Kräuter und die Mondelfen

Es gibt 75 Antworten in diesem Thema, welches 6.017 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (14. Oktober 2024 um 03:41) ist von 20thcenturyman.

  • Kräuter und die Mondelfen

    22.Kapitel

    Die Alte Mühle

    1.Teil

    Am Himmel prangte der abnehmende Halbmond, als ich mich aus der Stadt schlich, um Schlichter, Soße und Lehrer und anschließend die Rote Witwe zu treffen. Die Sache mit den Mondphasen hatte ich nie begriffen.

    Weil sich die Erde um sich selbst drehte, und der Mond ebenso, wenn auch nicht so schnell, und zudem den Planeten umrundete, während beide Himmelskörper ihre Bahnen um die Sonne zogen, veränderten sich irgendwie die Beleuchtungsverhältnisse auf dem Trabanten. Bald würden wir Neumond haben. Dann stünden die Mondelfen im Dunkeln. Vielleicht hätte ich im Astronomieunterricht ja doch besser aufpassen sollen. Andererseits, wer benötigte angesichts einer solchen Natur noch Magie? Die Welt war auch so schon seltsam genug.

    Das galt erst recht für Onkel Bernies Spiegel, der mir den Weg wies. Er zeigte an, was Agnatha wahrnahm. So gelang es mir mit Leichtigkeit, den Wachen auszuweichen, die verhindern sollten, dass fragwürdige Gestalten nachts unbemerkt über die Stadtmauern kletterten. Beinahe wäre ich jedoch über einen Stein gestolpert, weil ich die Bilder auf dem Spiegel betrachtete, anstatt auf den Weg zu achten.

    Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "Hast du eine Fahne!", rief Soße. "Dich riecht man ja meilenweit. Bist du besoffen?"

    "Das scheint nur so", antwortete ich. "Ich habe einen Trank entwickelt, der die berauschende Wirkung des Alkohols aufhebt. Du kannst saufen, so viel du willst, und merkst gar nichts."

    "Das Zeug willst du doch nicht etwa auf den Markt bringen?", fragte der Gastwirtssohn entsetzt. "Möchtest du uns ruinieren?"

    "Warum ruinieren?", mischte sich Lehrer ein. "Man muss das Elixier nur richtig vermarkten. Saufe, bis du nicht mehr kannst und sternhagelvoll bist, und dann nimm den Trank und fange wieder von vorne an!"

    "Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht", erwiderte ich.

    "Keine schlechte Idee", kommentierte Soße.

    "Vielleicht hört ihr mal auf, hier herumzuschreien", mahnte Schlichter. "Wie müssen ja nicht mit Gewalt auf uns aufmerksam machen". Er wandte sich mir zu. "Wie ich sehe, hast du die Augentropfen noch nicht genommen. Und damit auch nicht den Berserkertrank und das Ergänzungsmittel."

    " Wegen der leuchtenden Augen", erklärte ich. "Im Dunkeln sehr ungünstig. Ich habe mich mit Mutters Lügentrank begnügt. Bin gespannt, ob wir die Rote Witwe wittern können, bevor wir sie sehen,"

    Wie sich herausstellte, gelang uns das wirklich. Da war er wieder, der Geruch, der nach einem Gewitter in der Luft hing, nachdem ein Blitz eingeschlagen hatte. Allerdings gedämpft, wohl infolge des Geruchsunterdrückers, dessen sich Jäger gerne bedienten. Wir gingen der Duftspur nach, bis wir schließlich, mitten im Wald, auf einer kleinen Lichtung, vor unserer undurchsichtigen Verbündeten standen. Sie hatte seelenruhig auf uns gewartet. Genau wie wir hatte sie einen dunklen Kampfanzug angelegt. Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden. Ihre Augen erstrahlten in einem düsteren Rot.

    "Ich habe etwas für euch", begrüßte sie uns. "Damit könnt ihr die Tropfen zur Verbesserung der Sehfähigkeit anwenden, ohne euch durch euer Augenlicht zu verraten." Aus ihrem Rucksack förderte sie eine Brille zutage. Mit dunklen Gläsern. "Der letzte Schrei aus der Alten Kaiserstadt", erläuterte sie. "Man nennt sie Sommerbrillen. Sie schützen vor all zu grellem Sonnenlicht. Es gibt aber auch Modenarren, die sie nachts tragen. Nehmt eure Tränke zu euch, und dann probiert sie an."

    Normalerweise trugen Augengläser nicht gerade dazu bei, ihre Träger interessant erscheinen zu lassen. Die Betroffenen mussten sich Kommentare wie "Vierauge" oder "Brillenschlange" gefallen lassen. Lehrer konnte ein Lied davon singen. Diese Exemplare hingegen entfalteten eine ganz andere Wirkung. Wir sahen aus wie Verbrecher. Wie lässige Verbrecher. Undurchschaubar und überlegen. Es war erstaunlich, wie sich die Ausstrahlung eines Menschen veränderte, wenn er seine Augen verbarg. Am besten standen die dunklen Gläser natürlich der Roten Witwe. Mir fiel das Wort "mondän" ein. Zwar wusste ich nicht genau, was es bedeutete, aber es schien zu passen.

    "Ist eure Nachtsicht in Ordnung?", wollte sie wissen.

    "Einwandfrei", bestätigte Lehrer.

    "Dann zeige ich euch einmal, womit ihr es gleich zu tun bekommt." Sie holte den Spiegel hervor, mit dem sie seinerzeit die Grabwandler geblendet hatte, und wischte mit der Hand über die Glasfläche. Wir erblickten ein Bild, das die Alte Mühle zeigte.

    "Seht ihr diese Bäume?"

    "Das sind Wächterbäume", bemerkte Lehrer.

    "Das weißt du?", staunte die Rote Witwe. "Auch aus der Kinderbücherei?"

    "Oh nein", wehrte sich Lehrer. "Aus einem seriösen Werk über die Alte Kaiserstadt. Angeblich beschützen die Gewächse dort die Paläste der Reichen."

    "Das ist richtig", stellte die Frau fest. Wieder wischte sie über den Spiegel, und ein Schwein erschien, dass sich an einem der Bäume rieb. Was sich als keine gute Idee erwies. Fangarme, die eben noch wie Äste ausgesehen hatten, packten das Borstentier und rissen es in Stücke. Die Fleischbrocken verschwanden in einer maulähnlichen Öffnung.

    "Ich bezweifle, dass das wirklich Pflanzen sind", überlegte Lehrer. "Auch wenn es den Anschein hat."

    "Wieder richtig", bestätigte die Rote Witwe. "In Wirklichkeit handelt es sich um Raubtiere. Und was sagst du dazu?" Auf der Glasfläche wurden tiefe Schatten hervor gehoben, die sich zu bewegen schienen.

    "Das sind Verschlinger", verkündete Lehrer und bediente sich damit derselben Bezeichnung, die auch Agnatha verwendet hatte.

    "Sie werden in ernsthaften Werke beschrieben?"

    "Nein, in einem Märchenbuch aus der Kinderbücherei. Angeblich saugen sie alles auf, was sie berühren."

    "Dieser Stadtbibliothek muss ich unbedingt einen Besuch abstatten", nahm sich unsere Begleiterin vor. "Schaut nun nach oben, über dem Gebäude und den Bäumen."

    "Fledermäuse?", rätselte Lehrer. "Aber wenn man sie in Beziehung zur Alten Mühle setzt, ergibt sich eine beachtliche Größe. Die Flügelspannweite würde ich auf vier bis sechs Meter schätzen."

    Lehrer war mit Abstand der Schlaueste von uns. Selbst die Rote Witwe wirkte beeindruckt. Hingegen verfügte Schlichter über den am besten entwickelten Sinn für das Praktische.

    "Womit können wir diese Ungeheuer bekämpfen?", wollte er wissen.

    "Das werde ich übernehmen", antwortete Frau Bess, wie Schlichter sie neuerdings gerne nannte. "Falls es notwendig werden sollte, was ich nicht hoffe. Beschränkt euch auf Erkundung. Ihr könnt euch der Mühle nur auf einem schmalen Trampelpfad nähern. Seht ihr? Ihr werdet sofort angegriffen, wenn ihr ihn verlasst. Ich habe Kapuzenumhänge mitgebracht. Zieht sie an und bewegt euch wie Grabwandler.Ihr habt sie ja erlebt. Seht euch in dem Bau um, und dann kommt unauffällig zurück. Sie sollen gar nicht bemerken, dass ihr da wart."

    "Euer Spiegel kann Euch also nicht das Innere der Alten Mühle zeigen?", fragte Lehrer.

    "Jede Technologie hat ihre Grenzen", lautete die Antwort.

    Das war zweifellos richtig. Sofern wir es in diesem Fall wirklich mit Wissenschaft zu tun hatten. Was meinen Spiegel betraf, war ich mir da nicht so sicher, funktionierte er doch dank einer geisterhaften Agnatha, die ihre eigene Welt aus Träumen erschaffen hatte und dennoch atmen musste, alle vierundzwanzig Stunden um Mitternacht. Auch wenn ich davon nichts mehr spürte.

    Wie all dies zusammen passte? Darüber konne ich nachdenken, nachdem Schlichter und ich unseren kleinen Spaziergang hinter uns gebracht haben würden. Gerade als wir uns in Bewegung setzen wollten, traten zwei in Kapuzenmäntel gehüllte Gestalten aus dem Wald und beschritten den Weg, den uns die Rote Witwe gezeigt hatte. Sie bewegten sich sehr vorsichtig, wofür sie auch allen Grund hatten. Genau wie wir.

    "Los geht`s", flüsterte Schlichter. "Schließen wir uns an. Immer schön darauf achten, wo du hintrittst. Und nicht mehr reden."

    Lang war der Weg nicht, aber interessant. Aus der Nähe betrachtet, wirkten die Wachbäume gar nicht mehr so pflanzenhaft. Ihre Äste und Zweige bewegten sich, obwohl Winstille herrschte. Auch die Verschlinger begnügten sich nicht damit, reglos auf Beute zu warten. Unruhig glitten sie hin und her, in bedenklicher Nähe zu unserer Marschroute. Über uns zogen die Riesenfliedermäuse ihre Kreise. Ihnen gönnte ich keinen Blick, weil ich es für wichtiger hielt, schön auf dem vorgegebenen Pfad zu bleiben, der uns hoffentlich eine gewisse Sicherheit vor unangenehmen Übergriffen unfreundlicher Kreaturen bot. Falls es doch zum Kampf kommen sollte, würden uns Lehrer, Soße und die Rote Witwe Rückendeckung geben. Meine silbernen Wurfsterne, die Feuereier und die Wettertafel der Mondelfen standen mir ebenfalls zur Verfügung. Das musste aber nicht sein. Jedenfalls nicht an diesem Abend.

    Die Grabwandler, die uns voran gingen, gelangten ohne bedauerliche Zwischenfälle an ihr Ziel. Sie warteten sogar vor dem Eingang, um uns die Tür aufzuhalten. Höflichkeit unter Untoten. Wer hätte so etwas erwartet.

    Ich erinnerte mich an meinen ersten Aufenthalt an diesem unheimlichen Ort. Damals war ich zehn Jahre alt gewesen, und, wie alle Jungs aus meinem Jahrgang, immer bereit, zu einer unserer Mutproben anzutreten. Dazu gehörte natürlich eine Nacht in der Geistermühle, wie sie hinter vorgehaltener Hand auch genannt wurde. Es war gruselig gewesen. Mit dem Rücken zur Wand, damit mich nichts von hinten anfallen konnte, hatte ich mit einem Messer in der Hand bis zum Morgengrauen ausgeharrt. In die Dunkelheit hinein lauschend. Wo ich flüsternde Stimmen zu vernehmen glaubte, hämisches Kichern, Weinen, Seufzen und Atmen. In den schlimmsten Momenten hatte ich das Gefühl verspürt, dass jemand direkt vor mir stand und mich anstarrte. Natürlich erzählte ich meinen Freunden nichts von diesen Erlebnissen und spielte statt dessen den Gelangweilten, der für Albernheiten wie Gespensterspuk und Hexenwerk nur ein müdes Lächeln übrig hatte.

    Jeder Junge, der auf sich hielt, lieferte einen solchen Auftritt ab. Vermutlich glaubten sie alle, genau wie ich, dass ihnen ihre Einbildungskraft einen Streich gespielt hatte. Niemals wäre mir eingefallen, dass ich nur sieben Jahre später wieder zurück sein würde, um eine Versammlung von wandelnden Toten auszukundschaften.

    Wir traten ein. Anders als damals war es nicht stockdunkel in der Alten Mühle. Ein paar an den Wänden befestigte Fackeln verbreiteten ein sehr schwaches Licht. Ohne die Augentropfen hätte es uns nichts genützt. So waren wir imstande, zu erkennen, was sich hier abspielte. Oder, besser gesagt, was sich nicht abspielte. Es herrschte tiefe Stille. Von den etwa hundert Vermummten, die sich im Erdgeschoss des Gebäudes aufhielten, sprach keiner ein Wort. Sie bewegten sich nicht. Regungslos standen sie da. Wie Marionetten, denen man die Fäden abgeschnitten hatte.

    "Vorsichtig weiter gehen", signalisierte Schlichter . "Achte darauf, keinen von denen zu berühren. Das könnte sie aus ihrer Starre wecken. Am anderen Ende des Raumes haben sie etwas aufgebaut. Sehen wir es uns einmal genauer an."

    Ich erblickte ein aus Holz gezimmertes Podium, groß genug, um als Bühne für ein Theaterstück dienen zu können. Als wir uns der Konstruktion näherten, fielen mir drei Gegenstände auf, die man nebeneinander auf ihr platziert hatte. In der Mitte befand sich ein prachtvoller Stuhl, ausgestattet mit einer hohen Lehne, bei dessen Herstellung an nichts gespart worden war. Weder an Gold und Silber, und erst recht nicht an Samt und Seide. Sollte das einen Thron darstellen? Für die Schwarze Witwe? Oder für Meister Nossfu?

    "Das Ding links neben dem Möbel?",fragte Schlichter lautlos. "Könnte das ein Blutstein sein?"

    "Durchaus möglich", gab ich auf dieselbe Weise zurück. "Wir werden es genau wissen, wenn wir uns auf die Plattform geschwungen haben."

    Da weder eine Leiter noch eine Treppe nach oben führten, waren unsere Kletterkünste gefragt. Obwohl wir uns die größte Mühe gaben, möglichst leise zu sein, drängte sich mir der Eindruck auf, nie etwas Lauteres gehört haben als meinen Atem. Zweifellos musste er in jeder Ecke der Mühle einwandfrei zu vernehmen sein. Doch niemand rührte sich. Unangefochten gelangten wir an unser Ziel. Ich widerstand dem albernen Verlangen, mich auf den Thron zu setzen, und sah mir das Objekt näher an, das Schlichter für einen Opferstein hielt.

    Er lag richtig. Ich erkannte die Inschrift wieder. Das war ohne Zweifel das Exemplar aus dem Sommerhaus der Sverrig.

    "Du wirst nicht glauben, was ich eben entdeckt habe", ließ ich Schlichter wissen.

    "Dann schau dir mal das hier an", gab er zur Antwort.

    Ich ging zu ihm herüber und stand schließlich vor einem gläsernen Sarg. Darin lag eine junge Frau, vielleicht siebzehn Jahre alt. Sie trug ein blaues Sommerkleid, zu dem ein Halsband in derselben Farbe passte. Es war mit Symbolen aus der Alten Sprache verziert. "Tak Ulik", las ich. "Sturmtochter". Ich mußte nicht mehr nach Agnathas Körper suchen. Hierher hatten sie sie gebracht. Dazu bestimmt, in einem Ritual eine Rolle zu spielen, dessen Sinn und Zweck mir völlig schleierhaft war. Ein Blutstein, eine Scheintote und ein Thron. Welche Art von Schauspiel sollte hier geboten werden? Für ein Publikum, das aus wieder erweckten Leichen bestand?

    Und was würde geschehen, wenn es mir schließlich gelingen sollte, Agnatha von ihrem Halsband zu befreien? Würde sie zu neuem Leben erwachen? Würden sich Körper und Geist vereinigen? Oder würde sich die Agnatha, die ich kennen gelernt hatte, einfach auflösen?

    "Sie sieht aus, als ob sie schlafen würde", meinte Schlichter. "Aber sie muss tot sein. Vor siebzehn Jahren gestorben, aber so sorgfältig konserviert, dass keinerlei Verwesungsspuren zu sehen sind. Retten können wir sie nicht mehr. Wir haben alles gesehen, was hier zu sehen ist. Ziehen wir uns zurück."

  • Kräuter und die Mondelfen

    22.Kapitel

    Die Alte Mühle

    Teil 2

    "Allerdings ist da noch das Obergeschoss", fuhr Schlichter fort. "Die Erkundungsmission ist erst dann beendet, wenn wir uns auch dort umgesehen haben."

    Ich nickte. Ohne einen Laut zu verursachen, kletterten wir von dem Podium hinunter und schlichen uns durch die Reihen der Grabwandler, stets in der Erwartung, doch noch bemerkt und angegriffen zu werden. Als wir die Treppe erreicht hatten, die zum ersten Stock führte, signalisierte Schlichter: " Ich erinnere mich wieder. Die Treppen knarren. Das könnte sie aufschrecken."

    "Dann ziehen wir die Stiefel aus. So erzeugen wir weniger Lärm und können trotzdem genauso schnell davon laufen", gab ich zurück.

    Nach einem bedauernden Blick auf sein nagelneues Schuhwerk erklärte sich mein Freund mit meinem Vorschlag einverstanden. Da wir uns sehr vorsichtig bewegten, begnügten sich die Stufen mit einem sehr leisen Knarren. Die Vermummten zeigten keine Reaktion, so dass wir unser Ziel ohne Zwischenfälle erreichten.

    Dort wartete kein Feind auf uns. Dafür aber eine Überraschung. Durch den gesamten Raum zogen sich zwei Reihen aus Bettstätten. In jeder lag eine kleine Gestalt. "Das sind Kinder", flüsterte Schlichter. " Vielleicht Sechsjährige. Sind sie tot?"

    Ich trat an eine der Liegen heran und nahm eine kurze Untersuchung an dem kleinen, rotblonden Mädchen vor, das regungslos dort ruhte.

    "Sie lebt", wisperte ich. " Man hat sie zur Ader gelassen. Und ihr ein starkes Schlafmittel verbreicht. In ihrem Zustand wird sie einen weiteren Blutverlust nicht überstehen. Sehen wir uns die anderen Kinder an. Ich nehme die rechte Reihe, du die linke."

    Schnell und konzentriert gingen wir von Kind zu Kind. Die meisten erwiesen sich zwar als geschwächt, aber noch nicht in lebensbedrohlicher Weise. Bei einigen musste jedoch von einem kritischen Zustand gesprochen werden. Sie hätten unverzüglich in die Behandlung eines Heilers gehört.

    " Insgesamt hundert Kinder", fasste Schlichter zusammen. "Das passt. Seit Monaten verschwinden Kinder in den ländlichen Gebieten. Bei den Bauern herrscht grosse Unruhe. Sie machen die Flusslande verantwortlich und haben schon eigene Kampfverbände aufgestellt. Die Stadtmiliz hatte alle Mühe, sie zurückzuhalten. Unter dem Kommando deines Vetters Lars. Lange wird das nicht mehr gut gehen. Was wollen die Schwarze Witwe und der Lehrer mit all dem Blut?"

    "Erinnerst du dich an das Sommerhaus der Sverrig?", fragte ich. "Als ich mir in die Hand schnitt und das Blut von dem Opferstein aufgesogen wurde? Sie benötigen für ihr Ritual noch viel größere Mengen. Was immer sie auch beabsichtigen. Eine Erstürmung der Mühle ist jedenfalls wesentlich schwieriger geworden. Wir müssen die Miliz informieren. Und jetzt sollten wir wirklich langsam verschwinden."

    Zurück im Erdgeschoss, zogen wir unsere Stiefel wieder an und strebten zum Ausgang. Noch einmal brauchten wir ein wenig Glück. Wenn wir die Tür aufmachen würden, sollten bitte schön keine weiteren Untoten vor derselben stehen, weil sie ihren Genossen in der Alten Mühle Gesellschaft leisten und eintreten wollten. Und das geschah auch nicht. Wir hatten es ins Freie geschafft, wo uns frische Luft, der Sternenhimmel mit dem Halbmond sowie Fleisch fressende Scheinbäume nebst sonstiger Ungeheuer erwarteten. Niemand befand sich auf dem Pfad. Sofern wir uns keinen Fehltritt leisteten, durften wir diesen Einsatz als Erfolg verbuchen.

    Schlichter ging voran. Die Wachbäume verhielten sich ruhig, ebenso die Verschlinger. Womöglich mussten auch sie schlafen. Von den Flugwesen war nichts zu sehen. Entweder bewegten sie sich in großer Höhe, oder sie fingen sich gerade irgendwo einen Mitternachtshappen. Als wir die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, vibrierte der Spiegel, den ich in einer der Innentaschen meiner Jacke verstaut hatte. Ich förderte ihn zutage. Auf der Glasfläche erschien ein Bild. Es zeigte mir etwa zehn Vermummte, die aus der Mühle strömten und uns nachsetzten, und zwar so schnell, das sie uns in Kürze eingeholt haben würden. Ich drehte mich um und sah sie heran kommen, diesmal in Lebensgröße. Helfen konnte jetzt nur noch das zweifelhafte Geschenk der Mondelfen.

    Wie man es kontrollierte, wusste ich zwar nicht, doch immerhin konnte ich es in Gang setzen. Diesmal wählte ich nicht das Blitzsymbol. Stattdessen stach ich mir in einen Finger und ließ, Agnathas Ratschlag berücksichtigend, ein paar Blutstropfen auf das Sturmzeichen tropfen, wobei ich sehr darauf achtete, nicht direkt mit der Tafel in Berührung zu kommen, während ich sie den Angreifern entgegegen hielt. Ein wenig seltsam kam ich mir dabei schon vor. In meinen Gruselgeschichten hatten die Helden auf diese Weise Blutsauger auf Distanz gehalten, die vor dem jeweils verwendeten, geweihten Gegenstand auch gehörigen Respekt gezeigt hatten. Anders die Grabwandler. Sie waren nicht beeindruckt. Die frische Brise, die plötzlich aufkam, nahmen sie ebenfalls nicht wahr. Genausowenig wie den schwarzen Windschlauch, der sich hinter ihnen aus dem Himmel herab senkte.

    Alles verlief in völliger Lautlosigkeit. Der Sturm packte die Untoten und schleuderte die Untoten in die Arme der Wachbäume. Während die Monster nach ihrer Beute griffen, wurde eines der Gewächse von einem Windstoß aus dem Boden gerissen und gegen einen Artgenossen geschleudert. In den Kampf dieser Giganten griff ein tiefer Schatten ein. Es war verblüffend, wie schnell sich dieses Ding bewegen konnte. Aber bevor es an die Bäume heran kam, stürzte eines der Flugwesen vom Firmament herab und stieß einen weißen Flammenstrahl aus, um sogleich wieder aufzusteigen.Von dem Verschlinger war nicht viel übrig geblieben. Von den Wandlern auch nicht. Der Sturm legte sich genauso schnell, wie er aufgekommen war. Ich drehte mich um. Schlichter war in ganz normalem Tempo weiter gegangen. Offenbar hatte er nichts bemerkt. Mit schnellen Schritten schloss ich zu ihm auf. Schließlich hatten wir den Pfad hinter uns gelassen.

