Es gibt 11 Antworten in diesem Thema, welches 4.302 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (15. Januar 2015 um 22:52) ist von Dr. Strangelove.

  • Hey Leute, mal wieder was von mir :)
    Diese Geschichte war eigentlich für die Teilnahme am Schreibwettbewerb bestimmt, ist aber leider aufgrund der Feiertage ect. nicht rechtzeitig fertig geworden. Also hab ich sie hier und da noch ein wenig ausgebaut, wo ich aufgrund der Seitenbeschränkung hatte kürzen müssen und stell sie nun einfach ganz normal hier ein. Hübsch portioniert, soweit das geht ;) Denke das werden so zwei bis drei Teile werden, mal gucken.
    Wünsche viel Spaß beim lesen und hoffe, wie jedes Mal, auf Anregungen und Kritik :)

    New Year's Eve

    Was war das? Woher kam dieses Gefühl? Konnte es etwa sein, dass...war es wirklich möglich?
    Wer er etwa...glücklich?
    Sanft wiegte er sich im Takt der Musik und wagte kaum die Augen zu öffnen.
    Wie lange war das wohl her? Wann war er das letzte mal tatsächlich glücklich gewesen?
    Es schien ihm ganze Jahrhunderte her zu sein. Zufrieden sog er die Luft ein. Versuchte diesen Moment mit all seinen Facetten in sich aufzunehmen, um ihn für immer und alle Zeiten im Gedächtnis zu behalten. Er hatte überlebt...er war zuhause!
    Er roch den süßen, schweren Duft der wunderschönen Frau an seiner Seite. Genoss das leichte Gewicht ihres Kopfes, der an seiner Schulter ruhte. Das sanfte kitzeln ihres weichen, goldenen Haares an seiner Wange. Die wohlige Wärme ihrer zierlichen kleinen Hand in seiner eigenen.
    Ganz langsam öffnete er die Augen. Warmes, goldenes Licht strömte durch seine halbgeöffneten Lider. Erneut drohte in die Imposanz des Festsaals zu überwältigen. Nach so langer Zeit in der Fremde, nach all dem Schmutz und dem Dreck, den furchtbaren Dingen die er gesehen und erlebt hatte, nach all den Entbehrungen und ausgestandenen Ängsten, erschien ihm der Prunk und die Festlichkeit, die fröhliche Ausgelassenheit der übrigen Gäste als etwas traumhaftes, unwirkliches.
    Etwas, dass er als verschwommene, unscharfe Silhouette aus seinen Erinnerungen kannte, an dem tatsächlich teilzuhaben er jedoch einfach nicht mehr gewohnt war.
    Vielmehr fühlte er sich wie ein Reisender aus einem fremden Land, der voller Staunen die Wunder einer fremden Kultur betrachtete.
    Der Festsaal war achteckig und von unglaublichen Ausmaßen. Die Decke, die in unerreichbarer Höhe schwebte, wurde von einer gewaltigen Glaskuppel gebildet, durch die man direkt den sternenklaren Nachthimmel sehen konnte. Die Wände wurden von großzügigen Fensterfronten durchbrochen und waren außerdem mit filigranen Kunstsäulen geschmückt. Alles war mit Gold getäfelt und eine ganze Reihe mit funkelnden Glaskristallen behangene Kronleuchter – in denen sich das Licht tausendfach spiegelte und in allen Farben des Spektrums auf die Tanzenden darunter reflektiert wurde – schwebten majestätisch über dem Parkett. Zahllose Sitznischen, gepolstert mit rotem Samt, zogen sich an den Wänden entlang und der weiche violette Schein der Hexenlaternen tauchte alles in ein angenehm schummriges Licht.
    Über allem, quer durch den ganzen Raum gespannt, flattere ein riesiges Band, auf denen in schweren, verschnörkelten schwarzen Lettern geschrieben stand: „Willkommen zu Hause und ein fröhliches neues Jahr, für alle unsere ruhmreich zurückgekehrten Soldaten!“.
    Das Lied verklang allmählich und der blonde Engel an seiner Seite hob verträumt ihren Kopf von seiner Schulter und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. In ihren unermesslich tiefen, blauen Augen hätte er sich jederzeit verlieren können.
    Er lächelte zurück, drückte sie noch ein wenig fester an sich und gab ihr einen Kuss auf die sommersprossige Nase, was sie zum Kichern brachte und sie verbarg rasch erneut ihren Kopf an seinem Hals. Er schloss kurz die Augen und strich ihr sanft durchs Haar, dann lösten sie sich widerwillig voneinander, um der Band Beifall zu klatschen, die nun einen flotten Marsch anstimmte. Gequält verzog er das Gesicht. Die fröhlichen, motivierenden Trommeln und Trompeten beschworen Bilder vor seinem geistigen Auge herauf, die er lieber hinter den schweren Vorhängen des Vergessens verborgen gewusst hätte und so schüttelte er energisch den Kopf, um sie zu vertreiben. Sanft, aber bestimmt, ergriff er seine Begleitung am Arm und zog sie zielstrebig durch die Menge der übrigen Tanzenden hindurch zu einer etwas abseits liegenden und noch unbesetzten Sitzgruppe. Dort entschuldigte er sich kurz und machte sich auf, ein bisschen Bowle für sie beide zu besorgen. Dabei versuchte er so gut es ging die Marschmusik auszublenden, die Reihen fröhlicher und marschierender jungen Männer nicht mehr zu sehen, die sich bald zu makaberen Türmen grotesk verstümmelter Leichen auftürmen würden. Stattdessen dachte er nervös an sein eigenes Vorhaben. Konnte er es denn wirklich wagen sie zu fragen? Was wenn sie nein sagte? Er war so lange fort gewesen. So vieles konnte in seiner Abwesenheit passiert sein. So vieles sich grundlegend verändert haben. War er mental soweit stabil, dass er eine Ablehnung verkraften konnte? Nervös trommelte er mit den Fingern auf den Bartresen, während er auf seine Bowle wartete. So tief war er in seine eigenen Überlegungen verstrickt, dass er die leichten Vibrationen des Bodens gar nicht bemerkte, die die Ankunft von etwas großem und kräftigen ankündigten.
    Tatsächlich bemerkte er seinen alten Freund erst, als dieser direkt das Wort an ihn richtete.
    „Du siehst nicht gut aus.“ war alles was Gunnar sagte. Seine mechanische Stimme klang dumpf und hohl und wurde von einem donnernden Nachhall begleitet, der sie fast schon ein wenig unheimlich klingen ließ. Auch ihn fröstelte es wieder einmal, als der blecherne Klang seine Gedanken durchbrach und er sich zu seinem Freund umdrehte. Und wieder einmal wurde er von Mitleid und bedauern überwältigt, als er die unförmige Gestalt seines Gegenüber betrachtete. Sie waren Kameraden im Krieg gewesen, Gunnar und er. Hatten gemeinsam gekämpft und gelacht, hatten sich schätzen und wie Brüder lieben gelernt, einander mehr als einmal das Leben gerettet und waren sogar bereit gewesen füreinander zu sterben. Aber sie hatten alle beide überlebt. Waren durch die Hölle gegangen und hatten in tiefe, menschliche Abgründe geblickt, aber sie hatten überlebt. Nur hatte Gunnar einen unfassbar viel höheren Preis dafür zahlen müssen als er selbst.
    Er war von einer Hexenfeuergranate getroffen worden, nur etwa zwei Monate vor Kriegsende. Vier Jahre lang hatte er Schlacht um Schlacht überstanden ohne einen einzigen Kratzer davon zutragen und dann, kurz vor der entscheidenden Schlacht in dem dieser ganze Albtraum endlich ein Ende finden sollte, war er von einem dieser Dinger erwischt worden.
    Hexenfeuer war kein gewöhnliches Feuer. Es brannte auf einem dickflüssigem, klebrigen Öl in dem herrlichsten violett, dass man sich vorstellen konnte, doch es war auch kaum zu löschen und das Öl, einmal auf der Haut, nur schwer wieder abzubekommen. Noch dazu verbrannte dieses verfluchte Zeug nicht den Körper allein, nein, es verzehrte auch noch die Seele. Gunnar hatte nur einige wenige Sekunden gebrannt, vermutlich nicht einmal eine halbe Minute, bevor ihn ein zufällig nahe stehender Sanitäter hatte löschen können, denn es gab durchaus Methoden das zu bewerkstelligen.
    Doch trotzdem hatten die Ärzte im Lazarett später kaum etwas von seinem Körper retten können. Nur sein Geist hatte den Brand relativ unbeschadet überstanden und der Wahnsinn hatte seine geifernden Fänge nicht um ihn schließen können. Also hatte man entschieden ihn in einen der gewaltigen Cybots zu packen, Kriegsmaschienen und Bauwerkzeuge in einem.
    Riesige Stahlungetüme von mindestens sieben Fuß höhe und vier Fuß breite. Klobig und massiv, gepanzert und bewaffnet, angetrieben durch modernste Dampf – und Hydrauliktechnik, die unter enormen Kraftanstrengungen von den Techpriestern mit den zerstörten Synapsen des verstümmelten Körpers verbunden wurde, sodass der Träger seine gewaltigen neuen Gliedmaßen nach einiger Mühe ebenso gezielt benutzen konnte, wie seine verlorenen. Die Überreste des Körpers wurden begraben, indem man sie in eine mit konservierenden Flüssigkeiten gefüllten Sarkophag legte, welcher dann, mit zentimeterdicken Stahlplatten geschützt, in den mechanischen Körper eingebettet wurde, um fortan als Soldat oder Baumaschienen gleichermaßen für die Gesellschaft von nutzen zu sein.
    „Du dafür umso besser.“ gab er zurück und fügte nach einem kurzen Augenblick der Musterung hinzu. „Was tust du hier? Anlässe dieser Art sind doch sonst nicht nach deinem Geschmack?“
    Er wusste nicht ob Gunnar lächelte oder eine Grimasse schnitt, denn weder die eiserne Maske, noch die mechanische Stimme verrieten irgendeine Emotion.
    „Ich bin hier um nach dir zu sehen. Auf dich aufzupassen.“ Ein kurzes Schweigen folgte.
    „Kommst du klar?“ Er wusste nicht was er darauf antworten sollte.
    Kam er klar? War alles in Ordnung? Die Bilder marschierender Soldaten...die Flammen, die Schreie, die Gesichter...diese furchtbaren Gesichter die verzerrt von Angst, Hass und Schmerzen immer wieder blitzartig auf seiner Netzhaut aufflackerten, nur um ebenso schnell wieder in seinem Unterbewusstsein zu verschwinden wie sie gekommen waren. Die Nervosität, das Zittern, das Herzklopfen, die schweißnassen Hände. Das Gefühl erdrückt zu werden, zwischen all diesen Menschen. Nichts war in Ordnung...sollte er Gunnar von all dem erzählen? Oder sollte er schweigen? Schweigen und vertrauen? Vivien vertrauen? Der Frau vertrauen, die ihn gerade bei einem einfachen Tanz hatte alles böse und schlechte vergessen lassen. Die seine zerstörte Seele geheilt hatte, von all den furchtbar aufklaffenden Wunden, die sie bedeckten. Die ihn sich hatte fühlen lassen wie einen normalen Menschen. Einen Menschen, der es verdiente geliebt zu werden. Wie jemand, der er früher einmal gewesen war. Vor langer Zeit.

