielter Tritt, und die Luftröhre des falschen Landmannes zerbrach unter dem hohen Absatz eines roten Stiefels. Er rührte sich nicht mehr. Seine Gefährtin starrte ihn entsetzt an. Ich glaubte sogar, so etwas wie Trauer in ihren Augen zu erkennen. Wahre Liebe unter Massenmördern. Dass es so etwas gab. Lange musste sie aber nicht leiden. Die Frau in Rot erledigte sie mit einer Beiläufigkeit, die auf Routine schließen ließ.

    "So, Jungs", sagte sie munter. "Schafft die Leichen aus dem Weg. Versteckt sie gut im Wald. Ihre Waffen genauso. Ein paar kann ich allerdings selber gebrauchen. Das Geld natürlich auch. Will jemand etwas davon abhaben? Es ist legitime Kriegsbeute. Da sehe ich keine rechtlichen Probleme."

    "Ach nein, danke", murmelte Lehrer. Schlichter und ich lehnten ebenfalls ab. "Ein bißchen inkonsequent, findet ihr nicht?", bemerkte die Witwe.

    Nachdem wir unsere unangenehme Arbeit erledigt hatten, war sie immer noch nicht zufrieden. "Was haben wir jetzt wieder vergessen?", fragte sie. Diemal fiel mir die richtige Antwort ein.

    "Unbestrafte Mörder", überlegte ich. "Das trifft wohl auf die beiden zu. Könnten sie denn wiederkommen? Als Untote?"

    "Natürlich könnten sie das", sagte sie. "Und wie verhindern wir es?"

    "Die Märchenbücher sagen: Köpfen oder verbrennen", meldete sich Lehrer.

    Die Rote Witwe sah ihn an. "Märchenbücher?"

    "Leider die einzige Quelle für die alternative Wissenschaft, die heutzutage fälschlicherweise als Magie angesehen wird. Nur so konnte das alte Wissen überleben. Euer Spiegel. Das ist doch sicher eine Waffe aus dem Alten Reich?"

    Nicht nur", gab sie zurück. "Er dient auch der Schönheitspflege. Aber du bringst mich auf eine Idee, Kleiner. Mal zur Seite sehen, bitte!" Sie richtete den Spiegel auf die toten Verbrecher. Wir wandten uns ab. Grelles Licht und Hitze kündeten davon, dass der magische- oder alternativ-wissenschaftliche - Gegenstand erneut zum Einsatz gelangt war. Als wir wieder hinsahen, hatten die beiden Leichen keine Köpfe mehr. Sie waren zu Asche geworden. "Gib mal das Schwert her", forderte sie Lehrer auf. Sie rammte es in den Boden und betrachtete zufrieden ihr Werk.

    "Was wird die Miliz wohl bei diesem Anblick denken?", mutmaßte sie lächelnd. "Das Schwert des Retters an den Mauern neben zwei kopflosen Schlangenkriegern aus der Alten Kaiserstadt. Wenn sie noch so sind wie früher, machen sie einen Aktenvermerk und haken die Sache ab. So." Sie wandte sich Lehrer zu. "Meinen Hut, bitte." Anschließend war ich an der Reihe. "Das Fläschchen mit dem Berserkertrank, bitte. Das habe ich mir wohl verdient. Danke. Schön fleißig sein. Spätestens in einer Woche will ich so ein Gefäß mit dem stärkeren Elixier haben. Falls du in Schwierigkeiten gerätst - kein Kleinkram -, wende dich an Sellerie Selma. Bestelle bei ihr alles Sellerie. Das wäre das Signal. Dann bis demnächst, Jungs." Sie hatte schon einige Schritte hinter sich gebracht, als sie sich noch einmal umdrehte. "Ach ja", sagte sie. "Seid froh, dass ihr dieses Mausoleum nicht betreten habt."

    Um neugierigen Blicken zu entgehen, schlichen wir uns durch den Wald zurück in die Stadt, die wir durch ein unauffälliges Nebentor betraten. Niemand achtete auf uns. In einem stillen Viertel der Unterstadt setzten wir uns in eine kleine, gemütliche Gastwirtschaft. Während wir aßen, sagte Schlichter: "Ich verstehe gar nicht, warum ich so hungrig bin. Eigentlich müssten mir all die Schrecken den Appetit verdorben haben."