    "Das hat ja ganz gut geklappt", meinte Schlichter. Ich verstaute die Bronzetafel wieder in meiner Jacke. Meine neue Wunderwaffe! Mit drei Blutstropfen hatte ich einen kleinen Wirbelsturm erschaffen, fast ein Dutzend Feinde erledigt und sogar noch zwei Wachbäume in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Was wäre erst mit zehn Blutstropfen möglich. Oder einem ganzen Liter, warum nicht? Wie unsere Heiler aus Erfahrung wussten, enthielt der menschliche Körper etwa sechs Liter Blut. Der Verlust eines Liters war für einen gesunden Erwachsenen noch verkraftbar, ehe es gefährlich wurde. Mit einer solchen Menge des Lebenssaftes war die Tafel sicherlich imstande, einen mittleren Orkan zu erzeugen. Den ich auch noch in die gewünschte Richtung dirigieren konnte, falls ich es nicht vorzog, Blitze, Hagel, Regen oder Schnee ins Gefecht zu schicken.

    Von den Streitkräften der Flusslande würde nicht viel übrig bleiben. Einen neuen Krieg hatten wir nicht mehr zu fürchten. Mitten in meine Begeisterung hinein meldete sich die Stimme der Vernunft, die natürlich genauso klang wie die von Tante Meg. Immerhin hatte sie viel Zeit darauf verwendet, mir, nur mit Worten selbstverständlich, gesunden Menschenverstand einzubläuene, um mich von Phantastereien abzuhalten.

    Ich glaubte förmlich zu hören, wie sie sagte: " Und der Preis? Glaubst du wirklich, dass sie dir diese Macht aus reiner Gutherzigkeit verliehen haben? Kannst du ihnen trauen? Solltest du nicht Vorsicht walten lassen im Umgang mit diesem Ding? Und entfremdet es dich nicht von deinen Freunden?"

    Schlichter drehte sich um. "Oh, sieh mal",sagte er. "Einer der Wachbäume ist umgefallen. Bei einem anderen fehlen Äste. Was ist denn da passiert?"

    "Das kann ich mir auch nicht erklären", antwortete ich. Was der Wahrheit entsprach, denn ich hatte wirklich keine Ahnung, wie das Geschenk der der Mondelfen funktionierte. "Offenbar sind sich die Biester in die Haare oder vielmehr in die Äste geraten. Seien wir froh, dass wir so leicht davon gekommen sind, und suchen die anderen."

    Nach einem leichten Zögern nickte Schlichter. Sein Instinkt sagte ihm wohl, dass da irgendetwas nicht zusammen passte. Sollte ich ihn einweihen? Bevor ich ernsthaft darüber nachdenken konnte, trat die Rote Witwe plötzlich aus dem Dickicht hervor. Immer noch trug sie ihre seltsame Sommerbrille, wie wir auch.

    "Ich bin gespannt auf euren Bericht", sagte sie. "Aber zuerst zeige ich auch etwas." Sie ging voran und führte uns zu der Lichtung, wo Lehrer und Soße uns erwarteten. Und nicht nur er. An einen Baum gefesselt, war dort einer der Grabwandler zu sehen. Auf einen Knebel war verzichtet worden, weil der Mann keine Zunge mehr hatte. Der Verwesungsprozess hatte erhebliche Fortschritte gemacht. An seinem Totenschädel klebten nur noch wenige Hautfetzen. Dem Geruch nach zu urteilen, steckte noch Leben in ihm, wenn auch nur etwa zehn Prozent. Wie sich das wohl anfühlen musste?

    "Würdest du jetzt gerne deine Theorie erproben?",wandte sich die Rote Witwe an einen sichtlich geschmeichelten Lehrer. Ganz offensichtlich begann er, sie als Anführerin zu akzeptieren, zumal ihr Auftreten durchaus an das einer Lehrerin gemahnte. Ein wenig erinnerte sie an Tante Meg, mit der sie ja auch den Vornamen gemeinsam hatte. Die mörderische Variante.

    Lehrer nahm seinen Bogen, legte einen Pfeil ein, spannte die Sehne und schoss auf den Gefesselten. Zunächst geschah gar nichts. Dann änderte sich der Geruch des Untoten. Mehr Leben regte sich in ihm. Neues Fleisch und neue Haut bildeten sich. Flachsblondes Haar und weiße Zähne. Einen ganz kurzen Moment lang erblickten wir einen jungen Mann in der Blüte seiner Jahre. Gerade begann er, sich seiner Lage bewußt zu werden. Nun war er ganz und gar lebendig. Wahrhaft wiedergeboren. Doch kam der Prozess nicht zum Stillstand. Immer mehr Lebenskraft erfüllte unseren Gefangenen. Von ihm ging eine Hitze aus, intensiver als alles, was ich bei Fieberpatienten je erlebt hatte. Die Stichflamme kam so überraschend, dass wir geblendet worden wären, hätten wir diese dunklen Augengläser nicht getragen. Asche rieselte herab, wo der Junge gerade noch gestanden hatte.

    Der verstärkte Berserkertrank ist wirklich zu viel für sie", stellte die Rote Witwe zufrieden fest. "Und kann mit Pfeilen verschossen werden. Sehr gut. Und was habt ihr zu berichten?"

  • Kräuter und die Mondelfen

    22.Kapitel

    Die Alte Mühle

    Teil 3

    Da ich ein wenig zur Weitschweifigkeit neigte, übernahm Schlichter diese Aufgabe, wenn auch widerwillig. So wenig wie ich sah er sich als ihr Befehlsempfänger. Allerdings hatte ihn Lehrers kleine Vorführung so beeindruckt, dass er seine Vorbehalte erst einmal zurückstellte. Wir lauschten seiner Erzählung. Soße und Lehrer gebannt, die Rote Witwe mit undurchschaubarer Miene.

    "Was schließt ihr aus diesen Beobachtungen?", fragte sie

    Damit Schlichter nicht alles alleine machen musste, ergriff ich das Wort.

    "Der Ansatz der Gegenseite ist defensiv. Zumindest vorerst. Sie errichten einen Verteidigungsgürtel um die Mühle, um das, was sie vorhaben, vor Störungen zu schützen. Offenbar schwebt ihnen eine Mixtur aus Wissenschaft und Magie vor. Der Opferstein soll wohl das Blut der Kinder in Lebenskraft verwandeln, damit die Wiedererweckten den Tod endgültig überwinden können."

    "Lebenskraft aus Blut?", zweifelte Lehrer. " Mittels eines magischen Steins? Was soll denn daran wissenschaftlich sein?"

    " Da wäre ich mir nicht so sicher", widersprach Soße. "Woher kommt die Wärme deines Körpers? Und deine Kraft? Aus deinem Essen. Du verspeist ein Schnitzel mit Bratkartoffeln, und in deinem Bauch wird daraus etwas anderes. Leben. Warum soll der Blutstein nicht auch können, was dein Körper vermag. Wer weiß, wie es in diesem Metallblock aussieht. Da kann sich ein komplizierter Mechanismus verbergen. Und da fällt mir noch ein Beispiel ein. Bei einem Lagerfeuer verbrennt Holz. Es entstehen Asche und Rauch, aber eben auch Licht und Wärme. Aus Stoff kann Kraft werden."

    Die Rote Witwe bückte sich und hob einen Kieselstein auf.

    Was du gerade gesagt hast, ist völlig korrekt", erklärte sie. "Ich besitze eine recht umfangreiche Sammlung von Schriften aus dem Alten Reich. Darunter wissenschaftliche Werke. Damals war bekannt, dass Masse und Kraft dasselbe sind. Ineinander umwandelbar. Wenn es gelänge, dieses kleine Steinchen ganz und gar in Licht und Wärme zu transformieren, bliebe von unserer Stadt nicht viel übrig."

    "Na das ist ja wohl übertrieben!", protestierte Lehrer.

    "Nicht unbedingt", stellte ich fest. "Erinnere dich daran, was Frau Bess auf dem Friedhof mit ihrem Spiegel angestellt hat. Dieses Ding fing genug Sonnenlicht ein und strahlte es wieder ab, um Dutzende von Grabwandlern zu erledigen. Dabei wissen wir noch nicht einmal, ob es nicht noch mehr bewirken kann."

    "Kann es", bemerkte die Rote Witwe. " Mit diesem Spiegel ließe sich die halbe Unterstadt in Brand setzen. Oder, in der Hand eines Unkundigen, der ihn nicht korrekt zu bedienen versteht, eine Vielzahl von Feuern auslösen, unkontrolliert. Chaotisch. Genau darin besteht die wahre Gefahr. Unsere Gegner spielen mit Gewalten, die sie nicht verstehen. Schon der kleinste Fehler kann ausreichen, um eine Katastrophe auszulösen. So weit dürfen wir es gar nicht erst kommen lassen."

    "Was schlagt Ihr vor?", fragte Schlichter nüchtern.

    "Auf der Basis der Erkenntnisse, die ich durch eure Erkundungsmission erlangt habe, arbeite ich einen Schlachtplan aus. Unternehmt nichts, bis ihr von mir hört. Verhaltet euch ruhig. Das war übrigens gute Arbeit heute. Räumt bitte auf, und dann geht unauffällig nach Hause."

    Mit diesen Worten empfahl sie sich.

    " Machen wir es ihr nach", empfahl Schlichter. " Wir sollten uns ebenfalls überlegen, wie wir übermorgen vorgehen werden, und zwar eigenständig. Ohne uns sklavisch an das zu halten, was sie vorschlägt. Vielleicht fällt uns ja etwas Besseres ein. Und jetzt sollten wir uns aufteilen. Als Einzelnen wird es uns leichter fallen, unbemerkt zu bleiben."

    Nach und nach verschwanden meine Freunde in der Dunkelheit. Ich blieb allein zurück. Wieder vibrierte Onkel Bernies Spiegel. Es war aber nicht Agnatha, die mich zu sprechen wünschte. Ein anderes Gesicht erschien auf der Glasfläche.

    "In einer halben Stunde am See der Verliebten", verkündete die Rote Witwe. Sie schien meine Verblüffung zu genießen. "Keine Sorge", fügte sie hinzu. "Du bist entschieden zu jung für mich."

    Der See der Verliebten. Niemand wusste, wie das Gewässer zu dieser Bezeichnung gekommen war. Vermutlich stammte der Name aus uralter Zeit, als der Familienrat noch nicht bestimmte, wer wen zu heiraten hatte, und sich die Leute ihre Ehepartner noch selber aussuchen durften Heute war der See ein beliebtes Ausflugsziel für Familien. Aber nur tagsüber. Nachts wagte sich niemand dorthin. Dafür war es außerhalb der Stadtmauern zu unsicher. Man lief Gefahr, wilden Tieren oder Strauchdieben aus dem Roten Viertel über den Weg zu laufen. Solche Ängste kannte Frau Bess sicher nicht. Falls es zu entsprechenden Begegnungen kommen sollte, war den Wölfen und den Halsabschneidern mein Mitleid sicher. Sie saß entspannt auf einer Bank und blickte auf die Wasserfläche hinaus, in der sich das Mondlicht spiegelte. Ich nahm neben ihr Platz.

    "Geheimnisse", begann sie unser Gespräch. " Ich finde es gut, dass du Dinge für dich behältst. Man kann sich auf keinen Menschen ganz und gar verlassen. Du wirst allein geboren, und du stirbst allein. Das ist die Wahrheit. Mir solltest du natürlich auch nicht vertrauen. Doch hast du dich dafür entschieden, mit mir zu kämpfen. Unter meinem Kommando, denn ich verfüge über weit mehr Erfahrung und kenne den Feind besser. Als Anführerin muss ich wissen, welche Waffen uns zur Verfügung stehen. Sonst kann ich kein vernünftiges Angriffskonzept entwerfen, so dass wir womöglich unterliegen. Möchtest du mir angesichts dessen vielleicht etwas mitteilen? Denke sorgfältig darüber nach."

    In der Tat, Vertrauen brachte ich dieser Frau nicht im Mindesten entgegen. Mit ihrer Weltsicht wollte ich mich auch nicht anfreunden. Aber sie hatte in einem Punkt recht. Was von militärischem Nutzen war, sollte einem Befehlshaber schon bekannt sein.

    "Also schön",sagte ich und holte die Bronzetafel hervor. "Ich nehme an, Ihr habt in Eurem Spiegel gesehen, was dieses Ding angerichtet hat."

    "Einen Augenblick", bat die Rote Witwe. Einer Innentasche ihrer Jacke entnahm sie ein Paar schwere Lederhandschuhe. Erst nachdem sie sich auf diese Weise geschützt hatte, griff sie nach den Geschenk der Mondelfen und betrachtete die Inschrift auf der metallenen Oberfläche.

    "Lukku", las sie. "Deine Übersetzung?"

    "Nicht auserwählt", antwortete ich.

    "Nicht auserwählt", wiederholte sie. "Richtig. Und eigenartig. Es existiert eine alte Prophezeihung, wonach ein Auserwählter die Menschheit einst in den Kampf gegen die Himmlischen führen und sie vernichten würde. Seit Jahrhunderten suchen sie einen Weg, diesen Menschen ausfindig zu machen. Womöglich ändern sie jetzt ihre Taktik und halten Ausschau nach Leuten, die garantiert nicht auserwählt sind. Die wären ihre natürlichen Verbündeten. Oder Werkzeuge."

    "Ihr glaubt also nicht, dass sie mir wohlgesonnen sind?"

    "Weil sie dir diesen mächtigen Gegenstand überlassen haben? Und weil sie dir zur Hilfe gekommen sind? Sieh!"

    Sie zeigte mir eine Szene auf ihrem Spiegel. Zwei Wachbäume kämpften gegeneinander. Ein Schatten glitt auf sie zu, nein, an ihnen vorbei, in meine Richtung, um sich im nächsten Augenblick in einem weißen Feuerstrahl zu winden, ausgestossen von einem riesigen Fledermauswesen, auf dem jemand saß. Eine Reiterin. Hochgewachsen und schlank. Wehendes, weißes Haar.

    "Sie arbeiten mit der Schwarzen Witwe", bemerkte ich. "Aber sie helfen mir auch. Was wollen sie eigentlich?"

    "Sie verfolgen ihre eigenen Ziele", erwiderte die Frau. "Niemand kann sich auf sie verlassen. Kennst du die Hypothese der Winterfestgans? Das ist eine Parabel, die ich in der Schule gelernt habe. EIne Gans schlüpft aus dem Ei. Noch weiß sie nichts über die Welt. Dann kommt der Bauer und füttert sie, woraus sie schließt, dass er es womöglich gut mit ihr meinen könnte. Mit jedem Tag, jeder Futtergabe festigt sich diese Hypothese und wird schließlich fast zur Gewissheit."

    "Bis zum Winterfest", vermutete ich. "Eine solche Gans könnte ich sein. Und der Bauer sind entweder die Mondelfen oder Ihr. Oder beide."

    "Das ist die richtige Einstellung", lachte die Rote Witwe. "Und nun zeige mir einmal deinen Spiegel."

    "Interessant", kommentierte sie, als sie Onkel Bernies Exemplar betrachtete. "Er zeigt uns von oben. Scheint die Grundeinstellung zu sein. Woher hast du ihn. Von deinem Onkel?"

    "Er interessierte sich für Artefakte aus dem Alten Reich. Jetzt habe ich endlich seine Sammlung gefunden. Ihr wollt wahrscheinlich wissen, was er da noch gehortet hat. Nun, da gab es eine Kugel, die ein sehr helles Licht abgibt, wenn man sie berührt."

    "Die sind selten!", rief die Frau aus.

    Dann der Spiegel", fuhr ich fort. "Jede Menge Bücher und beschriftete Metalltafeln. Ein Blutstein. Und Masken mit den Gesichtszügen von Mondelfen, aber auch echsenartigen Menschen."

    "Hast du eine von ihnen angefasst? Oder gar aufgesetzt?", fragte die Rote Witwe beunruhigt.

    "Natürlich nicht", antwortete ich entschieden. "Ich bin ja nicht blöd. Berührt habe ich nur die Leuchtkugel, den Spiegel und einige Schriften."

    Die Aufzeichnungen meines Onkels erwähnte ich nicht. Sie musste ja nicht alles wissen.

    "In den Büchern könnten sich wichtige Hinweise befinden, die uns in dem bevorstehenden kampf vielleicht von Nutzen sind", gab sie zu bedenken. " Traust du dir zu, sie bis übermorgen durchzugehen?"

    Was für eine Frage!

    "Natürlich nicht", gab ich zurück. "Morgen ist der Tag der Jugend. Da kann ich mich unmöglich herauswinden. Ihr dürftet Euch mit der Materie auch besser auskennen. Also schön. Schleicht Euch auf den Dachboden des Hauses, in dem jetzt mein Vetter lebt. Nehmt meinen Riechverstärker und sucht nach einer Stelle, die nach Heidelbeerwein duftet. Ihr werdet eine Vertiefung in der Wand finden. Dort ist es. Aber auch wenn Ihr all die Sachen woanders hinbringt, gehören sie immer noch mir. Sie sind mein, wenn auch nicht sehr legales, Erbe."

    "Nicht sehr legal, wohl wahr", meinte sie. "Doch bin ich in dieser Hinsicht flexibel. Die Sammlung kommt in mein Haus. Du kannst mich jederzeit besuchen."

    "Ihr habt jetzt ein Haus?", fragte ich verblüfft.

    "Und auch meinen Namen, ganz offiziell. In einem abgelegenen Dorf lebt eine entfernte Verwandte. Sie heißt auch Meg Bess. Nun ist sie eine wohlhabende Frau, und ich Bürgerin der Oberstadt, die lange auf dem Land lebte."

    "Wo ist Euer Haus?", wollte ich wissen.

    "In der Brückenstrasse", erwiderte sie. "Wo ich früher gewohnt habe. Stell dir vor, es steht noch. Sie nennen es "das Mörderhaus" Ich habe es von der Stadt käuflich erworben."

    Beinahe hätte ich laut gelacht. Endlich hatte sich jemand ein Herz gefasst und beschlossen, in dem berüchtigten Spukgemäuer tatsächlich leben zu wollen. Das Schulamt würde begeistert sein und ihr den Vernunftorden in Gold verleihen.

    "Meinen Spiegel und die Tafel hätte ich gerne zurück", verlangte ich.

    "Natürlich", antwortete sie. "Bei Gelegenheit zeige ich dir, was man mit dem Spiegel alles machen kann. Und die Tafel könnte ich sowieso nicht berühren, ohne sofort getötet zu werden. Wo bewahrst du sie auf? In einer Schublade? Die deine Tante beim Saubermachen öffnen könnte? Vermutlich bist nur du imstande, sie ungeschützt anzufassen. Alle anderen wird sie aussaugen. Sei sehr vorsichtig. Benutze sie sparsam."

    Sie erhob sich. "Eine Frage noch", bat ich. "Als Ihr sagtet, der Blutstein in der Alten Mühle könne die ganze Stadt verbrennen, wenn der Lehrer und die Schwarze Witwe ihn nicht richtig einsetzten, war das Euer Ernst? Oder habt Ihr, um der Wirkung willen, nicht doch etwas übertrieben?"

    "Ein wenig übertrieben?", fragte sie lächelnd zurück. "Um der Wirkung willen? Ich zeige dir mal etwas."

    Auf ihrem Spiegel erblickte ich die Mühle.

    "Ein Liter Blut", erläutere sie. "Nicht effizienter in Kraft umgesetzt, als deine Tafel das vermag."

    Das Gebäude ging in Flammen auf, genauso wie das Waldstück, in dem es sich befand.

    "Zehn Liter Blut" Eine Feuerwand raste auf die Stadt zu und verschlang sie. Das Wasser des Bergflusses verdampfte.

    "Und hundert Liter. So viel dürften sie den Kindern abgenommen haben."

    Was ich nun erblickte, konnte man nur noch als Feuersturm bezeichen. Die Flammen schienen bis zu den Sternen heraufzulodern.

    "Der gesamte Halbkontinent, vom Großen Wasser bis zu den Endlosen Bergen, würde vernichtet", erklärte die Rote Witwe leidenschaftslos. "Das würde nicht einmal ich überstehen. Im Alten Reich wussten sie schon, dass Masse und Kraft das Gleiche sind. Eine Umwandlungsformel errechneten sie auch. Die Energie entspricht der Masse multipliziert mit der Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. Ja, sie konnten ermitteln, wie schnell sich das Licht im Raum ausbreitet. Sehr schnell, wie ich dir versichern kann. Ein Kieselstein, komplett in Licht und Wärme transformiert, würde das Ende der Welt herbeiführen. Hoffen wir mal, dass die Opfersteine nicht so gut sind."

    Sie klopfte mir auf die Schulter.

    "Keine Sorge", beruhigte sie mich. "Ich habe gute Ideen. Die Sammlung deines Onkels wird hilfreich sein. Und es gibt da noch jemanden, der uns unterstützen wird. Doch falls alles schief gehen sollte, tröste dich. Sollten sie dir morgen ein Mädchen verpassen, das dir nicht gefällt, brauchst du dich nicht lange mit ihr herumzuärgern."

    Beschwingt schlenderte sie davon. Ich sah ihr wie betäubt nach. Es war so schön still und friedlich in dieser Nacht am See der Verliebten. Eine Weile blieb ich dort, bis ich mich zur Stadt aufmachte. Ungesehen gelangte ich in Gerds Haus. Niemand schien meinen kleinen Ausflug bemerkt zu haben. Wieder vibrierte der Spiegel. Diesmal war es Agnatha, dir mir etwas zu sagen hatte.

    "Beschaffe mein Selbstportrait", forderte sie kurz angebunden. "Wir brauchen es unbedingt." Schon wurde das Spiegelglas wieder dunkel. Sie hatte wohl zu tun.

  • Kräuter und die Mondelfen

    23.Kapitel

    Der Tag der Jugend

    Teil 1


    Am nächsten Morgen erwachte ich mit Kopfschmerzen und einem schlechten Geschmack im Mund. Offensichtlich sorgte mein Rauschlöscher nur für ein Gefühl der Nüchternheit, ohne die körperlichen Nachwirkungen des Biermissbrauches in den Griff zu bekommen. Mit anderen Worten, ich hatte mit einem gewaltigen Kater zu kämpfen. Wie es um meine Leber bestellt war, wollte ich erst gar nicht wissen. Meine Erfindung bedurfte dringend einer Überarbeitung. Während ich versuchte, mithilfe kalten Wassers einigermaßen wach zu werden, fragte ich mich, ob es eine gute Idee gewesen war, Onkel Bernies Bücher der Roten Witwe zu überlassen. Seine persönlichen Aufzeichnungen, die ich für mich behalten und von denen ich mir viel versprochen hatte, waren nämlich verschlüsselt. Er hatte sich eines Systems bedient, das mir unbekannt war. Einen schlimmeren Geheimniskrämer als ihn würde man auf dieser Welt wohl vergeblich suchen.

    Es klopfte. Vetter Gerd, der auch nicht all zu frisch aussah, lud mich zu einem späten Frühstück ein. Ich beneidete ihn. Durfte er doch im Land der Sorglosen leben, wo man ganz selbstverständlich davon ausging, dass auf den morgigen Tag noch weitere folgen würden, und auch Wochen, Monate und Jahre. Wenn die Leute nur gewusst hätten, was sich wenige Meilen vor den Stadtmauern abspielte. Ein wissenschaftliches Experiment - oder ein magisches Ritual, oder irgendetwas dazwischen -, bei dem der kleinste Fehler ausreichte, um die schrecklichste Katastrophe seit Menschengedenken auszulösen. Eine Feuerwalze, die über den Halbkontinent hinwegrollen würde, vom fernen Großen Wasser bis zu den Endlosen Bergen. Gemacht aus der Umwandlung von hundert Litern Blut in pure Kraft, Licht und Hitze.

