Schreibwettbewerb Juni/Juli 2014 - Voting & Siegerehrung

Es gibt 15 Antworten in diesem Thema, welches 6.004 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (11. August 2014 um 07:39) ist von Sabrina.

  • Welche Geschichte hat euch am Besten gefallen? 10

    1. Goldenes Zeitalter (5) 50%
    2. Eine Chance alle zehntausend Jahre (1) 10%
    3. Götterdämmerung (0) 0%
    4. Die verfluchte Ruine (1) 10%
    5. Paeron (3) 30%

    Hallo zusammen,

    auch diesen Monat sind wieder eine Menge Geschichten für den Wettbewerb bei mir eingetrudelt und zwar fünf an der Zahl. Wie immer sind wir pünklich wie ein Schweizer Uhrwerk und das, obwohl die Schweiz heute an der WM ausgeschieden ist. Aber genug in eigener Sache - Hiermit geht der Schreibwettbewerb Juni/Juli 2014 ins entscheidende Uservoting. ;)

    Folgendes Thema wurde von unserem letzten Gewinner Alopex Lagopus vorgegeben:

    In den Hallen alter Götter

    Die Geschichten werden gemessen am Datum ihres Einreichens willkürlich gepostet. So steht ihr im Bezug auf deren Autoren völlig im Dunkeln. ;)

    ACHTUNG: Beim Voten ist man nicht anonym. Somit wird Schummeln ausgeschlossen. Zudem dürfen einmal abgegebene Stimmen nicht mehr verändert werden. Bedenkt das bitte bei eurer Stimmenabgabe!

    Das Voting dauert bis 31. Juli 2014 um 23:59:59 Uhr.

    Viel Spass beim Lesen und Voten! :)

    Euer Fantasy-Geschichten Forum

  • Goldenes Zeitalter
    by Miri

    Pracht
    goldenes Zeitalter
    Sie sind stolz
    Nichts bleibt für immer
    Hoffnung

    Sie stand am Rand der Welt. Die Klippen waren so unendlich hoch. So hoch, dass noch nicht einmal das ohrenbetäubende Tosen der Wellen, die immer wieder gegen die Steinmauern anrannten, wie eine Legion zorniger Krieger und dort brachen, an ihre Ohren drang, so sehr sie auch versuchte ihnen zu lauschen.
    Heftiger Wind trieb helle Wolkenfetzen über den Himmel, riss an ihren langen dunkelblonden Haaren, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, zerrte an ihrem Kleid, ließ es um ihre Knöchel tanzen.
    Sie starrte in die Tiefe und überlegte, ob sie wirklich springen sollte. War es das wert?
    Niemand redete mehr von ihnen, doch in einem Buch hatte sie von den Hallen der Götter gelesen. Sie sollten wunderbar sein.
    „ALEXA!“, rief ihre Mutter entsetzt, rannte zu ihr, riss sie von der Kante der Klippen.
    „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht hier spielen sollst!“
    „Ich spiele nicht. Ich will…“
    „Ja in die Hallen der Götter, ist klar! Diese Götter gibt es nicht, Kind! Sie haben uns schon vor Ewigkeiten im Stich gelassen!“
    Grob zerrte Alexas Mutter an ihrem Arm und zwang sie sich das kleine schäbige Dorf anzuschauen.
    „Siehst du das?! DAS ist von dem stolzen Volk der Helder übrig geblieben! Nichts weiter als dieses kleine Kaff auf einem gottverlassenen Stück Land am verfluchten Ende der Welt, umgeben von nichts als tosendem Wasser! Die Götter sind es nicht wert, dass du dich für sie opferst, denn sie haben uns fallen gelassen, sich von uns abgewandt! Und nicht nur das! Sie verspotten uns auch noch! Uns und unsere Naivität, dass wir ihnen geglaubt haben!
    Siehst du diese elende Kirche dahinten?! Die, die wir so prachtvoll für sie erbaut haben??? Stolz und erhaben überragte sie alle anderen Gebäude! Jeder stecke das hinein, was er hatte und mehr noch und DAS soll der Dank sein?! Der Untergang unseres Landes? Aber Hauptsache ihre Kirche, in der alle unsere Reichtümer verrotten, steht noch!“
    „Aber…“, setzte Alexa an, doch brennender Schmerz in der Wange unterbrach sie, ließ ihr die Tränen in die Augen schießen. Ihre Mutter hatte sie geohrfeigt.
    Fassungslos starrten sie einander an.
    Die Mutter fassungslos über die naive Hartnäckigkeit ihrer Tochter, die Tochter fassungslos über die Ohrfeige ihrer Mutter.

    Sie stand am Rand der Welt. Die Klippen waren so unendlich hoch. So hoch, dass sie nichts unter sich erkennen konnte, so sehr sie sich auch anstrengte etwas zu sehen.
    Heftiger Wind trieb helle Wolken aus Sternenstaub über den Himmel, riss an ihren langen braunen Haaren, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, zerrte an ihrem Kleid, ließ es um ihre Knöchel tanzen.
    Sie starrte in die Tiefe und überlegte, ob sie wirklich springen sollte. War es das wert?
    Niemand redete mehr von ihnen, doch in einem Buch hatte sie von der Erde und den Heldern gelesen. Sie sollten wunderbar sein.
    „Myra, hier bist du ja! Wir haben uns Sorgen gemacht“, die sanfte, müde Stimme ihres Vaters. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht hier spielen sollst.“
    „Ich spiele nicht, ich versuche…“
    „Ja ich weiß. Du versuchst zu beobachten, einen Blick auf die Helder zu erhaschen nicht wahr? Ach Myra. Sie sind es nicht wert, dass du dein Leben verschwendest. Sieh was sie unserer Welt gemacht haben. Alles verstaubt, verdreckt, vermodert, zerfallen. Niemand kümmert sich mehr um uns. Sie lassen zu, dass wir sterben. Uns schwinden die Kräfte. Wir können nicht leben, wenn keiner an uns glaubt, wenn alle uns vergessen, denn dann hören wir einfach auf zu existieren. Wir sind auf sie angewiesen, doch sie haben uns im Stich gelassen und fluchen über uns. Keiner kümmert sich mehr um die Kathedrale. Die, die wir mit letzter Kraft gerettet haben, in der Hoffnung, dass sie zu uns zurückkehren.
    Doch mittlerweile steht hier kein Stein mehr auf dem anderen. Die Frauen haben ihre Schönheit verloren, die Männer ihre Kraft. Versuch den kurzen Rest deines Lebens lieber zu genießen. Es hat alles keinen Sinn mehr.“
    „Aber…“
    „Es gibt kein aber“ unterbrach ihr Vater sie.
    Traurig starrten sie einander an.
    Der Vater traurig über die naive Hartnäckigkeit seiner Tochter, die Tochter traurig über die Mutlosigkeit ihres Vaters.

    Dunkelheit hüllte sie ein.
    Der Wind hatte nicht nachgelassen und spielte abermals mit ihren Haaren.
    Nächtliche Nässe lag auf dem Gras und ließ ihre nackten Füße erkalten.
    Hastig schaute Alexa sich um.
    Niemand in Sicht. Eilig huschte sie über die Ebene.
    Schneller als gedacht hatte, erreichte sie die Kathedrale, schmiegte sich an den Stein, verbarg sich in ihrem Schatten.
    Noch einmal ein prüfender Blick, dann zwängte sie sich durch den Spalt der leicht geöffneten, schweren Türen.
    Drinnen angekommen wagte sie endlich die Laterne anzuzünden.
    Dünner flackernder Schein erhellte eine große Halle. Staub tanzte im Licht der Lampe.
    ihr Blick fiel auf Holzbänke auch schwarzem Ebenholz. Sie waren vermodert und zerfallen, zum Teil mit wildem Wein überwuchert.
    Die riesigen Steinplatten, die Wände und Boden säumten waren gesprungen, Löwenzahn wuchs daraus hervor.
    Den Statuen in den Nischen fehlten Köpfe, Hände oder ganze Arme, die zersplittert am Bode lagen.
    Am hinteren Ende stand ein Altar, in der Mitte gebrochen.
    Mit unsicheren Schritten bewegte sie sich auf den Altar zu.
    Waren die Götter nicht das, was die Helder aus ihnen machten?
    Lange stand sie vor dem Altar, betrachtete seine Verzierungen, dann ließ sie sich zögernd davor nieder, legte die Hände ineinander und begann zu beten.