    "Es ist eben kein Zaubertrank", entgegnete ich. "Die Kraft, die du verbrauchst, musst du ersetzen. Durch Essen und - ich gähnte - durch Schlaf. Ich fühle mich gerädert und könnte gleichzeitig ein halbes Schwein verspeisen."

    "Hunger habe ich auch", gab Lehrer zu. "Doch müde bin ich kein bißchen. Ich könnte immer noch Bäume ausreißen. Offenbar vertrage ich das Elixier am besten. Aber was nützt es! Ich bin ein Waschlappen! Ich kann nicht töten, selbst wenn es nötig ist!"

    Schlichter winkte ab. "Mein Vater sagt", meinte er, "dass die Männer, denen das Töten schwer fällt, weniger für den Krieg taugen und mehr für das Zivilleben. Bei denen, denen das Töten leichter fällt, ist es umgekehrt. Aber jene, denen das Töten Spaß macht, taugen zu gar nichts."

    "Mir fiel es nicht schwer", sagte ich. "Oder es wäre mir nicht schwer gefallen. Die Witwe hat die Leute schließlich erledigt. Dabei bin ich Heiler!"

    "Sei froh, dass du es nicht tun mußtest", antwortete Schlichter. "Es ist nicht einfach, mit so etwas zu leben. Frage die Männer, die im Krieg waren. Die Rote Witwe hat dir die Drecksarbeit abgenommen. Offenbar hat sie etwas übrig für dich."

    "Wer ist sie überhaupt", fragte Lehrer. "Doch nicht etwa diese Figur aus den Gruselgeschichten? Die Kinder gefangen und gebraten hat?"

    "Ja und nein", erläuterte Schlichter. "Es gab eine Mörderin, die vor etwa achtzig Jahren lebte. Kinder geschlachtet und gefressen hat sie nicht. Aber zweiundneunzig Leute umgebracht, in zehn Jahren. Als ehrbare Richtergattin! Die Miliz hegte nicht den geringsten Verdacht gegen sie. Die Morde wurden entweder gar nicht als solche erkannt, oder man verhaftete die Falschen. Mindestens acht Unschuldige wurden hingerichtet. Die Sache kam erst heraus, als sie gestorben war. Sie lag tot auf ihrem Sofa. Auf ihrer Frist das aufgeschlagene Tagebuch, in dem sie ihre Taten in allen Einzelheiten beschrieb. Spannende Lektüre, übrigens. Es ist noch erhalten und bei ihrer Akte. Zusammen mit einer Portraitzeichnung. Sehr gut getroffen. Der Miliz und auch den Richtern war ihr totales Versagen natürlich peinlich. Also erfanden sie die Legende von der Kinder fressenden Unholdin. Heute kennt man nur noch die Märchenfigur. Das wahre Geschehen wurde vertuscht und schließlich vergessen."

    "Und du glaubst, dass unsere Rote Witwe diese Mörderin ist?", fragte ich. "Nach achtzig Jahren wieder auferstanden? Aber warum ist sie so anders als die übrigen Wiedererweckten?"

    "Der damalige Milizbericht las sich sehr sachlich", erinnerte sich Schlichter. "Bis zu dem Punkt, als jemand in das Tagebuch hinein sah. Ein wütender Mob stürmte ihr Haus, riss der Verstorbenen die Kleidung vom Leib und schleifte sie durch die Strassen. Doch die Leiche blieb unversehrt. Schwerter, Beile und Feuer konnten nichts ausrichten. In Panik liefen die Leute davon. Schließlich fanden sich einige Mutige, die die Frau irgendwo verscharrten, in ungeweihter Erde. Diese Geschichte habe ich immer für Blödsinn gehalten. So sicher bin ich mir jetzt nicht mehr."

    "Was will sie?", überlegte ich. "Wie steht sie zur Schwarzen Witwe und dem Lehrer? Ist sie wirklich der Feind unseres Feindes? Und damit unsere Freundin?"

    "Sei bloß vorsichtig", warnte Lehrer. " Die Schwarze Witwe, der Lehrer, die Mörder aus der Alten Kaiserstadt, alle wollen sie dich lebend. Um dich zu benutzen. Etwas anderes strebt die Rote Witwe auch nicht an. Wir wissen nicht, wer schlimmer ist.

    Vielleicht gibt es keinen Unterschied."

  • Kräuter und die Mondelfen

    15.Kapitel

    Soßes neueste Theorie

    Teil 1.