    Natürlich war das nicht das Ergebnis, das der Lehrer und die Schwarze Witwe anstrebten. Sie wollten Lebenskraft erzeugen, um unsterblich zu werden. Leider mangelte es ihnen aber an den erforderlichen Kenntnissen. Sie hätten imstande sein müssen, die entsprechenden Schriften aus dem Alten Reich korrekt zu übersetzen. Onkel Bernie wäre für diese Aufgabe die erste Wahl gewesen. Niemand beherrschte die Alte Sprache besser als er. Doch hatte die Stadt ihn wegen seiner Trunksucht in die Verbannung geschickt. Seitdem hielt er sich verborgen. Vielleicht ahnte er etwas.

    Als zweite Wahl durfte ich mich betrachten, weshalb unsere Gegner auch mehrfach versucht hatten, mich zu entführen. Nachdem das fehlgeschlagen war, griffen sie sich schließlich Meister Lurra, den Direktor unseres Heimatmuseums. Durchaus ein allseits respektierter Gelehrter, aber, was die alten Texte betraf, dritte Wahl. Übersetzungen aus seiner Feder hatte ich gesehen. Meister Nossfu musste verrückt sein, sich auf ihn zu verlassen. Das konnte nur schiefgehen. Wenn die Rote Witwe nicht mit einer sehr guten Idee aufwartete, wie sie ihn aufhalten konnte, bevor er Prozesse in Gang setzte, die sich nicht mehr kontrollieren ließen, waren wir erledigt. Dann blieben der Welt noch zwei Tage. Einen davon musste ich auch noch mit dem albernen Tag der Jugend vergeuden.

    Im Esszimmer wurde ich nicht nur von Gerd erwartet, sondern auch noch von meinem neuen Schwiegeronkel, dem der gestrige Abend rein gar nichts auszumachen schien.

    "Dreißig Biere", begrüsste er mich. "Das war eine reife Leistung. Daran sollte sich mein schlapper Schwiegersohn ein Beispiel nehmen. Eine saure Gurke vielleicht? Oder ein Glas Milch?"

    Da ich den Genuss berauschender Getränke in diesen Mengen nicht gewohnt war, probierte ich beide Angebote aus. Im Gegensatz zur Gurke erwies sich die Milch tatsächlich als hilfreich. Nach einem zweiten Glas fühlte ich mich wieder einigermaßen normal. War das die Lösung? Falls ich herausfand, welcher Wirkstoff diesen Effekt herbei führte, hatte ich vielleicht das perfekte Rezept für mein Elixier gefunden. Wie es um meine Leber stand, würde ich allerdings erst nach jahrelanger Sauferei an meiner Hautfarbe ablesen können. Gelb wäre ganz schlecht.

    "Kannst du dich nicht für ein Jahr zurückstellen lassen?", wollte Gerds Schwiegervater wissen. " Ich habe noch eine jüngere Tochter. Sie ist sechzehn. Du wärst genau der Richtige für sie!"

    "Das ist leider nicht möglich", gab ich zurück. "Doch wirst du anerkennen müssen, dass Gerd sich redlich Mühe gegeben hat."

    "Wie viele Biere hast du noch mal geschafft?", wandte ich mich an meinen Vetter.

    "Nur achtzehn", antwortete Schwiegeronkel Ole an Gerds Stelle mit leichter Missbilligung.

    "Nun, das wird schon noch", meinte ich. "Warum ist es im Haus eigentlich so still? Wo sind denn alle?"

    Glücklicherweise ging mein Gesprächspartner auf meinen Versuch ein, ein anderes Thema zur Sprache zu bringen.

    "Na, was denkst du denn? Am Tag der Jugend spielen die Leute verrückt. Sämtliche Verwandte sind im Haus deiner Tante Meg versammelt, um sich auf die Feste vorzubereiten. Sobald klar ist, wen sie dir und deinem Vetter Bernhard zugesprochen haben, strömen doch alle zu den Familien der Bräute. Und da ergeben sich für die Frauen wichtige Probleme. Was ziehen wir an? Welche Geschenke halten wir bereit? Und wie staffieren wir die Jungs aus?"

    "Da bin ich ja fein raus", entgegnete ich. "Bei mir wird es die Wasa-Kluft sein, so blöd ich mir in den Sachen auch vorkomme. Aber Vetter Bernhard tut mir leid." Bernhard war der Sohn Onkel Jörgs, eines jüngeren Bruders Onkel Gerds. Ein stiller Junge, der nichts anderes wollte, als wie mein Großvater Bernhard für das Forstamt durch die Wälder zu streifen. Er gehörte meinem Jahrgang an, besuchte aber eine andere Schule.

    "Er ist wirklich zu bedauern", gab mir Vetter Gerd recht. "Sie probieren alle möglichen Klamotten an ihm aus, damit er möglichst gut aussieht, wenn es endlich los geht. Als ob der Familienrat darauf etwas gäbe. Bei dir hat sich die Ausstattungsfrage erledigt. Deshalb brauchen sie dich auch nicht, und wenn ich dir einen Rat gebe darf. Bleibe bloss weg von Zuhause! Hier, bei uns, hast du deine Ruhe".

    "Eine Sache gibt es da allerdings", erinnerte sich der Schwiegeronkel. "Du musst drei Familienangehörige aussuchen, die dich in die Halle des Volkes begleiten dürfen."

    Da wir etwa fünfhundert Ehekandidaten waren, hatte das Gebäude in der Tat nur noch tausendfünfhundert weitere Plätze zu bieten.

    "Tante Meg und Thusnelda natürlich", überlegte ich laut.

    "Sehr gut", kommentierte Ole. " Ich hatte schon eine halbe Stunde Überredungszeit einkalkuliert, damit du meine Tochter mitnimmst. Ein wenig anstrengend kann sie werden, das gebe ich zu. Als Dritte solltest du deine Tante Emma benennen. Sie ist zwar eine Wasa, aber trotzdem ganz nett".

    Tante Emma, die jüngere Schwester meines Vaters, war wirklich sehr nett. Vielleicht etwas zu nett. Sie arbeitete als Lehrerin, unterrichtete aber nur die beiden jüngsten Jahrgänge. Bei den Drittklässlern konnte sie sich schon nicht mehr durchsetzen. Ihren Beitrag zum Weiterbestand der Familie hatte sie allerdings geleistet. Drei Jungs und drei Mädchen. Großmutter Swanhild nahm Emma zwar nicht für voll, war aber trotzdem zufrieden mit ihr.

    Ich fand es bemerkenswert, dass sich meine Verwandtschaft väterlicherseits plötzlich für mich interessierte. Auch wenn es die Herrin des Hauses immer noch nicht für nötig hielt, mich zu empfangen. Sie wartete wohl ab, mit welcher Schwiegerenkelin sie es zu tun bekommen würde.

    "Also Tante Meg, Tante Emma und Thusnelda", fasste ich zusammen und bemühte mich, so zu wirken, als ob mich das alles interessierte. Am Rande des Weltunterganges!

    "Ich sage es ihnen", erbot sich Vetter Gerd.

    "Woraufhin du dich schleunigst absetzen wirst, um wichtige Milizaufgaben zu erledigen", vermutete ich.

    Gerd grinste. "Du hast es erraten".

    "Und du solltest dich ein wenig erholen", riet mir sein Schwiegervater. "Schlaf dich aus, oder triff deine Freunde. Glaube mir, bald wird dein Leben nie mehr so sein, wie es vorher war."

    Er ahnte nicht, wie recht er hatte.

    Zunächst legte ich mich noch einmal ins Bett, bis mir Lehrers Märchenbücher einfielen, in denen offenbar viel über tatsächlich existierende Kreaturen zu lesen war. Es war Zeit für einen Besuch in der Kinderbücherei. Wo ich, wenig überraschend, Lehrer vorfand, der in einem dicken Wälzer herumblätterte.

    "Auch auf der Flucht vor deiner Familie?", begrüsste er mich. "Ich habe ihnen gesagt, dass ich jede Ausstattung akzeptieren werde, die sie für mich aussuchen. Da haben sie mich endlich gehen lassen. Schlichter hat das auch versucht, ist aber gescheitert. Aber dann ließ er sich einen neuen Trick einfallen. Da kommst du nie drauf!"

    "Nämlich?", fragte ich mit mildem Interesse.

    "Er hat seiner Mutter weis gemacht, dass er sich plötzlich für Kochkunst interessiere. Auch ein Mann müsse kochen können, meinte er. Es wäre doch schön, wenn er seine Zugesprochene mit einer selbst zubereiteten Mahlzeit überraschen würde. Stell dir vor, das haben sie ihm abgekauft. Jetzt hilft er Soße in der Küche und schält Kartoffeln. Und hat seine Ruhe."

    "Mich haben die Wasa-Klamotten gerettet", sagte ich. " Da klar ist, was ich anhaben werde, stürzen sie sich jetzt auf ein anderes Opfer. Den armen Vetter Bernhard."

    "Der Waldläufer", erinnerte sich Lehrer. "Ich glaube, dem würde es auch nichts ausmachen, wenn er übrig bliebe".

    "Vermutlich", gab ich ihm recht. "Aber sag mal, aus welchem Märchenbuch hast du denn diese ganzen Geschichten über Verschlinger und Mondelfen und so weiter?"

    "Warte", versprach Lehrer. "Ich suche es dir raus"

    Natürlich hatte er es nicht nötig, in den Regalen nach dem entsprechenden Werk zu fahnden. Ein Griff genügte, sogar ohne hinzusehen. Ich warf einen Blick auf den Umschlag und las:

    "Lothars Lexikon der lächerlichen Lügenmärchen."

    Mit einem Wort des Dankes verabschiedete ich mich vorläufig, zog mich in eine ruhige Ecke zurück und begann meine Suche.

    Unter "Verschlinger" stand da: Phantasiewesen. Bestehen nur aus Schatten, die über den Boden kriechen. Ohne Augen und Ohren finden sie ihre Beute. Ohne Magen verdauen sie sie. Zweifellos eine der absurdesten magischen Vorstellungen aus dem Dunklen Zeitalter. Vernichtet werden konnten diese Ungeheuer nur durch das ebenfalls ausschließlich in der Einbildung des unaufgeklärten Volkes existierende "Weiße Feuer".

    Ich schlug nach: Feuer, Weißes. Mythische Kraft, die Verschlinger töten konnte. Tauglich auch zur Zerstörung von Sonnenstein.

    Unter "Sonnenstein" wusste Lothar zu berichten: Substanz, die "Seelenkraft" aufzunehmen und zu speichern vermochte. Wenn genug davon angesammelt und dann schlagartig freigesetzt wurde, gab es eine "Seelenexplosion". Diese Seelenkraft fand man bei "Sturmtöchtern" und "Wolkensöhnen"

    Sturmtöchter? Da war doch etwas.

    Und zwar: "Sturmtöchter. Frauen, die angeblich das Wetter voraussagen konnten. Dank einer imaginären "Seelenkraft". Siehe auch "Wolkensöhne".

    Mir fiel der alte Gärtner Sigbald ein. Er lag nie falsch, wenn er Regen ansagte. Was ihm Ärger mit dem Schulamt einbrachte. Zu seinem Glück kam ihm Meister Thing mit seiner These von der unbewussten Wahrnehmung zur Hilfe, die schließlich als wissenschaftlich anerkannt wurde. Offiziell gab es die Seelenkraft nicht. Wenn sie aber doch existierte, machte Einiges plötzlich Sinn.

    "Sturm Tochter", hatte ich auf dem blauen Halsband gelesen, das die Mondelfen Agnatha angelegt hatten und das aus Sonnenstein bestand. Siebzehn Jahre hätte sich diese Kraft angesammelt. Weißes Feuer würde das Band zerstören, so dass die zurückgehaltene Energie schlagartig in die Welt entlassen würde.

    Hatten die Mondelfen das vor?

    Während der anstehenden Zeremonie? Zusätzlich zu der Kraft der Opfersteine?

    Offenbar war alles noch viel komplizierter, als ich gedacht hatte. Und gefährlicher.

    "Unter "Mondelfen" fand ich:

    "Märchenfiguren, die auf dem Mond vermutet wurden, von wo aus sie die Menschen heimsuchten. In einigen Versionen der Geschichten boten sie Verträge an, die mit Blut unterschrieben werden mussten. Ihre darin formulierten Versprechungen machten sie stets auf eine Weise wahr, die sich für ihre Partner als wenig erfreulich erwies. Ihre Tücke war legendär. Es kursierten auch Erzählungen, in welchen es gelang, sie mit Milch und Keksen oder lustigen Geschichten zu besänftigen. Eines Tages jedenfalls, so die fahrenden Sänger, die sich diesen Unfug einfallen leßen, würde ein Auserwählter kommen und die Menschheit in eine Entscheidungsschlacht führen. Das wäre dann das Ende der Mondelfen. Nur die Werwölfe wären dann noch in Vollmondnächten zu fürchten, denn an die glaubten sie damals auch."

  • Kräuter und die Mondelfen

    23.Kapitel

    Der Tag der Jugend

    2.Teil

    Natürlich glaubte Lothar nicht an Werwölfe. Damit mochte er sogar richtig liegen, denn gesehen hatte ich noch keinen. Andererseits hatten uns die Lehrer im Naturkundeunterricht gezeigt, wie aus Kaulquappen Frösche wurden, und Schmetterlinge aus Raupen. Warum sollte eine solche Verwandlung nicht auch zwischen Mensch und Wolf möglich sein?

    Wie ich aus eigener Erfahrung wusste, waren Mondelfen, anders als Lothar geschrieben hatte, äußerst real. Und ganz anders, als sie in den Märchenbüchern dargestellt wurden, die sich in der Stadtbibliothek fanden. In diesen Geschichten gab es immer ein pfiffiges Kind, das die Himmelswesen gekonnt austrickste und seine wegen ihrer Gutgläubigkeit in die Fänge der Unholde geratenen Eltern im letzten Moment rettete, bevor sie zum Mond verschleppt werden konnten. Die Handschrift des Schulamtes war deutlich zu erkennen. Immer noch stünden die Alten im Bann des Aberglaubens, lautete die Propagandaformel. Doch davon ließe sich die Jugend nicht mehr beeindrucken. Sie machte sich frei von den Schreckgespenstern der Vergangenheit und schritt munter voran in eine strahlende Zukunft im Lichte der Vernunft.

    "Sind wir dafür nicht ein bißchen zu alt?", fragte eine Stimme hinter meinem Rücken. Mit einem der Märchenbücher in meinen Händen drehte ich mich zur Sprecherin um und erblickte eine der Bibliothekarerinnen. Es war schwer, sich ihre Namen zu merken, weil sie einander so ähnelten. Berufsbedingt hatten sie sich allesamt durch ständiges Lesen die Augen verdorben. Bei den Brillenmachern waren sie Dauerkundinnen.

    "Nur ein kleiner Rückblick in die Kindheit", antwortete ich. "Bald fängt ja der Ernst des Lebens an."

    "Warte, bis du selbst Kinder hast", riet die Frau. "Diese Geschichten sind pädagogisch sehr wertvoll, besonders im Hinblick auf die Vernunfterziehung. Dann kannst du sie wieder lesen. Übrigens habe ich etwas Neues für dich. Sehr interessant."

    Sie wies mich auf einen Büchertisch hin, auf dem Neuerscheinungen ausgestellt waren. Einen besonders prominenten Platz nahm ein Werk ein, von dessen Umschlag mir ein allzu bekanntes Gesicht entgegenlächelte. "Heilkräuter aus der Welt der Hohen Berge", lautete der Titel. Von Meg Bess.

    "Daraus kannst du viel Neues lernen", meinte die Bibliothekarin. "Die Autorin hat lange in einem entlegenen Bergdorf gelebt, wo sie als Heilerin wirkte. Eine sehr nette Frau. Und mutig. Stell dir vor, sie ist ins Mörderhaus in der Brückenstrasse gezogen. Warte, ich packe dir das Buch ein. Es enthält auch viele schöne Zeichnungen."

    Daran zweifelte ich nicht. Dass die Rote Witwe die Verfasserin des Bandes war, erschien mir schon weniger glaubhaft. Vermutlich machte sie sich die Arbeit der anderen Meg Bess zunutze, welche hoffentlich noch lebte.

    "Nächste Woche findet eine Lesung statt", wurde mir mitgeteilt. "In unseren Räumen. Die Dame kommt selbst."

    "Und sie ist sich ihrer Sache wohl sehr sicher", dachte ich bei mir. Bislang hatte ich den geplanten Sturm auf die Alte Mühle für das große Ereignis gehalten, den epischen Endkampf, der über Sieg oder Untergang entscheiden würde. Die Rote Witwe dachte weiter. Sie machte Termine für die Zeit danach, richtete ein neues Haus ein und arbeitete an ihrem Aufstieg in die besseren Kreise der Stadt. Entweder überschätzte sie sich gewaltig, dann sah ich schwarz für unsere Erfolgsaussichten. Oder sie war wirklich in der Lage, die Schwarze Witwe und ihre Spießgesellen beiläufig aus dem Verkehr zu ziehen. Keine dieser Alternativen hörte sich besonders beruhigend an. Schließlich wussten wir nicht, welche Ziele Meg Bess letzendlich verfolgte.

    Mit dem entliehenen Buch unter dem Arm machte ich mich auf den Weg nach Hause, oder besser zu meinem Ersatzzuhause, wo ich vor meinen Tanten und Großtanten halbwegs sicher war. Aber nicht vor dem Schulamt. Wie von Meister Arrund angekündigt, brachte ein Bote das Bildnis Agnathas vorbei, das mir seinerzeit im Sommerhaus der Sverrig aufgefallen war. Kaum hatte ich das Gemälde ausgepackt, machte sich Onkel Bernies Spiegel bemerkbar.

    Wie immer fasste sich die Rote Witwe kurz. "Bringe das Bild so schnell wie möglich in den geheimen Raum im Haus deines Vetters", ordnete sie an, ohne sich die Mühe zu machen, mir die Hintergünde ihres Ansinnens zu erklären. Nicht, dass ich inzwischen Vertrauen zu der Frau gefasst hätte. Da ich mich aber noch sehr gut an das große Interessen erinnern konnte, das Agnathas Mutter an dem Portrait ihrer Tochter an den Tag gelegt hatte, tat ich, was Frau Bess verlangte, die immerhin nie Kindern etwas angetan hatte. Sie war wohl das kleinere Übel. Und verlor keine Zeit. Onkel Bernies Versteck war bereits leer geräumt. Es war mir schleierhaft, wie sie das in so kurzer Zeit geschafft hatte. Ein paar Stunden später erreichte mich ein Hilferuf aus dem Heilerhaus. Wegen eines Unglücks in einem unserer Bergwerke sollte ich mich sofort auf den Weg machen. Es ginge um Leben und Tod.

    Als ich mich zum Dienst meldete, wusste niemand etwas von einem Notfall. Mir wurde sofort klar, dass ich durch einen Trick aus meiner Unterkunft gelockt worden war. Wo sich im Augenblick niemand aufhielt. Wo aber das Gemälde zu finden war. Und tatsächlich, wieder vor Ort, fand ich ein verwüstetes Haus vor, eine aufgelöste Thusnelda und eine Einheit der Miliz, die den Tatort untersuchte.

    Onkel Gerd konnte es nicht fassen. "So etwas haben die Banden seit vielen Jahren nicht gewagt", schimpfte er. "Vermutlich haben Aussenseiter ohne Wissen ihrer Bosse hier zugeschlagen. Ich gebe ihnen einen Tag. Ansonsten stelle ich dieses Rattenloch auf den Kopf. Die werden mich kennenlernen!"

    Lange musste er nicht warten. Schon um die Mittagszeit des folgenden Tages entdeckte man die Leichen zweier bekannter Gauner in einer schmutzigen Gasse im Roten Viertel. Praktischerweise trugen sie Beutestücke aus dem Einbruch mit sich. Dass einer von ihnen früher Aufträge für die Sverrig erledigt hatte, wurde zwar zur Kenntnis genommen, regte aber niemanden zu weiteren Überlegungen an. Was sollte ein so mächtiges und ehrenwertes Haus auch mit einem simplen Raubzug zu tun haben? So hätte ich auch gedacht, wenn ich Sigrid Sverrig nicht erlebt hätte. Sie war schnell. Doch die Rote Witwe war schneller.

    Als ob dieser Tag nicht schon genug Überraschungen auf Lager gehabt hätte, spielte plötzlich das Wetter verrückt. Mitten im Spätsommer begann es zu schneien. Zuerst fanden die Leute das lustig. Solange sich das Geschehen auf einige wenige Schneeflocken beschränkte. Die Kinder freuten sich. Bis der Schneesturm einsetzte.

    "Unternimm etwas", forderte mich Agnatha auf, die sich endlich wieder einmal meldete. "Setz die Wettertafel ein. Aber achte darauf, dass du sie nicht mit einer offenen Wunde berührst. Und beeil dich!"

    Das letzte Mal, als ich das Geschenk der Mondelfen benutzt hatte, war das Ergebnis ein kleiner Wirbelsturm gewesen. Eine solche Vorgehensweise kam hier nicht in Frage. Eine Windhose in einem Schneesturm? Keine gute Idee. Also nicht das Windsymbol. Vielleicht das Sonnenzeichen? Eine Hitzewelle war genau, das, was ich jetzt benötigte. Vorsichtshalber beschränkte ich mich auf einen Blutstropfen, den ich auf das Objekt fallen ließ, bevor ich es auf das draussen tobende Wetterchaos richtete. Zunächst geschah gar nichts. Dann setzte der Schneefall für einen kurzen Moment aus, um heftigen Regenfällen Platz zu machen. Das Strassenpflaster dampfte, wo es von dem Niederschlag getroffen wurde. Später erzählten mir Leute, die sich zu diesem Zeitpunkt im Freien aufgehalten hatten, von leichten Verbrühungen. Durch Regentropfen!

    Während ich dieses Geschehen noch ungläubig betrachtete, unterlief mir eine kleine Unachtsamkeit. Etwas Blut rieselte auf das Windsymbol. Schon erhob sich ein pechschwarzes Gebilde aus rotierender Luft, weit aufragend, bis zu den höchsten Wolken. Es gab ein Grollen von sich, das sich fast wie der Versuch anhörte, etwas zu sagen. Zu mir zu sprechen. Als ob es auf Befehle wartete. Ich stand starr da, ohne einen Laut von mir zu geben. Schließlich verblasste die Erscheinung, um sich zuletzt in Nichts aufzulösen. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie hätte lenken können. Was für eine Macht in diesem kleinen Gegenstand verborgen war! Wie viele davon gab es noch? Dazu kamen die Blutsteine. Meister Nossfu verfügte über einen, aber auch Sigrid Sverrig und nun auch noch die Rote Witwe, nachdem sie das Exemplar meines Onkels an sich genommen hatte. Unsere Welt war übersät von den gefährlichen Hinterlassenschaften eines vergangenen Zeitalters. Das war unser wahres Problem.

    An diesem Schneesturm war nichts natürlich gewesen. Ich nahm an, dass jemand in der Alten Mühle mit dem Wetter experimentierte, wobei er sich vermutlich des Blutsteins bediente. Jetzt wussten sie da drüben, dass wir uns wehren konnten. Worüber sie sich sichtbar ärgerten. Aus heiterem Himmel schlugen Blitze an mehreren Orten in der Stadt ein und setzten einige Gebäude in Brand. Bevor ich über Gegenmaßnahmen nachdenken konnte, beruhigte sich die Lage wieder. Ein Gleichgewicht des Schreckens hatte sich herausgebildet. Ich war imstande, ihren Unterschlupf mit Sturm. Gewitter und Hagel hinwegzufegen. In ihrer Macht lag es, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Beide Seiten mussten wohl andere Wege beschreiten, um in diesem Konflikt zu obsiegen, ohne selbst vernichtet zu werden.

