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Tut mir leid, dass ihr jetzt zwei Cliffhanger aushalten müsst...
Aurils Diener
7. Ches
Gerti Orelsdottr war wirklich eine imposante Erscheinung. Mit ihrer blauen Haut wirkte die elegante, über zwölf Fuß große Frostriesin, als wäre sie direkt dem eisigen Atem Aurils, der Göttin der Kälte, entsprungen. Sie trug einen Umhang aus Silberwolffell, welcher ihr Kleid aus braunem Wildleder nur teilweise verdeckte. Das hoch geschlitzte Kleid gab den Blick auf ihre ebenfalls mit silbrigem Fell besetzten, hohen Stiefel frei, welche ihre Schritte angeblich auf jedem Terrain beschleunigen konnten. Obgleich ihre Wachen noch größer als Gerti und mit zentnerschweren Äxten bewaffnet waren, war nichts so einschüchternd wie die Anführerin der Frostriesenstämme des Grats der Welt. Auf ihrem aus schwarzem Stein gefertigten Thron war sie das unbestrittene Zentrum der Aufmerksamkeit. Selbst im Sitzen überragte sie ihre Untergebenen mit Leichtigkeit und ihr langes, goldenes Haar reflektierte den Schein der Fackeln ebenso wie das Eis, welches die Felswände des Thronraumes überwiegend bedeckte. Gerti stand in dem Ruf, alle niederen Völker als Untergebene und zudem als minderwertig anzusehen, unabhängig davon, ob sie ihr tatsächlich dienten. Wie bei den meisten Riesen galt ihr besonderer Hass den Angehörigen des Zwergenvolkes. Dennoch verhielt sich die Blauhäutige, welche seit nunmehr fünfzehn Wintern Jarl des Frostriesenvolkes war, auch gegenüber Auriliten, ihren menschlichen Verbündeten im Geiste Aurils, überwiegend kalt und anmaßend.
Es war erst vor wenigen Zehntagen, als die etwa zwei Dutzend Individuen zählende Aurilitengruppe in den östlichen Teil des Grats der Welt zurückgekehrt war und sich den Frostriesen angenähert hatte. Zu jener Zeit hatten die Ältesten der Gruppe Geschichten aus der Zeit vor Gertis Herrschaft erzählt, über den alten Jarl Orel, welcher die Frostriesenstämme der Region unter sich vereint hatte. Insgeheim verspotteten sie Gerti für ihre bislang eher erfolglosen Unternehmungen. Die Etablierung eines Orkkönigreiches und der damit einhergegangene Tod mehrerer Frostriesen zählten zu den wenigen großen Ereignissen während ihrer Regentschaft. Solcherlei Tatsachen ließ man in ihrer Gegenwart besser unerwähnt, sofern man anstrebte, ihren Herrschaftbereich, die Höhle Leuchtendweiß, in einem Stück zu verlassen .
Reil und Cinnabelle waren sowohl auf Geheiß der Auriliten-Ältesten als auch auf den Ruf Gertis hin nach Leuchtendweiß gekommen, dem eisigen Höhlenkomplex der mächtigen Frostriesin, die gleichsam eine Anhängerin Aurils, der Frostmaid, war. Nachdem die beiden Menschen den gewaltigen Thronsaal unter den verächtlichen, amüsierten Blicken der Riesenwachen durchschritten hatten, erhob sich Gerti von ihrem Thron. Im Gegensatz zu Reil maß Cinnabelle kaum mehr als fünf Fuß, sodass sie sich noch schneller verbeugt hatte, als ihr hochgewachsener, muskelbepackter Bruder. Die feuchte, kalte Luft kräuselte ihr rotbraunes Haar inzwischen so stark, dass es nicht mehr bis zu ihrem Kettenhemd herunter reichte, als sie sich schließlich wieder aufrichtete. Im Angesicht dieser kolossalen Geschöpfe erschien ihr solider Körperschutz jedoch absolut lächerlich – ein sauberer Treffer einer Frostriesenaxt genügte, sie samt ihrer Rüstung in zwei Teile zu spalten. Als junge Akolythin verfügte sie nur über geringere Zauber und hätte den Frostriesen im Falle eines Kampfes nur wenig Unterhaltung bieten können. Da das harte Training und die Rituale der Auriliten sie gegen Kälte fast so unempfindlich gemacht hatte, wie die Frostriesen selbst, war ihr unübersehbares Zittern entsprechend leicht zu deuten...
In diesem Moment war sie wirklich froh, Reil das Reden überlassen zu können. Da keiner von ihnen die Sprache der Frostriesen, Jotunise, beherrschte, ging Cinnabelle davon aus, dass die Audienz in der Gemeinsprache erfolgen würde.