    Aus einer großen Gesellschaft heraus
    ging einst ein stiller Gelehrter nach Haus.
    Man fragte: "Wie sind sie zufrieden gewesen?"
    "Wärens Bücher", sagte er, "ich würd' sie nicht lesen."

    Johann Wolfgang von Goethe

  • Und wie immer freue ich mich, etwas von dir lesen zu dürfen :D Hier zuerst die Formsachen:

    Formsachen
    Zitat

    Was war das? Woher kam dieses Gefühl? Konnte es etwa sein, dass...war es wirklich möglich?
    Wer er etwa...glücklich?


    Vor und hinter den Auslassungspunkten brauchst du ein Leerzeichen. Diese Stelle steht stellvertretend für alle weiteren in deinem Text.

    Zitat

    Wie lange war das wohl her? Wann war er das letzte mal tatsächlich glücklich gewesen?


    groß

    Zitat

    Das sanfte kitzeln ihres weichen, goldenen Haares an seiner Wange.


    groß

    Zitat

    Nach so langer Zeit in der Fremde, nach all dem Schmutz und dem Dreck, den furchtbaren Dingen die er gesehen und erlebt hatte, nach all den Entbehrungen und ausgestandenen Ängsten, erschien ihm der Prunk und die Festlichkeit, die fröhliche Ausgelassenheit der übrigen Gäste als etwas traumhaftes, unwirkliches.


    nach "etwas", "alles" und "nichts" werden Adjektive substantiviert. Deswegen beides groß schreiben.

    Zitat

    Er lächelte zurück, drückte sie noch ein wenig fester an sich und gab ihr einen Kuss auf die sommersprossige Nase, was sie zum Kichern brachte und sie verbarg rasch erneut ihren Kopf an seinem Hals.


    Zwei unds in einem Satz geben den Ganzen so was aufzählerisches oder auch zusammengestückeltes. Mach hier lieber beim zweiten Und einen Punkt und leite mit "Rasch verbarg sie ihren ..." einen neuen Satz ein

    Zitat

    Und wieder einmal wurde er von Mitleid und bedauern überwältigt, als er die unförmige Gestalt seines Gegenüber betrachtete.


    groß

    Zitat

    Riesige Stahlungetüme von mindestens sieben Fuß höhe und vier Fuß breite


    beides groß

    Zitat

    Der Frau vertrauen, die ihn gerade bei einem einfachen Tanz hatte alles böse und schlechte vergessen lassen.


    auch die etwas-alles-nichts-Regel. Beides gehört groß.

    Zitat

    Der Frau vertrauen, die ihn gerade bei einem einfachen Tanz hatte alles böse und schlechte vergessen lassen. Die seine zerstörte Seele geheilt hatte, von all den furchtbar aufklaffenden Wunden, die sie bedeckten. Die ihn sich hatte fühlen lassen wie einen normalen Menschen. Einen Menschen, der es verdiente geliebt zu werden. Wie jemand, der er früher einmal gewesen war. Vor langer Zeit.