    Auf weitere Nachrichten Agnathas oder der Roten Witwe wartete ich an diesem Tag vergeblich. In letzter Zeit schienen sie sich auf eigenartige Weise zu ergänzen. Arbeiteten sie am Ende zusammen? Und warum konnten sie mich jederzeit über den Spiegel erreichen, ich sie aber nicht? Zeit für ein kleines Experiment. Ich holte den Spiegel hervor. Sollte ich es mit Blut versuchen? Relikte aus dem Alten Reich pflegten auf den roten Lebenssaft anzusprechen. Nach meinem Erlebnissen mit der Wettertafel hielt ich es aber für klüger, zunächst etwas anderes zu versuchen. "Sturm Tochter", sagte ich in der Sprache des Alten Reiches. "Tak Ulik". Ich berührte die Glasfläche und wiederholte die Ansprache mehrfach. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Wellen umspülten meine Füße. Ich hatte es geschafft! Nicht nur, den Spiegel als Sender zu benutzen. Ich befand mich auf Agnathas Insel, exakt dort, wo ich mich das erste Mal wiedergefunden hatte. Jetzt musste ich sie nur noch ausfindig machen..

    Ein Windstoss zerwühlte meine Haare und wirbelte den Sand auf, der sich, sobald er den Boden berührte, zu einer Botschaft formierte.

    "Die Spiegel sind nicht sicher", las ich. "Keine Experimente mehr!"

    Darunter stand, in einer anderen Handschrift: "Trotzdem, eine gute Leistung!".

    Das war vermutlich die Rote Witwe. Im Gegensatz zu der Sverrigtochter blieb sie immer höflich und hatte gelegentlich auch ein gutes Wort für mich übrig.

    Meine Umgebung änderte sich. Da war ich wieder, an meinem Schreibtisch, den Spiegel in der Hand.

    Von jetzt an hieß es warten, bis Agnatha oder Meg Bess auf einem anderen Wege mit mir in Kontakt traten. Ich wusste nicht, was ich auf eigene Faust hätte unternehmen können. Also blieb mir nichts anderes übrig, als morgen den albernen Tag der Jugend durchzustehen. Welches Mädchen sie mir auch zusprechen würden, die Rote Witwe hatte recht. Wenn wir am darauf folgenden Tag scheitern sollten, musste ich mich nicht sehr lange mit ihr herumärgern.

  • Kräuter und die Mondelfen

    23.Kapitel

    Der Tag der Jugend

    3.Teil


    Endlich war er da, der große Tag. Die Kutschenunternehmen machten das Geschäft des Jahres, weil keine Familie bei dieser Gelegenheit am Auftritt ihrer Ehekandidaten sparen wollte. Netterweise hatte mir Großmutter Swanhild eines der sippeneigenen Gefährte geschickt, so dass wir uns in dieser Hinsicht keine Sorgen machen mussten. Für Vetter Bernhard und seine Begleiterinnen konnte ich sogar eine zweite Kutsche organisieren. Das kostete mich nur eine kurze Anfrage.

    "Danke dir", sagte Bernhard. "Meine Mutter ist begeistert. Eine Wasa-Kutsche! Ich wünsche dir viel Glück bei der Auswahl. Möchtest du immer noch übrig bleiben?"

    "Das wäre mir am liebsten", bestätigte ich. "Dir nicht?"

    "Es gibt noch eine Zwischenlösung", meinte er. "In diesem Jahr sind zwei taubstumme Mädchen dabei. Wäre das nicht ideal? Du hast deine Ruhe und bist trotzdem verheiratet!"

    Hier lag er falsch, der gute Vetter. Taubstumme wurden nämlich, von Kindesbeinen an, in derselben lautlosen Gebärdensprache unterrichtet, die sie uns auch in der Jugendmiliz zu militärischen Zwecken beibrachten. Sie konnten sich sehr gut ausdrücken, auch ohne Lärm zu machen. Wie oft hatte mir Großmutter Elsa auf die Schulter getippt, um mir anschließend eine zwar stumme, aber umso eindrucksvollere Strafpredigt zu halten. Ich hätte Bernhard auf diese kleine Logiklücke in seiner Argumentation aufmerksam machen können, sah aber davon ab. Die Wirklichkeit würde ihn früh genug einholen.

    "Entschuldigung, junger Herr", sprach mich einer der Wasa-Kutscher an. "Wollt Ihr Eure Privilegien geltend machen? Dann winkt uns die Miliz durch, und wir geraten nicht in den Verkehrsstau."

    "Der junge Herr", mischte sich Tante Meg ein, die sich inzwischen zusammen mit Thusnelda und Tante Emma zu uns gesellt hatte, "verzichtet gerne. Die Hohen Häuser sind schließlich schon unbeliebt genug. Das müssen wir ja nicht auch noch anfeuern."

    "Ihr habt es gehört", wandte ich mich an den Kutscher. "Nicht, dass ich hier irgendetwas zu melden hätte!"

    Nachdem mir Tante Meg für diese Bemerkung eine leichte Kopfnuss verpasst hatte, kletterten wir in das Gefährt. Tante Emma putzte sich geräuschvoll die Nase, sobald sie Platz genommen hatte. Sie war in einen schweren Wintermantel gehüllt. Dazu passten ein langer Schal, den sie mehrfach um ihren Hals gewickelt hatte, und eine Bommelmütze, alles in den Wasafarben. Ihr Kleidungsstil war immer gewöhnungsbedürftig gewesen, aber heute hatte sie sich selbst übertroffen, zumal es noch einigermaßen warm war.

    "Du Ärmste", bedauerte Thusnelda, die sich für eine Aufmachung entschieden hatte, welche der spätsommerlichen Witterung weitaus besser gerecht wurde. Ein leichter Mantel aus feinster Wolle und ein seidenes Kleid in dezenten Farben, sehr kleidsam, aber auch nicht gerade billig. Dafür hatte der Schwiegeronkel eine Menge Bier brauen und verkaufen müssen. Gegen Tante Megs schlichte Eleganz kam sie aber nicht an. Das fiel ihr jedoch nicht auf, weil sie viel zu beschäftigt damit war, sich bei Emma einzuschmeicheln. Eine Wasa als beste Freundin! Ihr sozialer Aufstieg sollte kein Ende nehmen.

    "Es wird Zeit, dass endlich etwas gegen den Schnupfen erfunden wird", bemerkte sie.

    "Das kommt nur von diesem plötzlichen Kälteeinbruch gestern", entgegnete Tante Emma. "Ob sich so ein besonders harter Winter ankündigte?"

    "Und wenn schon", sagte Tante Meg. "Erstens ist das Wetter ja wieder besser geworden. Und zweitens hat sich die Stadt gut auf alles vorbereitet. Wir haben genug Brennholz, Kohle und Vorräte. Mach dir keine übertriebenen Sorgen, Emma!"

    Es gab keine Krankheit, die Tante Emma nicht bei sich entdeckte, sobald sie von dieser gehört hatte, weshalb sie zu Tante Megs Dauerpatientinnen zählte. Obwohl sie kerngesund war, abgesehen von ihrer leichten Erkältung, die sie offenbar für lebensbedrohlich hielt. Bevor sie all ihre eingebildeten Leiden aufzählen konnte, wechselte ich lieber das Thema.

    "Wo steckt eigentlich Vetter Lars?", fragte ich. "Es heißt, er ist unten an der Grenze."

    "Da unten gibt es wohl Bauernunruhen. Wegen vermisster Kinder. Lars soll die Ruhe wieder herstellen. Ein sehr wichtiger Einsatz, streng vertraulich. Mehr weiß ich nicht."

    Das glaubte ich ihr gerne. Ich hätte Emma auch keine Geheimnisse anvertraut.

    "Und die Yggdrasil?", forschte ich weiter. "Geht es ihnen wirklich so schlecht?"

    "Ildico habe ich gestern noch gesehen", erinnerte sie sich. "Von einer Erkrankung war nichts zu bemerken."

    "Und ihr Vater befindet sich auf dem Weg der Besserung", fügte Tante Meg hinzu. "Ich habe ihn selbst behandelt."

    "Davon müssen die Leute unbedingt erfahren", stellte Thusnelda fest und ging zu einem Kurzvortrag über, in dem sie die Machtverhältnisse in der Bergstadt und die Intrigen der großen Familien so kenntnisreich und prägnant darstellte, dass selbst Tante Meg interessiert zuhörte. Ich dachte an den Alten Mann, der Ähnliches zuwege gebracht hatte. Die meisten Berstädter konnten das. Von Ausnahmen abgesehen.

    Tante Emma sah Thusnelda verwundert an und sprach: "Es wird schon alles gut werden!", in einem Ton, als ob sie zu Zweitklässlern redete. Oder eher Vorschülern. Die Kutsche hielt an. "Oh, wir sind da", rief Emma. "Ich bin ja so aufgeregt. Wen wir wohl diesmal in der Familie begrüssen dürfen?" Sie war etwa vierzig Jahre alt, sah aber deutlich jünger aus und hatte sich erfolgreich ihr kindliches Gemüt bewahrt.

    "Die Wetten stehen zwei zu eins für Hildegard Sverrig als Gustavs künftige Ehefrau", bemerkte Thusnelda kühl. "Zehn zu eins für Hulda Silma, zwanzig zu eins für Sonstige und fünfzig zu eins, dass er übrig bleibt. Was so gut wie keiner glaubt."

    "Sind Wetten nicht verboten?", fragte ich recht naiv.

    "An sich schon", erläuterte Tante Meg. "Aber bei kleinen Summen sieht die Miliz weg. Man will den Leuten nicht ihr harmloses Vergnügen nehmen. So, und jetzt raus hier. Sonst kommen wir noch zu spät."

    "Kaum war ich aus der Kutsche ausgestiegen, kam mir auch schon Schlichter entgegen geeilt. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn lediglich für ein wenig aufgeregt gehalten. Ich wusste es besser. Der Mann war nicht weit von einem Panikanfall entfernt.

    "Du musst sofort mitkommen!", stieß er atemlos hervor. "Soße", beantwortete er meine fragenden Blicke.

    "Ein Rückfall?", vermutete ich. Er nickte. Im Laufschritt drängelten wir uns durch die Menschenmassen, die sich vor der Halle des Volkes versammelt hatten. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Als ob da nicht größere Sorgen gewesen wären. Der Himmel hatte sich zugezogen. Es sah ganz nach einer Gewitterfront aus. Vermutlich eine Machtdemonstration unserer Feinde in der Alten Mühle. Oder gar die Vorbereitung eines Angriffs. Ich entsann mich der großen Flut vor sieben Jahren. Der Bergfluss hatte die halbe Stadt unter Wasser gesetzt. Am liebsten wäre ich im Freien geblieben, um jederzeit mit meiner Wettertafel zurückschlagen zu können, sobald die Gegenseite Regen, Sturm, Hagel oder Schnee zum Einsatz bringen sollte. Aber ich musste ja an dieser dämlichen Veranstaltung teilnehmen, die mir nur die Zeit stahl. Drücken konnte ich mich nicht. Das hätte zu viele Fragen aufgeworfen, die ich lieber vermeiden wollte. Das kam davon, wenn man zu viele Geheimnisse ansammelte.

    Schlichter führte mich zu einem versteckten Winkel, wo uns Lehrer und Soße erwarteten. Lehrer sah mich Hilfe suchend an. Soße starrte blicklos vor sich hin.

    "He Soße!", sprach ich ihn an. Keine Reaktion. Ich kniff ihn in die Wange, zog an seinen Ohren und verpasste ihm schließlich sogar ein paar leichte Ohrfeigen.

    "Haben wir alles schon versucht", erläuterte Lehrer. "Hast du nicht ein Mittelchen parat? Den Berserkertrank vielleicht? Ein kleines Schlücklein?"

    "Zu gefährlich", lehnte ich ab. "Ohne das Ergänzungsmittel und die Augentropfen. Und wie wollten wir dann die leuchtenden Augen erklären? Aber wartet mal." Aus einer der Innentaschen meines Mantels förderte ich ein Fläschchen zu Tage.

    "Was ist das?", wollte Schlichter wissen.

    "Der Rauschlöscher", gab ich zurück. "Auf Besoffene wirkt er ernüchternd. Vielleicht verhilft er Nüchternen ja zum Gegenteil, einer gewissen Beschwingtheit, die Soße aus seiner Starre heraus reißt."

    "Vielleicht?", wiederholte Lehrer entsetzt. "Das ist doch reine Spekulation!"

    "Zumindest wird es ihm nicht schaden", rechtfertigte ich mich. "Irgendwas müssen wir unternehmen. Falls er dem Tag der Jugend fern bleibt, gilt er als übrig geblieben. Das können wir nicht zulassen!".

    Praktischerweise war Soßes Mund bereits halb geöffnet. Ich flößte ihm die Hälfte des Flascheninhalts ein. Wir warteten. Bis der Gastwirtssohn plötzlich sagte: " Na, nervös, Leute?"

    "Wer, wir?", fragte Schlichter verblüfft. Soße klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. "Mach dir keine Sorgen", riet er. "Wenn du die Ruhe bewahrst, kann dir gar nichts passieren. Morgen treffen wir uns bei mir, mit unseren Bräuten. Das wird nett!" Mit diesen Worten schlenderte er davon, direkt auf eine Gruppe von Mädchen zu, und sprach sie an. Etwas, was er früher nie gewagt hätte. Es dauerte nicht lange, bis er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der jungen Frauen stand. Sie himmelten ihn an. Er ließ es sich mit einem weltmännischen Lächeln gefallen.

    "Was hast du da wieder zusammengebraut?", stöhnte Lehrer. "Zumindest ein Problem ist gelöst", stellte Schlichter nüchtern fest.

    Ein Gong ertönte. "Es geht los", kommentierte er. Vor dem Eingang der Halle bildete sich eine lange Schlange. Traditionell würden die Mädchen zuerst eintreten, gefolgt von uns und zuletzt den Familienmitgliedern. Bevor wir uns anstellen konnten, wurden wir von unseren Verwandten abgefangen. Tante Meg umarmte mich so fest, als ob ich in den Krieg ziehen würde. Dabei war der Tag der Jugend das Harmloseste meiner gegenwärtigen Unternehmungen. Das wusste sie aber nicht.

    "Ich bin sicher, dass der Familienrat die richtige Entscheidung für dich trifft", versicherte sie mir voller Vertrauen in die Obrigkeit. "Heute abend feiern wir mit der Familie deiner Zugesprochenen. Und hör endlich auf, dir zu wünschen, dass du übrig bleibst!"

    "Viel Glück", rief Emma und winkte mir zu. Thusnelda lächelte nur. Ich winkte zurück und machte mich auf die Suche nach meinen Freunden. Schlichter und Lehrer hatten sich ein wenig von den anderen Wartenden abgesondert und unterhielten sich leise. Als ich sie erreicht hatte, blickte Lehrer besorgt zum Himmel empor. "Schau dir diese schwarzen Wolkengebirge an", sagte er. "Das sieht nach schweren Regenfällen aus. Und einem heftigen Gewitter. Hälst du das für natürlich? Vielleicht hatten sie im Alten Reich Wettermaschinen, die im Krieg als Waffen eingesetzt wurden. Es sieht ganz danach aus, als ob da jemand experimentiert. Hoffentlich kommt unser Angriff auf die Mühle noch rechtzeitig".

    Der Junge war wirklich nicht dumm. Ich hätte ihn einweihen können, aber der Zeitpunkt erschien mir nicht passend. Wobei mir auffiel, dass ich den Kameraden in letzter Zeit so Einiges verschwiegen hatte. Meine Begegnungen mit Agnatha, das Gespräch mit ihrer Mutter und nicht wenige Unterhaltungen mit der Roten Witwe. Offenbar neigte ich zur Geheimniskrämerei. Etwas, das man auch meinen Eltern nachgesagt hatte.

    "Du könntest recht haben", wandte ich mich an Lehrer. "Ein Schneesturm im achten Monat, und danach wieder schönes Wetter? Normal ist das nicht. Sie scheinen diese Technik aber noch nicht im Griff zu haben. Zum Glück geht es morgen Nacht endlich los. Bis dahin können wir sowieso nichts machen, außer diesen Zirkus hier durchzustehen."

    "Vielleicht sollte ich auch etwas von dem Zeug nehmen, das du Soße verabreicht hast", überlegte Schlichter. "Sieh ihn dir an. Die Sorglosigkeit in Person." In der Tat unterhielt unser Freund gerade eine größere Gruppe Mädchen mit souverän vorgetragenen Geschichten. "Die werden sich jetzt wahrscheinlich ihn als Ehemann wünschen. Etwas weniger von dem Stoff hätte wohl auch ausgereicht. Ich schätze, du hast überdosiert."

    Wieder war ein Gong zu hören. Der Familienrat ließ bitten. Diszipliniert warteten die Leute, bis endlich Bewegung in die Warteschlange kam. Für Ordnung sorgte die Miliz. Vetter Gerd leitete das Empfangskomitee am Eingang. "Ich weiß nicht, was ich dir wünschen soll", meinte er. "Möge das geschehen, womit du hinterher zufrieden bist. Hier deine Platzkarte. Reihe 11, Platz 7.

    Nachdem ich meinen grünen Wasamantel an der Garderobe abgegeben hatte, betrat ich den Versammlungssaal. Ganz unten befand sich eine Bühne, auf der des Öfteren Theaterstücke oder Singspiele geboten wurden. Manchmal, im Rahmen von politischen Diskussionen, stand dort auch eine Rednertribüne. Der Familienrat hatte sich mit einem kleinen Schreibtisch begnügt, hinter dem drei Personen saßen, zwei Frauen und ein Mann. Von ganz oben waren ihre Gesichter nicht zu erkennen. Ich schritt herab, an den Sitzreihen vorbei, bis ich an meiner angelangt war. Onkel Gerd persönlich überprüfte meine Karte.

    "Auf dich sind alle gespannt", vertraute er mir an und gestand gleich eine kleine Gesetzesübertretung. "Ich habe drei Taler auf Hulda Silma gesetzt. Die würde am besten zu uns passen".

    Zumindest wäre das Mädchen verträglicher als Thusnelda, von Hildegard ganz zu schweigen, solange man ihre Schuhsammlung nicht anrührte. Links von mir hatte der Rotfuchs Platz genommen. Soße winkte mir von der zehnten Reihe aus jovial zu. "Wird schom gut gehen", rief er. "Der hat die Ruhe weg", bemerkte mein Nebenmann. "Dabei habe ich gehört, er hätte den Koller." Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, setzte sich Vetter Bernhard neben mich. Die Frauen hatten ihn herausgeputzt wie ein Paradepferd. Sogar ein Rüschenhemd musste er tragen. Es gab Schlimmeres als meine Wasa-Tracht.

    Eine Glocke bimmelte. Dank der Akustik des Kuppelbaus war sie überall sehr gut zu vernehmen. Irgendwie sorgte die Form des Gebäudes dafür, dass sich der Schall gleichmäßig verteilte. In einem Würfelbau hätte es sich anders verhalten, der Himmel mochte wissen, warum. Ich jedenfalls wusste es nicht, was am Ergebnis meiner diesbezüglichen Klassenarbeit leicht abzulesen war. Eine Berufsempfehlung als Baumeister konnte ich vergessen. Die Gespräche erstarben. Bald würde das immer gleiche Ritual beginnen. Die Sprecherin des Rates las den Namen des Mädchens vor, das sich hinunter zur Bühne begab und wartete, bis man den Namen des Jungen aufrief. Beide würden einander zugesprochen, und schon wären die Nächsten an der Reihe. Nicht sehr feierlich, aber trotzdem spannend. Für die, die es anging.

  • Ach, ich muss immer noch warten und weiß nicht, wen Kräuter nun zugesprochen bekommt. Und ob die Feier überhaupt so ablaufen wird, wie man es erwartet. Und dann diese Wetterkapriolen. Die lassen Schlimmes ahnen. Sehr aufregend. Du machst es wirklich spannend. Und dazwischen immer so kleine Schmunzler wie der Rauschlöschertrank. Gefällt mir sehr gut, dass das Ganze nicht zu ernst gerät. Kann gerne weitergehen.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Kräuter und die Mondelfen

    23.Kapitel

    Der Tag der Jugend

    4.Teil

    So gut war die Akustik in dem Saal, dass man sogar das Rascheln der Papiere hören konnte, mit denen die Vertreter des Familienrates hantierten. Einer Theorie zufolge war dieses Gremium einst aus einem Priesterinnenkollegium hervorgegangen, das Inanna gedient hatte, der Göttin der Liebe und gleichzeitig des Krieges. Eine qualifiziertere Spezialistin für das Eheleben ließ sich wohl nur schwer finden.

    Ohne jede Ankündigung begann die Zeremonie. "Thekla Trygvasson", sagte die ältere Frau, die in der Mitte saß, ohne dabei besonders laut zu werden. Wie in einem normalen Gespräch mit einem Tischnachbarn. Dennoch kamen ihre Worte so klar und deutlich bei mir an, als ob sie sich neben mir befände. Diese Akustik hatte es wirklich in sich. Vielleicht sollte ich mich doch ein wenig mit der Materie beschäftigen.

    Ein Mädchen mit langen, braunen Haaren trat vor und wartete, bis der Name ihres Zukünftigen genannt wurde. Beide kannte ich nur flüchtig. Doch sie würden einander bald sehr gründlich kennen lernen. Bis dass der Tod sie schiede. Was für ein Gedanke! Erst jetzt wurde mir die Bedeutung dieses Abends bewusst. Hier und jetzt wurden unsere Leben geformt. Viel einschneidender als fast alles andere, was uns noch widerfahren mochte. Von Krankheit und Tod natürlich abgesehen, und dem Weltuntergang.

    Nach einigen Durchgängen kam der erste meiner Freunde an die Reihe. Ausgerechnet Soße. Wie von mir vorhergesagt, verpassten sie ihm eines der Bauernmädchen, Helga Olson. Galant bot er ihr seinen Arm an. Offensichtlich wirkte das Mittel noch. Gemeinsam schritten sie die Stufen empor, zu den anderen mehr oder weniger glücklichen Paaren, die nun ganz oben standen und auf das Ende der Vorstellung warteten. Sie hatten es hinter sich. Bei den anderen ging das Zittern weiter.

    Für die erste Überraschung sorgte Schlichter. Aufgerufen wurde zunächst eine Svenja Dull, die ich erst auf den zweiten Blick erkannte. Das Blumenmädchen vom Friedhof. Die Enkelin des Veilchen Jörg, eines mutmaßlichen kleinen Gauners, dem man aber nie etwas nachweisen konnte, und Veteranen zahlloser Kneipenschlägereien. Und ihr Zugesprochener war Giselher Tyr. Der Richtersohn. Das würde eine Familienfeier werden! Schlichter schien die Entscheidung Spass zu machen. Seiner Braut auch. Ich hätte etwas dafür gegeben, jetzt die entsetzten Mienen der würdigen Rechtsgelehrten betrachten zu dürfen. Bislang waren ihre Sippen stets untereinander verheiratet worden, womit der Familienrat nun entschlossen Schluss gemacht hatte. Wohl in der Überzeugung, die edlen Herrschaften benötigten dringend eine Blutauffrischung. Dem konnte ich nur beipflichten. Ein Mann wie Veilchen Jörg war sicher imstande, der Richterschaft das Leben der kleinen Leute näher zu bringen.

    Wer darauf gewettet hätte, dass dies die größte Überraschung des Abends werden würde, wäre allerdings seines Einsatzes verlustig gegangen. Denn nach vorne gebeten wurde als Nächste Hildegard Sverrig. Wie ihre Vorgängerinnen musste auch sie abwarten, bis sie den Namen ihres zukünftigen Gatten erfahren durfte.