„Seid gegrüßt, Madame Orelsdottr!“, rief Reil aus, kreuzte seinen magischen Streitkolben und seinen metallenen Schild vor der Brust und verbeugte sich erneut. Cinnabelle tat es ihm mit ihrem gewöhnlichen Streitkolben eilig gleich.
„Ich hatte nach Geldin schicken lassen!“, erwiderte Gerti barsch. „Wo ist dieses Stück Orkdung? Hat er so große Angst vor mir, dass er seine Welpen schickt?“, spottete sie über einen der ranghöchsten Priester der Aurilitengruppe. Von den umstehenden Frostriesenwachen ging ein leises Dröhnen aus, als sie verhalten über Gertis eröffnende Tirade lachten.
„Wie viele andere unserer Gruppe erfüllt Sturmbruder Geldin den Willen der Frostmaid bereits an einem anderen Ort. Wir…“, wollte Reil weiter ausführen, doch er verstummte rasch, als Gerti ihm mit einer Geste zu schweigen gebot.
„Sei’s drum. Verschwindet und schickt mir jemand… größeren!“ sagte sie in einem Ton, welcher das Gespräch beendete und wandte sich ab. Cinnabelle wusste, dass die Anspielung vor allem dem niederen Rang galt, welchen Reil unter den Auriliten einnahm.
„Mit Verlaub, worum ersucht ihr unsere Gruppe, Madame Orelsdottr?“, fragte Reil mit fester Stimme, wobei er sich nicht anmerken ließ, ob die Worte der Frostriesin ihn gereizt hatten.
Als sie sich Reil erneut zuwandte, mahlten ihre massigen Kiefer.
„Ich verlange von euch, Ungeziefer, ich ersuche nicht!“, presste sie durch sehr schmale Lippen. Gleichzeitig studierte sie Reil etwas genauer.
Reil verbeugte sich erneut, um sich für seine Ausdrucksweise zu entschuldigen, obgleich auch sein Kiefer angespannt war. Er richtete sich wieder auf, wobei die an seiner Rüstung angebrachte Schneeflocke, das Symbol Aurils, den Schein einer Fackel stark genug reflektierte, dass Cinnabelle ihre Position verändern musste, um nicht geblendet zu werden. Ihr Bruder wartete – auf einen Auftrag und auf einen Angriff gleichermaßen. Schließlich erklang Gertis Stimme erneut, diesmal jedoch in einem weitaus sachlicheren Tonfall.
„Ich habe einen Auftrag, für den ich entbehrliche Truppen benötige. Eine … Quelle hat mich über die Lage eines verlassenen Tempels informiert, welcher zu Ehren Aurils errichtet wurde. Ihr werdet diesen Tempel finden und seine Tauglichkeit als Basislager überprüfen.“
Die Frostriesin sah ihn mit durchdringendem Blick an.
„Wir werden unsere…“, setzte Reil an.
„ICH werde einen Boten senden, der eure Vorgesetzten in Kenntnis setzt“, unterbrach ihn Gerti erneut mit voller Absicht und die Wachen begannen hämisch zu lachen, während Gerti ein sehr selbstgefälliges Lächeln aufsetzte. „Falls es mir beliebt, lasse ich ihn sogar Proviant von eurer Gruppe mitbringen.“
„Eine solch wichtige Aufgabe erscheint mir doch nur im Beisein mächtiger Frostriesen erfüllbar, Madame Orelsdottr“, entgegnete Reil schnell und verbeugte sich erneut. Nach allem, was Cinnabelle von den anderen Auriliten über die mächtige Anführerin wusste, waren ihr Stolz und ihr unverhohlener Rassismus einer ihrer wenigen Schwachpunkte. Dennoch hielt sie ob dieser versteckten Forderung ihres Bruders die Luft an.
Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, sodass Gerti glaubhaft in Aussicht stellte, den Boten und einen weiteren Frostriesen mit auf die Reise zu schicken. Vermutlich um die Weisheit dieser von ihr vollkommen unbeeinflusst getroffenen Entscheidung zu bekräftigen, erzählte sie außerdem, dass die beiden Riesen sich ihren Zorn zugezogen hatten, als sie einen unbewaffneten Boten des neuen Orkkönigreichs Todespfeil getötet hatten. Das allein hätte Gerti damals höchstens amüsiert, aber der Bote war tot, bevor er seine wichtige Botschaft überbringen konnte.
„Bis Mittsommer erwarte ich euch zurück“, schloss sie im Befehlston, um nicht versehentlich doch noch handfeste Informationen, etwa über jene Botschaft, preiszugeben.
„Darf ich zuletzt fragen, warum ihr zur Sicherung dieser heilige Stätte keine größeren…“
„Oh, ihr dürft fragen“, unterbrach die Blauhäutige ein weiteres Mal und ihr höhnisches Lächeln kehrte zurück.
„Bis Mittsommer!“, wiederholte Gerti und Reil verbeugte sich sogleich.
Dieses Gespräch war beendet.