    Dunkelheit hüllte sie ein.
    Der Wind hatte nicht nachgelassen und spielte abermals mit ihren Haaren.
    Nächtliche Nässe lag auf dem Weg aus kaputten Platten und ließ ihre nackten Füße erkalten.
    Hastig schaute Myra sich um.
    Niemand in Sicht. Eilig huschte sie über die Ebene.
    Schneller als sie gedacht hatte, erreichte sie die Kante, schmiegte sich an einen großen Stein, verbarg sich in seinem Schatten.
    Noch einmal ein prüfender Blick, dann schob sie sich hinter den breiten Findling.
    Dahinter angekommen wagte sie ihre Tasche auszupacken.
    Zum Vorschein kam ein kleines Bündel, sorgfältig in weißen Stoff eingewickelt.
    Vorsichtig entfernte sie den Stoff und hielt zwei miteinander verbundene Röhren in der Hand, die an beiden Enden mit gebogenem Glas geschlossen waren. Die Röhrchen schimmerten matt im Licht des Mondes.
    Ihr Vater nannte dieses Ding „Himmelsteleskop“.
    Angeblich konnte man damit bis auf die Welt der Helder hinab sehen, doch er hatte ihr verboten es zu benutzen.
    Vorsichtig setzte sie es an und schaute in die Tiefe.
    Unten war es Nacht, eine kleine Insel in mitten tosender Wellen und die Kathedrale von der ihr Vater gesprochen hatte.
    Da! Ein Licht! Licht in der Kathedrale!
    Wie konnte sie die Mauern mit ihrem Blick durchdringen? Das war unmöglich!
    Egal!
    Dort! Ein Mädchen, in ihrem Alter, kniend vor einem gebrochenen Altar und …und sie betete!
    Langsam drangen die Worte des Mädchens an ihr Ohr und sie waren erfüllt von kindlicher Hoffnung, Mut und Glaube. Dieses Mädchen glaubte, dass es sie gab! Dass es sie, die Götter, noch gab!
    Sie musste ihr ein Zeichen senden…
    Sie nahm ihren letzten göttlichen Kräfte zusammen, die ihr junger Körper noch besaß, denn sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben und konzentrierte sich so fest sie konnte.
    Nach einer Weile öffnete sie zufrieden die Augen und wandte sich zum Gehen.
    Von wegen hoffnungslos, dachte Myra und machte sich auf den Heimweg.
    Als sie auf den Weg hinaus trat, den sie gekommen war, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Platten nicht mehr gesprungen waren, sondern schimmernd und ineinandergefügt vor ihr lagen.
    Ein zuversichtliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

    Alexa versuchte alle Hoffnung, allen Mut und allen Glauben in ihr Gebet zu legen, die sie aufbringen konnte.
    Es musste die Götter einfach geben!
    Und wenn sie schließlich in die Hallen der alten Götter einzog, dann würden sie so prachtvoll sein, wie sie es sich erträumte.
    Nach einer Weile öffnete sie zufrieden die Augen und wandte sich zum Gehen.
    Von wegen hoffnungslos, dachte Alexa und machte sich auf den Heimweg.
    Als sie an den Bänken vorüber schritt, sah sie zu ihrer Überraschung, dass die Blätter des Weines sich feuerrot gefärbt hatten.
    Ein zuversichtliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

