Hallo!
Nach fast einem Jahr nachwuchs-bedingter Abwesenheit (morgen ist 1. Geburtstag image.png), komme ich langsam wieder dazu, die neuen Geschichten hier im Forum etwas anzulesen und mich selber wieder ans Schreiben zu machen.
In einem längeren Projekt stehe ich jetzt an einer Stelle, bei der ich eine neue und sehr wichtige Figur einführen darf. Allerdings bin ich mir nicht so ganz sicher, ob es so „läuft“. Ich fühl mich beim Schreiben nach der längeren Abstinenz ein bisschen eingerostet und aus der Sicht einer Fürstentochter hab ich auch noch nie etwas geschrieben...image.png
Das Kapitel spielt in einer Stadt namens Plint, in der die beiden Hauptfiguren eine ortsunüblich große Explosion verursachen. Das ruft die besagte neue Figur, Rubina von Ee, auf den Plan.
Die Einführung in das Kapitel lasse ich mal weg, sondern komme gleich zum Eingemachten), wenn jemand reinlesen und seine Rückmeldung dalassen mag, würde mir das sehr helfen. Lg Jota
Kapitel 4 - von Ee und Ehe
Was soll man sagen über Plint? Man kann alles sagen. Oder nichts. Was verschweigt man? Was gibt man preis?
Alles, was man über Plint erzählt, lässt tausend andere Dinge über diese seltsame Stadt aus. Jede Wahrheit kommt einer Lüge gleich – und jede Lüge grenzt wiederum an die Wirklichkeit. Letztlich ist es also egal, ob man über Plint plaudert oder schweigt. Doch wenn man spricht, was man nicht sollte, dann sagt man am besten nur: Plint ist eine Stadt wie jede andere auch – und doch völlig einzigartig.
[Hier kommt eine etwas längere Beschreibung von Plint, aus der im Prinzip nur hervorgeht, dass es in der Stadt immer sehr heißt ist - das überpsringen wir getrost .]
Rubina von Ee mochte diese Stadt, ihre Stadt: trotz allem. Trotz der gnadenlosen Hitze, des allgegenwärtigen Chaos und der bestenfalls mittelmäßigen Moral der Bewohner. Auch wenn sie weit oben im Hochturm der fürstlichen Residenz wohnte und das Stadtpanorama meist geviertelt durch ein Fensterkreuz beobachtete, fühlte sie sich zuhause in Plint. Jetzt umso mehr, da ihr diese Heimat bald abhandenkommen würde.
„Bist du denn gar nicht aufgeregt, Schwesterherz?“, kam es neugierig von hinten.
„Nicht sonderlich“, gab Rubina achselzuckend zurück, während ihr eine Zofe die Haare zurechtmachte. Sie beobachtete sich im Spiegel. Mit den jetzt streng zurückgekämmten Haaren und dem hochgeschlossenen Korsett kam sie sich selbst fremd vor. Sie erkannte keine zukünftige Braut in ihrem Spiegelbild. Eigentlich sah sie gar niemanden, den sie kannte oder kennen wollte. Vor allem niemanden, der glücklich zu sein schien.
Ganz anders als Marina, ihre jüngere Schwester, die vergnügt auf dem großzügigen Bett hinter ihr lag und aufgeregt in einem Ratgeber für höhere Töchter blätterte – und sich tatsächlich auf die abendliche Verlobungsfeier zu freuen schien. Von Zeit zu Zeit blickte sie von ihrer Lektüre auf und ihre Blicke begegneten sich flüchtig im goldgefassten Frisierspiegel.
„Immerhin lernst du heute deinen zukünftigen Gemahl kennen“, seufzte Marina sehnsuchtsvoll, stützte den Kopf auf die Hände und überkreuzte die Beine. „Wie er wohl aussieht? Vielleicht wie ein waschechter Märchenprinz?“
„So wie ich Vaters Geschäftspartner kenne, ist er ein ungehobelter Klotz aus irgendeiner Provinz. Hauptsache er hat genug Wald, Kohle oder Geld.“
„Das klingt doch nach einer guten Partie.“
„Die Frage ist, für wen. Für Vater? Ja, zweifellos“, meinte Rubina.
