Kapitel 11: WIEDERSEHEN
Zwei Männer hievten mich aus dem Fahrzeug (ein Krankenwagen, wie meine Vermutung sich bestätigte). Einer von ihnen versuchte, den Gurt, mit dem man mich auf der Trage fixiert hatte, enger zu schnallen aber ich wehrte mich. Erinnerungen an den finsteren Keller kamen zum Vorschein und als dann auch noch Dr. Rexroth direkt über mir erschien, begann ich zu strampeln und zu rufen. Keine Worte. Ich konnte nicht sprechen.
"Bleib ruhig, Junge", sagte der Kerl, der noch immer an meinem Gurt hantierte, während der andere die Trage zügig vor sich her rollte. Ich hatte genug. Schon einmal hatte man mir glauben gemacht, ich sei im Krankenhaus. Wie konnte ich sicher sein, dass sie es nicht wieder tun würden? Nein, ich musste fliehen. Zum ersten mal seit gefühlt einem Monat war ich an der frischen Luft. Es war dunkel, ich konnte schnell laufen. Nur der Gurt hielt mich auf. Ich strampelte heftiger, den furchtbaren Schmerz ignorierend, der bei jeder Bewegung in meinem Schädel aufflammte. Es war vergebens. Nach wenigen Sekunden wurde ich in einen blenden weißen Raum gerollt. Als das grelle Licht der Neonröhren an der Decke mich blendete und einer der Männer neben mir eine Spritze zückte, schienen all meine Schmerzen verflogen. Ein letztes Mal versuchte ich meine Arme zu befreien, die von einem Gurt und einem Paar starker Hände festgehalten wurden. Ich schrie, wie ich noch nie zuvor geschrieen hatte.
"Nein! Ich will nicht! Nicht schon wieder!"
Die Muskeln in meinen Armen begannen zu brennen und gerade als ich dachte, ich müsste aufgeben, hörte ich ein leichtes schnappendes Geräusch und mit einem Mal war mein rechter Arm frei. Sofort holte ich aus, blindlings, und schien jemanden im Gesicht zu treffen. Weitere Hände griffen nach mir, dennoch gelang es mir, mich auf den Bauch zu drehen. Nun konnte ich sehen, was sich hinter mir befand. Obwohl ich eigentlich kaum etwas erkennen konnte. Kaum mehr als einen verschwommenen Tunnel, wie wenn man betrunken ist. Aber am Ende dieses Tunnels konnte ich eine Sache ganz deutlich ausmachen. Zwei große gläserne Schiebetüren. Das war mein Ziel.
Mit einem kräftigen Ruck bewegte ich meinen Körper nach rechts und ehe einer der Männer reagieren konnte, kippte die Trage zur Seite und ich klatschte auf kalte Fliesen. Plötzlich war der Schmerz wieder da. So heftig, dass ich, als ich versuchte aufzustehen, das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte.
Mit einem Mal fand ich mich wieder in dem großen Wald vor, den ich im Traum gesehen hatte. Alle Schmerzen waren verflogen und es wehte ein sanfter Sommerwind. Ich saß auf der Wurzel des gewaltigen Baumes, neben dem Julia und ich letzen Sommer unser "Geheimversteck" errichtet hatten. Es war nichts besonderes, nur zwei alte Paletten, die wir an den Stamm gelehnt hatten. Den Innenraum hatte Julia mit Blumen und einigen Möbeln, die ich aus Holzresten zusammengezimmert hatte, dekoriert.
Julia.
Ich erhob mich von der Wurzel und zog die Decke beiseite, die den Eingang des Verstecks bildete. Als Licht in die dunkle Nische fiel, drehte Julia sich erschrocken zu mir um. Sie saß in der hinteren linken Ecke, die Arme um die Beine geschlungen. Als sie mich sah, lachte sie und zeigte die Lücke, wo einst ihr Milchzahn gewesen war.