  • Eine Chance alle zehntausend Jahre
    by Eposs

    »Du freust dich nicht über meinen Besuch? Ich bekomme keine brüderliche Umarmung?«
    Al stand bewegungslos in der Küche der Penthousewohnung nur in seinen Augen, die stahlblauen Seen glichen, glitzerte es, doch sein gleichgültiger Tonfall verriet nicht, ob es Zorn oder Bedauern war. Stöhnend erhob sich Kal, sein schulterlanges schwarzes Haar hielt er mit einer Hand zurück, während er nach einer Tasse, in der dampfender Kaffee seinen intensiven Geruch verbreitete, griff.
    »Du siehst, ich habe keine Hand frei, Bruder.«
    Seine sarkastische Antwort ließ Als Gesicht kurz zucken. Er hob abwehrend die Hände und zog die Augenbrauen hoch.
    »Okay.«
    Eisiges Schweigen erfüllte den Raum, die Spannung zwischen den Brüdern ließ die Luft beinahe knistern. Al nahm ebenfalls eine Tasse, goss sich Kaffee ein und öffnete die Tür, die von der Küche auf die Dachterrasse führte. Er kannte Kal. Der musste nur ein wenig in seiner Wut köcheln. Vom Geländer aus ließ Al seinen Blick über die umliegenden Dächer streifen.
    »WAS!«,
    wenig überrascht über Kals Ausbruch, antwortete Al, ohne sich umzudrehen.
    »Er hat einen Auftrag für dich.«
    »Einen Auftrag? Keiner seiner Lakaien kann diese Aufgabe erfüllen? Er braucht unbedingt mich?«
    Bevor Al weiterredete, wandte er sich Kal zu, der sich mit bebenden Schultern und glühenden Augen hinter ihm aufgebaut hatte.
    »Ja, er denkt, dass du eine Chance verdient hast.«
    »Jetzt, Herr Gott noch mal, ausgerechnet jetzt?«
    Er rollte mit seinen Augen und schüttelte seinen Kopf.
    »Er denkt, du hast lange genug auf eine Möglichkeit gewartet, dein wahres Ich zu zeigen.«
    »Was soll ich machen? Auf den Knien zu ihm kriechen?«
    »Nein. Er möchte, dass du Helena zu Ihm bringst.«
    »Helena? Du meinst Zifs Helena?«
    Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf Kals Gesicht breit.
    »Warum?«
    »Das soll Gab dir selbst sagen. Komm.«
    Ohne Kals Antwort abzuwarten, schwang sich Al in die Lüfte. Seine weißen riesigen Flügel, die leise knisternd hinter ihm aus dem Nichts auftauchten, trugen ihn lautlos höher. Seufzend und mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Kal noch unentschlossen seinen Bruder. Sollte er das Angebot annehmen? Konnte er wieder die Seite wechseln? War er demütig genug vor seinen Thron zu treten? Blieb ihm eine andere Wahl? Er schob sein Gewicht von einem Bein auf das andere, um zu testen, welcher Standpunkt ihm am nächsten war. Schließlich entfaltete er seine Schwingen, deren dunkle Farbe sich scharf vom Blau des Himmels abhob, als er sich mit kräftigen Schlägen in die Höhe schraubte. Schweigend wartete Al auf ihn, und als er aufgeschlossen hatte, beschleunigten sie ihren Flug, bis sie, nur mehr einem pfeilschnellen Schatten gleich, über die Wolken hinwegrasten.
    Sie durchbrachen die Zeitebene zwischen Himmel und Erde. Augenblicklich umschloss sie eine friedliche, ja göttliche Stille. Eine ungewohnte Wärme durchströmte Kal, dieses Gefühl der Geborgenheit hatte er sehr lange vermisst. Doch er hatte sich selbst dafür entschieden auf anderen Pfaden zu wandeln, war Zifs Verführung gefolgt. Kal rechnete damit vor Barakiel zu treten, bevor es ihm gestattet war, weiter aufzusteigen. Er überwachte die gefallenen Engel. Solange sie sich nicht zu tief in Zifs Angelegenheiten verstrickten, durften sie gewähren, aber wehe, sie ließen sich vor dessen schmutzigen Karren spannen. Dann wurden sie mit sanfter Gewalt und mit Hilfe der Erzengel zurückgeholt und im nördlichen Teil von Raquina, dem zweiten Himmel, in Gewahrsam genommen, um dort auf ihr Urteil zu warten.
    Ungläubig schüttelte Kal den Kopf, sie hatten ohne anzuhalten die ersten Pforten passiert, ehe sich Al vor dem Tor zum sechsten Himmel niederließ. Gabriels Gestalt hob sich hell schimmernd von der Umgebung ab, seine eisblauen Augen blitzten als sie zuerst Al und dann etwas genauer Kal mustern.
    »Achoel, schön dich wieder bei uns zu haben. Ich sehe, dir ist gelungen, Kaliob zur Heimkehr zu überreden.«
    Al verneigte sich, hob die Hand zum Gruß, nickte Kal zu und entfernte sich. Gabriel wandte sich dem erstaunt dreinblickenden Kal zu,
    »Kaliob, begleite mich zu den himmlischen Chroniken, lass´ mich dir erklären, warum du hierher gerufen wurdest.«
    Gabriel schritt durch das Tor und dahinter lag eine endlose Halle, deren Wände einer Bibliothek gleich mit Regalen bestückt waren. In diesen Fächern reihte sich ein dickes Buch neben das anderen, eine fortlaufende Nummerierung stand auf jedem Rücken. In regelmäßigen Abständen stach ein goldener Einband hervor.
    »Das sind die Bücher, die alle tausend Jahre zum gleichen Anlass fertiggestellt werden.«
    Kal runzelte die Stirn, aber bevor er fragen konnte, erreichten sie eine kreisförmige Ausbuchtung, von der strahlenförmig weitere endlose Korridore ausgingen. Im Zentrum stand ein Pult, auf dem ein Buch lag, dessen goldener Einband im hellen Licht, das die Säle durchflutete, glänzte. Einer Geste Gabriels folgend öffnete sich das Buch und, wie von einem nicht fühlbaren Luftzug angetrieben, wurden die Seiten weitergeblättert. Vielleicht zwei Blätter vor dem Ende blieb das Buch, aufgeschlagen, liegen.
    »Hier Kaliob, ist Platz für deine Geschichte. Hier ist deine Gelegenheit Ihm zu beweisen, dass du nicht Luzifer verfallen bist, sondern noch eine reine Seele hast.«
    »Was soll ich tun?«
    »Helena, du musst sie zu Ihm bringen.«
    Schnaubend ließ Kaliob Luft aus seinen Lungen. Sollte was Al ihm gesagt hatte wahr sein? Zifs Augapfel Helena sollte er zu Ihm bringen? Aber warum? Wozu? Gabriel legte eine Hand auf seine Schulter, das prickelnde Gefühl, das dabei durch seine Körper lief, erinnerte ihn an seine Zeit als blutjunger Engel, an die unbeschwerte Zeit, die so lange zurücklag.
    »Luzifer braucht alle tausend Jahre eine unbefleckte Seele, um aus ihr seine Energie zu nähren. Unbefleckte Seelen sind rar, reine Herzen wie Helenas liefern die Lebenskraft, auf die er angewiesen ist.»
    Kal schluckte.
    »Wir wissen aber, dass du, Kaliob, in Luzifers Plänen eine wichtige Rolle spielst. Alle zehntausend Jahre hat er die Chance, das Opfer noch wertvoller zu machen. Er beabsichtigt, laut unseren Informationen, dich auszuwählen, um Helena zu töten. Wenn es ihm gelingt, dich dazu zu bringen, dann erwirkt er ein Ungleichgewicht zwischen Himmel und Hölle. Er würde Zugriff auf die Energie aller gefallenen Engel erlangen und die Kraftverteilung zu seinen Gunsten verschieben. Du wirst verstehen, dass Er nicht tatenlos zusehen kann, wie die Unterwelt versucht, die Oberhand zu erlangen.«
    Völlig geplättet stand Kaliob da, starrte fassungslos in Gabriels Augen.
    »Bist du bereit Kaliob diese Aufgabe zu übernehmen, dafür zu sorgen, dass die Balance zwischen Gut und Bösen nicht aus den Fugen gerät?«
    Kals Gedanken rasten. Wo war er nun wieder hineingeraten? Konnte er nicht einfach ein ruhiges Leben haben? So wie all die anderen schwarzen Engel, die ihr Leben auf Erden genossen, ohne göttlichen Auftrag, ohne irgendeine Verpflichtung? Nein, er hatte wieder einmal die Arschkarte gezogen! Steckte bis zum Hals in göttlichen Plänen. Von ihm wurde vorauseilender Gehorsam erwartet, schauspielerisches Talent, um Luzifer an der Nase herumzuführen, ein gefährliches Unterfangen, wusste doch jeder, wie jähzornig Zif war. Seine Gedankenfahrt wurde sanft, aber bestimmt, unterbrochen.
    »Komm´.«
    Mit dem nächsten Lidschlag standen sie vor der prunkvollen Pforte zum siebten Himmel. Cassiel erwartete sie schon. Während Kal noch blinzelte, ob des plötzlichen Ortswechsels, öffnete sich das Tor und warmes Licht hüllte sie ein. Ehrfürchtig betrat Kal gemeinsam mit Cassiel diese Hallen, die durchdringende Energie ließ sein Inneres vibrieren, ließ seinen Kompass in eine Richtung ausschlagen, die er lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Tiefe Zufriedenheit und Freude füllten sein Herz mit jedem Schritt und Atemzug, den er in diesem Raum tat. Er spürte wie sein Zynismus und seine Verbitterung außen an seiner Seele wie Tropfen von einem Lotusblatt abperlten und von der reinen Güte, die ihn umgab, aufgesaugt wurden. Befreit von seiner Last dachte er, Ja, ich bin bereit Luzifer die Stirn zu bieten, ich bin bereit diese beiden letzten Seiten im goldenen Buch mit meinen Taten zu füllen. Mit erhobenem Haupt blieb er stehen und genoss das Gefühl zuhause angekommen zu sein, endlich wieder zu Hause zu sein. Niemals hätte er gedacht, dass er die Gelegenheit dazu bekommen würde, nachdem er sich abgewandt hatte. Plötzlich schwang eine Stimme durch den Raum,
    »Willkommen Kaliob, verlorener Sohn, ich weiß noch nicht, wie du dich entschieden hast. Deine Mutter hofft inständig, dass du den richtigen Weg einschlagen wirst, dass auch dein Fallen teil des größeren Planes war.«
    Kals Augen brannten, mit zittriger Stimme antwortete er,
    »Mutter, Vater, wir habe wohl sehr lange gebraucht, um meinen wahren Weg zu erkennen, aber jetzt bin ich bereit ihn zu gehen.«
    »Gut.«
    Noch während diese erleichterte Antwort in ihm widerhallte, fand er sich in seiner Penthousewohnung wieder. Leise vernahm er noch die flüsternde Stimme seiner Mutter,
    »Ich bin so stolz auf dich. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, wirst du wieder mit wunderschönen weißen Schwingen in den siebten Himmel einziehen.«
    Ein Lächeln spielte um Kaliobs Lippen, offenbar waren sich auch die alten Götter nicht sicher, zu welcher Entscheidung Engel in ihren Hallen kamen.

  • Götterdämmerung
    by Klimbim

    Es sind vier. Vier Männer. Sie wandern, den Norden im Rücken. Seit Wochen schon. Um sie nichts als Schnee, der jeden einzelnen der Gipfel meterhoch bedeckt. So ist es schon seit bald drei Jahren- Schnee überall, unter einem immerschwarzen Himmel. Das einzige, das diffuses Licht spendet, ist das Flackern des Nordlichtes, das ständig über dem Horizont schwebt.
    Valdis bleibt stehen, um Atem zu holen. Die Luft auf dem Pass ist unsagbar dünn und brennt in den Lungen. Er dreht sich um, sodass sein langes Haar ihm ins Gesicht weht, und blickt zurück auf den Weg, den sie kamen. Keine drei Meter hinter ihnen sind ihre Fussspuren bereits verschwunden, verweht durch den beissenden Wind.
    Valdis’ Blick fällt auf seine Begleiter. Yorunn und Iounn, die Zwillinge, deren schwarze Bärte weiss vereist unter den Kapuzen hervorschauen. Und dahinter… Hallfrior. Verbissen macht der Junge Schritt um Schritt, kämpft an gegen Wind und Schnee und Müdigkeit und Hunger. Ein zorniges Brüllen entfährt ihm, als er ausrutscht und der Länge nach in das glitzernde Weiss fällt. Dann rührt er sich nicht mehr.
    “Hal!” Valdis stapft zum Jungen zurück und beugt sich besorgt über ihn. Die Lippen im noch bartlosen Gesicht sind blau, und Valdis sieht ein Glänzen, wo Tränen an die Wangen gefroren sind.
    “Valdis!” Iounn. “Wir müssen Unterschlupf suchen! Dein Bruder macht’s nicht mehr lange!”
    Valdis packt den Bewusstlosen knurrend und wirft ihn sich über die Schultern. Entschlossen dreht er sich zu den beiden anderen um.
    “Der nächstbeste geschützte Platz!” Nicken. Weitergehen. Augen offen halten.
    Rechts und links erheben sich steile Felswände, die weissen Zacken stechen scharf in den pechschwarzen Himmel. Kein Mond. Keine Sonne. Schon fast drei Jahre lang.
    Schnaufend bleibt Valdis stehen und streckt die Hand Halt suchend nach dem Gestein neben sich aus. Unter der Last seines Bruders glaubt er zu ersticken.
    Einatmen, Ausatmen, ermahnt er sich selber. Geschützten Platz finden. Weitergehen! Ein Schritt- sein zitterndes Bein knickt unter ihm weg, Valdis stürzt und löst damit eine kleine Lavine aus, die ihn fast gänzlich zudeckt. Aufstehen! Doch kein Muskel will sich mehr rühren. Stille… Frieden.
    Hände packen ihn grob an den Schultern, ziehen ihn hoch. Yorunn.
    “Komm schon, Alter, hoch mit dir! Sieh nur!” Er schlägt die Augen auf. Höhle, schiesst es ihm durch den Sinn, noch bevor die er wirklich etwas bewusst wahrnehmen kann. Ein schwarzes Loch mitten in der Felswand. Schutz. Gerettet.
    Mit letzter Kraft schleppt Valdis sich vorwärts, lässt den Wind, den Schnee hinter sich zurück. Rascheln von Laub unter seinen Füssen. Fallen lassen. Dunkelheit. Schlaf.