„Den Kopf bitte gerade halten, Majestät.“
Marina blätterte geräuschvoll um. „Sei doch froh. Wie willst du denn sonst noch einen Ehemann finden, wenn nicht so?“
„Vielleicht will ich gar keinen finden?“
„Pf“, machte Marina. „Was denn sonst? Prinzessinnen sind zum Heiraten da.“
„Sagt wer?“, entfuhr es Rubina vielleicht etwas schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
„Vater“, gab Marina unumwunden zurück. Und an dem ganz selbstverständlichen Ton ihrer Antwort bemerkte Rubina, dass ihre kleine Schwester noch nie wirklich darüber nachgedacht hatte, sondern artig nachplapperte, was man ihr eingetrichtert hatte. „Ja“, nickte Rubina darum nur, „wer sonst… Findest du nicht, dass wir selbst übers Heiraten entscheiden sollten?“, fragte sie schließlich.
„Wenn ich selbst entscheiden könnte, würde ich schon morgen heiraten“, rief Marina voll Inbrunst aus. Sie schüttelte wonnevoll ihren blonden Lockenkopf. „Und das letzte Mal, als du selbst entschieden hast, hast du dir diese hässliche Narbe über dem Auge zugezogen.“ Sie kicherte.
Rubina sagte nichts mehr. Sie nahm es ihrer kleinen Schwester nicht einmal übel. Marina schien in ihrem Dasein als heranwachsende Fürstentochter vollends glücklich, vor allem, wenn sie sich mit ihren schnatternden Freundinnen über den höfischen Tratsch austauschen oder sich für einen Ball herausputzen konnte. Während Rubina selbst immer schon eine Mischung aus Langweile und Abneigung gegenüber den höfischen Verpflichtungen empfunden hatte, schien Marina sie regelrecht zu genießen. Sie passte mit ihrem süßen Lachen und ihrer Vorliebe für wallende Kleider perfekt in die fürstliche Residenz, wie ein süßes, artiges Schmusekätzchen. In den Augen ihres Vaters sah Rubina deutlich, dass Marina sein erklärter Liebling war. Vor allem seit Mutter tot war. Während Rubina ihren Vater in der Öffentlichkeit Majestät oder Fürst Ee nennen musste, durfte Marina immer noch „Papa“ sagen. Er nannte sie dafür Prinzesschen. Sonst hatten sie nur noch einen deutlich älteren Bruder, Robert von Ee, den sie kaum kannten und der sie, wenn er einmal im Jahr auf Besuch kam, scheu grüßte. Vielleicht-
Es klopfte und eine Hofdame streckte den Kopf herein: „Die Kutsche ist eingetroffen.“
Marina sprang vom Bett, stürmte zum Turmfenster und blickte hinab in den Hof des Burgfrieds. „Gezogen von sechs weißen Pferden! Wie romantisch!“ Freudestrahlend flog sie heran und nahm ihre große Schwester in die Arme.
Rubinas Magen krampfte sich zusammen. Jetzt war es also bald soweit.
Als sie eine Stunde später das Spalier des aufgereihten Hofstaates im Ballsaal durchschritt, war Rubina froh, dass ihr Vater sie am Arm führte. Sie wäre sonst wohl einfach vor der Gasse aus herausgeputzten Würdenträgern, edlen Damen und Günstlingen ihres Vaters stehengeblieben und hätte den Blumenstrauß in ihren Armen angestarrt.
Am Ende dieses seltsamen Tunnels aus neugierigen Blicken, wedelnden Fächern und Parfumduft, erwartete sie die angereiste Festgesellschaft aus Ober-Wayrling. Auch hier blickten ihr alt- und ehrwürdige Gesichter entgegen – und ein offenbar ganz besonders honoriges Mitglied des wayrlinger Rates mit ergrautem Haar und gebückter Haltung hatte einige Schritte vor dem Rest Aufstellung genommen, um sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zu erwarten. Quer über die Brust trug der Mann eine reich verzierte Schärpe mit goldbestickten Rändern und auf dem Kopf einen altmodischen Hochhut. Nur ihren zukünftigen Bräutigam konnte Rubina noch nirgendwo entdecken.
