Kapitel 6 - Teil 3
»Der Gegenstand, den ihr benötigt, ist eine Glocke.«
»Eine Glocke?«, fragte May erstaunt.
»Ja, aber nicht irgendeine beliebige Glocke. Es ist eine uralte Glocke – die Glocke der Ahnen, die sich seit hunderten von Jahren im Besitz Memorias befindet«, erklärte die Seherin und blätterte erneut in Mays Buch. »Ohne Glocke wird der Schutzgott eure Stimmen nicht vernehmen können. Nur das Läuten dieser einen Glocke vermag es, ihn aus seinem Schlummer zu erwecken«, sprach sie.
»Das heißt, wir müssen also auf alle Fälle irgendwann wieder nach Memoria …«, seufzte May besorgt.
»Wenn ich euch einen Rat geben darf, dann solltet ihr in Erwägung ziehen, euch in neun Tagen dorthin zu begeben«, meinte Kijkou. »Zu diesem Zeitpunkt werden die Feierlichkeiten zu Ehren des zwanzigjährigen Jubiläums des derzeitigen Herrschers Memorias in vollem Gange sein. So sollte es sich einfach gestalten, unauffällig in den Menschenmassen unterzutauchen«, riet ihnen das Medium.
»Wisst Ihr, wo genau sich die Glocke befindet?«, fragte May mit besorgter Stimme.
»Vermutlich in einem der Kellergewölbe des königlichen Schlosses. Der genaue Aufenthaltsort ist mir leider auch nicht bekannt. Lernt unbedingt eure Amulette einzusetzen – diese sollten auf die Glocke ebenfalls reagieren«, meinte Kijkou.
»Dann wissen wir immerhin schon, wo uns unsere Reise in neun Tagen hinführen wird«, sagte Tempestas optimistisch. Er hatte wieder etwas mehr Farbe im Gesicht bekommen und lächelte.
Kijkou erhob sich. »Und bis dahin solltet ihr gut überlegen, wo euch euer Weg zuvor hinführen wird. Bedenkt, dass ihr rechtzeitig nach Memoria aufbrechen müsst. Wenn wieder der Alltag in die Stadt eingekehrt ist, gestaltet sich die Aufgabe, ins Schloss zu gelangen, weitaus schwieriger«, mahnte sie sie.
Jiyuu nickte zustimmend. »Kann ich mir vorstellen. Die haben dort ja schon enorm viele Soldaten auf dem Marktplatz postiert – wie wird dann erst das Schloss bewacht sein?« Er blickte May und Zack erwartungsvoll an, da diese schon dort gewesen waren.
»Ist wahrscheinlich unmöglich, da einzudringen …«, seufzte Zack und lehnte sich nachdenklich zurück. »Wenn ich mich daran zurückerinnere – dort wird man selbst als geladener Gast ständig überwacht.«
»Das heißt wohl, es gibt keine Alternative – wir müssen zur Zeit der Feier in das Schloss eindringen«, stellte Tempestas fest und runzelte die Stirn. »Ich kann nicht behaupten, in dieser Stadt willkommen zu sein.«
»Wegen des Krieges damals?«, fragte May.
Er nickte bestätigend. »Und die Leute aus Memoria erkennen wahrscheinlich schon von weitem, wer oder was ich bin. Tja, dann muss ich mich wohl oder übel verkleiden!«, meinte er entschlossen und lächelte vergnügt.
»Dir geht’s wieder gut, was?«, stellte Zack erfreut fest. »Was genau bist du eigentlich? Nicht falsch verstehen – aber wenn du nicht auf unserer Seite wärst, würd’ ich mir große Sorgen machen!«
Tempestas zuckte unbeholfen mit den Schultern.
»Und wenn wir dann die Glocke und alle Armreifen gefunden haben …?«, fragte Jiyuu die Seherin, bevor Tempestas auf Zacks Frage eingehen konnte.
Diese war gerade dabei, ein kleines Fläschchen aus einem der Regale zu holen und setzte sich wieder zu ihnen. »Dazu wollte ich gerade kommen.« Sie öffnete das Fläschchen und tropfte ein wenig von dessen Inhalt auf eine leere Seite des Buches, die nun einen weiteren Text enthüllte.