    Es war Gunther Palm. Besser bekannt als Lehrer. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was ihm da widerfuhr. Er stolperte mehr herunter zum Familienrat, als er ging, und als er an Hildegards Arm auf dem Rückweg an mir vorbei schritt, wirkte er wie hypnotisiert. Erstaunlich, dass er durch seine beschlagenen Augengläser überhaupt etwas sehen konnte. Hildegard hingegen machte keinen enttäuschten, sondern eher einen nachdenklichen Eindruck. Wahrschienlich stellte sie sich die Frage, welche Folgen dieser Schachzug für die Interessen ihrer Familie wohl mit sich bringen würde. Und welche politischen Schlussfolgerungen sich hieraus ergeben mochten. Armer Lehrer. Als angeheiratetes Mitglied des Sverrig-Clans von bescheidener Herkunft würde er wenig zu lachen haben. Ein altes Sprichwort kam mir in den Sinn. Überlege dir deine Wünsche genau. Sie könnten wahr werden!

    Für meinen größten Wunsch durfte das gerne zutreffen. Es sah gut aus. Denn Hulda Silma, die Schuhprinzessin, wurde mit einem Borg verbunden. Die größten Gefahren waren an mir vorbei gezogen. Nach und nach traten meine übrigen Freunde vor, um ihre Zugesprochenen in Augenschein zu nehmen. Schönhaar und der Alte Mann, Glaser und Kleiner, bei keinem gab es noch große Überraschungen. Die Mädchen stammten sämtlich aus Familien mit ähnlichem ständischen Hintergrund. Schließlich waren noch zehn junge Frauen übrig. Neben mir wurde der Rotfuchs immer nervöser, während mein Vetter Bernhard wie die Ruhe selbst erschien.

    "Noch ist ein taubstummes Mädchen zu haben", ermunterte ich ihn trotzdem. Und diese Ehekandidatin sprachen sie ihm tatsächlich zu. Der Rotfuchs bekam zu seiner größten Erleichterung die Drittletzte ab. Und dann war es vorbei. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich war übrig geblieben!

    Die beiden anderen Jungs, denen dasselbe Schicksal widerfuhr, saßen wohl hinter mir. Sie taten mir leid. Ein wenig bedauerte ich auch Tante Meg, die nun keine neuer Schwiegertochter würde begrüssen können. Aber wirklich nur ein wenig. Bei ihr hatten sich dank des Tages der Jugend alle Wünsche erfüllt. Der ideale Ehemann und Kinder. Jetzt war ich an der Reihe. Ein eigenes Haus ganz für mich allein, die Einnahmen aus dem Verkauf meiner Hautsalbe und freie Bahn im Roten Viertel, das mich immer schon fasziniert hatte. Zumindest vorbei schauen konnte ich ja dort einmal.

    Die Leute vom Familienrat raschelten immer noch mit ihren Papieren. Gleich würden sie sich erheben und die Veranstaltung verlassen, ohne ein Abschiedswort, wie es ihre Art war. Dem Mann, wohl eine Hilfskraft, würde die Aufgabe zukommen, die Papiere zusammen zu räumen und zum Sitz des Rates zu tragen, wo immer das auch sein mochte. So war es seit jeher. Doch etwas stimmte nicht. Gab es da noch eine Kandidatin? Die zu spät kam? Von so etwas hatte ich noch nie gehört. Das konnte gar nicht sein.

    Und dennoch rief die ältere Frau einen weiteren Namen auf. Ildico Wasa. Die Ehefrau meines Vetters Lars. Der ganze Saal schien den Atem anzuhalten. In dieser Stille hätte man den Flügelschlag eines Schmetterlings vernehmen können. Mir wurde klar, dass sich gleich etwas Unerhörtes abspielen würde. Die wahre Überraschung des Abends.

    Jemand ging die Treppe hinunter. Ein klackendes Geräusch ließ mich vermuten, dass die Betreffende Stiefel mit hohen Absätzen trug. Als ich mich umdrehte, sah ich sie vorüber gehen. Die Frau war nicht nur attraktiv. Sie war perfekt, wie eine zum Leben erweckte Statue. Symmetrie, so hatte der weise Albert gelehrt, sei der Faktor, der aller Schönheit zugrunde läge. Ildicos Anlitz entsprach diesem Ideal ganz und gar. Wenn auch um den Preis einer gewissen Leblosigkeit. Mitunter hatte ich sie bei gesellschaftlichen Anlässen gesehen. Nie hatte sie eine Miene verzogen. So stellte ich mir die Göttin Inanna vor, an die Leute früher geglaubt hatten. Erhaben. Unerreichbar. Allem Menschlichen fremd. Ein bisschen irritierend fand ich, dass sie ihr rotblondes Haar zu einem strengen Knoten geflochten hatte, in dem genug Haarnadeln steckten, um eine halbe Kompanie abzuwehren. Befürchtete sie einen Angriff?

    In einen kostbaren Pelzmantel gehüllt, schritt sie majestätisch einher, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Als sie vor dem Familienrat stand, hielten die Leute hinter mir immer noch die Luft an. So schien es mir wenigstens. Und dann wurde ein weiterer Name genannt.

    Gustav Wasa. Jetzt konnte ich nachvollziehen, wie sich Lehrer gefühlt haben mochte. Die Wirklichkeit zersplitterte und machte dem Unmöglichen Platz. Oder dem, was man dafür gehalten hatte. Ich erhob mich und ging nach unten, nicht so hoheitsvoll wie Ildico, aber wenigstens, ohne zu stolpern. Schließlich stand ich neben ihr. Sie war genauso groß wie ich. Und wirkte nicht besonders interessiert an dem, was hier gerade vorging.

    Die ältere Frau ließ sich von der jüngeren eine Dokument reichen. "Ildico Wasa", begann sie. "Haltet Ihr an Eurem Antrag auf Neubesetzung Eurer Ehe mit Lars Wasa, geschlossen am elften Tag des achten Monats des Jahres der Aufklärung 79, fest?"

    "Ich halte an dem Antrag fest", erwiderte Ildico mit heller, klarer Stimme.

    "Wollt Ihr weiterhin Ziffer drei, Absatz 2 des Familienvertrages zwischen dem Hause Yggdrasil und dem Hause Wasa vom ersten Tag des achten Monats des Jahres 79 der Aufklärung in Kraft setzen?"

    "Das will ich".

    Die Sprecherin des Rates wandte sich an mich. "Ist dir die entsprechende Bestimmung bekannt?"

    "Nein", antwortete ich wahrheitsgemäß.

    "Ingrid", forderte sie ihre jüngere Kollegin auf. "Trage bitte vor".

    Es folgte ein trockener Rechtstext, den ich ganz und gar nicht langweilig fand, weil er mich betraf.

    "In dem Falle, dass die Ehe aufzuheben ist, wegen nachweislicher Untauglichkeit des Gatten, ist die Partei der Gattin berechtigt, den Eintritt des Nacherben der Partei des Gatten in die Ehe und dessen Aufstufung zum Ersterben der Partei des Gatten zu verlangen."

    "Hast du das verstanden?", wollte die ältere Frau wissen.

    "Ich bin jetzt Ersterbe der Wasa und der neue Ehemann Ildicos?", fragte ich entgeistert.

    "Korrekt. Doch ist deine Zustimmung erforderlich. Stimmst du zu?"

    Mir brannten tausend Fragen auf der Zunge. Wieso sollte Lars auf einmal ein untauglicher Ehemann sein? Er galt als einer der besten Athleten der Stadt und als Schwarm aller Frauen. Nie hatte ich von Problemen in seiner Ehe gehört. Und was war das für ein Vertrag? Was stand da noch drin? Wie kam Großmutter Swanhild dazu, mich in eine solche Lage zu bringen? Hatte sie mich deswegen legalisiert? Und wieso hatte sie mich nicht vorgewarnt?

    Doch war mir klar, dass sich jetzt ein zögerliches Verhalten verbot, von einem Nein ganz zu schweigen. Damit hätte ich das Bündnis der Wasa mit den Yggdrasil zerstört, mit unabsehbaren Folgen. Das lag in meiner Macht. In diesem Augenblick. Die Stadt ins Chaos zu stürzen. Einen Bürgerkrieg auszulösen. Es kam mir so vor, als ob ich auf einem hohen Turm stünde und den Sog der Tiefe spürte. Vielleicht war es wirklich diese dunkle Faszination allein, die manchen Selbstmörder dazu brachte zu springen, ohne dass ein weiteres Moriv dazu kommen musste. Ich widerstand dieser seltsamen Versuchung und verkündete statt dessen: "Ich stimme zu."

    Die Sprecherin machte es offiziell: " Ich stelle fest, dass die Ehe, geschlossen am elften Tag des achten Monats des Jahres 79 der Aufklärung, unter Beibehaltung der Gattin, Ildico Wasa, fortgesetzt wird unter Hinzufügung des zum Ersterben des Hauses Wasa erhobenen neuen Gatten, Gustav Wasa."

    Ich war verheiratet! Und hatte zusätzlich noch die Betreuung Ildicos zu schultern. Dabei reichten mir meine eigenen Angelegenheiten völlig. Da kam mir eine Idee.

    "Habt Ihr zufällig einen Freiheitsbrief hier?", fragte ich die Frauen. Die Ältere sah mich verwundert an.

    "Willst du dir das nicht noch einmal überlegen?", gab sie zu bedenken. "Das wäre eine folgenschwere Entscheidung. Du würdest die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen verlieren. Sie könnte ohne deine Genehmigung Einkäufe tätigen, Geschäfte abschließen und sogar einen Beruf ergreifen."

    "Das macht nichts", behauptete ich kühn. "Außerdem ist das doch lächerlich. Sie in meiner väterlichen Frauensorge. Sie ist vier jahre älter als ich. Eigentlich müsste sie auf mich aufpassen!"

    Damit erzielte ich bei den Ratsfrauen einen kleinen Heiterkeitserfolg. Ildico, die mich bis dahin ignoriert hatte, warf mir einen kurzen Blick zu. Aus grünen Augen. Das intensivste grün, das ich je gesehen hatte. Katzenaugen. Einen ganz kurzen Moment lang glaubte ich den Anflug eines Lächelns auf diesem marmornen Anlitz wahrgenommen zu haben. Ich konnte mich aber auch irren.

    "Nun", sagte die jüngere Frau,"ich hätte hier ein Formular. Wenn du es wirklich ernst meinst?"

    Bis zur Erfindung der Druckerpresse hatte sich der Umfang des Papierkriegs in Grenzen gehalten. Diese glücklichen Zeiten waren leider vorbei. Für alles gab es Formulare. Ich las mir das Schriftstück sorgfältig durch, nahm die Eintragungen vor, die als "Pflichtangaben" gekennzeichnet waren, und unterschrieb. Die Sprecherin nahm mein Werk entgegen und wandte sich Ildico zu. "Du musst auch noch unterzeichnen".

    Meine neue Ehefrau nickte, griff sich in ihren Haarknoten, entfernte ohne hinzusehen die Haarnadeln und drückte sie mir in die Hand, während sie ihre lange Mähne schüttelte.

    "Vorsicht", warnte sie. "Die Spitzen sind vergiftet."

    Sie unterzeichnete ebenfalls und übergab der älteren Frau das Dokument, die es in Augenschein nahm, zufrieden nickte und anschließend die Glocke betätigte, was überflüssig war.

    Immer noch vernahm man keinen Laut in der Halle. Für Ruhe musste wirklich nicht gesorgt werden.

    "Die väterliche Frauensorge für Ildico Wasa" verkündete die Sprecherin, "übergegangen auf Gustav Wasa im Augenblich seines Eintritts in die Ehe, wird beendet durch die Übergabe des Freiheitsbriefes nach- sie holte eine Taschenuhr hervor - neun Minuten."

    Die Yggdrasil-Tochter nahm das Stück Papier an sich, drehte sich zum Publikum um und hielt es empor.

    Das atemlose Schweigen, das seit Ildicos Aufruf herrschte, schlug um in den wildesten Tumult, den ich je erlebt hatte. Die Leute sprangen auf, trampelten mit ihre Füßen, klatschten und johlten.

    "Du hast gerade eine Revolution ausgelöst", belehrte mich Ildico.

    "Was für eine Revolution?", fragte ich verständnislos

    "Die väterliche Frauensorge", dozierte sie. "Seit langen Jahren kämpfen die Reformer dagegen, sind aber immer an den Traditionalisten gescheitert. Sie haben nie eine Mehrheit im Stadtrat zustande gebracht. Aber der heutige Tag ändert alles. Das wird den nötigen Schwung bringen. Jetzt müssen die Konservativen ihren Widerstand aufgeben! Und du stehst nun an der Spitze der Bewegung. Herzlichen Glückwunsch."

    "Reformer und Traditionalisten?", wiederholte ich zweifelnd. Das sagte mir gar nichts.

    " Hat deine Tante Meg dir denn nichts davon erzählt?", wunderte sich Ildico. "Sie hat sich immer an vorderster Front für die Sache eingesetzt".

    Natürlich. Das wunderte mich gar nicht. Ich kramte in meinem Gedächtnis. Mir war so, als ob so etwas Ähnliches schon einmal am Abendbrottisch zur Sprache gekommen war. Offenbar war ich seinerzeit irgendwie abgelenkt gewesen.

    "Einen Wermutstropfen gibt es aber auch", fügte sie hinzu. "Du hast jetzt jede Menge neue Feinde".

    "Nicht unbedingt", hoffte ich. "Vielleicht geben die Konservativen ja Tante Meg die Schuld und sagen. Der arme Junge, er steht ganz und gar unter ihrem Einfluss."

    "Möglich", räumte Ildico ein. "Hast du das vorher bedacht?"

    "Äh, nein", gab ich zu.

    "Dem wirst du noch Einiges beibringen müssen", sagte die Sprecherin des Rates zu Ildico. An der Spitze ihrer Gefolgsleute machte sie sich auf den Weg nach draussen. Kaum hatten sie die Halle des Volkes verlassen, stürmte Tante Meg nach vorn, um zuerst ihre neue Schwiegertochter und dann mich zu umarmen.

    "Er hat tatsächlich zugehört", rief sie begeistert aus. "Wie oft habe ich diesen vorgestrigen Unsinn zur Sprache gebracht. Väterliche Frauensorge! Wo leben wir denn? Im Dunklen Zeitalter? Es schien ihn gar nicht zu interessieren. Aber er hat zugehört. Das war der Durchbruch heute. Ich bin ja so stolz auf dich!"

    Noch einmal drückte sie mich an sich, um sich sodann Ildico zuzuwenden. "Willkommen in der Familie. Weißt du, zuerst habe ich gedacht, was macht er denn da? Es wäre doch viel schöner gewesen, wenn du deinen Freiheitsbrief während einer Feier überreicht bekommen hättest. So wie es bei mir war. Aber ich muss zugeben. Das gerade eben war noch viel besser. Er hat die ganze Zeit zugehört!"

    "Zweifellos hat er etwas gehört", versicherte Ildico mit undurchschaubarer Miene.

    "Platz da", ließ sich eine volltönende Stimme vernehmen. "Lasst mich durch zu meiner Familie"

    Vor uns baute sich einer der größten Männer der Stadt auf. Und der Bestaussehendste. Wenn Sigurd Yggdrasil nicht zufällig in eine der Hohen Familien hineingeboren worden wäre, hätte man ihm zu einer Karriere als Theaterschauspieler raten müssen. Das Publikum hätte ihm zu Füßen gelegen.

    Auf seine Weise war er genauso perfekt wie seine Tochter. Gebräunt, glänzendes, tiefschwarzes Haar, schlank, aber muskulös und breitschultrig, mit der Ausstrahlung eines geborenen Anführers. Wenn er einen Raum betrat, richteten sich alle Blicke auf ihn. Auf mich achtete in der Regel niemand. Er sah mich an, strich bedächtig über seinen Schnurrbart und klopfte mir dann mit solcher Gewalt auf die Schulter, dass ich in die Knie ging.

    "Genauso hätte es dein Vater gemacht", sagte er strahlend. " Überraschungsangriffe und Überrumpelungsmanöver, das waren seine Spezialitäten. Mit einem einzigen Schlag hast du erreicht, wofür andere jahrelang vergeblich kämpften. Keine Kritik, Meg".

    Meine Tante winkte ab.

    Jetzt packte Sigurd seine Tochter an den Schultern, hob sie hoch wie eine Puppe und sprach zu ihr: " Habe ich es dir nicht gesagt? Er kommt nicht nur nach seiner Mutter. Von seinem Vater steckt auch viel in ihm. Genau der richtige Mann für dich. So, es ist alles vorbereitet. Lasst uns zum Fest aufbrechen. Aber den Vorrang hat natürlich das glückliche Paar. Schreitet voran, ihr jungen Leute."

    Ildico bot mir ihren Arm, während ich vorsichtig und unauffällig die Haarnadeln in einer meiner Manteltaschen verschwinden ließ. Unter lautem Beifall strebten wir dem Ausgang entgegen. In der Menge entdeckte ich meine Freunde. Auf Soßes Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Offenbar ließ die Wirkung des Mittels nach. Lehrer putzte seine Brille. Und Schlichter signalisierte mir in unserer Gestensprache: " Herzlichen Glückwunsch zu deiner kleinen Revolution. Auch von Svenja. "Hast du gewusst, was du da tatest?"

    Ich verneinte. "Trotzdem, gute Aktion!"

    Draussen wartete, ich konnte es kaum glauben, eine goldene Kutsche auf uns.

    "Wo habt ihr die aufgetrieben?", fragte ich überrascht.

    "Keine Ahnung", erwiderte Ildico. "Vermutlich Kriegsbeute, die er einfach behalten hat. Vater ist eben immer für eine Überraschung gut. Wenn du mich nun in die Kutsche hebst, wie es der Brauch will, bevor mich dieser seltsame Schneeregen völlig durchnässt."

    Offenbar experimentierten sie in der Alten Mühle immer noch.

    Zweifellos wäre es als böses Omen angesehen worden, trotz aller Vernunfterziehung, wenn ich Ildico fallen gelassen hätte. Doch ich erledigte meine Aufgabe unfallfrei. Wäre dies eine richtige Hochzeit gewesen, hätte nun die Hochzeitsnacht angestanden. Aber in diesem Fall? Rein rechtlich betrachtet, war dies ein beliebiger Tag in einer bereits bestehenden Ehe.

    Was kam jetzt?

  • Kräuter und die Mondelfen

    24.Kapitel

    Ildicos Elixier

    Die Kutsche setzte sich in Bewegung.

    "Du hast mir doch den Freiheitsbrief nicht aus reiner Herzensgüte überreicht", begann Ildico unser erstes Ehegespräch. "Was bezweckst du wirklich damit? Eine ehrliche Antwort, bitte!"

    Nun, das konnte sie haben.

    " Am liebsten wäre ich übrig geblieben", entgegnete ich. "Ein ungebundenes Leben führen, wie mein Onkel Bernhard. Das Nächstbeste wären die drei freien Jahre gewesen. Statt dessen bin ich jetzt in einer Ehe gelandet. Da will ich wenigstens nicht auch noch deine persönlichen Angelegenheiten am Hals haben. Etwa dein Vermögen verwalten. So bleibt mir wenigstens noch ein bisschen Freiheit."

    Wir schwiegen. Nur das Prasseln des des Regens auf das Kutschendach war zu hören.

    "Findest du denn gar nichts Anziehendes an mir?", fragte Ildico schließlich.

    "Doch, natürlich", sagte ich schnell. "Du bist sehr schön. Geradezu absurd schön. Wie aus einem Gemälde ausgeschnitten."

    "Äh, danke", antwortete sie leicht irritiert.

    "Aber da ist noch der Altersunterschied", fuhr ich fort. "In meinem Jahrgang ist einer, den wir den Alten Mann nennen. Er ist neunzehn. Und du bist einundzwanzig. Nicht, dass man dir das ansähe. Aber du bist eben erwachsen. Tante Meg hält dich für die tüchtigste Schülerin. die sie je hatte. Schon mit fünfzehn so diszipliniert und vernünftig wie eine viel ältere Frau. Zu mir meinte sie, ich wäre äußerlich zwar siebzehn, aber innerlich, nun ja, vielleicht zwölf."

    "Und wie schätzt du dich selber ein?", fragte meine neue Gattin belustigt.

    "Fünfzehn?", versuchte ich einen Scherz. "Jedenfalls habe ich bei dir das Gefühl, meine Lehrerin geheiratet zu haben. Was mir eigenartig vorkommt."

    "Verstehe", meinte Ildico nachdenklich. "Weißt du, ich bin gar nicht so ernst und so erwachsen, wie es den Anschein hat. Ich kann auch ausgelassen und albern sein. Wir können Spass zusammen haben, du wirst schon sehen. Doch sind wir deswegen nicht nur Kumpel und Kameraden. Sondern auch Eheleute, die Kinder haben wollen. Dir ist doch klar, was dafür getan werden ...."

    "Danke, ich weiß Bescheid", unterbrach ich sie. "Immerhin habe ich ein Praktikum bei Meister Brehm gemacht."

    "Dem Tierheiler?"

    "Ja, bei der Pferdezucht zum Beispiel. Ist im Prinzip das Gleiche"

    "Na ja, nicht ganz. Aber sicherlich waren diese Lektionen lehrreich. Ich mag übrigens auch Pferde!"

    "Eine Frage noch", schnitt ich ein neues Thema an. "Wozu die vergifteten Haarnadeln?"

    "Oh, das ist wegen der Attentate. Wir haben angehalten. Wir sind da. Gleich wird jemand die Tür aufreißen."

    Und in der Tat, jemand riss tatsächlich die Kutschentür auf. Da stand Schwiegervater Sigurd, der es nicht nur geschafft hatte, uns zu überholen. Er hatte sich auch noch in eine Paradeuniform geworfen, die in den Farben der Yggdrasil gehalten war. Gold und Violett. Goldene Hosen, violette Stiefel, eine goldene Jacke und ein violetter Umhang. Jeder andere hätte in diesem Aufzug lächerlich ausgesehen. Doch nicht Sigurd Yggdrasil. Der Mann konnte alles tragen.

    "Hinaus mit dir", forderte er mich auf. "Zum grossen Ereignis. Und lass deine Frau nicht fallen."

    Das hätte sogar passieren können, denn was der Mann für unseren Empfang vorbereitet hatte, war durchaus dazu geeignet, mich gehörig abzulenken. Die Residenz der Yggdrasil erstrahlte in allen Fraben des Regenbogens. Dank der vielen Türmchen und der mit opulenten Ornamenten verzierten Fassade wirkte der schneeweiße Bau schon tagsüber wie ein Schloss aus einem Märchenbuch. Jetzt, nach Sonnenuntergang und bei dieser Beleuchtung, war der Effekt überwältigend. Sigurd hatte wohl alle Lampions aufgetrieben, die sich in der Stadt finden ließen.

    Seltsam, dass ein Gebäude, in dem der größte lebende Krieger seine Wohnstätte hatte, so feminin wirkte. Ganz im Gegensatz zum Machtzentrum meiner Familie, wo Großmutter Swanhild das Sagen hatte. Diese düstere, schmucklose Festung war schon da gewesen, als sich die ersten Siedler in der Bergheimat niederließen. Vor tausend Jahren. Das Material sah aus wie Granit, wies aber ganz andere Eigenschaften auf. Feuer konnte ihm nichts anhaben. Nie schlugen Blitze ein, als ob sie das Gemäuer meiden würden. Damals hatten sich die Wasa das Objekt gesichert. Ob das eine gute Idee gewesen war, wagte ich zu bezweifeln. Hin und wieder hatte mich Großmutter dort empfangen. Ich war jedes Mal froh gewesen, wenn ich endlich wieder gehen durfte. Denn immer war es kalt in den Hallen, und stets hatte man das Gefühl, beobachtet zu werden. Im Augenblick waren nur wenige Fenster in dem Klotz erleuchtet. Das Oberhaupt unseres Hauses schien sich nicht für die Verehelichung ihres Enkels zu interessieren, obwohl sie bei der Vorbereitung dieses Ereignisses mit Sicherheit ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Um so mehr haute der Schwiegervater auf die Pauke.