"Du hast mich gefunden!", sagte sie halb enttäuscht und halb glücklich. Das kleine Mädchen sprang auf und rannte mir in die Arme. Ich hielt sie fest, drückte sie an mich, auch als sie mich lachend bat, loszulassen. Schließlich ließ ich doch von ihr ab und als sie sah, dass ich weinte, verschwand ihr Lächeln und sie fragte besorgt, was denn los sei.
"Gar nichts", schluchzte ich, und rieb mir die Augen. "Es ist schön dich zu sehen." Einen kurzen Moment stand sie da und betrachtete mich nachdenklich, als hätte ich etwas ganz seltsames gesagt. "Gehen wir nachhause", schlug ich vor und schob sie sanft nach draußen. Dort musste ich feststellen, dass es bereits dunkel geworden war. Julia stand auf der Lichtung und zitterte. "Wir sollten uns beeilen", sagte ich und als sie das hörte, lachte sie wieder und begann zu laufen. "Ich werd' erster!", jauchzte sie, als sie im finsteren Wald verschwand. Sofort stürmte ich ihr hinterher, doch ich konnte meine Schwester nicht mehr sehen.
"Julia!", schrie ich, ohne langsamer zu werden. Niedrig hängende Äste peitschten mir ins Gesicht, während ich voranpreschte. Keine Antwort.
"Arkadius." Schienen die Bäume zu flüstern. Ich beachtete sie nicht.
Plötzlich verfing mein Fuß sich in irgendetwas und ich schlug so hart auf den Boden auf, dass es mir die Luft aus den Lungen trieb. In dem Versuch mich wieder aufzurichten, ertaste ich etwas metallenes am Boden. Es war sehr dunkel, daher konnte ich nicht sehen, was es war. Ich ging auf die Knie und erfühlte den Gegenstand mit beiden Händen. Er war länglich, kalt und glatt. Gerade als ich weitergehen wollte, durchfuhr eine Art Strom meinen Körper. Ein Kribbeln. Ich bemerkte, dass die Vibration von dem Gegenstand auszugehen schien.
"Arkadius!", rief jemand. Ich drehte den Kopf nach rechts und sah Julia. Oder zumindest ihre Silhouette, die sich schwarz von einem immer greller werdenden weißen Licht abhob. Noch bevor ich etwas zu ihr sagen konnte, wurde ich wach.
Neben meinem Bett saß ein älterer Mann. Er trug eine Polizeiuniform und eine Brille mit durchsichtigem Gestell. Als er sah, wie meine Augen sich öffneten, beugte er sich näher zu mir. Ich wich jedoch zurück. Für einen Moment glaubte ich, das fremde Zimmer wiederzuerkennen, in dem ich am Morgen aufgewacht war. Sehr schnell bemerkte ich jedoch, dass dieser Raum, obwohl mir ebenfalls völlig fremd, wesentlich großzügiger eingerichtet war.
"Du brauchst keine Angst zu haben", sagte der Uniformierte. "Ich bin von der Polizei."
Und woher weiß ich, dass das stimmt, dachte ich, sagte aber nichts. Dennoch musste der Mann mein Misstrauen bemerkt haben. Er lehnte sich etwas zurück und meinte: "Ich sage dir die Wahrheit. Du bist im Krankenhaus, schon die ganze Nacht. Ich will dir helfen. Aber damit ich dir helfen kann, musst du mir vertrauen. Kannst du das machen?"
Ich nickte, da ich wissen wollte, was er zu sagen hatte.
"Gut", fuhr er fort. "Mein Name ist Hermann Heydrich und ich würde dir gerne ein paar Fragen stellen. Ist das in Ordnung oder sollen wir warten, bis du dich besser fühlst?"
Mein Kopf, und vor allem meine rechte Schläfe, schmerzte noch immer, doch als ich nach der Wunde tastete, erfühlte ich einen Verband, der eng um meinen Kopf gewickelt war.
"Was wollen Sie wissen?", fragte ich. Der Polizist beugte sich wieder ein Stück zu mir, hielt jedoch inne, als er bemerkte, wie ich nervös ins Kissen zurücksank.
"Arkadius", begann er. "Hat man dich irgendwie misshandelt?"