»Hier steht es.« Kijkou blickte auf und die vier abwechselnd an. »Wenn alle sieben Armreifen der Elemente zusammengetragen wurden und die Glocke der Ahnen erklingt, wird der Heilige Goldadler, der Gott Ignotus’, die Stimmen von den Trägern der Wegweisenden Amulette vernehmen und ihnen erscheinen. Jedem von ihnen wird ein Wunsch gewährt, über den dieser frei verfügen darf«, übersetzte sie.
»Das wären dann drei Wünsche – sehr gut! Und wie genau ruft man nun nach dem Heiligen Goldadler?«, wollte Zack wissen und wippte ungeduldig vor und zurück.
Kijkou blickte auf. »Nun – das steht hier nicht geschrieben.«
Die anderen warfen sich entgeisterte Blicke zu.
»Wie – das steht da nicht?«, wiederholte Jiyuu fassungslos.
»Und Ihr wisst es auch nicht, wertes Medium?«, fragte Tempestas sie.
»Da muss ich euch, so leid es mir tut, enttäuschen.« Kijkou schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe all mein Wissen mit euch geteilt.« Sie reichte May das Buch, welche kurz zögerte und es dann wieder einsteckte. »Es wird gleich hell. Ihr solltet nun euren nächsten Bestimmungsort festlegen, ehe ihr ziellos durch die Sümpfe irrt«, riet ihnen die Seherin.
»Wir haben zwar noch einiges an Proviant übrig, dennoch sollten wir unsere Vorräte etwas aufstocken«, überlegte Tempestas laut. »Das Dorf Rekam liegt südwestlich von hier, wenn ich mich nicht irre.«
»Das ist korrekt«, bestätigte ihn Kijkou.
»Dann sollten wir zunächst dorthin aufbrechen – und unterwegs überlegen wir uns, wo wir unsere Suche am besten beginnen. Was meint ihr?«, fragte Tempestas die anderen.
»Ich weiß nicht viel mehr über Ignotus als die beiden hier. Was mich betrifft, ich überlasse dir diese Entscheidung«, meinte Jiyuu.
May und Zack stimmten dem, ohne zu zögern, zu.
»Bevor ihr aufbrecht, werde ich euch noch einen stärkenden Trunk zubereiten, damit ihr bei Kräften bleibt, bis ihr die Sümpfe durchquert habt«, sprach das Medium, erhob sich und nahm drei kleine Fläschchen von der Kommode, von der sie zuvor das Opfermesser geholt hatte.
»Danke, das ist sehr freundlich von Euch«, bedankte sich May.
»Ihr beide!« Kijkou blickte zu Zack und dann zu May. »Ich gebe euch noch einen Rat mit auf den Weg. Gebt nicht auf – haltet euch euer Ziel immer vor Augen, dann werdet ihr es bestimmt schaffen, wieder in euer Land zurückzukehren«, sagte sie zuversichtlich.
Die beiden nickten zustimmend.
»Und du!« Nun zeigte das Medium auf Jiyuu. »Dein Schmerz zehrt an dir und schwächt dich. Du musst mit Vergangenem abschließen und nach vorne blicken, sonst werden dich dein Kummer und dein Leid von innen heraus auffressen. Nur, wenn du nach vorne blickst, werden dich die Albträume deiner Vergangenheit nicht mehr heimsuchen und quälen.«
Dieser blickte nur kurz auf und runzelte die Stirn.
»Und was dich betrifft, meine wunderschöne Kreatur …«, wandte sich Kijkou an Tempestas und schmunzelte. »Sei stets auf der Hut. Es gibt Feinde, die dir Böses wollen und dir nach deinem Leben trachten. Sie werden nicht ruhen, ehe sich dich finden und du deinen letzten Atemzug getan hast.« Ihre Augen funkelten, als er ihren Blick erwiderte. Sie wirbelte herum, verschwand im Nebenraum und ließ die vier unter sich zurück.
»Gibt wohl niemanden hier, der keine Probleme hat, was?« Zack blickte Bestätigung suchend in die Runde, doch alle schienen in Gedanken versunken zu sein.
»Sie hat recht«, unterbrach Tempestas die Stille. »Wir müssen auf alle Fälle achtsam sein. Wir sollten niemanden wissen lassen, wonach genau wir suchen – jedenfalls niemanden, dem wir nicht unser vollstes Vertrauen schenken«, meinte er ernst.