    Im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Musikkapelle begann zu spielen. Vor dem Schloss hatten sich Soldaten der Yggdrasil zu einer Ehrengarde formiert. Sigurd griff sich Ildicos linken Arm, überließ mir den rechten, und gemeinsam schritten wir an der Truppe vorbei. Plötzlich tauchten kleine Mädchen auf und streuten Blumen. Ildico sagte etwas, doch ich konnte es wegen des Höllenlärms nicht verstehen. Bevor wir den Eingang erreicht hatten, signalisierte uns Sigurd, dass wir stehen bleiben sollten, und wies nach oben. Noch war nichts zu sehen. Was sich schnell änderte. Eine Rakete, angetrieben von einem neuartigen Zeug namens Knallpulver, zischte in den Nachthimmel und verpuffte in grünem Licht. Ein paar Momente vergingen, und dann explodierte das Firmament.

    Feuerwerke hatte es schon einige in der Stadt gegeben. Gemessen an dieser Vorführung waren das bestenfalls bescheidene Anfängerübungen gewesen. Wenn Sigurd Yggdrasil etwas unternahm, dann nur im ganz großen Stil. Beim anschließenden Abendessen ging es zum Glück ruhiger zu. Es nahmen nur Mitglieder des engeren Familienkreise teil. Onkel Gerd und Tante Meg, Emma als Repräsentantin der Wasa, Thusnelda, die keine Macht der Welt von diesem gesellschaftlichen Ereignis hätte fernhalten können, Gastgeber Sigurd und natürlich das frisch gebackene Ehepaar. Ein größeres Bankett würde folgen, aber erst übermorgen. Der Tag nach dem Tag der Jugend gehörte traditionell den Zugesprochenen. Sie sollten sich kennen lernen.

    So wie Ildico und ich in dieser Nacht. Als wir schließlich zu ihren Gemächern aufbrachen, spendete der Schwiegervater lauten Beifall, während Tante Meg sorgenvoll dreinblickte. Am liebsten wäre sie mir wohl zur Hilfe geeilt. Doch was immer Ildico vorhatte, mir konnte keiner mehr helfen. Sie lebte ganz oben in einem der Türme. Dank meiner ordentlichen Kondition geriet ich beim Erklimmen der vielen Treppen nicht ins Schwitzen, was peinlich gewesen wäre, denn meine Angetraute ging voran und ließ keinerlei Anzeichen von Erschöpfung sehen. Schließlich standen wir vor ihrer Eingangstür. Sie öffnete und machte eine einladende Geste. Schon wollte ich meine Jacke an einem der Kleiderhaken im Empfangsflur aufhängen, aber Ildico sagte: "Die sind für Gäste. Wir hingegen sind verheiratet, erinnerst du dich?"

    "Ach ja", entgegnete ich. "Das ist immer noch recht gewöhnungsbedürftig."

    "Folge mir", forderte sie mich auf, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her, in ihren Salon. So einen hatten wir auch zu Hause, wie jede Familie. Allerdings nicht so kostbar ausgestattet. Möbel aus der Alten Kaiserstadt galten als selten und teuer. Was in diesen Räumen zu bewundern war, stellte den Gegenwert eines größeren Landguts dar. Mindestens. Dicke Teppiche, in denen man fast versank. Tische und Schränke, aus einem unbekannen Holz gefertigt, dunkel glänzend, als ob man sie stundenlang poliert hätte. Stühle, die nicht viel Bequemlichkeit boten, aber dafür äußerst elegant wirkten. Am eindrucksvollsten fand ich aber die riesigen Fenster. Der Ausblick war überwältigend. Ich konnte die Häuser der anderen Hohen Familien überblicken und hinunter auf die Lichter der Stadt sehen. Hier oben fiel es leicht, sich einzubilden, dass man über den Dingen stünde.

    An den Wänden prangten Bilder, die entweder Motive aus der Alten Kaiserstadt zeigten oder Portraits berühmter Persönlichkeiten der Yggdrasil. Unter ihnen befand sich natürlich auch Sigurd, in Heldenpose, gemalt wohl von Großvater Gustav.

    "Ich zeige dir deinen Raum", sagte Ildico. "Da kannst du ablegen. Ich werde mir auch etwas Bequemeres anziehen. Das könnte ein wenig dauern. Vielleicht möchtest du dir während dessen meine Arbeitsstätte ansehen. Die zweite Tür links. Bis gleich. Und ziehe dir bitte die Schuhe aus."

    Sie verschwand in einem anderen Zimmer. Nachdem ich meine Jacke und meine Schuhe in einem Schrank verstaut hatte, inspizierte ich den so genannten Arbeitsraum. Der sich als hervorragend ausgestattetes Labor entpuppte. Über eine bessere Ausrüstung verfügten weder das Heilerhaus noch Meister Thing. "Donnerwetter", flüsterte ich beeindruckt. Hier gab es alles. Auf endlosen Regalen standen tönerne, kupferne und auch gläserne Gefäße. Den Aufschriften entnahm ich, dass Ildico hier fast jede mir bekannte pflanzliche, tierische oder mineralische Substanz aufbewahrte, die man zur Bereitung von Heilmitteln benötigte. Oder von Giften. Ich zählte zehn Zutaten für Traumweiß. Mit wem hatten sie mich da vermählt?

    Jemand räusperte sich. Ildico stand hinter mir. Gekleidet in einen leuchtend blauen, seidenen Morgenmantel, der gerade noch den Geboten der Schicklichkeit entsprach. Und mindestens so kostspielig war wie ein gutes Pferd.

    "Wollen wir ins Schlafzimmer gehen?",fragte sie. "Hochzeitsnächte pflegen traditionell in dieser Räumlichkeit stattzufinden."

    "Gern", erwiderte ich, Selbstsicherheit vortäuschend. Wohl nicht sehr glaubhaft. Das Schlafgemach machte etwas her. Den meisten Platz nahm ein riesiges Himmelbett ein, das mindestens für vier Personen ausgereicht hätte. Auch hier schmückten Gemälde die Wände. Auf den meisten Bildern war eine Frau zu sehen, die Ildico sehr ähnelte. Vermutlich ihre Mutter. Sie war jung gestorben. Wie meine Mutter. Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch, auf dem eine Flasche Wein und zwei Gläser auf Interessenten warteten.

    "Setzen wir uns doch", schlug meine Gattin vor. "Wie wäre es mit einem Schlückchen zur Entspannung?

    "Besoffen nütze ich dir nicht viel", gab ich zu bedenken.

    Sie lachte. "Bei deiner Trinkfestigkeit besteht diese Gefahr wohl kaum. Vater zeigte sich sehr beeindruckt von deiner Leistung während der Feier im Haus deines Onkels, das du deinem Vetter Gerd überlassen hast. Er meint, dass ihn das sehr an deine Eltern erinnert. Beide konnten einiges vertragen."

    "Na dann", sagte ich und probierte etwas von dem sicher nicht billigen Rebensaft. "Ist der süß", bemerkte ich irritiert. "Wie Traubensaft."

    "Daran gewöhnt man sich". meinte sie und füllte mein Glas erneut. "Übrigens", wechselte sie das Thema. "Dein großer Freund, Soße nennt ihr ihn wohl, machte heute einen merkwürdigen Eindruck auf mich. Hast du ihm etwas verabreicht?"

    "Er hatte den Koller", antwortete ich. " Da gab ich ihm ein Mittel zur Entspannung"

    "Du hast wohl etwas überdosiert", stellte sie fest. "Hat er dich um das Elixier gebeten?"

    Ich verneinte. "Dazu war er gar nicht fähig".

    "Ohne ihn zu fragen, aber aus Sorge um sein Wohl, hast du ihm also den Trank eingeflösst, der nötig war."

    "Findest du das falsch?"

    "Durchaus nicht", gab sie zurück. "Nimm doch noch einen Schluck Wein."

    "Aber nur noch ein Glas", erklärte ich. "Der schmeckt mir nicht besonders. Ich fange auch an, mich ein wenig benommen zu fühlen. Nicht unbedingt die richtige Verfassung für eine Hochzeitsnacht."

    "Vielleicht doch", widersprach sie mir. "Was du schmeckst und fühlst, ist auf ein Elixier zurückzuführen, das ich dir in den Wein gemischt habe. Sicher hast du schon davon gehört. Man nennt es den Ehehelfer."

    Mir stockte der Atem. "Der Ehehelfer?", fragte ich entsetzt. "Der ist doch für ältere Männer, die, nun ja, gewisse Schwierigkeiten haben. Aber ich bin jung und gesund. Wie kommst du darauf, dass ich das brauche?"

    Ildico sah mir tief in die Augen. "Mein Vater ist schwer krank", sagte sie. "Bald bin ich die Letzte der Yggdrasil. Ich brauche Erben, ich habe keine Zeit, und ich kann kein Risiko eingehen."

    "Aber die Nebenwirkungen", rief ich. "Hast du an die Nebenwirkungen gedacht?" Es kam nämlich immer wieder zu Fällen von Gedächtnisver............"

  • "Wie wäre es mit einem Schlückchen zur Entspannung?

    Da haben meine Alarmglocken angefangen zu läuten, zumal vorher das perfekt ausgestattete Labor erwähnt wurde. Und ich hab mich nicht getäuscht. :D

    Weiterhin sehr unterhaltsam zu lesen. Ich kann gut folgen, habe keine Fragezeichen über dem Kopf und finde das alles wirklich spannend. Kann gern weitergehen! :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Kräuter und die Mondelfen

    25.Kapitel

    Eine gemütliche Teerunde

    Teil 1

    Ich war nie besonders stark gewesen, dafür aber schnell. Deshalb gelang es mir auch, die Kräuterteetasse wieder aufzufangen, die mir gerade aus der Hand gefallen war. Eben noch hatte mich Ildico darüber aufgeklärt, weshalb mein Wein so eigenartig geschmeckt hatte, und nun trank ich Tee, in einem kleinen Zimmer, mitten in der Nacht. In tiefster Dunkelheit, die vom Schein einige Öllampen unterbrochen wurde. Es musste um Mitternacht gewesen sein, als Ildico und ich uns in ihre Gemächer zurückzogen. All zuviel Zeit konnte ich durch den Gedächtnisverlust, der mit der Einnahme des Ehehelfers einherging, nicht verloren haben. Ein Blick auf die Wanduhr belehrte mich eines Besseren. Sie zeigte nicht Zwei oder Drei Uhr an, sondern Neun Uhr. Später Vormittag. Wie konnte es zu dieser Zeit so finster sein? Ich trat auf den Balkon hinaus, der zu dem Raum gehörte, und starrte in den Himmel. Kein Stern war zu sehen. Nur Schwärze.

    "Ganz schön unheimlich, nicht?", ließ sich Ildico vernehmen. Ich drehte mich zu ihr um. Offenbar wollte sie ausgehen, denn sie hatte sich in einen weißen Pelzmantel gehüllt, zu dem eine Mütze in der gleichen Farbe passte.

    "Was ist passiert, seit du mir dieses Zeug eingeflösst hast?", fragte ich. "Wenn die Uhr die richtige Zeit anzeigt, habe ich mindestens acht Stunden verloren!"

    Ildico wirkte schuldbewusst, wenn auch nur ein bisschen. "Nachdem die Wirkung des Elixiers abgeklungen war, hatten wir einen kleinen Ehestreit", antwortete sie. "Wegen meiner Vorgehensweise".

    "Ach, tatsächlich!", entgegenete ich sarkastisch.

    "Aber den legten wir sehr schnell zu den Akten, sobald wir das da bemerkten." Sie wies auf den dunklen Himmel. "Pechschwarze Wolken, die vom Westen her von einem starken Wind zu uns geweht wurden und sich zu Wolkengebirgen auftürmten. Und dann die Blitze. Warte. Sieh genau hin!"

    Lange musste ich nicht warten, bis ich etwas Rotes aufleuchten sah. "Blutmond!", rief ich.

    "Vollmond haben wir noch lange nicht", korrigierte mich Ildico. "Es scheint sich um Blitze zu handeln, auch wenn noch keiner irgendwo eingeschlagen ist. Vielleicht auch eine Art Wetterleuchten. In der Stadt ist die Hölle los, wie du dir wohl vorstellen kannst."

    "Panik?"

    "Schlimmer. Anflüge von religiösem Wahn. An Strassenecken stehen Prediger, die vor dem Zorn der alten Götter warnen, die uns bestrafen wollen, weil wir ihnen den Rücken kehrten und uns der Irrlehre des Vernunfglaubens zuwandten. Ein paar Verrückte stürmten die alten Tempel und versuchten, den Opferdienst wieder aufzunehmen. Das Schulamt hat sie natürlich einkassiert und ins Narrenhaus verfrachtet. Offizielle Verlautbarungen erklären das Phänomen zu einem ganz normalen Wetterereignis, wie es früher auch schon beobachtet wurde. Ich bezweifle das stark."

    Genau wie ich. Die Rote Witwe hatte unsere Gegner sträflich unterschätzt. Mit ihrer eigenen Wettermaschine kamen sie viel besser zurecht, als wir gedacht hatten. Ich musste sofort etwas unternehmen. Ein halber Liter Blut, vorsichtig auf das Sturmsymbol auf meiner Tafel getröpfelt, dürfte ausreichen, um diese Wolkenfront in Stücke zu reßen, bevor die Stadt in nie erlebten Regenfluten versank. Bevor ich loslegen konnte, musste ich allerdings meine Gattin loswerden.

    "Warum hast du dich so fein gemacht?", fragte ich. "Willst du etwa ausgehen. In dieser Finsternis?"

    "Das Schulamt hat Normalität angeordnet", informierte mich Ildico. "Die Märkte und die Geschäfte haben geöffnet. Gute Bürger beweisen ihre Loyalität, indem sie einkaufen gehen. Ganz normal. Das habe ich vor. Und auch du hast eine Verbredung, warte mal."

    Sie kramte in ihrer Handtasche. "Hier, deine Einladung". Auf einem Stück Papier höchster Qualität, versehen mit einem Briefkopf, der in goldenen Lettern den Namen "Meg Bess", präsentierte, war zu lesen:

    Werter Herr Gustav Wasa!

    Ich gebe mir die Ehre, Euch zur Präsentation meine neu erschienen Buches einzuladen,auf das Ihr sicherlich schon aufmerksam geworden seid. Es werden Kräutertee und Kuchen gereicht. Seid bitte eine Stunde nach Mittag in meinem Haus in der Brückenstrasse. Die Veranstaltung findet bei jedem Wetter statt. Sich eine bestimmte Witterung zu wünschen, macht wenig Sinn. Kommt, wie Ihr seid. Ihr müsst nicht in den Spiegel sehen, um Eure Frisur und Eure Kleidung zu überprüfen. Unter uns Gelehrten spielen Äußerlichkeiten keine Rolle."

    Eure Meg Bess

    "Das ist ja wohl die schrägste Einladung, die ich je gesehen habe," ereiferte sich Ildico. "Wünsch dir kein anderes Wetter, und schau nicht in den Spiegel! Was für eine seltsame Frau. Kommt aus einem abgelegenen Bergdorf, hat offenbar jede Menge Geld, veröffentlicht sofort ein Buch und kauft ausgerechnet das Mordhaus in der Brückenstrasse. Schade, dass ich schon verabredet bin. Sonst würde ich gern mitkommen. Du musst mir unbedingt alles erzählen!"

    Das Schreiben machte mehr Sinn, als Ildico ahnen konnte. Die Rote Witwe warnte mich davor, meine Wettertafel zu benutzen und mit ihr über den Spiegel Onkel Bernies Kontakt aufzunehmen. Hatte sie doch alles im Griff? Ich entschied mich für eine Kompromißlösung. Solange das Wolkenungetüm sich damit begnügte, über der Stadt zu schweben, würde ich mich zurückhalten. Aber beim ersten Blitz oder Regenguss alles einsetzen, was ich hatte.

    "Wann kam die Einladung?", fragte ich.

    "Sehr früh, um die sechste Stunde. Per Boten".

    Also bezog sich die Botschaft der Witwe auf die aktuelle Situation.

    "Kleide dich jetzt bitte an", drängte Ildico. "Vater will uns sehen. Deine Jacke ist da, wo du sie hingehängt hast. Leider war noch keine Zeit, sie in die Wäsche zu geben."

    Das begrüsste ich sehr. Was die ahnungslose Reinigungskraft da alles gefunden hätte! Die Feuereier, die silbernen Wurfsterne, den Spiegel und nicht zuletzt die Wettertafel. Dieses Geschenk der Mondelfen saugte jedem, der es berührte, von mir abgesehen, das Blut aus. Ich musste es unbedingt sicher unterbringen, solange ich mich in der Burg der Yggdrasil aufhielt, wenn sich die Leichen der Reinmachfrauen nicht bis zur Decke stapeln sollten.

    Nachdem ich mich ausreichend ausgestattet hatte, mit Kleidung und mit Waffen, machten wir uns auf den Weg zu meinem Schwiegervater. Zuerst brachten wir die Wendeltreppe hinter uns, die von Ildicos Turm ins Erdgeschoss führte, um daraufhin auf einer weiteren Konstruktion dieser Art nach oben zu keuchen, wo Sigurd residierte. Mir war schleierhaft, was sich die Architekten bei dieser Lösung gedacht hatten. Warum keine Verbindungswege zwischen den Türmen? Damit die Bewohner in Form blieben? Die Treppe mündete nach fast unendlich vielen Stufen schließlich in einen Raum, der mit Büchern so vollgestopft war, dass man sich kaum bewegen konnte. Ein schmaler Gang wand sich in Schlangenlinien an hohen Regalen vorbei. Hier wurde wirklich jeder Quadratmeter genutzt. Platzangstpatienten hätte Meister Fruud mit Recht geraten, dieser Räumlichkeit fern zu bleiben.

    Endlich erreichten wir ein kleines Zimmer, in dem eine Liege stand. Auf der sich Sigurd Yggdrasil ausgestreckt hatte. Er schien tief zu schlafen. Jemand tippte mir auf die Schulter. "Psst", machte der Unbekannte, auf den ich hinunterblicken musste, nachdem ich mich umgedreht hatte. Ein kleiner Mann in einer schwarzen Robe stand vor mir. Sein Haupt schmückte eine dunkelblaue Zipfelmütze. So hatten sich die Leute vor hundert Jahren gekleidet.

    "Guten morgen, Meister Friggo", begrüsste ihn Ildico mittels der lautlosen Signalsprache der Miliz. "Wann wird er wieder erwachen?"

    Meister Friggo. Den Namen hatte ich schon einmal gehört. Ein berühmter Heiler, von dem es hieß, er wäre schon lange tot. Ohne Zweifel stellte das eine Übertreibung dar. Sehr alt war zwar näher am Tod als sehr jung, aber nicht dasselbe. Ich schätze das Männlein auf mindestens achtzig, vielleicht aber auch auf hundert Jahre.

    "Na", fragte Sigurd unvermutet. "Wie fandet ihr meine große Schau?"

    "Was meinst du?", fragte ich zurück.

    "Die große Sigurdschau", wiederholte er. "Sigurd Yggdrasil, ein Wunder von einem Mann, dem der Berserkertrank nichts anhaben kann. Alle anderen sind schon tot, nur er nicht. Er sprüht vor Kraft und Leben. Hattest du gestern nicht auch diesen Eindruck?"

    "Allerdings", bestätigte ich.

    Er winkte verächtlich ab. "Alles Täuschung. Siehst du diese vielen Fläschchen auf dem Nachttisch? Elf an der Zahl. ich muss sie zu genau festgelegten Zeitpunkten einnehmen. Nach jeder Anstrengung brauche ich Schlaf. Eine ausgeklügelte Diät ist zu befolgen. Das bringt pro Tag sechs aktive Stunden. Der Rest dient der Erholung. Nur so halte ich mich über Wasser. Und weil Meister Friggo mich betreut. Meg kommt auch des Öfteren vorbei. Diese beiden, Ildico, der Kommandant meiner Garde und jetzt du, ihr seid die Einzigen, die die Wahrheit kennen. Alle anderen halten mich für einen Übermenschen. Ist das nicht zum Lachen?"

  • Kräuter und die Mondelfen

    25.Kapitel

    Eine gemütliche Teerunde

    2.Teil

    "Es wird Zeit für Eure Herztropfen", meldete sich Meister Friggo zu Wort. Sigurd verzog angeekelt das Gesicht.

    "Das Widerlichste, was Ihr je erfunden habt", sagte er anklagend. "Ein Werk deiner Mutter, Gustav. Später, wie ich hörte, verbessert von Meg, Meister Thing und dir. Wen von euch muss ich eigentlich mehr verfluchen?"

    "Mund auf", forderte der Heiler. Während Sigurd widerstrebend das Elixier herunterschluckte, beantwortete ich seine Frage.

    "Das ist schwer zu sagen. Meister Thing entwickelte ein Verfahren, das er "das Ideenballspiel" nannte. Ein paar Leute, im Idealfall drei, treffen sich, um ein Problem zu besprechen. Wer als Erster einen brauchbaren Gedanken entwickelt, wirft ihn einem anderen zu. Der gibt ihn entweder zurück, wenn er die Idee für Unsinn hält, oder leitet sie weiter, damit der Nächste etwas daraus macht. Es geht hin und her, und irgendwann ergibt sich dann eine Lösung."

    "interessantes Konzept", bemerkte mein Schwiegervater. "Womöglich sollten wir es auch einmal damit versuchen, um endlich herauszubekommen, wer ständig diese Meuchelmörder auf uns hetzt."

    "Die Sverrig?", vermutete ich.

    "Wir können ihnen nichts beweisen", mischte sich Ildico ein. "Aus ihrem Führungskreis kommt das nicht. Unsere Spione hätten uns informiert. Aber es ist möglich, das das Sippenoberhaupt jemanden von außerhalb beauftragt hat, zu dem er allein Kontakt hält. Wir wissen nur nicht, wer das sein könnte."

    Darüber hätte ich sie aufklären können. Die Angriffe wurden am unwahrscheinlichsten Ort geplant, den man sich denken konnte. Im Narrenhaus. Wo Hildegard Sverrig residierte. Sie hatte den Raubzug im Haus meines Vetters organisiert und wohl auch die Ermordung der Verdächtigen im Roten Viertel. Meinen neuen Verwandten konnte ich das nicht sagen, weil ich dann hätte offen legen müssen, was ich ihnen bisher verschwiegen hatte. Sie hätten mir nie wieder vertraut. Mit Recht. Was ich wohl noch alles für mich behielt, hätten sie sich gefragt. Mein Hang zur Geheimnistuerei brachte unerfreuliche Nebenwirkungen mit sich.

    "Leider haben wir keinen der Attentäter lebend erwischt", bedauerte Sigurd. "Bei Gefangennnahme begehen sie Selbstmord. Sehr ungewöhnlich bei Söldnern aus den Flusslanden. Aber wenigstens ist unsere Erbfolge gesichert, nach eurer Hochzeitsnacht. Alles ist dokumentiert. Absolut wasserdicht."

    "Was meinst du mit "dokumentiert", fragte ich irritiert.

    "Weisst du das nicht?", wandte sich Meister Friggo an mich. "Es sind strenge Vorschriften zu beachten, wenn die Erben der Hohen Familien ihre erste Nacht miteinander verbringen. Zuerst durchsuchen Beauftragte des Familienrates die Räumlichkeiten, damit sich dort kein Ehehelfer versteckt hält. In alter Zeit war das nämlich legal. Wenn ein Mann in dieser Hinsicht Schwierigkeiten hatte, durfte er die Unterstützung eines Verwandten oder eines engen Freundes in Anspruch nehmen. Die Kinder galten trotzdem als seine. Auf diesen Brauch geht übrigens die Benennung eines bekannten Elixiers zurück. Das wissen nur noch Wenige."