Gemessenen Schrittes näherten sie sich. Der dicke Teppich unter ihren Füßen dämpfte jedes Geräusch. Rubina riskierte einen Seitenblick. Alles war so edel zurechtgemacht, der ganze Saal strotze vor Blumen, Schmuck, polierten Gläsern und Seidentüchern. Ein Streichorchester wartete im Hintergrund auf den Einsatz. Sogar den großen Luster hatte man entzündet, in der erwartungsvollen Stille glaubte Rubina, das leichte Brutzeln des Kerzenwachses über ihr hören zu können.
Während ihr Vater die Gelegenheit nutzte um ein zufriedenes Lächeln zu zeigen oder die Umstehenden mit einem Schlenker aus dem Handgelenk zu begrüßen, hielt Rubina ihre Blicke wieder stur geradeaus und versuchte, nur bloß nicht zu stolpern oder sich eine Peinlichkeit zu leisten.
„Da ist er“, flüsterte ihr Vater lächelnd, während er sie weiter ihrem Ziel entgegenführte. „Ist er nicht großartig?“
„Wer?“, fragte Rubina.
„Dein Mann. Der ganz vorne.“
„Der Tattergreis?“, entfuhr es Rubina entgeistert.
„Rumpold ist rüstige zweiundsiebzig – wenn überhaupt“ (wir erinnern uns der Problematik mit der Zeitmessung), antwortete ihr Vater mit gedämpfter Stimme.
Der Greis lächelte gekünstelt als sie näherkamen.
„Der hat ja nur mehr einen einzigen Zahn“, zischte Rubina angewidert und versuchte dabei irgendwie, ihr eigenes Lächeln zu bewahren.
„Im Unterkiefer“, schränkte ihr Vater ein, „oben hat er noch vier weitere. Außerdem hat er noch genau soviele Bergwerke wie Zähne. Bergwerke, deren Kohle wir sehr gut gebrauchen können.“
„Die du sehr gut brauchen kannst.“
„Du wirst mich jetzt nicht blamieren. Nicht schon wieder“, sagte Fürst Ee bestimmt. Seine Finger schlossen sich etwas fester um Rubinas Hand. Rubina empfand seinen Griff längst nicht mehr als Stütze, sondern als Fessel.
„Ich bin erst um die fünfundzwanzig“, hauchte sie. Es hatte selbst in ihren eigenen Ohren etwas gleichermaßen Flehentliches wie Aussichtsloses.
„Du bist schon fünfundzwanzig. Und keine Sorge, mein Kind, Graf Rumpold war schon zwei Mal verheiratet. Er weiß, wie das alles geht.“
Sie waren heran und blieben stehen. Rubina und ihr Vater verbeugten sich höflich, während Graf Rumpold sie mit seinem greisenhaft milden Lächeln weiterhin anblickte, als wäre er eine Figur aus Wachs. Erst als ihm einer seiner Begleiter diskret etwas ins Ohr flüsterte, verbeugte auch er sich, streckte Rubina seine zitternde Rechte entgegen und fragte ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten: „Darf ich um diesen Tanz bitten?“
„Auf gar keinen Fall,“ sagte Rubina instinktiv und schüttelte den Kopf.
„Was sagt sie?“, wandte sich Rumpold an Rubinas Vater und beugte sich nach vorne, um die Antwort besser zu verstehen. Anscheinend war er auch noch schwerhörig.
„Sie ist begeistert“, sagte Rubinas Vater mit gesteigerter Lautstärke und bedachte seine Tochter mit einem mehr als eindringlichen Seitenblick.
Das Einzige, was Rubina die dargebotene Hand mit der ledrigen Haut schließlich ergreifen ließ, war, dass sie selbst weiße Stoffhandschuhe trug – und dass es anscheinend keine andere Möglichkeit gab, der Situation zu entkommen.
Die Gasse aus Menschen hinter ihr weitete sich und gab eine Tanzfläche in ihrem Inneren frei.
Ein Taktstock klopfte und das Orchester begann zu spielen.