    In der folgenden Nacht träumte ich von Mondelfen. Sternenlicht tanzte in der Dunkelheit meines Zimmers und verdichtete sich zu einem leuchtenden Nebel, aus dem sie heraus traten, drei an der Zahl. Weiße, gelbe und rote Augen. Wehendes, weißes Haar. Es gelang mir, mich aufzurichten, wenn auch viel zu langsam, um einen Angriff abwehren zu können. Eine ging auf mich zu. In ihrer rechten Hand trug sie etwas, das sie mir entgegen hielt. Eine Bronzetafel. Versehen mit winzigen Schriftzeichen. "Luku", las ich, ohne das Wort laut auszusprechen. Ich dachte es nur, und dennoch verstand ich seine Bedeutung. "Auserwählt". Die Frauen lächelten.

    Das hatte mir gerade noch gefehlt! Ein Alptraum! Seit meiner Kindheit hatte ich keine mehr gehabt. Schließlich war die Wirklichkeit ja auch hart genug. So realistisch hatte sich das Geschehen angefühlt, dass ich nach dem Erwachen unwillkürlich nach dem Geschenk der Mondelfen Ausschau hielt. Natürlich vergeblich. Mein Blick fiel auf das Bücherregal, auf dem sich wenige Schulbücher und wesentlich mehr jener Abenteuergeschichten stapelten, die Tante Meg für verachtenswerten Schund hielt. Ich hatte es der vereinten Rückendeckung Onkel Gerds und Vetter Gerds und Großvater mütterlicherseits Bernhards zu verdanken, dass ich sie überhaupt lesen durfte, vorausgesetzt, meine Schulnoten blieben im akzeptablen Bereich. In diesen Erzählungen gab es immer einen Helden, der sich im Laufe der Handlung, zu seiner Überraschung, als der große Auserwählte wiederfand. Nur er vermochte die Welt vor den Machenschaften schwarzer Magier, dunkler Herrscher und sonstiger Finsterlinge zu retten. Ich hatte mich immer gefragt, was die Bösewichte eigentlich wollten. Grundlos die Steuern erhöhen? Systematisch alle kleinen, niedlichen Tiere ausrotten? Das wurde nie beantwortet, weil die Autoren den strengen Vorschriften des Schulamtes folgen mussten. Niemals durften die Schurken gewinnen. Immer triumphierte am Ende das Gute, ganz wie im richtigen Leben.

    Auserwählt zu sein, das hatte ich immer für eine großartige Sache gehalten. Spannend und voller Bedeutung. In Wirklichkeit lief das Ganze eher auf eine Menge Ärger hinaus. Die Schwarze Witwe hielt mich für etwas Besonderes, weshalb sie mich als Einzigen am Leben lassen wollte. Ihre rot gekleidete Rivalin sah in mir den perfekten Handlanger. Selbst in meinen Träumen machten sich die Mondelfen die Mühe, mir einen Besuch abzustatten. Die meisten Menschen fanden es gut, wenn man ihnen die Möglichkeit bot, aus der Masse herauszuragen. Darauf hätte ich liebend gern verzichtet. Zumal das Schulamt leider nicht in der Lage war, auch mir ein glückliches Ende zu garantieren.

    Es klopfte. Bevor ich "herein" rufen konnte, öffnete sich die Tür, und zwei kleine Mädchen traten ein, die nicht nur identisch aussahen, sondern auch gleich gekleidet waren. Tante Megs Versuche, sie zu mehr Eigenständigkeit zu ermuntern, waren krachend gescheitert. Die Schwestern wollten nichts anderes sein als Ebenbilder. Klassische, eineiige Zwillinge. Das fanden sie lustig.

    "Wir haben fast Mittag, und der Herr liegt immer noch im Bett", schalt mich Meg. Ihre Mutter hatte es als erste Frau in der Bergstadt fertig gebracht, eine Tochter nach sich zu benennen. Bei Männern galt das als normal. Ich hieß genauso wie mein Vater, mein Großvater und alle männlichen Vorfahren bis zurück zum ersten Gustav.

    "Ich muss mich erholen", verteidigte ich mich.

    "Die Jungs von heute taugen wirklich nichts mehr", sagte Meg zu ihrer Schwester Mia. "Alles Waschlappen".

    "Was wollt ihr eigentlich von mir?", fragte ich.