    Hmm, weiß nicht, ob hier Fragezeichen an den Enden der Sätze nicht angemessener werden? Schließlich kommt mir dein Charakter ziemlich unsicher in dem Moment vor. Die Punkte würden andeuten, dass er mit seiner Absicht, sie zu fragen, sehr viel sicherer ist.

    Ansonsten kann ich nur sagen: Ganz große Klasse :thumbsup::thumbsup: Schade, dass sie nicht rechtzeitig fertig wurde, ich denke, du hättest gute Chancen beim Wettbewerb gehabt. Naja, so wird die Geschichte hoffentlich ein wenig länger sein, also gut für mich :D
    Ich muss ehrlich bewundern, wie wundervoll deine Beschreibungen sind. Ich weiß nicht, wie du es machst und wie du es erreichst, ich weiß nur, dass es wirklich ein Genuss ist, deine Texte zu lesen. Ich selbst hasse Beschreibungen, weil ich sie nie so gut rüberbringen kann und alles immer so langweilig klingt, weswegen ich mich lieber auf Dialoge stürze.
    Ich denke, ich kann von dir in diesem Punkt extrem viel lernen und freue mich, bald den Rest des Textes hier lesen zu dürfen :)

    Auch das Setting finde ich sehr ansprechend, Steampunk scheint hier im Forum immer beliebter zu werden. Die ganze Atmosphäre ist toll eingefangen und kommt sehr gut zum Ausdruck, gerade in diesen Erinnerungen und Rückblenden, die dein Protagonist beim Klang der Mraschmusik durchlebt. Ganz großes Lob an dich :thumbsup:

    Mach weiter so, ich bin wirklich begeistert von deinen Texten
    :super:

  • Ähm... ähm... öhm.. tja...
    Was bleibt noch zu sagen? Alo fasst das alles schon grossartig zusammen, ich kann nur noch anfügen: Du bist wahrlich ein Atmosphäre-Mager :thumbsup: man konnte die Schatten der Vergangenheit förmlich spüren, die sich so über die fröhliche Szene legte. Auch den Steam- (oder ist es Cyber?)punkteil gefällt mir extrem, das Ganze fühlt sich an wie in einer nicht allzu fernen Zukunft.

    Das geht noch weiter? Ich freu mich ^^


    "You know what the big problem is in telling fantasy and reality apart? They're both ridiculous."

    - Twelve

  • Danke euch beiden!
    Nun ist es ja mal an mir ein bisschen rot zu werden :D
    Danke für das große Lob und die Verbesserungen!
    Dann gehts auch direkt weiter :)