»Ein weiser Entschluss.« Kijkou betrat nun wieder den Raum. Sie reichte jedem von ihnen ein Glas mit dunkelblauem Inhalt. »Trinkt – das wird euch gut tun und euch stärken!«, wies sie die vier an, blickte aus dem Fenster und lächelte. »Es ist soweit – die Sonne geht auf. Bald schon werden die Osseamorsu in ihr Reich zurückkehren. Dann könnt ihr aufbrechen und eure Reise beginnen«, sagte sie zufrieden.
Als sie ihre Gläser geleert hatten, standen sie erholt und voller Tatendrang auf und packten ihre Sachen zusammen. Das Klappern draußen, das die knöchernen Schattenwesen von sich gaben, verstummte zusehends, wie das Medium es prophezeit hatte und die Sonne kam langsam hinter dem Horizont hervor.
»Es war mir ein außerordentliches Vergnügen.« Kijkou Anima verneigte sich höflich und die Türe ihrer Hütte öffnete sich abermals wie durch Magie ganz von selbst.
»Wir danken Euch vielmals – Ihr habt uns sehr geholfen«, sagte May und verneigte sich ebenfalls, was ihr die anderen gleichtaten.
»Solltet ihr meine Hilfe erneut benötigen, seid ihr mir jederzeit willkommen!«, offerierte sie. »Nur eine Sache noch!« Sie wandte sich abermals an Tempestas. »Diese Armreifen …« Sie deutete auf seinen linken Arm. »Setzt ihre Macht sehr überlegt und vor allem sparsam ein. In ihnen schlummert zwar die Kraft der Elemente – ihre Energie jedoch entziehen sie ihrem Träger.«
Tempestas sah sie verunsichert an. »Mir wäre bisher noch nicht aufgefallen …«
»Lebensenergie«, fuhr sie ihm ins Wort. »Natürlich hast du es nicht bemerkt, weil es auf deinen derzeitigen Zustand keinerlei Einfluss hat.«
»Ihr meint …« Er betrachtete seinen Reif und blickte wieder zu Kijkou auf.
»Jedes Mal, wenn ihr ihre Macht einsetzt, verkürzt dies euer Leben«, sprach sie ernst.
»In welcher Relation?«, fragte Zack besorgt. »Wie viel wird bei einem Mal abgezogen?«
»Das hängt sehr von der mentalen Stärke seines Trägers ab«, entgegnete das Medium. »Nun, denn – Ihr geht jetzt besser los. Weiter westlich wird es einfacher, die Sümpfe zu durchqueren, da sich dort nicht mehr so viele Gewässer befinden. Ihr solltet also nachmittags in Rekam ankommen, wenn es keine Zwischenfälle gibt. Ich wünsche euch eine gute und vor allem sichere Reise«, sagte die Seherin. Nach diesen Worten verschwand sie abermals im Nebenraum und schloss die Tür hinter sich.
»Dann lasst uns keine Zeit verlieren!«, meinte Jiyuu, nahm sein Schwert wieder auf den Rücken und marschierte motiviert nach draußen.
Die anderen folgten ihm und hielten vor der Hütte noch einmal inne.
»Tempestas, sag mal …«, wandte sich May an diesen.
»Ja? Was liegt dir auf dem Herzen?«, fragte er mit unbeschwerter Miene.
»Wie oft hast du den Armreif jetzt schon benutzt?« Sie konnte die Besorgnis in ihrer Stimme nicht verbergen.
»Etliche Male«, entgegnete er ohne Umschweife.
»Wegen dem, was Kijkou Anima gesagt hat – also, dass …« May verstummte noch im Satz.
»Ja, ich habe mich ebenfalls gefragt, wie viel meiner Zeit der Gebrauch dieses Reifs mich bereits gekostet hat …«, meinte er kritisch, lächelte aber dann. »Mach dir keine Gedanken – meine Lebenserwartung ist über ein Zehnfaches höher, als die von euch Menschen. Da ohnehin keiner von meinem Volk übrig ist, habe ich niemanden, mit dem ich solch ein langes Leben teilen könnte.« Er zwinkerte ihr zu und machte sich in südwestliche Richtung auf.
Die anderen blickten sich noch ein letztes Mal um, bevor sie Tempestas folgten und dem sicheren Ort schließlich den Rücken kehrten.