    "Mutter möchte wissen", entgegnete Mia, "ob du geruhst, noch zum Mittagessen zu erscheinen, oder ob du lieber den ganzen, lieben langen Tag verschlafen willst. Außerdem sind noch zwei deiner Freunde da." "Der Griesgram und die Schleiereule", ergänzte Meg. "Es scheint wohl irgendwelche Schwierigkeiten zu geben"

    Sie meinten wohl Schlichter und Lehrer. Wir konnten froh sein, dass die Zwillinge nicht für die Verteilung von Spitznamen zuständig waren. Eigentlich hatten wir gestern beschlossen, den heutigen Tag der Erholung zu widmen. Der Berserkertrank forderte seinen Tribut. Ich hatte es gerade noch nach Hause geschafft, bevor ich in einen tiefen Schlaf gesunken war. Den anderen war es sicherlich genauso ergangen. Wenn sie mich trotzdem aufsuchten, musste etwas Wichtiges geschehen sein.

    "Sagt Tante Meg, dass ich gleich da bin", bat ich.

    "Aber vergiss nicht schon wieder, dich zu waschen", riefen die Mädchen im Chor. Das Kissen, das ich nach ihnen warf, verfehlte sein Ziel. Die beiden waren einfach zu schnell. Mühsam quälte ich mich aus meinem Bett und versetzte mich in einen der Öffentlichkeit gerade noch zumutbaren Zustand, sogar unter Zuhilfenahme von Wasser und Seife. Dann begab ich mich nach unten, in die Küche, wo sich fast die ganze Familie versammelt und mit dem Mahl begonnen hatte. Um den Tisch herum saßen Tante Meg, Onkel Gerd, meine Großmutter mütterlicherseits, Elsa, sowie ihr Ehemann, Großvater Bernhard, die Kinder, Schlichter und Lehrer und, zu meiner Überraschung, Schwester Hildegard. Lehrer schaute krampfhaft an ihr vorbei. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.

    "Mahlzeit allerseits", sagte ich. "Wir essen heute aber früh zu Mittag."

    "Wir müssen gleich los", antwortete Onkel Gerd. "Gerd und Thusnelda brauchen Hilfe bei der Einweihungsfeier. Die ist schon in zwei Tagen." "Aha", bemerkte ich und nahm mir etwas von dem Sauerbraten, den Klößen und natürlich dem gemischten Salat. Tante Meg hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass die Durchsetzung der fleischlosen Ernährung in dieser Familie nicht so leicht zu erreichen war. Immerhin wagte es aber keiner mehr, das Grünzeug zu verschmähen, das in mehr als ausreichender Menge gereicht wurde. Es sei denn, der Betreffende wollte sich unbedingt einen stundenlangen Vortrag über gesundes Essen anhören.

    "Aha" reicht nicht", erklärte Tante Meg. "Du wirst natürlich dabei sein. Und zwar als Ehrengast."

    "Wer?" "Ich?" Als Ehrengast hatte mich noch niemand haben wollen. Großvater Bernhard meldete sich zu Wort. Mit seinem schmalen Gesicht und dem langen, weißen Bart sah er aus wie ein Gelehrter. Sein Berufsleben hatte er aber als Jagdhüter verbracht. Die Bergwälder kannte er wie seine Westentasche. "Du vergisst", erläuterte er, "dass du neuerdings ein echter Wasa bist. Die Hengis sind völlig aus dem Häuschen. Jetzt haben sie einen Verwandten aus der mächtigsten Gründerfamilie. Was für ein Aufstieg. Das wird ein Riesenfest!"

    "Lächerlich", kommentierte Hildegard. "Oben auf dem Burgberg betrachten wir diese Sippe als anmaßende Neureiche! Bierbrauer! Vulgärer geht es ja wohl nicht!" Tante Meg und Großmutter Elsa nickten beifällig. Von den Männern kam keine Zustimmung. An Bier und Met fanden sie nichts auszusetzen.

    "Was muss ich als Ehrengast denn tun?", fragte ich in die Runde.

    Dafür fühlte sich Hildegard zuständig. "Nimm die Grüße der Leute entgegen, sei freundlich, aber nicht kumpelhaft. Das mögen sie nicht. Sie wollen zu uns aufsehen. Die Magie des Adels, verstehst du. Eigentlich eine Illusion. Aber notwendiges Theater. So gewinnt auch ihr Leben an Bedeutung, glauben sie zumindest." Für eine Rebellin, die im Streit mit ihrer hochwohlgeborenen Sippe stand, hatte sich diese Krankenschwester ein bemerkenswertes Maß an Aristokratenstolz bewahrt.