    „Tom?“ Diesmal musste er nicht raten, um die Besorgnis hinter der klanglosen Monotonie der mechanischen Stimme seines Freundes zu erkennen. Also atmete er kurz durch und sammelte sich.
    „Ja...ich denke ich komme klar. Danke, dass du dich sorgst.“
    Wie eine Statue stand Gunnar vor ihm. Kein Muskelzucken, weder Körpersprache noch Mimik verrieten irgendein Gefühl. Einfach nur eine riesige, stählerne Hülle, gefüllt mit den zerrissenen Überresten eines einstmals guten Freundes. Was war nur mit ihnen geschehen? Wie waren sie hier hin gelangt? Eigentlich sollten sie alle beide tot sein. Tot, begraben und vergessen.
    Das Schweigen dehnte sich, hing zwischen ihnen wie eine Wolke klebriger Zuckerwatte und er begann sich bereits unwohl zu fühlen, als der Barkeeper ihm endlich die Gläser voll Bowle brachte. Erleichtert nahm er sie entgegen und wollte sich gerade verabschieden, da dröhnte Gunnar ihm noch eine letzte Frage entgegen.
    „Wirst du sie heute Fragen?“
    Alles in ihm krampfte sich zusammen. Warum...warum bei allen sieben Höllen hatte er Gunnar bloß von seinen Plänen erzählt. Er wusste doch, was der alte Blecheimer für ein fürsorglicher, treuer und vor allem hartnäckiger Freund war...und wie sehr er sich um ihn sorgte. Tag für Tag musste er sehen, wie er selbst sich immer weiter selbst verzehrte. Von innen heraus. Aufgefressen von den Erinnerungen und Eindrücken, die viel zu tief und zu schmerzhaft in seinen Verstand eingebrannt worden waren, als dass er sie jemals wieder würde vergessen können. Er hatte Dinge gesehen, Dinge getan... die er sich selbst nicht würde verzeihen können, solange er lebte. Hatte die Achtung vor sich verloren. Die Achtung vor der Welt und der Menschlichkeit verloren. Die Achtung vor dem Leben verloren. Der einzige Antrieb, der ihn Tag ein Tag aus durch diese Hölle gehen ließ, die andere Menschen belanglos Alltag nannten, war sie. War Vivien. Und Gunnar sah in ihr vermutlich mehr noch als er selbst seine letzte Hoffnung. Das Heilmittel. Den rettenden Ast, vor dem gähnenden Abgrund, auf den er stetig und unaufhaltsam zu strebte.
    Doch erneut musste er sich fragen: Was war wenn sie nein sagte? Wenn das Heilmittel nicht wirkte, der letzte Ast brach? Andererseits... hatte er den eine Wahl? Was blieb ihm schon groß zu verlieren?
    Also seufzte er resigniert und nickte.
    „Ja, werde ich... sobald ich ein paar mehr von diesen hier getrunken habe.“ sagte er und schlug sanft die beiden kristallenen Gläser aneinander, woraufhin ein herrlich süßes Klingen ertönte.
    Gunnar schnaubte zufrieden und brachte so etwas wie ein Nicken zustande, woraufhin eine Wolke stechenden Qualms zischend aus einem seiner zahllosen Ventile entwich.
    „Lass dir nicht zu lange Zeit Tom. Frag sie! Sie wird nicht nein sagen.“
    Er versuchte seinen Freund anzulächeln, doch obwohl sich seine Mundwinkel bewegten, erreichte der Glanz nie seine Augen, und so wandte er sich ab.
    Sie wird nicht nein sagen. Da war er sich nicht so sicher. Doch er hatte keine Wahl. Der Mahlstrom seines Lebens drehte sich unaufhörlich weiter und wenn er nicht bald versuchte sich zu retten, würde es ihn einfach zermalmen. Wie ein Kind einen kleinen Käfer unter seinen riesigen Schuhen.
    Also machte er sich auf den Weg zurück durch die Menge.
    Sein Herz schlug ihm bereits bis zum Hals, als er endlich aus dem erstickenden Menschengewühl auftauchte. Vivien saß nach wie vor allein und wippte fröhlich mit dem ganzen Körper zum Takt der Musik. Mittlerweile spielte die Band einen Charlston. Einige junge Kadetten – Grünschnäbel die nur die letzten Monate des Krieges erlebt hatten und nichts wussten, wahrscheinlich nicht einmal ahnten, von dem ganzen Blut, dem Tod und dem Schlamm des Krieges, aber nichts desto trotz ungemein schneidig in ihren Uniformen aussahen – warfen begehrliche Blicke zu ihr herüber, suchten jedoch rasch das Weite, als er sie mit einem vernichtenden Funkeln bedachte.
    Er musste sich konzentrieren, damit seine schweißfeuchten Hände nicht zitterten, als er sich ihr gegenüber niederließ und ihr eines der Gläser reichte. Er versuchte sich möglichst entspannt zu geben und prostete ihr zu, musste jedoch einiges an Beherrschung aufbieten, um nicht das ganze Glas in einem Zug herunter zu stürzen. Mein Gott war er nervös!
    Sie hingegen wirkte völlig ruhig und fast schon lächerlich glücklich, machte jedoch nicht die geringsten Anstalten ihrerseits zu trinken. Stattdessen sah sie ihn einfach nur an, tief und durchdringen, den Kopf leicht zur Seite geneigt und ein scheues Lächeln auf den Lippen.
    Eine goldene Strähne war ihr ins Gesicht gefallen und er wollte sich vorbeugen, um sie ihr hinters Ohr zu streichen. Wünschte sich nichts sehnlicher als sanft ihren Nacken zu streicheln und sie zu küssen. Doch ihr fortwährender Blick verunsicherte ihn und so blieb er sitzen, wie auf heißen Kohlen.
    „Was ist denn los?“ fragte er schließlich, als er es nicht länger ertragen konnte und betastete vorsichtig sein Gesicht. „Hab' ich da irgendwas?“
    Doch sie lachte nur und schüttelte den Kopf, bevor sie endlich an ihrer Bowle nippte.
    „Nein, es ist nichts. Ich freue mich einfach nur unheimlich, dass du zurück bist. Du warst so lange fort und ich hatte jeden Tag solche Angst um dich. Du hast ja keine Ahnung was für Dinge wir von der Front gehört haben. Und dann ständig die Konvois, die die Verwundeten und Toten nach Hause brachten. Dich jetzt hier gesund und unversehrt wieder bei mir zu haben ist fast...ja...ist fast wie in einem Traum.“
    Und sie griff zu ihm herüber und legte ihre kleine Hand auf seine.
    War er das? Der Moment auf den er gewartet hatte? Er sammelte sich und setzte gerade zum Sprechen an, da knallte irgendwo ganz in seiner Nähe ein Sektkorken.
    Das laute Geräusch, ließ ihn augenblicklich heftig zusammen zucken. Von jetzt auf gleich schoss ihm der kalte Angstschweiß aus den Poren. Sein Herz machte einen Sprung und drohte dann auszusetzten, bevor es zu einem höchst unregelmäßigen Rhythmus zurückfand.
    Sein Blick verschleierte sich. Schwärze sickerte in sein Blickfeld. Vivien vor ihm verschwand in einem Wirbel aus furchtbaren und unzusammenhängenden Bildern.
    Laute drangen an sein Ohr. Das Donnern von Geschützen, das Klirren von Stahl, Schreie und Rufe. Er atmete schwer, keuchte fast. Dumpf drang eine besorgte Stimme an sein Ohr, doch er verstand sie nicht. Er musste hier weg. Torkelnd, mit zitternden Knien, stand er auf und wankte so schnell er konnte Richtung Toiletten. Auf seinem Weg stieß er gesichtslose Gestalten beiseite, mehr als ein Glas ging zu Bruch, einmal verlor er beinahe sein Gleichgewicht und wäre gestürzt. Doch schließlich erreichte er die Toilette, taumelte fast blind hinein und schloss sich, keuchend und von Schweiß durchnässt, in einer der Kabinen ein, wo er verzweifelt darum rang, seine Fassung zurück zu gewinnen. Doch die Bilder. Diese furchtbaren Bilder...sie ließen sich nicht verscheuchen. Immer klarer und klarer drangen sie auf ihn ein. Zerrten an seinem Bewusstsein, erinnerten ihn an seine Vergangenheit. Er hatte versucht davon zu laufen. Hatte versucht diese dunklen Erinnerungen einzuschließen und zu vergessen. Nun waren sie aus ihrem Gefängnis ausgebrochen und hatten ihn eingeholt, um grausame Rache zu nehmen.
    Er war wieder im Krieg. Die Luft war kalt. Ein furchtbarer Gestank nach verbranntem Fleisch umhüllte ihn. Er stand mit einigen Männern im Schlamm. Leichen umgaben sie. Tote und zerstückelte Körper. Seelenlose Fleischberge. Ein ganzes Menschenleben in wenigen Sekunden zerfetzt, auseinandergerissen, zur Gänze ausgelöscht.
    Sie standen vor einem baufälligen Haus. Die Stadt war gefallen. Um sie her stürmten ihre Kameraden durch die Straßen, um zu plündern und zu morden. In der Ruine vor ihnen versteckten sich noch Feinde. Der Mann neben ihm nahm eine Granate. Eine aus diesem unglückseligen Hexenfeuer. Er grinste dreckig, als er sie entsicherte und durch eines der zerstörten Fenster warf.
    Aufgeregte, panische Rufe antworteten von drinnen. Dann eine kurze, gedämpfte Explosion. Dann Schreie absoluter Todesqual. Violette Flammen leckten aus den Fenstern. Die Tür wurde aufgestoßen und brennende Gestalten taumelten heraus. Sie schlugen wild um sich. Das Feuer ließ ihre Gesichter schmelzen. Die Schreie ihrer Qual waren durch den Schmerz in derart animalische Höhen geschraubt worden, dass sie kaum mehr als menschlich zu erkennen waren. Einige warfen sich auf den Boden und wälzten sich im Schlamm, in der verzweifelten Hoffnung die Flammen zu ersticken. Andere taumelten einfach ziellos umher. Vom nahenden Tode bereits in den Wahnsinn getrieben. Doch sie wollten nicht sterben. Sie brannten und brannten. Er wollte sein Gewehr heben und sie alle mit einer einzigen Salve erlösen, doch der Mann neben ihn packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.
    „Die kochen doch schon mein Junge. Verschwende keine gute Munition an bereits gares Fleisch.“
    Und so blieb er untätig und schaute zu...beinahe fünf Minuten lang, während die Schreie sich in seine Erinnerung brannten wie eine heiße Herdplatte in die Hand eines unvorsichtigen Kindes, bevor endlich gnädiges Schweigen eintrat.
    Die Szene verschwand und während sein Herz weiter raste und er verzweifelt keuchte und um Atem rang, verdichteten sich die Fetzen seiner Erinnerung vor seinem geistigen Auge erneut zu einer weiteren Szene. Er stand vor einer Reihe Gefangener. Keine Soldaten. Verzweifelte junge Kinder und Stallburschen, die aus Angst um ihr eigenes Leben zur Waffe gegriffen hatten. Er selbst hielt einen kleinen Jungen am Nacken gepackt. Er wimmerte leise und blickte ängstlich zu ihm auf. Er konnte kaum älter als zwölf sein. Andere Gefangene, darunter zwei Frauen, standen mit auf dem Rücken gefesselten Händen an einer von Einschusslöchern übersäten Häuserwand.
    Ein Offizier musterte die jämmerliche Schar mit eiskaltem Blick, während er rasch auf sie zukam.
    „Neuer Befehl von ganz oben Gentlemen. Wir sollen niemanden am Leben lassen, der innerhalb der nächsten zehn Jahre eine Waffe gegen uns richten könnte. Also...an die Wand stellen und erschießen.“
    Fassungslos starrte er seinen Vorgesetzten an, während die übrigen Männer seiner Einheit die nun vor Furcht und Verzweiflung weinenden Gefangenen grob vor sich her stießen.
    „Aber Sir...das hier ist noch ein Kind?“
    Der Mann musterte den Jungen nur kurz und zuckte dann mit den Schultern.
    „In zehn Jahren wird er ein junger Mann sein und sich rächen wollen. Das können wir nicht zulassen. Wir wollen einen dauerhaften Frieden erzwingen, dafür gilt es manchmal unangenehme Opfer zu bringen. Wir müssen vorausschauend denken, Sergeant. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Also bringen sie's sich hinter sich und denken nicht allzu lange darüber nach.“
    Und damit wollte er sich bereits abwenden und davon gehen, doch er hielt ihn noch einmal zurück.
    „Ich kann doch kein Kind erschießen!“ schrie er und der Offizier blieb noch einmal stehen.
    Als er sich diesmal umdrehte lag Kälte in seinem Blick und seine Stimme war streng und schneidend.
    „Ich befehle ihnen diesen Jungen zu erschießen, Sergeant.“
    Schweigen. Er rang mit sich selbst. Er sah die brennenden Soldaten, sah tote Frauen und Kinder, sah abgerissene Gliedmaßen und zerschmetterte Körper. Berge von Leichen und in Schutt und Asche gelegte Städte. Blut, dass in Sturzbächen durch gesplitterte Rinnsteine rauschte und von Kratern übersäte Felder, in deren knöcheltiefen Matsch die bereits verwesenden Körper kaum mehr vom glitschigen Erdreich zu unterscheiden waren. Er sah seinen eigenen Finger am Abzug, wie er immer wieder abdrückte, sah sein Schwert, wie es durch Knochen und Haut drang. Sah all diese Gesichter. Sah den ungläubigen Ausdruck in ihren Augen, als das Leben langsam aus ihnen wich. Sah den Moment, in dem das Licht erlosch und seelenlose, stumpfe Ödnis ihm aus dem leeren Blick entgegen schwappte...und dann straffte er sich.
    „Ich kann das nicht tun... Sir.“ brachte er mit belegter Stimme hervor.
    Einen scheinbar endlos langen Augenblick maßen sie sich stumm mit Blicken. Unschlüssig, wie es nun weitergehen sollte. Dann zog der Offizier seine Pistole und richtete den Lauf auf seine Brust.
    „Sergeant, ich gebe ihnen eine allerletzte Chance. Führen sie diesen Befehl aus, oder ich werde erst sie und dann den Jungen erschießen.“
    Doch er rührte sich nicht. Sollte er ihn doch erschießen. Ihm war es egal. Vermutlich hatte er es sogar verdient. Vielleicht war es besser so.
    „Erfüllen sie ihre Pflicht Soldat! Das hier ist Krieg! Tun sie weshalb wir hier sind!“
    Der Offizier schrie nun, doch es lag keine echte Wut in seiner Stimme und in seinem Blick konnte er eine Qual erkennen, die seiner nicht ganz unähnlich war.
    „Nein, Sir.“ flüsterte er und spürte, wie ihm die Stimme versagte.
    Noch einen unerträglichen Augenblick lang standen sie sich gegenüber. Die Hand des Offiziers zitterte leicht. Er schien kurz davor seine Drohung war zu machen. Doch dann schwenkte sein Arm beiseite und ein Schuss ertönte. Der Kleine Kinderkörper an seiner Seite zuckte und bäumte sich auf. Dann sackte er zusammen und stürzte in den Dreck.
    Noch immer starrten sie aneinander an. Eine kleine Rauchfahne stieg aus dem Lauf der Pistole auf.
    Die Augen des Offiziers schimmerten feucht.
    „Befehl ist Befehl, Soldat.“ er schluckte schwer und ließ die Waffe sinken.
    „Sie stehen unter Arrest und werden sich nach dem Krieg wegen Insubordination vor einem Kriegsgericht verantworten müssen. Männer!“ und er winkte zwei anderen Soldaten.
    „Führt ihn ab.“ Man packte ihn und brachte ihn fort. Keiner sprach ein Wort. Er warf einen letzten Blick zurück und sah den Offizier, wie er vor dem kleinen Leichnahm stand und mit hängenden Schultern auf ihn hinab blickte. Er konnte schwören, dass der Mann bitterlich weinte.