    Was genau ihn weckt, weiss Valdis nicht. Hunger, Durst, das Lachen der Zwillinge am Feuer… Feuer? Er schlägt die Augen auf. Tatsächlich. Auch Hal sitzt da… und isst? Fleisch? Schwerfällig hebt er den Kopf, was der stets wachsame Yorunn sofort sieht.
    “Oy! Sieh mal einer an, von den Toten aufgewacht?” Der 21-jährige erhebt sich und bringt Valdis einen Trinkschlauch. “Hier, Alter, trink”, meint er lächelnd und hält ihm das Mundstück hin. Gieriges Schlucken, köstlicher, süsser Met, Leben.
    “Danke, Yorunn.” Tiefes Durchatmen. “Woher?”
    Der junge Mann zuckt mit den Schultern. “Frag mich was leichteres, Val. Frag mich auch nicht, wo wir hier sind. Es ist... unglaublich.”
    Valdis legte verwirrt die Stirn in Falten, woraufhin Yorunn sich erhebt und eine weitreichende Geste macht.
    “DAS ist unglaublich.”
    Und das ist es tatsächlich.
    Keine Höhle im Berg, den Namen verdient es nicht. Keine Katakomben. Keine Halle. Mehr. Mehr als der Berg, in dem sie sich doch befinden. Die Decke dieser riesigen, unterirdischen Welt lässt sich nicht ausmachen, ebenso wenig die Wände bis auf die, durch die sie gekommen waren. Irgendwo rauscht Wasser, ein Bach, ein Fluss, doch ansonsten ist es still. Und vor ihnen der grösste Baum, den je ein Mensch erblickt hat.
    Der Umfang seines Stammes vergleichbar mit dem einer Stadtmauer, seine Krone unsichtbar in der Schwärze über ihnen. Hunderte, tausende von Treppen und Tunnels schlängeln sich in und um den Stamm, der in drei Wurzeln mündet, die höher sind als die Christenkirchen zu Hause und in drei verschiedene Richtungen durch die Kaverne verlaufen, um sich schliesslich mitten durch den Felsen zu graben.

    Mit offenem Mund starrt Valdis auf das, was sich direkt vor ihnen befindet: Stühle, nein, hölzerne, riesige Throne, mehr als ein Dutzend, über und über mit aufwendigen Schnitzereien verziert. Im Kreis angeordnet stehen sie direkt vor dem Baum, bedeckt vom heruntergefallenen Laub. Und hinter den Thronen ist ein Bankett angerichtet, die Tische biegen sich unter den Speisen und den Wein- und Metfässern.
    “Sobald man etwas nimmt, füllen sich die Platten erneut”, meint Yorunn, der Valdis’ Blick gefolgt ist. “Und auch die Fässer werden niemals leer. Val, was ist das hier für ein Ort?”
    Valdis beobachtet ein Eichhörnchen, das flink über die Holzthrone springt und dann einer der Wurzeln folgte. Er ist zwar der älteste der Gruppe und auch ihr Anführer, aber mit seinen 26 Jahren noch lange nicht erfahren genug, um Yorunn’s Frage zu beantworten. Schwerfällig erhebt er sich und humpelt vorwärts, jeder Muskel protestiert. Da flitzt wieder das Eichhörnchen vorbei, diesmal in die andere Richtung, mit unglaublicher Geschwindigkeit den Stamm hinauf und hoch ins Geäst. Valdis tastet sich der Wurzel entlang vorwärts und stolpert durch das ellenhoch liegende Laub. Jetzt erst fällt ihm auf, dass der Boden der einzige Ort ist, wo man Laub findet- nicht ein Blatt oben an den Ästen.

    Dann das Beben.
    Das Feuer erlischt, und Valdis kann sich nicht mehr aufrecht halten, ebenso wenig seine Begleiter.
    “Was ist das, zum Teufel?” Hal’s Stimme verrät seine Furcht.
    “Der letzte Kampf.” Eine Frauenstimme.
    Valdis fährt herum. “Wer spricht da?!” Doch um sie nur samtene Schwärze.
    “Das Ende.” Da! Ein Licht! Warm leuchtet es, schwebend in der Mitte des Thronkreises. Und unter ihm eine Gestalt, verhüllt in einen dunkelgrünen Umhang, einen Stab in der linken Hand. Sie hebt den Kopf, und in dem immer heller und grösser werdenden Licht sehen die Männer milchweisse Augen in einem runzligen und zugleich blutjungen Gesicht. Sie blickt starr geradeaus und hebt die rechte Hand, woraufhin das Licht plötzlich die gesamte Halle erfüllt und ihre ganze, gewaltige Grösse offenbart. Doch nur wenige Augenblicke lang. Dann sind die Wände, die Flanken des Berges plötzlich verschwunden, der Baum und die Männer befinden sich auf der Kuppe eines Hügels und vor ihnen… vor ihnen die ganze Welt.
    Und die Welt brennt.
    Ein einziger unendlicher Feuersee bedeckt alles, was einst lebendig war. Fontänen flüssiger Flammen schiessen überall in die Höhe, die Luft flimmert und die Erde bebt. Sprachlos starren die Männer auf das Meer aus glühendem Tod vor ihnen.
    Die Frau beginnt zu singen in einer Sprache, die wohl nur Götter verstehen. Mühelos übertönt sie das donnern einer Welt im Todeskampf, ihre Stimme erfüllt den Hügel und breitet sich weiter aus, wird lauter, mächtiger.
    Und dann kommt das Wasser. Gewaltige Fluten, aus allen Himmelsrichtungen fallen sie über die rote Feuermasse her, ersticken die tödlichen Flammen. Dampf steigt auf, wird zu Nebel, Nebel zu Wolken, die sich auflösen und erneut Platz machen für das geisterhafte Licht, das inzwischen den ganzen Himmel bedeckt und sich langsam auf das erstarrte Magma niedersenkt.
    Wieder die Stimme der Frau, laut und durchdringend:
    “Eis und Flammen; Feuer und Wasser; Leben, Tod und Wiedergeburt! Was war, ist nicht mehr, doch wird es sich neu aus der Asche erheben, und das Böse wird zu Gutem werden!”
    Als das Licht den Boden erreicht, erklingt Gesang von dem Baum auf dem Hügel:

    Da kommt der Mächtige
    zu seiner ordnenden Herrschaft
    kraftvoll von oben,
    er, der alles steuert.