    "Und lass dir ja nicht einfallen, dich drücken zu wollen," warnte Tante Meg. "Jetzt, wo sich Gerds Ehe mit Thusnelda langsam zum Besseren entwickelt, wäre das wenig wünschenswert.

    "Sie kann ja jetzt endlich standesgemäß wohnen", signalisierte Großmutter Elsa. Sie war taubstumm und bediente sich daher der Zeichensprache, die von der Miliz entwickelt worden war. "Standesgemäß", wiederholte Tante Meg. "Unser kleines, schäbiges Häuschen war der Dame ja nicht gut genug. Ich habe keinen Platz! Immer macht jemand Lärm! Wie soll man unter diesen Umständen stilvoll Gäste empfangen? Zu Hause war ich anderes gewohnt. Und so weiter, und so weiter" Sie wandte sich an mich."Allen Unsinn, den du je angestellt hast und noch anstellen wirst, verzeihe ich dir dafür, dass du für Gerd dieses Opfer gebracht hast. In Bernhards großem Haus, das er dir hinterließ, ist sie fast gücklich. Sogar einigermaßen verträglich."

    "Und dieser dumme Junge hat Gustavs Angebot zuerst abgelehnt", meinte Großmutter Elsa.

    "Aus dämlichen, männlichen Stolz", schimpfte Tante Meg. "Dem habe ich vielleicht den Kopf gewaschen!".

    "Mir reicht Onkel Bernies kleineres Haus völlig", bemerkte ich.

    "Und wenn uns das Schicksal nicht mit einer weiteren, aufgeblasenen Zicke straft", ergänzte Tante Meg, "werden deine Zugesprochene und du dort zufrieden leben können. Es ist fast genauso geräumig wie unseres."

    "Was ist denn bei euch los?", fragte sie Schlichter und Lehrer. "Ihr spracht von einem Notfall?"

    "Es geht um So, äh, Gernot", entgegnete Schlichter. "Der Koller."

    "Ach du lieber Himmel", sagte Onkel Gerd. "Ist es schlimmer geworden?"

    "Das kann man wohl sagen", bekräftigte Lehrer. "Kräut, äh, Gustav war bisher der Einzige, der ihn beruhigen konnte. Mit seiner Entspanntheit. Ihm ist es wirklich egal, ob er übrig bleibt. Er wünscht es sich sogar."

    "Der Koller", seufzte Großvater Bernhard. "Erinnerst du dich noch an Sven Rekjas, Elsa? Er war der beste Soldat unseres Jahrgangs. Gutaussehend, beliebt, wohlhabend. Keiner hätte gedacht, dass ausgerechnet er übrig bleiben würde."

    "Und das geschah", vermutete ich. Er schüttelte den Kopf. "Er hat sich umgebracht. Weil er den Druck und die Ungewissheit nicht länger aushielt."

    "In meinem Jahrgang nahmen sich sogar zwei Leute das Leben", erinnerte sich Onkel Gerd. "Ein junges Mädchen und ein junger Mann."

    "Was der Familienrat da macht, finde ich sinnlos grausam, stellte Hildegard fest. "Warum werden die Überzähligen nicht einfach auf das nächste Jahr übertragen?"

    So redeten viele. Eigentlich fast alle, die ich kannte. Doch niemand tat etwas. Nichts änderte sich. So etwas wie eine heilige Scheu, die gar nicht in unsere aufgeklärtes Zeitalter passte, hielt die Leute davon ab, den Familienrat ernsthaft in Frage zu stellen. Das Gremium war uralt. Niemand wusste, wer dazu gehörte, von den Wenigen abgesehen, die sich am Tag der Jugend sehen ließen. Wie wurden neue Mitglieder ausgewählt? Wo trafen sie sich? Wo bewahrten sie ihre Akten auf? Warum bestand die Einrichtung nur aus Frauen, in einer Stadt, in der fast alle wichtigen Ämter in den Händen von Männern lagen? Das wusste keiner. Wer Rätsel mochte, der war in unserer Stadt genau richtig.