    Aus einer großen Gesellschaft heraus
    ging einst ein stiller Gelehrter nach Haus.
    Man fragte: "Wie sind sie zufrieden gewesen?"
    "Wärens Bücher", sagte er, "ich würd' sie nicht lesen."

    Johann Wolfgang von Goethe

  • Oh gosh... du bist übel, Mann, richtig übel... eben noch sitze ich gemütlich im Ballsaal und beobachte amüsiert und auch berührt den nervösen Herrn mit seiner Angebeteten, und plötzlich bin ich umgeben von Leichen und Dreck und dem Klang von Schüssen.

    Und toll- jetzt hab ich nen Kloss im Hals.. dass du den Offizier nicht als gemeinen Kerl, sondern als ebenso zerrissene Seele dargestellt hast, ist noch das Tüpfelchen auf dem i. Lieber Himmel... die Szene hat fast physisch wehgetan, wirklich ;(

    Hast du noch mehr davon? Her damit!


    "You know what the big problem is in telling fantasy and reality apart? They're both ridiculous."

    - Twelve

  • Oh wow, das ist echt hammerhart 8| Und die Atmosphäre ist mega ... Ich geb erstmal die Formsachen, während ich den Part verdaue:

    Spoiler anzeigen
    Zitat

    „Ja...ich denke ich komme klar. Danke, dass du dich sorgst.“


    Auch hier, vor und nach den Auslassungspunkten ein Leerzeichen setzen. Ich sag das solange, bis du es richtig machst :D

    Zitat

    Warum...warum bei allen sieben Höllen hatte er Gunnar bloß von seinen Plänen erzählt.


    Auch hier wieder Leerzeichen und ein Fragezeichen ans Ende setzen.

    Zitat

    Er hatte Dinge gesehen, Dinge getan... die er sich selbst nicht würde verzeihen können, solange er lebte.


    Ein Leerzeichen dahinter ist schonmal ein guter Anfang ;) Das Leerzeichen davor wird nur weggelassen, wenn das Wort nicht gänzlich ausgeschreiben ist.

    Zitat

    „Ja, werde ich... sobald ich ein paar mehr von diesen hier getrunken habe.“ sagte er und schlug sanft die beiden kristallenen Gläser aneinander, woraufhin ein herrlich süßes Klingen ertönte.


    Auslassungspunkte; und statt einen Punkt in der wörtlichen Rede dahinter ein Komma setzen.