    Und der Baum erblüht. In sekundenschnelle spriessen Blätter an allen Zweigen, stolz ragend die mächtigen Äste in den leuchtenden Himmel. Und von ihm ausgehend breitet sich das Wachstum aus, der Hügel ergrünt und Blüten schiessen zwischen den Gräsern hervor. Die Umgebung wird nach und nach von einem grünen Mantel bedeckt. Wasser entspringt zwischen den Wurzeln und schwillt an zu mächtigen Bächen, die sich rasend schnell über das Land in den Horizont schlängeln.
    Dort erheben sich Berge neu, ganze Wälder bedecken innert weniger Momente die Ebene. Von überall erklingt das Gezwitscher von Vögeln, und der Gesang wird immer lauter, ohrenbetäubend, bis die Frau ruhig sagt:
    “Und wieder ist die Welt im Gleichgewicht.”
    Schlagartige Stille.
    Und zum ersten Mal seit drei Jahren geht die Sonne auf.
    Die Frau senkt den Blick, grüne Augen mustern einen der Freunde nach dem andern. Dann lächelt sie.
    “Kommt”, sagt sie freundlich, “die Zeit ist da.” Sie dreht sich um und geht langsam Richtung Stamm.
    “Wofür?” Hallfrior starrt ihr mit grossen Augen hinterher.
    Die Frau dreht sich um und legt den Kopf schief.
    “Ihr wisst es nicht? Ihr wisst nicht um die Prophezeiung?” Ein helles Lachen. “Dies, meine Freunde, ist Ragnarök, die Götterdämmerung. Die alten Götter sind tot, erschlagen von all dem Bösen, das ungebunden war. Doch sie werden neu auferstehen um Thing zu halten unter Yggdrasil, dem Weltenbaum, über den Menschenwürger Nidhöggr, auf dass das Gleichgewicht dieser Welt nicht mehr gestört werde.”
    Valdis konnte nicht anders, als auf die Knie zu fallen, was ihm ein weiteres Lächeln einbrachte.
    “Mein Name ist Heiði, und ich diene Fimbultyr, dem neuen Allvater. Und dies, meine Freunde, ist die neue Welt unter seiner ordnenden Herrschaft.”

  • Die verfluchte Ruine
    by Princess of Light

    Der Wind weht durch die Blätter der sommergrünen Bäume und
    spielt mit den im späten Abendlicht noch immer blühenden Blumen, die durch den
    Schein der Sonne einen goldenen Schimmer bekommen zu haben scheinen. Unsicher
    steht Fuan vor dem Eingang der alten Ruinen. Vor sich sieht er majestätisch die
    alten von Moos und Schlingpflanzen halb überwuchten Säulen stehen, welche in
    regelmäßigem Abstand eine Alle aus Steinen bilden. Hinter diesem Weg befindet
    sich ein großer Bogen, hinter dem sich die undurchdringliche Finsternis erhebt.
    Wer sich in die Ruinen wagt, kehrt nie
    wieder zurück. So lautet zumindest die Legende, die sich die Bewohner des
    nahegelegenen Dorfes schon seit Jahrhunderten erzählen. Niemand, der sich in
    die Überreste der einst so prachtvoll gestalteten Halle der Götter wagt, wurde
    je wieder gesehen.

    Dennoch stand Fuan heute vor diesem Ort. Und er wird diesen
    verfluchten Ort betreten, denn sonst werden ihn die anderen nie wieder sehen
    wollen, ihn nie wieder akzeptieren. Seine Familie und er wohnen schon lange
    hier. So wie alle Anderen ist er hier aufgewachsen und kennt die Legenden, die
    sich um diese mystische Stätte ranken und so wie die Anderen fürchtet er sich
    vor ihnen, doch in einem verhängnisvollen Streit prallte er damit, dass er es
    schaffen wird, in die Ruine zu gehen und heil wieder nach Hause zurückzukehren.

    Und heute Abend ist es soweit. Er spürt die erwartenden
    Blicke seiner Freunde in seinem Rücken und langsam setzt er einen Fuß vor den
    anderen und bewegt sich immer näher auf den so schönen und gleichzeitig
    schrecklichen Ort zu. Mit seinen 18 Jahren hat er für sein Alter einen sehr
    muskulös gebauten Körper und ist nicht nur ein geschickter Kämpfer sondern auch
    einer der besten in seiner Klasse. Die meisten Mädchen seiner Schule himmeln in
    an und viele Jungs beneiden ihn wegen seiner kurz gelockten waldbraunen Haare
    und seinen eisblauen Augen. Doch all dies ist für Fuan nicht von Bedeutung. Es
    interessiert ihn nicht. Für ihn zählen nur seine Familie und seine Freunde und
    für sie wird er es tun. Für sie wird er in das alte Bauwerk gehen und er wird
    wieder zurückkommen.

    Weit erstreckt sich die Dunkelheit im inneren der ehemaligen
    Halle wieder. Fuan dreht sich noch ein letztes Mal um, bevor er das Ungewisse
    betritt, nicht wissend, ob er je wieder rauskommen wird.

    Das Echo seiner schweren Schritte hallt von den Wänden wieder
    und der gleichmäßige Atem ist das einzige, was die Stille durchbricht. Auch
    wenn in das Innere des Gebäudes kein Wind Einlass findet, ist es dennoch kühl,
    da die dicken Steinmauern nicht nur den Wind sondern auch das wärmende Licht
    der Sonne abhalten. Jedoch würde dies keinen Unterschied machen, da die Sterne
    und der Mond sich den Himmel schon zu Eigen gemacht haben.

    Langsam tastet sich Fuan an der Wand weiter in die riesigen
    Hallen hinein. Unter seinen Fingern spürt er das weiche Moos, das sich über die
    Jahre in den kleinen Spalten zwischen den kalten, rauen Steinen gebildet hat,
    und die Feuchtigkeit, die durch einige Löcher in das altertümliche Gebäude
    eingedrungen zu sein scheinen. Unruhe breitet sich in dem Jungen aus und
    verband sich mit der Angst, sodass er sich selbst überwinden muss, um weiter
    gehen zu können.

    Plötzlich und ohne Vorwarnung stößt Fuan an eine dicke
    Felsmauer. Ist dies schon das Ende?,
    schießt es ihm durch den Kopf, doch noch bevor er den Gedanken zu Ende denken
    konnte sieht er einen Spalt in der Mauer, durch den ein kleiner Lichtschein
    fällt. Durch diesen erleuchtet sich der bis dahin stockfinstere Raum und der
    Junge lässt seinen Blick durch die Hallen schweifen, jedoch fällt ihm nichts
    Auffälliges oder gar Gefährliches in die Augen. Für ihn ist es unverständlich,
    wie an diesem Ort Menschen sterben konnten und wieso sich alle so vor diesem
    Ort fürchten. Auch wenn die Dunkelheit angsteinflößend sein kann, ist sie
    dennoch nicht tödlich.

    Aber was hat es mit diesem Mauerspalt auf sich? Vorsichtig
    nimmt Fuan diesen in Augenschein, doch das helle Licht blendet ihn, sodass er
    damit schnell wieder aufhört. Der Spalt
    ist breit genug, sodass ein Mensch durchpassen würde, denkt er sich und
    obwohl seine Aufgabe nur vorsah, eine Stunde in der Ruine zu verbringen, die er
    auch in Ruhe an diesem Ort verbringen konnte, packt ihn die Neugier und er
    beschließt, es zu wagen und sich durch diesen Spalt zu quetschen.

    Dies ist leichter gesagt als getan, denn der Spalt scheint
    für nicht so breite Personen wie ihn gemacht worden zu sein, falls er überhaupt
    gemacht wurde, aber nach ein paar
    Fehlversuchen, Baucheinziehen und Luft anhalten steht Fuan endlich auf der
    anderen Seite der Mauer. Im ersten Moment muss er sich schützend die Hände vor
    die Augen halten, da das Licht in droht zu blenden. Vor ihm erstreckt sich ein
    riesige Halle, in der in der Mitte ein riesiger Opferaltar befindet, welcher
    von unzähligen altertümlichen Schriftzeichen umgeben ist. Hinter dem Altar
    wurden unzählige auf Leinwände gemalte Kunstwerke an die Wände gehängt, die,
    obwohl sie schon Jahrhunderte hier hängen, immer noch wie neu erscheinen. Und
    nicht nur die Gemälde: Der ganze Raum wurde von der Zeit verschont. Während im
    vorherigen Eingangsbereich alles
    zerstört ist, erstrahlt hier die Kraft der Götter.