Sie begannen zu tanzen. Rubina liebte das Tanzen. Aber das hier hatte nichts damit zu tun. Es war mehr ein Schunkeln, ein Hin- und Herwiegen zur Musik des Orchesters, das wohl ganz absichtlich ein sehr langsames, ja fast betont langweiliges Stück ausgewählt hatte. Graf Rumpold führte nicht, sondern hielt sich im Prinzip nur an ihren Händen fest. Da er ein gutes Stück kleiner war als sie, starrte Rubina direkt auf den schwarzen Filz seines Hochhutes. Irgendwann blickte sie einfach nach oben, auf die Streben des gemauerten Gewölbes der großen Halle und kam sich dabei zunehmend vor, als sähe sie sich selbst von außen in einem Traum. Wie lange mochte es wohl dauern? Wohl nur wenige Momente. Rubina kam es trotzdem wie eine Ewigkeit vor. Als die letzten Takte endlich verklungen waren, gab es höflichen Applaus. Ihr zukünftiger Ehemann war offensichtlich erleichtert, er schnaufte hörbar durch, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging zur Stirnseite der Tafel, um dort an der Seite von Rubinas Vater Platz zunehmen. Seine zukünftige Braut ließ er einfach stehen, sodass Rubina ihm im Abstand von ein paar Schritten folgen musste.
Auch an der Festtafel beachtete Graf Rumpold sie gar nicht weiter, sondern neigte sich mit seinem guten Ohr zu Rubinas Vater, um angeregt mit ihm zu diskutieren. Die wenigen Wortfetzen, die Rubina verstehen konnte, kreisten um „Zentner“, „Hektar“ und „Gehöfte“. Sie verhandelten also. Über den Preis für die Ehe. Über ihren Preis. Am unteren Ende der üppig beladenen Tafel saß Marina, die ihr von Zeit zu Zeit fröhlich zuwinkte. Ein bitterer Geschmack breitete sich in Rubinas Mund aus, ihr wurde übel.
„Ich bin vom Tanzen erschöpft und möchte mich kurz zurückziehen“, keuchte Rubina in Richtung ihres Vaters. Ihre Stimme war so leise, dass sie im allgemeinen Gesprächslärm fast unterging. Nach einem missbilligenden Seitenblick des Fürstens fügte sie noch entschuldigend „Ich kann kaum atmen“ hinzu und fächerte sich mit der Serviette Luft zu. Das war nicht einmal gelogen.
„Lass dir nicht zu lange Zeit, ich will bald die Verlobung verkünden“, sagte ihr Vater eindringlich und widmete sich wieder dem Gespräch mit Graf Rumpold. Rubina erhob sich, wartete, bis der Diener den Stuhl zurückgeschoben hatte und ging Richtung Ausgang. Ihr zukünftiger Ehemann hatte es nicht einmal bemerkt.
Sie bot alle innere Stärke auf, um gemäßigten Schrittes durch den Saal zu gehen und nicht einfach loszurennen. Draußen angekommen, presste Rubina sich an die kühle Steinwand und atmete heftig ein- und aus. Die irritierten Blicke der Dienerschaft im Rücken, die Speisen in den Saal und leere Teller hinaustrug, ging sie mit fahrigen Schritten zur Treppe und begann in den Turm hinaufzusteigen. Hinter sich hörte sie alsbald die leichten, hellen Schritte zweier Hofdamen und wenn sie sich nicht täuschte, mischte sich das schwere Stampfen Bertrams, ihres Leibwächters, darunter, der in gebührlichem Abstand folgte. Konnte sie nicht einmal jetzt für eine kleine Weile alleine sein? Auf halber Höhe des Turms begann Rubina plötzlich zwei Stufen auf einmal zu nehmen, dann drei, dann begann sie zu laufen, mit fliegendem Puls erreichte sie das Obergeschoss, stürmte in ihr Gemach, donnerte die Tür hinter sich zu, warf sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen, um bitterlich zu weinen.