    Zitat

    Stattdessen sah sie ihn einfach nur an, tief und durchdringen, den Kopf leicht zur Seite geneigt und ein scheues Lächeln auf den Lippen.


    durchdringend

    Zitat

    „Was ist denn los?“ fragte er schließlich, als er es nicht länger ertragen konnte und betastete vorsichtig sein Gesicht.


    Komma hinter die wörtliche Rede

    Zitat

    „Die kochen doch schon mein Junge. Verschwende keine gute Munition an bereits gares Fleisch.“


    nicht ganz sicher ... muss es hier nicht "garem" heißen?

    Zitat

    Und so blieb er untätig und schaute zu...beinahe fünf Minuten lang, während die Schreie sich in seine Erinnerung brannten wie eine heiße Herdplatte in die Hand eines unvorsichtigen Kindes, bevor endlich gnädiges Schweigen eintrat.


    Fünf Minuten? Das ist doch schon arg lange 8| Normalerweise wird man bei Feuer nach ein bis zwei Minuten wegen dem Qualm ohnmächtig, aber ich denke, bei dir dürften sie in der Zeit ungefähr vor Schmerz ohnmächtig werden.

    Zitat

    „Ich befehle ihnen diesen Jungen zu erschießen, Sergeant.“

    Zitat

    „Sergeant, ich gebe ihnen eine allerletzte Chance. Führen sie diesen Befehl aus, oder ich werde erst sie und dann den Jungen erschießen.“

    Zitat

    „Erfüllen sie ihre Pflicht Soldat! Das hier ist Krieg! Tun sie weshalb wir hier sind!“


    Alles groß, da wird gesiezt

    Zitat

    „Nein, Sir.“ flüsterte er und spürte, wie ihm die Stimme versagte.


    Punkt weg, komma dahinter

    Zitat

    er schluckte schwer und ließ die Waffe sinken.


    Satzanfang groß

    Wie gesagt, alles Kleinigkeiten, ich bin eben ein kleiner Korinthenkacker ^^

    Das ist echt Drama pur. Besonders, da der Offizier dann ja auch noch selber gezögert hat, den Befehl auszuführen und die Drohung nicht wahrmachen konnte. Dein Prota ist völlig traumatisiert :S Ich befürchte ja ...

    Spoiler anzeigen

    ... dass er am Ende nicht mehr die Gegenwart von der Vergangenheit unterscheiden kann und erneut zur Waffe greift und was ... Schlimmes anrichtet :cursing:

  • Noch einmal vielen vielen Dank für Lob und Kritik ihr Lieben. Hatte nicht erwartet, dass die Geschichte so gut ankommt :D
    @Alopex: Ähh...kein Kommentar :P
    Lest einfach selber, hier kommt der Rest ;)