    "Aha", murmelte ich.

    "Vor der Schlafzimmertür ziehen natürlich Wachen auf. Die nehmen nachher das Bettzeug in Augenschein und archivieren es. So hat alles seine Ordnung".

    "Es war wohl besser, dass der Junge von all dem keine Ahnung hatte", bemerkte der Hausherr. "Hätte ihn nur nervös gemacht. Warum ist es eigentlich noch so dunkel? Zu dieser Tageszeit? Und was sind das für rote Lichtpunkte am Himmel?"

    " Irgendwelche Narren pfuschen wohl wieder an einem Artefakt aus dem Alten Reich herum", vermutete der Heiler. " Natürlich ist diese Wolkenwand nicht. Der Wind weht kräftig von Westen her, aber sie bewegt sich nicht auf die Berge zu. Wo sie abregnen müsste. Die roten Lichter scheinen sie zusammenzuhalten. Wie Schäferhunde ihre Herde. Ich hoffe, dass das Einsatzkommando des Schulamtes die Kerle rechtzeitig erwischt. Bevor jemand verletzt wird."

    "Dass das aber auch nie aufhört", beklagte sich Sigurd. " Und was habt ihr beiden nun vor? Ihr seht aus, als ob ihr ausgehen wolltet. Bei diesem Wetter?"

    "Gerade", erwiderte Ildico. "Das Schulamt verlangt Normalität. Wir sollen so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Einkaufen gehen. Die Wirtschaft am Laufen halten. Schaut nicht zum Himmel. Geht weiter. Es gibt nichts zu sehen!"

    Ihr Vater lachte. "Zeit für den nächsten schmackhaften Trank", erinnerte Meister Friggo. "Und dann müsst Ihr wieder schlafen."

    Sigurd seufzte resigniert. "Na dann viel Vergnügen", wünschte er uns.

    Auf dem Rückweg fragte ich Ildico: "Wie lange wird er noch durchhalten?"

    " Solange er muss", antwortete sie ernst. "Bis zu unserem zweiten Sohn. Erst dann kann er beruhigt gehen. Er will schon lange nicht mehr leben. Aber er hat einen eisernen Willen."

    Als wir den Ausgang des Schlosses erreicht hatten, fiel ihr noch etwas ein. "Warte mal", bat sie und holte ein Etui aus einer ihrer Manteltaschen. Es war aus Elfenbein, dem Stoff, aus dem die Stoßzähne der Waldelefanten bestanden. Ich mochte die Tiere. Dass man sie umbrachte, um Luxuszeug herstellen zu können!

    Plötzlich hatte Ildico zwei dünne, silberne Halsketten in der Hand. An ihnen hingen Figürchen. Je ein Einhorn. "Meg hat mir sie gestern noch gegeben. Stammen von deiner Mutter. Sie wollte, dass du und deine Gattin je eine davon nach deiner Heirat tragen. Warte, ich lege sie dir um. Mach mal deine oberen Hemdknöpfe auf. Sie muss auf der blossen Haut getragen werden, damit sie Glück bringt. So, und du jetzt bei mir!"

    Wir traten auf den Vorplatz hinaus, wo mich eine Überraschung erwartete. Vier Kutschen bildeten eine Reihe, umgeben von einer Reiterschwadron. Alle Männer trugen Fackeln in den Händen.

    "Mein Einkaufsbegleitkommando", erläuterte sie. "Eine Kutsche ist für dich, die anderen für mich. Und die Soldaten natürlich."

    "Gegen die Mordbuben", mutmaßte ich. "Sie nickte, hauchte mir einen leichten Kuss auf die Wange, was damals als der Gipfel der erlaubten Intimität in der Öffentlichkeit galt, und bestieg die mittlere der drei erste Kutschen. Der Konvoi setzte sich samt der berittenen Einkaufshelfer in Bewegung. Ich wunderte mich immer noch über Mutters Geschenk. In der Tat hatte sie eine seltsame Vorliebe für Einhörner gehegt. Nicht, dass sie an deren mythologische Natur geglaubt hätte. Sie mochte sie einfach. Überall in unserem Haus in Kirschtal waren Bilder und Figürchen der Zauberwesen zu bewundern gewesen. Aber dass sie Glück bringen könnten? So etwas sollte Mutter für möglich gehalten haben, diese stocknüchterne Wissenschaftlerin? Andererseits, wer von uns war schon völlig frei von ein bisschen Aberglauben?

    Ich blickte zum Himmel empor. Meister Friggos Beobachtungen erwiesen sich als korrekt. Wie er gesagt hatte, traten die blutroten Leuchterscheinungen an den Rändern der Wolkenwand auf. Sogar in regelmäßigen zeitlichen Abständen. Da hatte der Neue Lehrer wirklich etwas auf die Beine gestellt. Die Leute vom Schulamt, die ihm womöglich in die Arme liefen, taten mir leid. Hoffentlich fanden sie ihn gar nicht erst. Es wurde Zeit für eine Lagebesprechung mit der Roten Witwe. Bevor ich die übrig gebliebene Kutsche besteigen konnte, welche mich in die Stadt bringen sollte, fiel mir auf der anderen Strassenseite eine einsame Fackel auf. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich Lehrer, der ein wenig verloren vor dem Haus seiner neuen Familie herumstand. Auf der ganzen Welt gab es sicherlich keine zwei weiteren Gebäude, die so unterschiedlich waren wie die Sitze der Yggdrasil und der Sverrig.

    Während Sigurds Bauwerk Eleganz und Stil ausstrahlte, erinnerte die Unterkunft der Sverrig an eine alte Wehrburg. Hinter massiven Mauern erhoben sich wuchtige Türme aus grauem Granit. Es gab sogar einen mit trübem Wasser gefüllten Graben, über den eine Zugbrücke führte, wenn den Hausherren einmal nach Besuch zumute war. Wie es wohl im Inneren der Festung aussah?

    "He, Lehrer", rief ich und winkte ihn zu mir herüber.

  • Kräuter und die Mondelfen

    25.Kapitel

    Eine gemütliche Teerunde

    3.Teil

    "Nimmst du mich mit in die Stadt?", fragte Lehrer, als er mich erreicht hatte. "Leider ist bei uns gerade keine Kutsche frei".

    "Klar", antwortete ich. "Spring rein".

    "Wo soll es denn hingehen?", wollte der Kutscher wissen.

    "Zu den Größten Portionen, bitte", sagte Lehrer. "Mal sehen, was Soße so macht", wandte er sich an mich.

    Wir kletterten in das Gefährt.

    "Und wie ergeht es dir mit Ildico?"

    "Unerwartet gut", erwiderte ich. " Natürlich muss ich bei ihr aufpassen, dass ich nicht unter den Pantoffel gerate. Aber abgesehen davon ist sie ganz nett. Sie versteht auch sehr viel von Tränken und Elixieren. Du solltest ihr Labor sehen! Und wie kommst du mit Hildegard zurecht?"

    Lehrer seufzte abgrundtief. "Sie hat mich die ganze Nacht mit Stadtgeschichte voll gequatscht", klagte er. "Ich kam mir vor wie ein Vorschüler."

    "Aber du weisst doch alles", staunte ich. "Du kennst doch alle Schulbücher auswendig."

    "Eben", stellte er fest. "Ich weiss nur, was in denen steht. Hildegard schöpft aber noch aus ganz anderen Quellen. Die Sverrig verfügen über eine riesige Bibliothek. Tausende von Bänden. Wer wissen will, was in der Vergangenheit wirklich geschehen ist, muss das alles gelesen haben."

    Das glaubte ich ihm gerne. In öffentlichen, den Bürgern zugänglichen Aufzeichnungen suchte man vergeblich nach Inhalten, die den Großen Häusern unangenehm waren. So etwas hielten sie gerne unter Verschluss.

    "Ich verschaffe dir Zugang zur Büchersammlung der Yggdrasil", versprach ich. "Mal abgesehen von dem, was auch die geheim halten wollen, kannst du dort vieles über unsere wahre Geschichte lernen.

    "Danke", antwortete er. "Die Sverrig halten mich wirklich kurz. Leider stünde gerade niemand zur Verfügung, der mich durch die Bibliothek führen könne. Leider wäre keine Kutsche frei."

    "Sprich ihnen einfach dein Bedauern über die Mangelsituation aus, die bei ihnen herrscht", riet ich. "Und versichere ihnen, daß die Yggdrasil gerne Nachbarschaftshilfe leisten. Wann immer du eine Kutsche oder ein bestimmtes Buch brauchst, kein Problem. Was meinst du, wie nett die Sverrig plötzlich zu dir sind. Auf einmal wird alles gehen."

    "Nicht schlecht," antwortete er." Müsste funktionieren. Doch bei einem Problem kannst du mir wohl nicht helfen. Hildegard will, dass ich auf meine drei freien Jahre verzichte. Du weißt, was das heißt. Alle werden mich für einen Waschlappen halten. Wie viel Spott musste dein Vetter Gerd ertragen. Und der war der beste Schwertkämpfer seines Jahrgangs.Bei mir wird es noch viel schlimmer werden!

    "Dazu fällt mir etwas ein", sagte ich. "Versprich ihr hoch und heilig, dass du niemals das Rote Viertel aufsuchen wirst. Dafür hättest du viel zu viel Respekt vor ihr. Aber ohne die freien Jahre würdest du schwach aussehen, und sie als deine Zugesprochene auch. Ein Waschlappen als künftiger Ehemann dient nicht gerade ihrem Ansehen."

    Lehrer dachte darüber nach.

    "Hinterlistig und ausgekocht, aber gut. Machbar", antwortete er. " "Es geht doch nichts über einen durchtriebenen Freund."

    Die Kutsche hielt an. Als wir ausstiegen, deutete der Kutscher nach oben. "Schaut euch das mal an!"

    Die unheimliche Finsternis war einer Erscheinung gewichen, die mir noch mehr Grauen einflösste. Wo bislang nur wenige blutrote Lichtpunkte die Dunkelheit erhellt hatten, zuckten jetzt Blitze über das Firmament, die sich zu ganzen Netzwerken auffächerten. Wie purpurne Spinnennetze. So hell, dass man in ihrem Schein hätte ein Buch lesen können. All dies vollzog sich in völliger Lautlosigkeit.

    "Halb so wild", meinte Lehrer. Wir starrten ihn an. "Das ist doch nur Licht", erläuterte er. "Noch ist nirgendwo ein Blitz eingeschlagen. Kein Regen, kein Sturm. Nichts Gefährliches. Das geht auch wieder vorbei."

    Den Kutscher schien er nicht überzeugt zu haben. "Kann ich wieder zurück zur Burg?", fragte der Mann. Ich nickte ihm zu.

    "Ist das wirklich dein Ernst?", wollte ich von Lehrer wissen, als wir allein waren.

    " Bellende Hunde beissen nicht", antwortete er. "Wenn Nossfu und die Schwarze Witwe in der Lage wären, echten Schaden anzurichten, dann sähe es hier anders aus. Sie haben nicht die Kraft dazu. Es reicht nur für Theaterdonner."

    "Die Rote Witwe scheint das genauso zu sehen", sagte ich nachdenklich. "Stell dir vor, sie lud mich zu einer Kräuterteerunde ein, wo sie ihr neues Buch vorstellen will. Beziehungsweise das der echten Meg Bess."

    "Die hoffentlich noch lebt", ergänzte Lehrer. " Sehr raffiniert übrigens, von unserer Frau Bess. Heimlichkeiten führt man besser im Licht der Öffentlichkeit durch. Du gehst vor aller Augen zu dieser Veranstaltung, sie sagt dir, was sie vorhat, du informierst uns hinterher, und heute Abend legen wir los und stürmen die Alte Mühle. So, lass uns jetzt Soße aufsuchen. Nachdem er den Tag der Jugend überstanden hat, müsste es ihm eigentlich gut gehen."

    Was sich als Irrtum erwies. Als wir Soßes Zimme betraten, bot sich uns ein Bild des Jammers. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Seine Hände zitterten.

    "Verdammt", rief Lehrer. "Das Zeug, das du ihm eingeflösst hast, macht abhängig. Aber du hast es doch auch genommen. Kann es sein, dass schädliche Nebenwirkungen nur bei Leuten auftreten, die nichts getrunken haben? Das wäre verrückt."

    Das sah ich genauso.

    "Wie kommst du mit Helga zurecht?", fragte ich Soße.

    "Ich kriege keinen Ton heraus, wenn sie in der Nähe ist", gestand er. "Es macht mich nervös, nur an sie zu denken. Sie ist so eindrucksvoll. Ich kann ihr nicht das Wasser reichen!"

    "Hm", machte Lehrer. "Es scheint sich eher um ein seelisches Problem zu handeln. Mangelndes Selbstvertrauen gegenüber Frauen. So weit ich weiß, ist Helga die älteste von acht Schwestern. Das Befehlen gewohnt. Mit ihr ist es sicher nicht leicht."

    "Hast du schon zusammen mit ihr gekocht", fragte ich Soße.

    Lehrer mischte sich ein. "Ich weiß, welches trickreiche Manöver du im Sinn hast", sagte er zu mir. "Soße, wann fühlst du dich am sichersten? Wann bist du ganz bei dir? Wenn du kochst. Welches ist das komplizierteste Gericht, das du kennst?"

    "Na ja", meinte der Gastwirtssohn. "Die neun Kostbarkeiten natürlich, mit allen Beilagen."

    "Dann machst du Folgendes", fuhr Lehrer fort. "Sage deiner Mutter, sie soll Helga mitteilen, du hättest etwas Besonderes vor mit ihr. Sie soll sie in die Küche führen, aber erst, wenn du schon angefangen hast zu arbeiten. So lernt sie deine starke Seite kennen. Und du kannst dich ebenbürtig fühlen."

    "Das wolltest du doch sagen, oder?", fragte er in meine Richtung.

    "Herzlich willkommen im Kreis der hinterhältigen Schurken, die gerne Leute beeinflussen", erwiderte ich. "Gute Arbeit".

    Die Tür ging auf. Schlichter trat ein. "Wir haben ein Problem, Männer", begann er.

    "Kräuter ist heute in Hochform. Er haut einen raffinierten Plan nach dem anderen raus", versprach Lehrer. "Das kriegt er auch noch hin".

    "Nun", sagte Schlichter. "Das sollte er auch. Denn es war sein Schwiegervater, der bei der Miliz erreicht hat, dass wir beim heutigen Einsatz nicht dabei sein werden. Sein neuer Schwiegersohn soll nicht umkommen, bevor er für Erben gesorgt hat. Und seine Freunde soll er auch nicht verlieren. Nett gemeint ist das sicherlich. Doch jetzt sind wir nicht mehr in der Lage einzugreifen, wenn sich die Untoten unsere Soldaten vornehmen."

    "Sind wir trotzdem noch in Bereitschaft?", erkundigte ich mich. Schlichter nickte.

    "Ich weiß, worauf er hinaus will", triumphierte Lehrer.

    "Dann können wir selbst entscheiden, wo wir uns in Bereitschaft halten", stellte ich fest. "Wir gehen in voller Ausrüstung zum Milizhaus. Dort warten wir für den Fall, dass sie uns doch einsetzen sollten. Machen sie natürlich nicht. Wir sind aber da. Irgendwann setzen wir uns unbemerkt ab und suchen uns einen Platz hinter den Linien der Truppe. Wenn es los geht, mischen wir verdeckt mit."

    "In Ordnung", entschied Schlichter. "Zur achtzehnten Stunde treffen wir uns hier. In Uniform, mit allen Waffen. Kräuter bringt die Elixiere mit. Wir melden uns beim Kommandanten. Der wird mitleidig lächeln, uns irgendwo hinsetzen und nicht weiter auf uns achten. Wir folgen dann klammheimlich. Irgendetwas von der Roten Witwe gehört?"

    "Sie hat mich offiziell eingeladen. Zu einer Kräuterteegesellschaft mit Buchlesung", teilte ich ihm mit. "Keine Ahnung, wer sonst noch kommt. Bei der Gelegenheit wird sie mir wohl unauffällig mitteilen, was sie vorhat."

    "Wir entscheiden dann selbst, inwieweit wir uns darauf einlassen", sagte Schlichter. "So, ich muss jetzt zum Familienessen. Wollt ihr mitkommen?"

    Gerne", antwortete Lehrer.

    "Ich muss zu meiner Verabredung" erklärte ich. "Vorher werde ich mich noch ein wenig auf dem Markt umsehen"

    "Ich komme mit", verkündete Soße. "Ich brauche noch schwarzen Pfeffer für die neun Kostbarkeiten".

  • Es geht spannend weiter. :newspaper: Zwei Dinge gibt es aber, die mir beim Lesen aufgefallen sind:

    Spoiler anzeigen

    Warum verhalten sich die Protas immer noch wie abenteuerlustige Teenager, wenn sie doch jetzt verheiratete Männer sind? Ihr Verhalten (auch und gerade gegenüber ihren Frauen) wirkt auf mich nicht, als hätte die Heirat irgendwas bei ihnen verändert. Sie wirken allesamt, als hätten sie in der Ehe nichts zu melden. Liegt vielleicht daran, dass sie nun im Haus der Schwiegereltern wohnen, aber mir fehlt irendwie ein bisschen mehr Selbstbewusstsein. Ich habe sie beim Lesen nicht als Männer im Kopfkino. :pardon: Haut doch mal mit der Faust auf den Tsch und lasst euch von euren Frauen nicht so rumkommandieren! :D

    Und das Zweite ist, dass mir die Veränderungen am Himmel irgendwie zu blass sind. Also nicht, was du beschreibst, sondern was es bei den Bewohnern bewirkt. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine Panik auslöst, Hamsterkäufe, Menschenaufläufe ... Aber so gibt es nicht viel mehr als besorgte Blicke und Stirnrunzeln. Als wäre es eine gewöhnliche Gewitterfront, die sich da nähert. Doch deiner Beschreibung nach ist das viel furchteinflößender. Und niemand außer den frischgebackenen Pantoffelhelden (sorry ;)) weiß, was da passiert. Und trotzdem leben alle ihr normales Leben weiter. Schulamt sei Dank. Zumindest lese ich das so heraus. :hmm:

    So, das waren meine Gedanken dazu. Kann gerne weitergehen. :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Kräuter und die Mondelfen

    25.Kapitel

    Eine gemütliche Teerunde

    4.Teil

    "Vielleicht hat Lehrer ja recht", meinte Soße, während wir der Ausgangstür der Gastwirtschaft zustrebten, "aber selbst wenn die Leuchtschau am Himmel nichts weiter als Theaterdonner ist, viele Leute werden doch verängstigt reagieren. Zumindest das haben die Schwarze Witwe und Meister Nossfu geschafft. Die Moral in der Stadt dürfte miserabel sein. Am Rande einer Panik womöglich."

    "Oder auch nicht", fügte er hinzu, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Als ich ihm über die Schulter sah, wurde mir klar, was er meinte. DIe Größten Portionen befanden sich direkt am Marktplatz, so daß ich das dortige Geschehen gut beobachten konnte. So viel war an einem Markttag noch nie los gewesen, noch nicht einmal kurz vor dem Winterfest der Ahnen, wenn so manchem Zeitgenossen auffiel, dass er schon wieder vergessen hatte, rechtzeitig Geschenke zu besorgen. Menschenmassen schoben sich durch die Gänge zwischen den Verkaufs- und Imbissbuden, die von bunten Lampions beleuchtet wurden. Musik erklang. Marktschreier machten auf ihre Angebote aufmerksam. Alles wirkte fröhlich und lebendig. Aber etwas stimmte nicht. Mir drängte sich der Eindruck auf, einer Aufführung schlechter Schauspieler beizuwohnen. Niemand blickte hinauf zum Himmel. Die Kunden, die vor den Buden Schlange standen, unterhielten sich nicht. Sie handelten und schacherten auch nicht. Es schien sie nicht einmal zu interessieren, was sie einkauften. Wer an einem der Tische saß, löffelte sein Essen schweigend in sich hinein.

    "Das Schulamt hat die Sache noch im Griff", bemerkte Soße. " Das könnte sich aber schnell ändern".

    "Ich habe eine Idee", verkündete ich. "Mal sehen, ob wir dem Herrn Nossfu nicht doch noch die Suppe versalzen können!" Im wahrsten Sinne des Wortes. "Sigbalds unwiderstehliche Suppenversuchung ist gleich gegenüber. Stühle sind auch noch frei. Also nichts wie hin."

    Soße stöhnte herzerweichend. "Dieser Kerl hat keine Ahnung von Kochkunst. Sein Zeug würde ich nicht einmal unseren Schweinen vorsetzen. Tierquälerei!

    "Wir müssen ja nichts davon essen", besänftigte ich ihn. "Aber wenn wir nichts kaufen, fällt das vielleicht den falschen Leuten unangenehm auf."

    Sigbald machte als Einziger einen aufrichtig zufriedenen Eindruck. So viel Nachfrage hatte er wohl lange nicht erlebt. Wir schnappten uns jeweils einen Teller und ließen uns an einem der Tische nieder. Wo wir mit Abstand die Jüngsten waren. Die anderen Gäste schätzte ich auf sechzig Jahre aufwärts. Mit tief in die Gesichter gezogenen Hüten starrten sie wortlos auf ihr Essen.

    Ich schob meinen Stuhl etwas nach hinten, schaute nach oben zum Himmel und sagte laut: "Sieh mal. Diese Blitze sehen zusammen aus wie ein Wagen. Komplett mit Achse und Deichsel. Und da, Purpur, Blutrot und Hellrot. Schon drei Farbtöne! Ist das nicht ein grandioser Anblick?"

    Der älteste unserer Tischnachbarn sah mich besorgt an. "Geht es dir noch gut, Junge? Hast du denn keine Angst? Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller!"

    "Wieso denn?", fragte ich. "Ja, wenn das das heftige Herbstgewitter vom vorigen Jahr wäre. Damals sind die Blitze nur so auf uns herabgeprasselt. Allein in unserer Siedlung hat es zwei Häuser getroffen. Komplett abgegbrannt. Eine der Familien haben wir aufgenommen, monatelang."

    "Das Gerichtsgebäude hat es auch erwischt. Dabei sind alle Steuerunterlagen in Flammen aufgegangen", ergänzte Soße. "Da wird nicht jeder getrauert haben."

    Die Männer kicherten. "Nicht jeder", bemerkte einer von ihnen.

    "Das waren richtige Blitze!", stellte ich fest. "Dieses Geflimmer da oben ist doch harmlos. Bellende Hunde beissen nicht. Vergleicht die Lichtschau doch mal mit den Herbststürmen. Jedes Jahr werden sie schlimmer. Und wenn sie vorbei sind, bleiben die Wälder gefährlich. Zersplitterte Bäume können einem jederzeit um die Ohren fliegen. Wenn die inneren Spannungen zu stark werden."

    "Vergiß nicht die angestossenen Bäume", mahnte der Älteste fachmännisch. "Ihr Wurzelwerk wurde aus dem Boden gerissen, doch das siehst du nicht. Plötzlich kippen sie einfach um. Immer wieder erwischt es Leute von uns. Erinnert ihr euch noch an Ole?"

    Seine Kameraden murmelten zustimmend. Offenbar waren wir in eine Gruppe pensionierter Holzfäller geraten. "Kastanien sollten sie verstärkt pflanzen", riet einer. "Die halten stand. Doch bloss keine Pappeln. Die fallen sofort um."

    "Und dann die Überflutungen", legte ich nach. " Wie hoch wir die Dämme auch bauen, der Bergfluss findet immer einen Weg."