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Als Rubina sich schließlich das verklebte Haar aus dem Gesicht strich und die tränenschweren Augen öffnete, stand ihr ein Satz klar vor Augen: „Das größte Glück einer Gattin ist es, ihrem Gemahl das Leben zu erleichtern und ihm allezeit zu gefallen.“ Marinas Ratgeber, den sie liegengelassen hatte. Aufgeschlagen war eine bunt bemalte Doppelseite – der Merksatz stand auf einem Transparent, das zwei fliegende Tauben aufspannten und das eine Girlande aus Blumen umrankte. Rubina fuhr mit einem Wutschrei hoch und schleuderte das dämliche Buch in den offenen Kamin (der eher eine dekorative Rolle spielte, denn aufgrund der allgegenwärtigen Hitze war es so gut wie nie nötig, tatsächlich ein Feuer zu entfachen – außer es kam zu Situationen, in denen aus dramaturgischen Gründen ein prasselndes Kaminfeuer nötig war).
Rubina atmete durch, dieses unselige Machwerk wenigstens zur Verbrennung vorgemerkt zu haben, öffnete dann die gläserne Tür zu ihrem Balkon und trat hinaus ins Freie. Sofort schlug ihr die betäubende Hitze Plints entgegen, die hier oben, auf den von Zinnen gerahmten Rundbalkon, noch drückender lastete. Die Steinplatten glühten förmlich unter ihren Sohlen. Sie empfand die Temperatur im Kontrast zur Kühle im Inneren des Schlosses dennoch als beinahe angenehm, wie ein verbindlicher Händedruck, oder mehr noch: wie eine tröstende Umarmung von einem alten Freund.
Zitternd trat sie an die Brüstung heran und griff nach einer Zinne. Es tat wohl, den alten, rauen Stein unter den Fingern zu spüren. Er hatte etwas Wirkliches, Schweres, das ihr Halt gab. Rubina packte fester zu und schwang sich mit einer fließenden Bewegung auf die Brustwehr (in den Zwischenraum zwischen den Zinnen hinauf), löste dann ihre Hände und lugte in die Tiefe. Sie war oft so dagestanden, schon als Kind, und hatte in den Abgrund unter ihr geblickt. Sie erinnerte sich: Sie musste zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein, als ihre Mutter beim Morgenmahl schreckensbleich erzählte, man hätte sie des nachts so gefunden, schlafwandelnd, träumend zwischen den Zinnen stehen. Leicht nach vorne geneigt, mit den Zehen an der Kante. Auch jetzt kam sich Rubina vor, als schlafwandle sie, gefangen in einem Traum, aus dem es nur einen Ausweg gab. Es wäre so leicht, einen Schritt nach vorne zu machen, hinaus ins Nichts, einen letzten Schritt hinaus in diese erdrückende und zugleich so selige Hitze ihrer Stadt. Vielleicht würde die heiße Luft sie tragen, wie eine Wolke, auf der sie davonsegeln konnte. In die Ferne, zum Horizont hin, um am nächsten Morgen wieder zu erwachen und beim Frühstück ihre Mutter in die Arme zu schließen. Aber der leichte Schwindel und das Gefühl des Sogs von unten – sie kamen nicht.
Stattdessen stieg ein scharfer Knall aus den verwinkelten Gassen Plints empor und rollte über die glatte Fassade der fürstlichen Residenz nach oben, um sich über ihr ein zweites Mal zu brechen, wie ein Peitschenhieb. Rubina zuckte so erschrocken zusammen, dass sie tatsächlich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Das Fensterglas ihres Turmzimmers klirrte noch für einen Augenblick vernehmlich, als hätte jemand mit einer Gabel an ein Trinkglas geschlagen. Nach einem Moment gespenstischer Stille kam das Echo von Geschrei aus der Stadt zu ihr hochgeweht. Irritiert suchte sie das Stadtpanorama nach Hinweisen auf eine Explosion ab – und vielleicht täuschte sie sich, aber stieg da nicht genau über dem großen Quabbelmarkt eine graue Rauchfahne in die Höhe?
Rubina kletterte von der Mauer, ging schnellen Schrittes in ihr Zimmer und lugte dann hinaus auf den Flur, um zu lauschen. In der Residenz selbst blieb es anscheinend völlig still. Nur Bertram stand breitbeinig vor der Tür und blickte sie unverständig an. Die beiden Zofen waren nirgendwo mehr zu sehen, anscheinend hatten sie nur sicherstellen sollen, dass sie wirklich in ihr Zimmer ging und waren dann zur Feier zurückgekehrt. Wenn Bertram nichts gehört hatte, dann dürfte hinter den dicken Mauern des Schlosses also überhaupt niemand den Knall wahrgenommen zu haben. Im Bankettsaal war schon allein wegen der Musik kaum etwas von draußen zu hören.