    Ohne es zu merken kommt Fuan dem Altar Schritt für Schritt
    näher. Und erst jetzt sieht er, dass der Altar aus purem Gold besteht. Auf ihm
    steht ein Strauß Blumen, welcher in allen Farben erstrahlt, in einer aus Ton
    hergestellten Vase, die mit den verschiedensten Mustern bemalt wurde. Doch dies
    lässt sie nicht unschön erscheinen. Nein. Ganz im Gegenteil. Diese vielen
    verschiedenen Farben, Formen und Muster sind von einem Kind gemalt worden. Auch
    die Blumen sind augenscheinlich von einem Kind gepflückt worden. Doch wieso das
    Ganze?

    Plötzlich beginnt eine melodische Stimme hinter dem Jungen
    zu reden: „Ich heiße dich in diesen heiligen Hallen Willkommen, Fremder. Mögest
    du dich hier wohlfühlen und den Göttern deine Wünschen und Sorgen mitteilen.“
    Überrascht schreckt Fuan herum und entdeckt hinter sich das schönste Wesen,
    welches er je zu Gesicht bekommen hat. Sie sieht aus wie ein Mädchen, mit
    langen goldblonden Haaren, die ihr gewellt über die Schultern fallen. Ihr
    engelsgleiches Gesicht lächelt ihm freundlich entgegen und das weiße Kleid, das
    ihr bis zu ihren Knien reicht, weht um ihren vollkommenen Körper. Das perfekte
    Bild wird unterstrichen von einem hellen Schein, welcher tief aus ihrem Inneren
    zu kommen scheint.

    „W-Wer seid Ihr?“, bringt Fuan stotternd über die Lippen.
    Erst jetzt bemerkt er, dass das Mädchen mit ihren Füßen nicht den Boden
    berührt: Sie schwebt! Aber wie war das möglich?

    „Mein Name ist Hoga-sha und ich bin die Wächterin dieses
    Ortes.“ Nach einigen Sekunden Stille rafft sich Fuan auf und möchte wissen, ob
    er ihr eine Frage stellen darf.

    „Nur zu. Fragt, was Ihr zu fragen habt.“

    „Nun ja. Dieser Ort wurde vor Jahrtausenden gebaut. Oder?“
    Zur Bestätigung nickt das engelsgleiche Mädchen und Fuan holt tief Luft, bevor
    er wieder beginnt zu sprechen. „Kein Mensch kann so lange überleben oder gar
    fliegen und kein Ort kann so lange vom Zahn der Zeit verschont werden. Wie also
    ist dies alles möglich?“ Bei den letzten Worten streckt er zeigend seine Hand
    aus und deutet auf die Gemälde, den Altar und die Blumen, die sich auf ihm
    befinden.

    „Diese Hallen wurden zu Ehren von Seikatsu, der Göttin des
    Lebens gebaut“, erklärt Hoga-sha. „Diese Dinge sind zu ihren Ehren geopfert
    worden, damit sie den Menschen ihr Leben zurückgibt. Die Blumen zum Beispiel
    hat ein Kind hierher gebracht, da seine Mutter eine schwere Krankheit hatte.
    Doch nur zwei Tage nachdem dies Geschenk hier ankam, war die Mutter wieder
    gesund.“

    Mit offenem Mund starrt Fuan die Wächterin fassungslos an.
    Für ihn ist es unmöglich zu glauben, dass so passieren kann. Doch er möchte die
    Kraft der Götter nicht unterschätzen - erzählte man sich doch so viele Legenden
    über ihre Macht.

    „Was ist Eure Aufgabe
    hier? Wieso geht ihr nicht, wo doch Seikatsu und die anderen Götter schon vor
    so langer Zeit aus dieser Welt verschwunden sind?“, fragt Fuan das Mädchen.

    „ Meine Aufgabe? Ich passe auf, dass keiner diese Halle zerstört.“

    „Wer sollte diesen wunderschönen Ort denn zerstören wollen?“

    „Grausame und gierige Menschen, die für Gold sogar morden
    würden!“ Bei jedem Wort wird ihre Stimme lauter, bis sie zuletzt anfängt zu
    schreien. „Menschen zerstören! Sie denken nur an sich und dürfen diesen Ort
    deshalb nicht wieder verlassen.“

    „Was meinst du damit?“, unterbricht Fuan die Hassrede des
    Mädchens. Auch wenn er bereits ahnt, was sie damit meint, kann er es dennoch
    nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Dieses liebliche Geschöpf kann doch
    keiner Fliege etwas zu leide tun!

    Doch noch bevor die Worte den Mund des Jungen verlassen
    konnten, veränderte sich Hoga-sha. Der zuvor noch goldene Schimmer wird durch
    einen schwarzen ersetzt, der Fuan all seine Kraft raubt. Ihm wird schwindelig
    und er sieht schon sein Leben an sich vorbeiziehen, als plötzlich -ebenso schnell wie es angefangen hat- alles wieder aufhört. Hoga-sha ist
    verschwunden. Und mit ihr auch die Schönheit dieses Ortes.

    Langsam merkt Fuan, was gerade passiert ist, und dreht sich
    suchend um seine eigene Achse. „Hoga-sha“ ruft er immer wieder, wobei er jedes
    Mal ein bisschen lauter wird. Sie kann
    doch nicht einfach so verschwinden! Lange Zeit fleht er weiter, doch erhält keine Antwort. Die
    anfängliche Wärme und Geborgenheit dieses Ortes ist für ihn mit der Wächterin
    verschwunden. Für ihn ist dieser heilige Ort nur noch kalt, einsam und
    verlassen.

    Letztendlich beschließt er, die Hallen zu verlassen. Da er
    so lange – leider vergeblich – versuchte, Hoga-sha zu finden, verlor Fuan die
    Zeit aus den Augen, sodass er draußen angekommen, herzlich von seinen Freunden
    begrüßt wird. Herzlich und voller Freude umarmen sie ihn, doch dem Jungen ist
    nicht nach Feiern zumute und das, obwohl er der Erste ist, der lebendig aus der
    Ruine wieder rauskam.

    Auch heute noch – viele Jahre nach dem schicksalhaften Tag –
    wacht Hoga-sha über diesen Ort. Und noch heute beobachtet sie den Jungen, der
    seit damals jeden Sonntag Blumen auf den Altar legt. Sie verschonte ihn, nicht
    wie all die Anderen, die es gewagt hatten, in das Heiligtum der Hallen vor zu dringen,
    denn er war nicht wie sie. Er besitzt ein reines Herz und kam nicht, um zu
    stellen, sondern um sich selbst und seinen Freunde zu beweisen, dass er kein
    Feigling ist. Das bewundert sie. Doch leider ist es ihr verwehrt, sich dem
    jungen Mann zu zeigen. Denn dies ist ihr großer Traum: Noch einmal mit dem
    Jungen reden, der ihr den Glauben an die Menschheit wiedergab.