    "Schön, schön", antwortete der Älteste. "Erkläre mir aber doch mal, wie etwas so Unheimliches wirklich harmlos sein kann. Auch wenn bisher noch nichts passiert ist."

    Soße kam mir zur Hilfe. "Die letzte Sonnenfinsternis", sagte er. "Mein Großvater erzählte mir davon. Ein erschreckendes Schauspiel. Langsam schob sich ein Schatten über die Sonne. Als ob sie von einem Ungeheuer gefressen würde. Und dann wurde es stockfinster. Am hellichten Tag."

    "Ich habe auch eine erlebt", verkündete der Jüngste. "Ich zwei", ergänzte ein Zweiter. "Ich drei", trumpfte der Älteste auf. "Ich hatte wirklich Angst. Obwohl es sich um ein leicht erklärbares Naturphänomen handelt. Der Mond zwischen Sonne und Erde. Der Mondschatten über unserer Welt. "Skeptisch betrachtete er das Firmament. "Bellende Hunde beissen nicht? Seit Stunden geht das schon so da oben. Nicht ein Blitz schlug ein. Und ja, eigentlich ist das Ganze recht hübsch."

    "Schade, dass die Sternwarte nicht geöffnet hat", bemerkte ich. "Dort haben sie neue Fernrohre angeschafft. Mit denen würde ich die Erscheinung gerne näher betrachten. Wer weiß, wann wir so etwas das nächste Mal wieder zu sehen bekommen. Davon könnte ich noch meinen Enkeln erzählen."

    "Darf ich mich dazu setzen?", fragte eine wohl bekannte Stimme. "Zufällig habe ich euer Gespräch mitgehört. Das mit der Sternwarte ist eine hervorragende Idee. Ich werde veranlassen, dass sie sofort geöffnet wird. Kutschen werden für Interessierte bereit gestellt. Es gibt Speisen und Getränke. Alles kostenlos, versteht sich!"

    "Getränke nach Wahl?", wollte der jüngste ehemalige Holzfäller wissen.

    "Natürlich", versicherte Meister Arrund, der Herr vom Schulamt. "Die ersten Kutschen werden bald da sein. Sichert euch gute Plätze! Jungs, wenn ihr mich kurz begleitet. Es gibt noch eine Kleinigkeit zu besprechen."

    "Erstklassige Arbeit", lobte er uns, nachdem wir außer Hörweite gelangt waren. " Ich habe schon dafür gesorgt, dass eure Sprachregelungen von meinen Leuten weiter verbreitet werden. Bellende Hunde beissen nicht! Sehr schön. Gut auch das Beispiel mit der Sonnenfinsternis. Habt ihr nicht Lust, nebenbei für das Schulamt zu arbeiten? So wie dein Onkel Bernhard, Gustav. Er war nicht nur Lehrer. In den Wäldern suchte er für uns nach Artefakten aus dem Alten Reich. Einige der schönsten Stücke stammen von ihm"

    "Und die allerschönsten behielt er lieber für sich", dachte ich bei mir.

    "Ist es wirklich wahr", fragte Soße", dass einige Leute in die Museen eindrangen, die früher Tempel waren, um den alten Göttern Opfer darzubringen?"

    "Leider ja", bestätigte Meister Arrund. "Zum Glück waren nur ältere Bürger dabei. Keine jungen Leute. Der Vernunftunterricht bringt eben doch etwas. Doch jetzt muss ich weiter. Jungs, bis dann. Grüß mir deine Tante Meg, Gustav. Ich habe sie vor der Verkaufsbude von Gewürz Gunter gesehen."

    Das klang ungewöhnlich. Tante Meg beim Einkaufen, während des Dienstes? Es war aber auch kein normaler Tag.

    Während wir uns durch das Gewühl der Marktbesucher kämpften, fiel mir auf, dass sich die Stimmung verändert hatte. Auf einmal gab es lebhafte Unterhaltungen. Einige Bürger wiesen nach oben. Das sah eher nach Neugier als nach Schrecken aus. Sprüche wie "bellende Hunde beissen nicht" und "auch nicht schlimmer als eine Sonnenfinsternis" waren zu hören. Unfassbar, wie leicht es war, Menschen zu manipulieren.

    "Es macht dir wohl wirklich Spass, Menschen zu manipulieren!", sagte Soße.

    "Nur zu ihrem Besten", verteidigte ich mich.

    Schließlich hatten wir den Gewürzverkaufsstand erreicht. Tante Meg bemerkte uns sofort und winkte uns zu sich heran.

    "Wie viel Geld hast du dabei?", überfiel sie mich mit ihrer ersten Frage.

    "Ähm", antwortete ich und kramte in meinen Jackentaschen. "Nur Kupfergeld, glaube ich. Oh nein, warte. Ein Silbertaler!" Erstaunlich, was man alles in den Tiefen alter Kleidungsstücke finden konnte.

    "Gib her. Einen habe ich selber. Zwei Silbermünzen für ein Fünftel Pfund schwarzen Pfeffers. Der reinste Strassenraub! Hätten wir damals die Gegenoffensive nicht so früh abgebrochen, würden wir heute die Handelswege kontrollieren! Aber was geschehen ist, ist geschehen. Die Vergangenheit änderst du nicht mehr."

    Ihr Blick fiel auf meine Halskette. "Ildico hat es also nicht vergessen".

    "Die Frau vergisst selten etwas", bemerkte ich.

    "Wahrlich, eine würdige Schwiegertochter", stellte Tante Meg fest. "Achte darauf, die Kette auf der blossen Haut zu tragen. Sonst bringt sie kein Glück."

    "Soße blickte mich fragend an. "Eine Einhornhalskette von meiner Mutter", erläuterte ich. "Ich sollte sie erst anlässlich meiner Heirat bekommen. Für so abergläubisch hätte ich sie gar nicht gehalten."

    "Ein kleines bißchen harmlosen Aberglauben muss man doch jedem zubilligen. Ganz besonders deiner Mutter. Die größte Heilerin ihrer Generation. Ohne ihr Mittel gegen die Getreidefäule hätten wir heute noch Hungersnöte. Schon längst stünde ihr eine Statue im Garten der Weisen zu."

    "Danke", rief Tante Meg. "Endlich sagt es mal einer."

    Sie tippte mir auf die Schulter. "Kümmer dich mal darum. Was du am Tag der Jugend in der Halle des Volkes getan hast, hat mir sehr gefallen. Aber jetzt beeil dich, damit du zu deiner Verabredung nicht zu spät kommst."

    "Du weißt davon?"

    "Ich habe auch eine Einladung bekommen. Leider fehlt mir heute die Zeit. Grüße die Dame von mir."

    "Seltsam, dass ihr beide den selben Vornamen habt", warf Soße ein.

    Tante Meg sah ihn fragend an.

    "Meg, meine ich", fügte der Gastwirtsohn hinzu. "Sie heißt ja Meg Bess".

    "Ach, das ist doch ein Allerweltsname", winkte sie ab.

    Ich verabschiedete mich. "Viel Spass beim Einkaufen".

    Zu Fuß machte ich mich auf den Weg. Die Rote Witwe residierte neuerdings in einem ruhigen Viertel der Oberstadt, wo hauptsächlich höhere Verwaltungsangestellte und Justizangehörige lebten. Schlichters Elternhaus befand sich ganz in der Nähe. Ich bog in eine Seitenstrasse ein, die sich dadurch auszeichnete, dass dort nur ein Haus stand. Baugrund war knapp und teuer in der Oberstadt. Dennoch hatte sich niemand gefunden, um auf einem der neun freien Grundstücke in dieser Gegend ein Gebäude zu errichten. Die Flächen waren mit Büschen und Bäumen bepflanzt. Man konnte glauben, sich mitten in der Natur zu befinden. Vom Rauschen des Baches abgesehen, der durch die Gegend floss und über den eine Brücke führte, war es still. Kein Vogel machte sich bemerkbar. Auch keine Grille und keine Biene. Wie seinerzeit auf dem Friedhof. Ältere Schüler, die ihre Vernunftprüfung im Mordhaus absolviert hatten, erzählten gelegentlich hinter vorgehaltener Hand, und unter dem Einfluss von Bier und Heidelbeerwein, von unerklärlichen, wirklich furchteinflössenden Erscheinungen, die sie in dem Gemäuer beobachtet hätten. Onkel Bernies Behauptung, dies alles sei nur auf raffinierte technische Tricks zurückzuführen, schenkten sie keinen Glauben. Manche litten noch nach jahren unter Alpträumen. Natürlich sprach niemand offen darüber. Das Schulamt hatte seine Augen und Ohren überall.

    Hier hatte die Rote Witwe einmal gewohnt, dachte ich, als ich auf das Haus zuging. Mit ihrem Ehemann, den sie zu den Ahnen befördert hatte, wie so viele andere. Über diese Strasse hatte eine wütende Menge ihren nackten Leib geschleift, nur um festzustellen, dass sie ihr nichts anhaben konnte. Seltsam, dass sie das Gebäude nicht niedergebrannt hatten. Um Fackeln und Mistgabeln war der Mob sicher nicht verlegen gewesen. Das gehörte sozusagen zur Grundausstattung. Mehr als ausreichend, um ein schmales, mit sehr viel Holz errichtetes Fachwerkhaus in Flammen aufgehen zu lassen. Nach mehreren großen Stadtbränden war dieser Baustiel gerade wegen der leichten Entzündbarkeit solcher Behausungen verboten worden. Und dennoch stand es hier, das traute Heim der Familie Bess, unversehrt seit achtzig Jahren.

    Es wirkte harmlos. Im Gegensatz zu der Kutsche, die auf der Strasse parkte und mit der wohl andere Gäste gebracht worden waren. Die Pferde wirkten eher wie Schlachtrösser. Viel zu groß und zu kräftig für ihre Aufgabe. Einen befremdlichen Eindruck vermittelte auch der Kutscher. Man hätte ihn für tot halten können, so wie er zusammengesunken auf dem Kutschbock saß. Gehüllt in weite, schwarze Gewänder.

    Ich verspürte ein ganz schlechtes Gefühl. Zeit, meine Tränke zu mir zu nehmen. Die gesamte Palette.

    Ich wartete auf die Wirkung. Zuerst setzte der verstärkte Geruchssin ein, den Mutters Lügentrank verlieh. Der Kutscher war nicht ganz tot. Nur zu neunzig Prozent. Ein Grabwandler! Und die Pferde rochen nicht wie Huftiere. Sondern wie Raubtiere. Fleisch fressende Pferde! Sie blickten mich aus dunklen Augen direkt an. Langsam förderte ich eines der Feuereier zu Tage. Bevor ich den Stift ziehen konnte, öffnete sich die Eingangstür des Hauses. Eine hochgewachsene, schlanke junge Frau mit auffällig kurz geschnittenem Haar in einem dunklen Kampfanzug kam mit federnden Schritten auf mich zu.

    "Ihr?", fragte ich. "Was ist hier los? Arbeitet Ihr jetzt für Frau Bess? Hatten die Wölfe und Bären keinen Appetit?"

    "Sie zahlt sehr gut", antwortete die Söldnerin. "Und sie wird gewinnen. Wir sind gerne auf der Seite der Sieger. Komm mit. Die Gäste warten. Sei vorsichtig mit dem Ding in deiner Hand. Ein Feuerzauber passt im Augenblick gar nicht."

    Wenn das eine Falle darstellte, war es zum Davonlaufen zu spät. Ich entschied mich für Vorwärtsverteidigung.

    Sie ging voran. Ich folgte ihr, nach allen Seiten sichernd. Durch den Flur, hinein in den Salon. Dort duftete es nach Gebäck und Erdbeerkuchen und Kräutertee. Die Tafel war mit teurem Porzellangeschirr ausgestattet und mit Blumen geschmückt. Drei Personen hatten es sich auf bequemen Sesseln gemütlich gemacht.

    Wie es die guten Sitten verlangten, begrüsste ich zuerst den weiblichen Gast mit einer leichten Verbeugung.

    "Frau Tyr", sagte ich. "Ich war auf Eurer Beerdigung. Eine schöne Feier."

    "Meister Nossfu", sprach ich den Mann an. "Auch Euch hätte ich gern die letzte Ehre erwiesen. Aber es hieß, Ihr wäret bis zur Unkenntlichkeit verbrannt."

    "Frau Bess", wandte ich mich schließlich an die Gastgeberin. "Hübsches Kleid. Und eine sehr geschmackvolle Einrichtung."

    Die Rote Witwe lächelte.

  • Kräuter und die Mondelfen

    25.Kapitel

    Eine gemütliche Teerunde

    5.Teil

    "Wenn es bei dir so weit ist, komme ich auch gerne zur Totenfeier", zischte die Schwarze Witwe gehässig.

    "Also bitte" wies sie der Lehrer milde zurecht. "Wir wollen doch höflich bleiben. Schließlich geht es hier darum, diesen unerfreulichen Konflikt auf zivilisierte Weise beizulegen."

    Er wandte sich an mich. "Du machst einen überraschten Eindruck, Gustav. Sicherlich hast du dich auf den großen, epischen Endkampf gefreut. Wie in den Geschichten für junge Leute, die ihr so gerne lest. Der Bösewicht wird in seiner Festung gestellt. Die Guten stürmen voran. In dem Gemetzel kommen auch einige von ihnen um, damit es spannend bleibt. Doch es gelingt ihnen, den Anführer der Schurken zur Strecke zu bringen. Und wie von Zauberhand lösen sich seine Gefolgsleute in Luft auf, weil sie irgendwie an ihn gebunden sind. Glückliches Ende. Auch sehr bequem für die Autoren. Das Licht triumphiert über die Finsternis. Hurra! Aber muss das denn so sein, frage ich dich?"

    Ich sah ihn ungläubig an.

    "Abgesehen davon", fuhr er fort, "dass es sich bei Gut und Böse um ausgesprochen kindliche Begriffe handelt. Die Wirklichkeit ist doch wohl etwas komplizierter! Und auch beim glänzesten Sieg sterben Menschen. Auf beiden Seiten. Sollte man es nicht erst einmal mit Verhandlungen versuchen, anstatt ein Massaker anzurichten? Was uns betrifft, so sehe ich gute Aussichten für eine vernünftige Einigung. Ach ja, wenn du vielleicht dieses Mordinstrument wieder wegstecken könntest?"

    Mir wurde bewußt, dass ich das Feuerei immer noch in der Hand hielt. Was mir etwas unpassend vorkam, angesichts des Anblicks, den diese gemütliche Teerunde bot, die sich da versammelt hatte. Die Rote Witwe hätte ich fast nicht wieder erkannt. Sie hatte sich für ein buntes Sommerkleid und eine verspielte Lockenfrisur entschieden, ergänzt durch allerlei Schmuck. Eine Perlenkette, große, silberne Ohrringe und Ringe an allen Fingern. Offensichtlich legte sie Wert darauf, Harmlosigkeit vorzutäuschen. Meister Nossfu hatte die Herausforderung angenommen. Blaue Hosen, ein weißes Hemd und ein dazu passendes Halstuch. Er sah aus wie ein Kunstlehrer, der er vielleicht auch einmal gewesen war. Nur die Schwarze Witwe hielt an ihrer üblichen Kluft fest, hatte aber den Witwenschleier abgelegt, so dass man ihr Gesicht sehen konnte. Ganz so alt und zerknittert, wie ich mir das vorgestellt hatte, war sie nicht. Eine Frau in ihren frühen Sechzigern. Mit nur wenigen Falten und sehr blass, was kein Wunder war. Schließlich hatte sie Jahre einbalsamiert in ihrem Grab verbracht und musste das Sonnenlicht meiden.

    Vorsichtig verstaute ich die Waffe in einer Manteltasche und hängte das Kleidungsstück dann über die Lehne meines Stuhls.

    "Sehr schön", kommentierte der Lehrer, wobei es ihn nicht zu stören schien, dass sich mein gesamtes, mitgeführtes Arsenal weiterhin in Griffweite befand. Er lud mir ein Stück Erdbeerkuchen auf den Teller und begrub es großzügig unter einem Berg von Schlagsahne. "Wirklich lecker", sagte er. "Frau Bess hat ihn selbst gebacken. So etwas schätze ich sehr an einer Frau."

    "Backt Ihr auch?, fragte ich die Schwarze Witwe, die mißmutig auf ihren Teller starrte.

    "Wir hatten Personal", blaffte sie mich an.

    "Ihr müsst ihm verzeihen", bat die Rote Witwe. "Diese Situation ist doch recht ungewohnt für ihn. Immerhin habt Ihr einen seiner Freunde umgebracht."

    "Ganz zu schweigen von dem wahnsinnigen Experiment, das Ihr vorhabt.", ergänzte ich. "Wenn es fehl schlägt, steht der halbe Kontinent in Flammen. Und das wird es. Denn Euer Meister Lurra hat keine Ahnung!"

    "Dieser Narr", gab mir die Schwarze Witwe recht. "Drittklassik, bestenfalls."

    Deswegen sind wir ja hier", sagte der Lehrer. "Um eine elegantere Lösung zu finden. Glaube mir, ich setze doch nicht die Welt in Brand und töte Zehntausende, wenn das nicht unbedingt nötig ist. Ich bin doch kein Unmensch."

    "Dann lasst uns zum Geschäft kommen", bestimmte Frau Bess. "Ich fasse einmal die Lage zusammen. "Unser geschätzter Meister Nossfu hier ging vor Jahren einen Pakt mit den Mondelfen ein."

    "Das heisst den Himmlischen", warf Schlichters Großmutter ein. Jetzt, da ich ihr Gesicht sehen konnte, fiel mir die Ähnlichkeit mit ihrem Enkel auf. Das war unheimlich..

    "Wie auch immer", wurde sie kühl abgefertigt. "Die Mondelfen glauben an eine Prophezeiung, wonach einst ein Auserwählter käme, der die Menschen in den Kampf gegen sie führen und ihr Volk vernichten würde. Seit Jahrhunderten suchen sie nach diesem Mann. Wer er ist und wo er lebt, soll aus einem Text aus dem Alten Reich hervorgehen. Dem Buch der Namen. Meister Nossfu versprach, es zu finden und ihnen zu übergeben. Im Gegenzug entführten sie eine Sturmtochter für ihn. Agnatha aus dem Hause Sverrig. Sie legten ihr ein Halsband an, das die Seelenkraft in sich aufnehmen sollte, die solchen Menschen innewohnt."

    "Dir ist klar, wovon die Rede ist?, fragte der Lehrer. Offenbar stellte er gern Wissensfragen.

    " Wolkensöhne und Sturmtöchter, so nennt man Leute, die das Wetter vorhersagen können", antwortete ich. "Eine besondere Kraft soll ihnen das ermöglichen. Die Seelenenergie, deren Existenz allerdings nicht allgemein anerkannt wird."

    "Oh, die gibt es", versicherte mir Meister Nossfu.

    "Sobald das Halsband, aus Sonnenstein gemacht, genug Seelenenergie aufgenommen hätte", fuhr die Rote Witwe fort, "würden die Mondelfen sie genau dosiert und kontrolliert freisetzen, so dass sie aufgenommen werden kann. Und den Empfänger unsterblich macht. Während diese Vorgangs müssen außerdem noch Ritualworte aus der Alten Sprache aufgesagt werden. Wobei sich der kleinste Fehler verheerend auswirken könnte."

    "Das wäre alles gewesen", stellte Meister Nossfu fest. "Ganz einfach. Die Sache mit dem Kinderblut hätten wir uns sparen können. Ich hätte mein Ziell erreicht. Ohne dass jemand etwas gemerkt hätte."

    "Aber leider", bemerkte die Rote Witwe bedauernd, nicht ohne eine leichte Beimischung von Schadenfreude, "ging Einiges schief. Ich fürchte, mein lieber Meister, ich muss jetzt auf Eure Fehlschläge zu sprechen kommen."

    "Streut nur Salz in meine Wunden," stöhnte der Angesprochene. "Ich hoffe, Ihr habt wenigstens ein bisschen Spass dabei."

    "Nun", fuhr Frau Bess fort, "das Buch der Namen sollte Euch Gustavs Onkel Bernard beschaffen. Lange Zeit Euer wertvollster Gefolgsmann. Sehr begabt bei der Suche nach Artefakten aus dem Alten Reich. Vordergründig für das Schulamt tätig, hortete er in Wirklichkeit seine Fundstücke in einem geheimen Versteck. Da er außerdem der größte Experte auf dem Gebiet der Alten Sprache war, wäre es auch seine Aufgabe gewesen, die Rezitationen vorzunehmen. Aber leider verschwand er unverhofft. Dabei hattet Ihr Euch doch ganz und gar auf ihn verlassen."

    "Was immer ein Fehler ist", antwortete Meister Nossfu. Er sah mich prüfend an. "Du weisst nicht zufällig, wo er ist?"

    Ich schüttelte den Kopf. "Niemand hat ihn nach seiner Verbannung zu Gesicht bekommen. Vielleicht versteckt er sich. Euer Vorhaben wurde ihm wohl zu gefährlich. Ich kann nicht glauben, dass er sich auf so etwas eingelassen hat!"

    "Du hast ihn nicht so gut gekannt, wie du geglaubt hast"

    "Und als er weg war, benötigtet Ihr einen Ersatz. Mich.", vermutete ich.

    "Ganz recht", bestätigte die Rote Witwe. "Unser geschätzter Gast vermutete natürlich, dass dein Onkel dir seine Sammlung hinterlassen hätte. Womöglich auch das Buch der Namen. Außerdem kennst du dich mit der Alten Sprache fast so gut aus wie er. Also versuchte man, deiner habhaft zu werden. Die Welt sollte glauben, du wärest in dem brennenden Haus der Sverrig ums Leben gekommen. Damit niemand auf den Gedanken käme, sich auf die Suche nach dir zu machen. Dafür mussten deine Freunde natürlich sterben. Um euch wehrlos zu machen, wurde Traumweiss in eure Suppe gemischt. In Illusionen verloren, wäret ihr leichte Opfer gewesen. Doch wieder geschah etwas Unerwartetes"

    "Dieser verdammte Meister Thing", schimpfte die Schwarze Witwe. " Natürlich haben wir das Gift vorher getestet. Es schien einwandfrei zu wirken. Wer konnte denn ahnen, dass man es so bereiten kann, dass es nur bei Jugendlichen sehr schnell seine Kraft verliert? Insbesondere bei Siebzehnjährigen."

    "Donnerwetter", sagte ich beeindruckt. "Dass so etwas möglich ist!"

    "Weißt du was?", fragte Meister Nossfu. "Für seinen Verrat wollte ich ihn eigentlich töten lassen. Aber wenn wir uns heute einigen, lasse ich ihn dir. Von ihm kannst du noch viel lernen."

    "Auch Euer zweiter Versuch, Gustav gefangen zu nehmen, schlug fehl", setzte die Rote Witwe ihren Vortrag fort. "Ihr gabt die Hoffnung auf, doch noch in den Besitz des Buches der Namen zu gelangen, und entschiedet Euch für einen anderen Weg. Das Blut von hundert Kindern, von einem Opferstein in Energie umgewandelt, könnte Euch immer noch die Unsterblichkeit bescheren, auch ohne die Hilfe der Mondelfen. Natürlich ist das sehr gewagt, zumal Meister Lurra, den Ihr entführen ließt, die Alte Sprache nur mangelhaft beherrscht.. Vermutlich werdet Ihr scheitern. Niemand weiss, was geschehen wird, wenn der von Euch eingeleitete Prozess ausser Kontrolle gerät. Vielleicht gar nichts. Oder die ganze Welt steht in Flammen."

    "Und das wollt Ihr riskieren?", fragte ich entsetzt?

    "Nicht, wenn du uns hilfst", gab der Lehrer zurück.