„Was ist?“, fragte Bertram.
Rubina schloss die Tür und ging zum Spiegel. Es war seltsam: Sämtliche Aufregung hatte sich plötzlich gelegt. Eine eigenartige Ruhe – vielleicht war es Entschlossenheit? – kehrte in sie ein, als sie ihr Gesicht in der Spiegelung betrachtete und ihre Blicke wie immer an der Narbe über dem linken Auge hängenblieben. Dieser rote Halbmond mit den gezackten Rändern auf ihrer Stirn war das Resultat einer Meinungsverschiedenheit mit einem überstehenden Dachziegel. Sie hatte eigenmächtig einen Reitausflug unternommen und lag die folgenden zwei Tage in einem tiefen, fast todähnlichen Schlaf.
„Jetzt siehst du, was du davon hast“, hatte ihr Vater damals tadelnd gesagt. Es war das Erste, was er gesagt hatte, nachdem sie wieder erwacht war. Und er hatte Recht damit gehabt: Ja, in der Tat, jetzt sah sie es. Sie hatte diesen Satz oft gehört, aber erst heute begann sie ihn wirklich zu verstehen: Diese Narbe war der sichtbare Beweis, dass es etwas änderte, wenn man selbst entschied. Ob zum Besseren oder Schlechteren war fürs Erste egal. Es gab Konsequenzen für die eigenen Handlungen, die musste man wohl oder übel tragen. Oder man trug die Konsequenzen der Entscheidungen anderer. Eine dritte Wahl gab es nicht, denn das war das Leben und alles andere eine Lüge. Jetzt wusste Rubina auch, was dieses angenehm ruhige Gefühl in ihr war: es war Klarheit.
Dieser seltsame Donnerschlag aus den Gassen Plints, sie war sich mit einem Mal ganz sicher, dass er ihr gegolten hatte – und niemandem sonst. Wie ein Ruf, der sie wecken sollte. Sie hatte ihn gehört. Sie war wach. Was jetzt?
Rubina rupfte sich das seidene Haarband vom Kopf und zog die goldenen Ringe von den Fingern, um sie achtlos auf die Kommode zu werfen. Dann ging sie zu ihrem Schrank und nahm den dunklen Kapuzenmantel vom Kleiderhaken. Zwar war es wegen der Hitze fast unerträglich, einen Mantel mit Kapuze in Plint zu tragen, aber unverhüllt wäre sie in den ohnehin schon engen Gassen von Bitstelllern aller Art aufgehalten worden und kaum mehr vorangekommen. Sie schlüpfte in die Ärmel und band sich einen schmalen Ledergürtel um. In die Innentasche steckte sie noch den Dolch, den ihr Bertram einmal heimlich besorgt hatte. Sicher war sicher.
Entschlossen trat sie auf den Flur hinaus.
„Können wir wieder?“, fragte Bertram, der an der Mauer lehnte und scheinbar konzentriert die Nieten seines Handschuhs untersuchte. Als er ihre veränderte Garderobe bemerkte, runzelte er missbilligend die Stirn.
„Ich wünsche auszugehen.“
„Jetzt? Aber… es wird bald dunkel und… das Bankett“, begann Bertram hilflos und deutete auf die Treppe, die zum Festsaal führte. „Was willst du gerade jetzt in Plint?“
„Sehen was ich davon habe“, antwortete Rubina und ging einfach an ihm vorbei. Sie konnte fast körperlich spüren, wie Bertram hinter ihr die Augen überdrehte, dann hörte sie seine schweren, stampfenden Schritte auf dem steinernen Fußboden, mit denen er sich in Bewegung setzte um zu ihr aufzuschließen.
„Das wird deinem Vater nicht gefallen. Gar nicht“, sagte er noch kopfschüttelnd, als er sie eingeholt hatte.
„Ja“, antwortete Rubina, „das hoffe ich.“