  • Paeron
    by Norik475

    Die vier Schatzsucher betraten am Ende ihrer langen und gefährlichen Reise das Grab des alten Königs.
    Die Grabkammer war schmal und weitläufig, scheinbar endlos. Sonnenlicht brach durch einen Riss in der Decke, die mit kastenförmigen Vertiefungen geschmückt war, und erhellte die gesamte Halle mit trübem Licht. Der Raum zog sich über hunderte und aberhunderte Fuß hin, vielleicht sogar einige Meilen. Auf jeden Fall weiter, als das Licht des Risses ihn erhellte, sodass das andere Ende in uneinsehbare Finsternis gehüllt war.
    Uralte Brocken aus Marmor, die wohl aus dem Riss stammten, waren auf den Boden herabgestürzt und hatten einige der riesigen, mit Mosaiken und Edelsteinen verzierten Fliesen, mit denen der gesamte Grund gesäumt war, zerschmettert. Weiterhin lagen überall verteilt vermoderte und verbrannte Leichen von gut ausgerüsteten Kriegern, wohlhabenden Händlern und ehrwürdigen Pyromanten, die wohl einst die Anhänger des Kultes dieser Hallen waren, und ihm bis in den Tod nachfolgten. Sie erfüllten die Luft mit einer unterschwelligen Fäulnis, vermischt mit den Düften von Rauch und Asche sowie dem Gestank von Schwefel.
    Links und rechts, an den Wänden der Halle entlang, standen meterhohe Säulen in regelmäßigen Abständen verteilt. Auf diesen Hunderten von Säulen waren einst wunderschöne Reliefs abgebildet, die die glorreiche und zugleich erbärmliche Geschichte des flammenden Königs aufzeigten, alle seine Schlachten und Siege, doch nun waren sie abgeflacht und ihre einst strahlende Bemalung verblasst.
    „Der alte Bastard kommt seinem Ruf gleich, das muss man ihm lassen“, staunte Israfil, der sich voller Bewunderung und mit neugierig leuchtenden Augen in der langen Halle umsah.
    Azrael war dies gleich – er war mit den Gedanken woanders. Beim Ruhm. Beim Reichtum. All das, was ihm vorher verwehrt geblieben ist... All das sollte er nun doch bekommen.
    „Grabschänder“ nannte man ihn. „Plünderer“, „Leichenfledderer“. Doch die Zeiten der Beschimpfung waren endlich vorbei... Azrael hatte sie gefunden, die Halle von Paeron, dem alten Gottkönig über Feuer, Glut und Zunder, der die Welt – so die Legende – im vorletzten Zeitalter im Sturm eroberte hatte und sie für Ewigkeiten beherrschte.
    Stets soll er mit seinem hellrot glühenden Schwert, genannt „Ketzertod“, gekämpft haben, und mit ebendiesem Schwert hätte er nie auch nur ein Gefecht verloren. Seine Feinde richtete er hin, indem er seine mit Brandnarben übersäte Hand auf ihr Gesicht legte, als wollte er sie segnen, und ihnen dann mit einer in Flammen stehenden Handfläche die Augen aus dem Schädel brannte.
    Seine Rüstung, dunkelroter Plattenpanzer über goldgelbem Kettenhemd, war angeblich mit Metall aus dem Herzen eines Berges selbst geschmiedet worden. Seine brennende, mit Dornen versehene Krone war ein Geschenk der Götter der Himmel und der Höllen selbst, so die Sage.
    Es hieß, dass seine gelben Pupillen vertikal waren, leuchtenden Katzenaugen nicht unähnlich, doch umschlungen von einem Ring aus hell aufflackerndem Feuer, entfacht durch bloßen Hass.
    „Azrael? Alles in Ordnung?“, fragte ihn Mikaal besorgt. „Ja, ja... ich war nur, nun, im Träumen versunken. Ich meine... kannst du dir Wert von all dem hier vorstellen? Wir werden die reichsten Männer im ganzen Land sein... unsere Namen in aller Herren Munde!“
    Mikaal zuckte nur mit den Schultern. „Mich interessiert dein Mammon nicht, wie ich schon oft sagte.“
    Er war nur ein Priester, ein Diener des Sonnenfürsten. Er war gekleidet in ein lockeres, schwarzes Gewand, das beim Gehen über den Boden schleifte, und trug seine braunen Haare sehr kurz, sodass sein kantiges Gesicht betont wurde. Er war nur hier, um herauszufinden, in wie weit der Gott seines Glaubens an die Sonne verbunden ist mit dem längst erloschenen Herrscher der Flamme.
    „Ach ja, ich vergaß. Bin nicht ganz bei mir.“
    „Man merkt's“
    „Wir sollten weitergehen.“, sagte Israfil. „Wenn wir ein Artefakt finden, dass Paeron höchstselbst gehörte, brauchen wir nichts weiter, um bis in alle Ewigkeit im Überfluss leben zu können.“
    Israfil war glattrasiert, hatte weder Bartstoppeln noch Kopfhaar. Er trug eine Stahlrüstung, die bei jedem Schritt klapperte, und hatte stets einen schweren Anderthalbhänder dabei, den er auf ihrer gesamten Reise nicht einmal benutzen musste. Er war ein sehr misstrauischer Mensch.
    Der teure Söldner war aus ähnlichen Gründen hier wie auch Azrael. Nur, dass er nichts als den Reichtum anstrebte, ein Vermächtnis aufbauen wollte, während Azrael zusätzlich vorhatte, seinen guten Ruf zurückzuerlangen. Den hatte er durch frühere Beutelschneidereien bereits verloren. Aber als Finder des Grabes von Paeron würde er in die Annalen der Geschichte eingehen – nicht als Dieb, sondern als Entdecker. Als der größte Entdecker, der je gelebt hatte.
    Azrael war der Älteste der Gruppe. Er hatte langes, zurück gekämmtes Haar, das einst blond war, nun jedoch grau glänzte und vergilbt wirkte. Ein ungepflegter Stoppelbart verbarg seine Falten und lenkte von seinen gierigen Augen ab. Er bewegt sich leiser als die Anderen in seiner maßgeschneiderten Ledertracht – wenn man nicht darauf achtete, konnte man ihn nicht hören.
    Der Vierte im Bunde, Gibril, war nichts als ein fettleibiger, unbeholfen trampelnder Tor, der sein gesamtes bisheriges Leben als Bauer verschwendet hatte, und nun der Meinung war, er müsste unbedingt an einem Abenteuer teilhaben. Die anderen duldeten ihn nur, weil er als Einziger kochen konnte – was ihnen auf ihrem langen Weg sehr gelegen kam.
    Langsamen Schrittes gingen sie, mit schleifendem Gewand, klappernder Rüstung und trampelnden Füßen, durch die Halle. Überall lagen diese Toten, diese Verrotteten. Teilweise fast unbeschadet, teilweise völlig zerfetzt oder gar verkohlt. Vereinzelt trugen sie eine tiefe Verbrennung in Form einer Hand im Gesicht, als hätte der alte König selbst sie gesegnet.
    Mikaal entzündete zwei Fackeln, eine für sich selbst und eine für Azrael, den Gruppenführer, als sie sich zu weit vom Licht des Risses entfernten, der Finsternis zu nahe kamen. In jenem Grab schienen die Flammen stärker zu flimmern als anderswo, doch vielleicht war das nur eine Täuschung. Ihre Augen sahen das, was sie sehen wollten, gerade hier, in der Nähe des angeblichen Feuergottes.
    Viele Schritte und noch mehr Leichen weiter kamen sie an einer völlig zerschmetterten Säule vorbei. Sie war nicht nur gebrochen – sie war gesprengt. Bruchstücke waren überall verteilt, einige waren sogar geschmolzen. Hinter dem geborstenen Säulensockel war eine verbrannte Leiche an einem Schwert fest an die Wand genagelt worden.
    „Was ist hier passiert?“, fragte der Tölpel Gibril, der einzige der Vier, der sich darauf keinen Reim machen konnte.
    „Nun... Ich schätze mal, dass Paeron sich häufig den armen Narren stellte, die sich für fähigere Könige hielten.“, versuchte Mikaal zu erklären, doch schien es Gibril nicht wirklich weiterzuhelfen.
    Azrael seufzte. „Jemand versuchte, Paeron zu stürzen, und versagte offensichtlich.“
    Daraufhin kehrte einen Moment lang ein bedrückendes Schweigen in die Halle ein.
    „Das... Das würde ja bedeuten, dass dies Paerons Schwert ist!“, durchbrach Gibril die Stille. Und tatsächlich war die Klinge wohl von höherer Bedeutung – das Heft wurde von schwarzem Leder umspannt und der Knauf bestand aus einem rot glühenden Kristall in einer goldenen Fassung.
    „Ketzertod...“, flüsterte Israfil. „Für dieses Schwert würden Könige ihren Thron aufgeben!“
    Er ging auf das Schwert zu und umfasst das Heft, nur, um sofort zurückzuschrecken.
    „Was ist?“, fragte Gibril, der noch entsetzter war, als Israfil. „Es... Es ist so warm...“, entgegnete dieser, sich vom Schreck erholend und tief durchatmend.
    „Es ist das Schwert eines Feuergottes.“, meinte Mikaal, „Was erwartest du? Angenehme Kühlheit?“
    Israfil griff wieder danach und versuchte es herauszuziehen, doch so sehr er es auch versuchte, er schaffte es nicht. „Geht schon mal weiter“, sagte er, „Ich will dieses Schwert um jeden Preis mitnehmen!“
    Und so gingen sie vorerst ohne ihn weiter, schleifend und trampelnd.
    Je tiefer sie in die lange Halle gingen, desto weniger waren die Leichen verfault. Stattdessen waren sie immer verbrannter und missgestalteter, verrußt und verkohlt. Von einigen war nichts als Asche und Knochen übrig.
    Schließlich kamen sie an einem Altar an, der einfach mitten im Raum stand, umgeben von Toten und Verglühten. Auf diesem steinernen Altar lag ein schweres, großes Buch mit pechschwarzem Einband. Sofort stürzte Mikaal zu dem Buch und schlug es auf.
    „Was ist es, Mikaal? Nun sag schon!“, fragte Azrael nach ein paar kurzen Momenten, sterbend vor Neugier.
    „Das ist... Das ist genau das, wonach ich gesucht hab!“ – „Also, was ist es nun!?“
    „Eine Art Chronik, schätze ich, vielleicht sogar ein Tagebuch, geschrieben von Paeron höchstselbst... Mir ist egal, wo ihr nun hingeht – ich muss das hier zuerst übersetzen!“
    Gibril und Azrael zogen ohne ihn weiter. Nur Gibrils Trampeln leistete ihnen noch Gesellschaft.
    Sie stießen auf immer mehr Leichen. Immer übler zugerichtete Leichen. Leichen, die vom Nabel bis zur Kehle aufgeschnitten waren, deren verfaulte, verbrannte Gedärme und eingetrockneten Magensäfte sich über den Hallenboden verteilt hatten. Leichen, deren gesamter Ober- oder Unterleib zu Asche verglüht oder zu Staub zerfallen war.
    Es war leicht zu sehen, dass das langsam zu viel für Gibril wurde. Immer wieder schluckte er den Brechreiz herunter, oder sah herauf zur Decke, um die Toten nicht betrachten zu müssen. Er hielt sich die Nase zu, seit sie sich von Mikaal trennten, da er den abartigen Gestank nicht länger ertrug.
    Als die beiden nun, nach vielen weiteren Schritten, Zeuge eines gegeißelten, verfaulten Toten wurden, der an Armen und Beinen mit eisernen Ketten an die Säulen links und rechts im Raum gebunden war, wurde es zu viel für Gibril. Ohne Worte machte er kehrt und stampfte, so schnell ihn seine fetten Beine tragen konnte, zurück zum Eingang der Halle.
    Da schlich Azrael alleine weiter. Das Fehlen des vertrauten Klapperns, Schleifens und Trampelns beunruhigte ihn. Nichts war mehr zu hören. Er fürchtete sich. Trotz der Stille konnte er sich gut vorstellen, mit welchen grausamen Schmerzensschreien, die die verunstalteten Toten in Agonie und Marter von sich gaben, die Hallen gefüllt waren, als Paeron noch herrschte.
    Einige Schritte später stieß Azrael auf etwas, das selbst ihm den Atem stocken ließen: keine Leichen mehr. So weit er im Schein der Fackel blicken konnte waren da keine Toten, keine Zerfledderten, keine Verbrannten und Verglühten, keine Gedärme und Magensäfte, keine Gegeißelten, keine Altare und Bücher. Dafür war alles, alles, was er sah, Wände und Säulen, verrußt und verkohlt, alles schwarz, und die Mosaike auf dem Boden waren unter einer Schicht Asche vergraben.
    Er schluckte seine Angst, was durch den nun geringeren Brechreiz wesentlich einfacher war, und ging weiter. Das Schlucken hallte tief in die womöglich endlose Halle hinein. Seine Füße gruben sich mit jedem Schritt in die Asche der restlos verbrannten Anhänger Paerons.
    Langsam und undeutlich zeichnete sich dann doch noch etwas in der Ferne ab.
    Könnte es das wirklich sein? Ist es denn wahr?
    Ja, das ist er, zweifelsohne... Paerons einsamer, pechschwarzer, verrußter Thron. Und als Azrael noch näher kam, sah er ihn – Paeron, den Gottkönig über Feuer, Glut und Zunder. Er saß zusammengesackt auf seinem Thron. Das Kettenhemd war löchrig und zerfetzt, die Platten seines Panzers waren verrostet, einige fehlten sogar. Er hatte kein Schwert, weder in der Scheide, noch in der Hand. Sein Gesicht war völlig verfault und seine Augenhöhlen leer und trist. Es war so, wie die Legenden es berichteten … oder es war vor langer Zeit einmal so gewesen.
    Nur die Dornenkrone auf seinem Kopf hatte noch annähernd etwas von der alten Pracht – ihr Feuer mag erloschen sein, doch sie glimmte immer noch, und strahlte eine ungeheure Wärme ab.
    Azrael stand direkt vor ihm. Starrte durch die leeren Augenhöhlen direkt in seinen Schädel.
    „Paeron... der größte Herrscher, den die Welt je gesehen hat...“, murmelte er vor sich hin.
    „Ein Gottkönig, so mächtig, dass ihn selbst die Schöpfer beneideten...“, er schüttelte mit seinen Kopf. War es Mitleid, das er empfand? Ehrfurcht war es jedenfalls nicht. Es war etwas Arrogantes, etwas, zu dem nur Sterbliche fähig waren – Blasphemie. Ein Mensch erblickt den Leichnam eines gefallenen Gottes, und fühlt sich ihm sogleich ebenbürtig.
    „Nein... Du bist kein Gottkönig...“, spottete er. Mit flinken Fingern griff er nach der heiligen Krone, um sie sich selbst aufzusetzen. „Du bist nichts als ein besserer Feuerteufel. Selbst der beste Pyromant ist doch nur ein Mensch...“
    Azrael lächelte ketzerisch, voller Hybris. Es fühlte sich gut an, gleichgestellt mit einem vermeintlichen Gottkönig zu sein.
    Plötzlich, noch bevor er die Krone auch nur berührte, griff Paerons kalte, tote Hand nach ihm, krallte sich in sein Gesicht. Zwischen den knöchernen Fingern hindurch sah er, wie Paerons gelbe Pupillen erneut aufflammten, umschlungen von einem flackernden Ring aus Feuer.
    Azrael ließ vor Schreck die Fackel fallen. Sie erlosch beim Aufprall auf den Boden. Paerons schreckliche, leuchtende Augen waren das Einzige, was er noch sah.
    „Ich bin sehr wohl ein Gottkönig“, flüsterte er. Dann flammte seine Hand auf und gab Azrael seine letzte Segnung.