    "Beeilen wir uns mit dem Essen", drängte Tante Meg. "Wir müssen los. Nehmt euch doch noch etws von dem Rosenkohl, Jungs!" Nachdem wir das Mahl beendet hatten, ging ich nach oben in mein Zimmer, um meinen Mantel zu holen. Es klopfte. Tante Meg stand vor der Tür. "Ich hoffe, du kannst deinem Freund helfen", sagte sie. "Wenn das erledigt ist, geh bitte zum Haus der guten Gedanken. Meister Fruud erwartet dich. Eine genaue Uhrzeit hat er nicht genannt." Der mißbilligende Unterton war nicht zu überhören. "Klar", erwiderte ich.

    Wenige Minuten später ertöte ein weiteres Klopfen. Diesmal wollte Onkel Gerd etwas von mir. "Du bist doch heute im Narrenhaus", formulierte er ohne Rücksicht auf die von Tante Meg bevorzugte Ausdrucksweise. Sie war ja auch nicht in der Nähe. "Sobald dein Auftrag dort ausgeführt ist, wird dich einer meiner Leute ansprechen und dir Meister Things Mikroskop übergeben. Und dich mit allen notwendigen Waffen ausrüsten. Heute ist der Tag! Dein Erkundungseinsatz steht an."

    "Na endlich", erwiderte ich, Abenteuerlust heuchelnd. "Wird aber auch Zeit." Onkel Gerd nickte zufrieden. "Bis dann."

    Dieser der Ruhe gewidmete Tag hielt leider nicht, was er versprochen hatte. Erststand die Hilfsaktion bei einem am Rande der Hysterie wandelnden Soße an, der wieder einmal überzeugt war, dass er am Tag der Jugend übrig bleiben würde, dann eine Begegnung mit Agnathas wahnsinniger Mutter und schließlich, zum krönenden Abschluss, ein Stelldichein mit einer Mörderbande, die hoffentlich nicht wusste, dass ich an der Beseitigung zweier ihrer Spitzenkräfte beteiligt gewesen war.

  • Heyho,

    Ich habe nun Kapitel 6-8 gelesen.

    Der Exkurs in Agnathas Traumwelt finde ich gut. Die Antworten, was hier genau los ist, lassen auf sich warten und halten den Spannungsgrad oben. Dadurch dass Agnatha persönlich in der Geschichte auftritt, steigert sich auch das Interesse zu erfahren, was mit ihr geschehen ist.

    Die Dialoge finde ich, wie schon zuvor, gut geschrieben und die aristokratische, etwas bissige Art von Agnatha kommt gut rüber.


    Offenbar lebte ich noch, und es war höchste Zeit, aufzustehen und herauszufinden, wie es in meiner Umgebung aussah. Also, hoch mit dir und Augen auf, Soldat! Was ich erwartet hatte, war, mich am Ufer des Sees wiederzufinden, in den ich eingetaucht war.

    Diesen zweiten Teil würde ich zur besseren Lesbarkeit durch einen Absatz trennen.

    Ich befand mich doch noch im gewohnten Leben. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, wo genau. Um der Sonne zu entkommen, verließ ich den Strand und setzte mich in den Schatten eines seltsamen Baumes, der aus einem sehr glatten, ästelosen Stamm und einer Krone bestand.

    Hier ebenso.

    Da ich nicht glauben wollte, dass dieser riesige See ganz und gar verdorben war - über so viel Salz verfügte niemand, schon gar nicht, um es auf diese Weise zu verschwenden -setzte ich mich in Bewegung und marschierte ,an dem seltsamen Ufer entlang, auf die rosa Vögel zu.

    Der Teil mit dem Meer scheint mir etwas unglaubwürdig. Eine Gesellschaft, die sich so sehr mit der Wissenschaft befasst, aber noch nie etwas vom Meer gehört hat? Da du mehrfach Erde und Mond erwähnst, gehe ich davon aus, dass die Geschichte nicht auf einer fremden Welt spielt, die über sehr viel weniger Wasser verfügt. Ich bin da kein Experte, aber ich würde davon ausgehen, dass selbst Menschen, die weit im Landesinnern wohnen und sich nicht viel aus ihren Dörfern bewegen, zumindest durch Handel und Erdkunde vom Meer gehört haben.

    Leider nichts Gekochtes, kein Fleisch. Dafür Salate und Suppen aus verschiedenen Obst- und Gemüsesorten.

    Sind auch die Suppen nicht gekocht? Es gibt ja einige Suppenrezepte, bei denen die rohen Zutaten lediglich püriert werden, aber da sind die Varianten wohl recht begrenzt.