1
Avro Prät saß auf der Terrasse und blickte verträumt ins Weite. Eine starke Abendsonne rötete das bleiche Gesicht des alten Mannes, seinen struppigen Bart, seine mürrische Miene, die grauen verlassenen Augen, die trotz ihres Alters noch voller Klarheit waren. Das Buch, in dem er gelesen hatte, entglitt seinen Händen . . . Er neigte den Kopf zur Seite und begann, mit offenen Augen leise zu schnarchen.
Über dem Garten, in geradezu brutalem Kontrast zum sanftroten Abendhimmel, lag das zackige Kronengewirr der alten knorrigen Kiefern des Stadtparks; ihre Nadeln, dick mit Wachs überzogen und von Sonne übersättigt, blitzten wie winzige Schwerter. Darunter, wie in erstarrter Verzweiflung ringend, das krumme sturmgeformte Geäst, schlangengleich und rötlich übermalt.
Weiter hinten, am dunstigen Horizont, baute sich gerade eine Gewitterfront auf.
Der raue Schrei einer Krähe, die ihn von hoher Baumwarte beäugte, weckte ihn aus seinem Schlummer. Er blickte auf den Garten mit seiner schwellenden Blütenpracht. Duftende Philadelphien, weiße Gartenhibisken, großblütige Hortensien und viel farbenfrohes Geblüm.
Und da war wieder diese Musik, die er schon seit einiger Zeit, vornehmlich in den Abendstunden, vernahm. Sie stammte weder aus irgend einem Radio, noch aus dem Fernseher, noch vom Marktplatz – sie war einfach da, in seinem Kopf – mal lauter, mal leiser, wie aus weiter Ferne.
„Ein Tinnitus!“, sagte der HNO-Arzt näselnd, „in Ihrem Alter muss man damit rechnen. Können Sie nachts schlafen?“
Avro konnte nachts gut schlafen, und er wusste jetzt auch, dass es keine Phantomklänge waren, die er da hörte, sondern Himmelsmusik.
Er hielt die Hand vor die Augen und blickte zur Sonne, ohne sie direkt anzusehen. „Irgendetwas stimmt mit ihr nicht“, murmelte er, „schon halb acht, und immer noch hoch am Himmel!“ Er schüttelte den Kopf. „Sollte sie das Untergehen verlernt haben? Wie war´s denn gestern?“ Er versuchte, sich zu erinnern, doch da war nur blendende Helligkeit.
Inzwischen war die Gewitterfront näher gerückt. Dunkelgraue Wolkenkissen mit gleißend weißen Rändern entstanden und verschwanden wieder. Darüber lag immer noch, als ginge ihn das alles nichts an, der blendend blaue Hochsommerhimmel.
Ein kalter Windhauch, Vorbote des Gewitters, fuhr durch den Garten und wehte den Duft seiner Lieblingsrose heran. Avro schob die Nase vor und sog den Duft mit weiten Nüstern gierig ein wie seine Kehle einen köstlich kühlen Wein. Es war ein sanfter, milder, leiser Rosenduft, und man musste schon eine sehr gute Nase haben, um ihn aus den anderen Düften des Gartens heraus zu riechen. Wie auch diese Rose eine ganz besondere war: Beim Aufblühen bildete sich im Zentrum der Blüte eine Stelle, die an reines helles Gold erinnerte, während der Rest noch in unbestimmter Farbigkeit lag. Allmählich vergrößerte sich der Fleck und erglühte wie flüssiges Kupfer, dessen Strahlkraft jetzt auch die anderen Blütenblätter erfasste und sie in ein strahlendes Gelb verwandelte; für ein, zwei Tage war der Strauch eine geradezu überirdische Schönheit, ein Wunder an Leuchtkraft, dessen Leuchten noch bis in die späte Dämmerung hinein das Auge entzückte.
Doch seltsam. Obwohl der Wind jetzt stark wehte und sich die anderem Sträucher im Garten bogen – dieser Srauch bewegte sich nicht. Er stand da wie eine Fata Morgana über der Wüste. Was er schon immer vermutet hatte, jetzt empfand er Gewissheit: Dieser Rosenstrauch war eine Lichterscheinung aus einer anderen Welt.
2
Avro Prät fühlte sich nach hinten gezogen. „Herr Prät“, sagte eine weibliche Stimme, „das Gewitter bricht gleich los.“ In der Tat; am bleigrauen Himmel kämpften ungeheure Titanen mit feurigen Schwertern einen geräuschlosen Kampf. „Es wäre gut, wenn Sie zurück ins Zimmer kämen und wir die Türen schließen könnten.“
Avro erfasste ein schlimmer Verdacht. War das nicht die Stimme seiner Frau?
„Violetta, du hier?“, rief er verwirrt.
„Bitte, kommen Sie ins Zimmer zurück!“, sagte die Stimme.
„Was in meiner Wohnung gut ist, entscheide immer noch ich!“, rief er aufgebracht. Seine gichtigen Finger verkrampften sich in den Greifreifen des Rollstuhls. „Lass gefälligst den Rollstuhl los!“
„Herr Prät, seinen Sie doch vernünftig!“
„Ich will aber nicht vernünftig sein!“, keifte er.
Die Schwester, eine Mongolin mit eckig nachgezogenen Augenbrauen, seufzte tief und schickte sich an, wenigstens den Seitenflügel zu schließen.
Auf einmal wurde Avros Geist wunderbar klar; die Schatten der Vergangenheit wichen, und eine nie gekannte Heiterkeit hüllte ihn wohlig ein. Alle Unbestimmtheit und Besorgnis schmolzen dahin wie Butter in der heißen Pfanne. Jetzt wusste er, was zu tun war. Ohne weiter zu überlegen gab er mit der gesamten Kraft, die seine dürren Arme noch hergaben, den Reifen seines Krankenstuhls einen kräftigen Schwung; der Rollstuhl flog über die Terrasse, sauste über den Garten, über die sturmgepeitschten Kiefernwipfel, über das aufbrausende Wasser des Hafenbeckens und war Sekunden später hinter einer zuckenden Gewitterwolke verschwunden.
Forts. folgt