    Ganz allmählich kam er wieder zu sich. Seine Hände zitterten, sein Atem ging schwer und kalter Schweiß drang ihm aus allen Poren, doch Stück für Stück gelang es ihm, die Kontrolle über sich zurück zu erlangen. Die grässlichen Bilder verblassten, die furchtbaren Schreie wurden leiser und leiser, bis sie schließlich ganz verstummten. Die Attacke war vorbei.
    Nur die Gesichter wollten nicht weichen. Wie in die Netzhaut eingebrannt schwebten sie vor ihm. Transparent wie Seidenpapier und doch um keinen Deut weniger anklangend.
    Die Augen starr und stumpf, unbarmherzig und durchdringend auf ihn geheftet. Gerade so als verurteilten sie ihn dafür, dass er überlebt hatte.
    Er blinzelte ein paar Mal heftig, konzentrierte sich auf seine Atmung und schließlich gelang es ihm, auch die Gesichter zu verscheuchen. So blieb er allein zurück.
    Langsam griff er in die Innentasche seines Jackets. Ein kleiner, schwerer Gegenstand befand sich darin. Der kalte Stahl und die vertraute Form beruhigten ihn. Er holte ihn heraus und begann ihn verträumt zwischen den Fingern zu drehen. Das bekannte Gewicht verlieh ihm ein Gefühl trügerischer Sicherheit. Half ihm seine Atmung zu regulieren, während der stählerne, leicht ölige Glanz die letzten Erinnerungsfetzen vertrieb. Nicht zum ersten Mal stellte er sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wäre er damals zusammen mit all den anderen gestorben. Wäre für immer dort geblieben und nie zurückgekehrt. Hätte sich zu seinen Kameraden gesellt und wäre Teil des schlammigen, zerfurchten, von Blut durchnässten Boden geworden.
    Wäre gestorben und wäre doch frei gewesen. Frei von all diesen Erinnerungen an vergangene Taten und Bilder, frei von den Gräuel die ihn verfolgten und quälten.
    Für einen kurzen, flüchtigen Augenblick überlegte er, sich den kalten Lauf der Pistole an die Schläfe zu setzten und einfach abzudrücken. Aufzugeben, zu fliehen und einfach davon zu laufen.
    All dem eine Ende zu bereiten und seinem Schicksal, dem er damals nur durch Glück oder Zufall hatte entkommen können, doch noch zu seinem Recht zu verhelfen.
    Doch noch seinen Platz im endlosen Strom der Gefallenen einzunehmen.
    Aber dann sah er auf einmal Vivien vor sich, wie sie dort draußen saß und auf ihn wartete.
    Sah den Glanz ihres Haares, roch den Duft ihrer Haut, spürte dieses seltsame Gefühl, dass ihn beim Tanzen überkommen hatte...und steckte die Waffe wieder ein.
    Vielleicht hielt dieses Leben ja doch noch etwas für ihn bereit. Etwas, für das zu leben sich noch lohnte. Vielleicht war diese Frau in der Lage ihn zu retten?
    Wie ein Ertrinkender auf stürmischer See klammerte er sich an diesen Gedanken. An diesen winzigen Silberstreif am Horizont. Und er fand die Kraft aufzustehen. Für einen kurzen Moment fürchtete er, seine butterweichen Knie würden sein Gewicht nicht halten, doch nach einer Weile verschwand das Zittern und er verließ die Kabine. Er erschrak beim Anblick der bleichen, furchtbar aussehenden Maske, die ihm aus dem Spiegel entgegen starrte. Die trostlose Ruine einer Seele, die um Haaresbreite den Drahtseilakt am gähnenden Abgrund überstanden hat. Ein Gesicht, dass den Tod gesehen hat. Dennoch schaffte er es, mit ein bisschen Wasser wieder etwas Leben und Farbe auf seine Züge zu bringen, und so verließ er schließlich entschlossen das Bad und mischte sich erneut unter die Feiernden. Er hatte nicht die geringste Ahnung wie lange sein Anfall gedauert haben mochte und machte sich ein wenig Sorgen um Vivien. Er hatte sie ziemlich hastig verlassen.
    Schon von weitem sah er, dass sich ein junger Mann zu ihr an den Tisch gesetzt hatte.
    Er sprach offensichtlich äußerst lebhaft auf sie ein, doch sie schien ihn kaum zu beachten, sondern starrte fortwährend besorgt in seine Richtung und sprang schließlich erleichtert auf, als sie ihn in der Menge entdeckte. Den anderen Kerl sie einfach sitzen und fiel ihm erleichtert um den Hals.
    „Wo warst du nur? Ist alles in Ordnung mit dir? Ich hatte solche Angst um dich.“
    Und sie nahm sein Gesicht zwischen die zarten Hände und unterzog ihn einer genauen Betrachtung.
    „Du sahst schrecklich aus, als du wie von der Tarantel gestochen verschwunden bist.“
    „Alles in bester Ordnung.“ log er und streichelte ihr dabei beruhigend durchs Haar.
    „Mir war auf einmal nur furchtbar schwindelig und mulmig im Bauch. Diese Bowle muss mir zu Kopf gestiegen sein. Ich bin wohl einfach keinen Alkohol mehr gewöhnt.“
    Er sah in ihren Augen, dass sie ihm kein Wort glaubte. Also fuhr er rasch fort.
    „Wer ist denn dein neuer Verehrer?“
    „Wer?“ fragte sie verdutzt und schüttelte lachend den Kopf, als er in Richtung des jungen Mannes deutete, der nun sichtlich enttäuscht den Rückzug antrat.
    „Ach der. Keine Ahnung. Ich hab mir nicht einmal seinen Namen gemerkt. Hat unglaublich viel geredet, aber alles nur heiße Luft. Nach einer Weile hab ich ihm gar nicht mehr zugehört. Kein Grund zur Sorge mein Lieber.“
    und sie umarmte ihn fest. Eine ganze Weile verharrten sie so, dann schob er sie sanft einige Zentimeter von sich fort.
    „Vivien?“ Seine Stimme war dünn und zitterte leicht vor Aufregung, doch er versuchte dennoch ihr fest in die Augen zu sehen. „Ich möchte dich gern etwas fragen.“
    „Aber natürlich, was?“
    Neugierde und eine absolute, unbedingte Offenheit lag in ihrem Blick. Allerdings auch ein leichter Hauch von Sorge und außerdem noch etwas, dass er nicht ganz sicher einordnen konnte. Vielleicht etwa... Hoffnung? Die Gedanken rasten wild in seinem Kopf und das Blut rauschte in seinen Ohren, während sein Herz wie wild hämmerte. Beiläufig ließ er seine Hand erneut in seine Jacketttasche gleiten. Suchend und tastend. Vorbei an dem angenehm kühlen Stahl der Pistole auf der Suche nach etwas anderem, wesentlich kleinerem, aus weichem, azurblauen Samt.
    „Ich... “ begann er stockend. „Ich meine du... würdest du... also... ähm... könntest du dir eventuell vorstellen...“
    In diesem Moment verstummte die Musik und die schrille Rückkopplung eines Mikrophons beendete sein klägliches Gestammel. Die piepsige Stimme eines nervösen Ansagers scholl durch den Saal.
    „Liebe Gäste! Dürfte ich um ihre Aufmerksamkeit bitten? Wir haben nun wenige Minuten vor zwölf und so möchten wir alle Anwesenden herzlich einladen, sich allmählich auf der Tanzfläche einzufinden um gemeinsam den Countdown herunter zählen zu können.“
    Daraufhin begann ein brodelndes Gemurmel und es kam Bewegung in die bisher ziellos umher wuselnde Menge. Auch er selbst und Vivien wurden von diesem plötzlich aufkommenden Strom erfasst und unaufhaltsam in die Mitte des Saales gedrängt. Ein paar Mal versuchte er zu entkommen und sich aus der Menschenmasse herauszuwinden, doch das Gedränge war bei weitem zu dicht, so dass er bald aufgab und sich einfach mitziehen ließ. Vivien fest an sich gedrückt.
    Als sie endlich unter dem gewaltigen Glaskuppeldach zum stehen kamen nahm sie ihn bei der Hand und blickte fragend zu ihm auf.
    „Was wolltest du mich fragen?“
    Auch ihre Hände zitterten. War sie etwa ebenso nervös wie er?
    „Ich... “ begann er von neuem, doch in diesem Augenblick wurde das Licht gedämmt und eine Uhr begann mit donnerndem Dröhnen zu schlagen, woraufhin die Menge begeistert zu zählen begann.
    „Zehn! Neun! Acht!“
    Resignierend schüttelte den Kopf und Vivien lachte verhalten, dann hoben sie beide den Kopf gen Himmel und stimmten in den Chor der Stimmen mit ein.
    „Drei! Zwei! Eins! Frohes Neues!“
    Jubel brandende auf und die Menschen stießen fröhlich miteinander an oder fielen sich in die Arme, während draußen die ersten Feuerwerkskörper in den Himmel stiegen.
    Höher und höher stießen sie hinauf, schrill pfeifend und vom Wind nur minimal in ihrer Bahn beeinflusst, bis sie schließlich in einer Höhe von vierzig oder vielleicht fünfzig Metern ihren Zenit erreichten und nach einem kurzen Zögern donnernd in den prachtvollsten Farben und Formen explodierten. Die Menschen um ihn her klatschen Beifall und stimmten die typischen „Ah's“ und „Oh's“ an, doch er zuckte bereits beim ersten Knall heftig zusammen. Das war keine gute Idee gewesen. Wie hatte er nur so blöd sein können? Warum hatte er das nicht vorausgesehen? Was hatte er sich nur dabei gedacht auf einen verfluchten Silvesterball zu gehen?
    Verzweifelt sah er sich nach einem Ausweg um, während Vivien besorgt seine Hand fester mit ihren umschloss, doch die Menge stand immer noch zu dicht gedrängt.
    Knall folgte auf Knall, und jedes Mal durchfuhr ein krampfhaftes Zucken seinen ganzen Körper.
    Mit jeder Explosion flackerten erneut Bilder vor seinen Augen auf, die er nicht mehr sehen wollte. Das dumpfe Böllern des Feuerwerks begann wie schwere Panzergranaten zu klingen, die strahlend roten Leuchtkörper verwandelten sich zu spritzenden Fontänen aus Dreck, Blut und Körperteilen. Der schwefelige Nebel am Himmel formte sich in beißende Rauschschwaden, die aus ausgebrannten Fahrzeugwracks waberten und den Gestank nach verbrannten Fleisch in sich trugen, während die spitzen Ausrufe der Entzückung in seinen Ohren wie das Schreien der Verletzten und Sterbenden zu klingen begann.
    Sein Puls beschleunigte sich, Schwärze sprudelte in die Seiten seines Blickfelds, Panik weitete seine Pupillen und ein unkontrolliertes Zittern befiel seine Glieder, während er sich hektisch hier hin und dorthin wendete, jedoch überall nur eine undurchdringliche Mauer aus fröhlichen Menschen vorfand, die sich enger und enger um ihn zu schließen schien.
    Die Bilder folgten nun immer rascher aufeinander, verdrängten die Realität und bald bildete er sich nicht mehr nur ein, den Gestank von Krieg und Tod in der Nase zu haben. Er roch sie tatsächlich! Die Leiden und die Vernichtung und auch Viviens beruhigende Stimme, die verzweifelt versuchte ihn zurückzuholen, wurde von krachenden Schüssen und schmerzerfüllten Rufen verschluckt.
    Er keuchte und drehte sich auf der Stelle wie ein in die Enge getriebenes Tier. Panik zerrüttete seinen Geist und der Wahnsinn rüttelte gierig an den wankenden Pfeilern seines Verstandes.
    Ein Schrei staute sich in seinem Inneren an, wurde größer und größer, füllte ihn aus, stieg rasch höher und höher, seine Kehle hinauf und brach sich schließlich gellend bahn. Drohte beinahe seine Lunge zu zerreißen und gleichzeitig riss er die Pistole aus der Tasche, richtete sie auf den von bunten Lichtern erhellten Himmel und drückte hab.
    Der donnernde Nachhall des Schusses mischte sich in das entsetzte Aufschreien der Menge und das Klirren von berstendem Glas, als die gewaltige Kuppel durch den Einschlag der Kugel in abertausende feine Splitter zerschmettert wurde.
    Wie ein feiner Regen gingen sie in grausam schneidend und stechend auf die versammelten Menschen nieder, die nun in fluchtartiger Panik auseinander stoben.
    Die fröhliche Feuer verwandelte sich in ein Chaos aus angstvollen Schreien, niedergetrampelten Menschen und knirschendem Glas, alles in die ständig wechselnden Farben des Feuerwerks getaucht. Nur er und Vivien verweilten reglos. Bildeten das Zentrum einer sich sternförmig verteilenden Bewegung. Das Epizentrum eines furchtbaren, emotionalen Bebens, während der Regen aus Glas und Kristall immer noch um sie her niederging. Wie durch ein Wunder erlitt jedoch keiner von einen auch nur den kleinsten Kratzer.
    Das grausame Bellen des Schusses hatte ihn augenblicklich aus seiner Trance gerissen und nun starrte er hilflos den davon stürzenden Menschen hinterher. Sah die zu Boden gestoßenen, sah das Blut an den Scherben, hörte das verängstigte Wimmern und das Schreien der Flüchtenden.
    Der schwarze Nebel, der seinen Verstand mit eiskalten Klauen umklammert hatte, zog sich grinsend zurück, hatte er sein Werk doch vollbracht und sein sich klärender Blick fand die tränennassen Augen Viviens. Er sah Angst, Erstaunen, Schmerz und Bedauern und er wusste, dass gerade alle seine Träume und Hoffnungen in diesen Tränen davon schwammen.
    Seine allerletzte Chance, seine Rettung, seine Zukunft, tropfte aus diesen strahlend blauen Augen auf den Boden und zerplatzte unwiederbringlich auf dem mit schillernden Scherben bedeckten Parkett.
    Und dann wurde er klar. Alle seine Zweifel verblassten und sein Weg lag offen und unverbaut vor ihm. Kein Verstecken mehr. Keine Lügen. Es war an der Zeit.
    Entschlossen richtete er die Waffe gegen sich selbst und drückte ab, ohne weiter darüber nachzudenken.
    Ein dünner, spitzer Schrei löste sich aus Viviens Kehle, als sein toter Körper schwer auf den Boden sackte. Ein kleiner Gegenstand fiel aus seiner kraftlos gewordenen Hand und sprang einige Meter davon. Eine kleine, mit Samt überzogene Schachtel. Durch den Sturz war sie ein kleines Stückchen aufgeklappt und ein diamantenes Funkeln strahlte aus ihr hervor. Vermischte sich mit dem Glanz der vielen hundert Scherben um sie herum und dem farbenfrohen Funkeln des prachtvollen Feuerwerks. Ein heftiger Windstoß, der durch das nunmehr zerstörte Dach heulte, riss das flatterte Band los, dass so majestätisch über der ganzen Feier geschwebt hatte, so dass es nun langsam zu Boden Schwebte und sich gnädig über den Leichnam breitete.
    „Willkommen zu Hause und ein fröhliches neues Jahr, für alle unsere ruhmreich zurückgekehrten Soldaten!“