  • Tja, da hat ich eine gute Idee und konnte diese aufgrund von Umzugsstress nicht umsetzen. Dafür bleibt mir hoffentlicht diesmal mehr Zeit zum Lesen, wenn das Pack in den Uraub fährt. :D

  • Hallo Geschichtenschreiber, Leseratten und Fans des Fantastischen! :orc:

    Der Votingzeitraum zum Schreibwettbewerb Juni/Juli 2014 ist hiermit abgelaufen! Und tatsächlich können wir euch auch diesmal wieder einen demokratisch gewählten Gewinner/eine Gewinnerin präsentieren.

    Hier die Auflösung:

    ...Gewonnen hat mit 7 von insgesamt 14 Stimmen... *trommelwirbel* :mamba2:

    Spoiler anzeigen

    :mamba2:

    Spoiler anzeigen

    Miri mit der Geschichte "Goldenes Zeitalter"


    Herzlichen Glückwunsch! Du kannst nun das Thema für den nächsten Wettbewerb vorgeben und wurdest in die Rangliste eingetragen. Ausserdem bekommst für einen Monat 3 goldene Sterne und einen eigenen Benutzertitel. ;)

    Ein herzliches Dankeschön auch an alle anderen Teilnehmer! Wir hoffen, dass ihr beim nächsten Schreibwettbewerb auch wieder fleissig mitmacht und so zahlreich abstimmt. Wir sind schon sehr auf das neue Thema gespannt, das unser aktueller Gewinner hoffentlich schon bald vorgeben wird. 8)

    Übrigens könnt ihr nun auch nachschauen, wer die Autoren sind. Diese wurden den Geschichten beigefügt.

    Das war der Schreibwettbewerb Juni/Juli 2014. Vergesst nicht, euer Feedback zu den Geschichten zu hinterlassen! ;)

    Euer Fantasy-Geschichten-Forum

  • Herzlichen Glückwunsch zum Wettbewerbsgewinn Miri: :sekt:
    Tolle Geschichte, du hast dir den Sieg redlich verdient :thumbsup:

  • Glückwunsch zum verdienten Sieg, Miri. :thumbsup:

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Glückwunsch Miri: , hab deine Story grade gelesen und schätze mal - ohne die anderen zu kennen - dass dus wirklich verdient hast :thumbup: Ist ne schöne GEschichte, toll aufgebaut und bis auf n paar kleine Unebenheiten super geschrieben ^^

    LG
    Arathorn