    Aus einer großen Gesellschaft heraus
    ging einst ein stiller Gelehrter nach Haus.
    Man fragte: "Wie sind sie zufrieden gewesen?"
    "Wärens Bücher", sagte er, "ich würd' sie nicht lesen."

    Johann Wolfgang von Goethe

  • Oh Himmel... warum nimmst du mein Herz nicht gleich und zerreisst es und brätst es über offenem Feuer? Ich hab Tränen in den Augen, wirklich! Ich hab schon lange keinen so intensiven Text mehr lesen dürfen.

    Danke.

    Das war... ein Erlebnis. Das Ganze. Ich... Wow, einfach.

    Tiefe Verneigung
    Klim :hail:


    "You know what the big problem is in telling fantasy and reality apart? They're both ridiculous."

    - Twelve

  • Zitat

    Ein Gesicht, dass den Tod gesehen hat.


    das

    Zitat

    Als sie endlich unter dem gewaltigen Glaskuppeldach zum stehen kamen nahm sie ihn bei der Hand und blickte fragend zu ihm auf.


    groß

    Zitat

    Ein kleiner Gegenstand fiel aus seiner kraftlos gewordenen Hand und sprang einige Meter davon. Eine kleine, mit Samt überzogene Schachtel. Durch den Sturz war sie ein kleines Stückchen aufgeklappt und ein diamantenes Funkeln strahlte aus ihr hervor.


    Wiederholung

    Oh Mann, ich hab das Drama kommen sehen :S Hätte er doch bloß nicht solange gezögert, sie hätte bestimmt Ja gesagt und er hätte das alles vielleicht überstehen können ;( Immerhin, hat er die Erlösung gefunden, auch wenn ich auf einen besseren Weg gehofft habe.

    Eine großartige Kurzgeschichte, intensiv und atmospherisch tip top. Wirklich eine wahnsinnig beeindruckende Leistung :thumbsup:

  • Danke euch allen vielmals fürs lesen und kommentieren! Freut mich, dass es euch gefallen hat ;)

    @Klim
    Tut mir sehr leid :D Aber ich bin nunmal ein Arschloch zu meinen Protagonisten ;)
    Andererseits freut es mich unheimlich, dass dich die Geschichte berührt hat, heißt das doch, dass ich einiges richtig gemacht habe :D
    Ansonsten ganz herzlichen Dank für das Lob! Freut mich wirklich sehr :)

    @Alopex
    Auch dir (wieder einmal) recht herzlichen Dank fürs korrigieren und natürlich auch für das Lob!
    Ich hab tatsächlich mal kurz drüber nachgedacht, ob ich ihm nicht ein Happy End spendiere.
    Eigentlich bin ich immer der Typ, der sich ein Happy End für alle wünscht, andererseits sind es aber auch immer die tragischen Geschichten, die mir am besten gefallen, von daher habe ich mich letzten Endes doch dagegen entschieden...schweren Herzens :D

    Aus einer großen Gesellschaft heraus
    ging einst ein stiller Gelehrter nach Haus.
    Man fragte: "Wie sind sie zufrieden gewesen?"
    "Wärens Bücher", sagte er, "ich würd' sie nicht lesen."

    Johann Wolfgang von Goethe