Kapitel 9 - Teil 3
»Halt!!«, rief die Gestalt alarmierend. Es war Tempestas, der Jiyuus Klinge gerade noch ausweichen konnte, indem er mit Skoryy, Yarkiys Zugtier, im letzten Moment die Richtung änderte.
»Tempestas?!«, rief May verwundert.
Dieser hielt an, stieg ab und lächelte erleichtert. »Ach herrje, das war ja ganz schön knapp. Mit Jiyuu sollte ich mich wohl besser nicht anlegen«, meinte er beeindruckt.
»A-Aber was machst du hier?«, fragte dieser verwirrt. »Wir dachten, du …«
»Ich erkläre euch alles unterwegs«, unterbrach Tempestas ihn. Seine Miene wurde ernst. »Wir müssen uns beeilen.«
»Was ist denn los?«. Fragte May verunsichert.
Tempestas schritt allen voran und führte das Tier neben sich her. »Ich bin auch nicht ganz im Bilde, doch ich befürchte, dass sich Yarkiy in Schwierigkeiten befindet, weil sie mir geholfen hat.«
»Wie – in Schwierigkeiten? Was ist passiert?«, fragte Jiyuu.
»Einige Okhrana sind an der Stelle aufgetaucht, wo wir zurückgeblieben sind, und haben sie mitgenommen. Sie hat sich zunächst geweigert, doch die anderen hatten anscheinend überzeugende Argumente«, erzählte Tempestas.
»Sie haben sie also gegen ihren Willen mitgenommen? Aber warum?«, wollte May wissen.
»Ich kann nur mutmaßen. Ich verstehe die Sprache der Okhrana nicht besonders gut. Das hat man davon, wenn jahrzehntelang nicht übt und einem die Praxis fehlt. Sie schienen jedenfalls sehr erzürnt darüber zu sein, dass sie in meiner Gesellschaft war. Zunächst wollten sie sie einfach wegschleppen, wogegen sie sich gewehrt hat. Sie haben sich über irgendetwas gestritten, aber dann hat einer von ihnen etwas gesagt, woraufhin Yarkiy sie dann schließlich begleitet hat. Skoryy hat sie zurückgelassen, deswegen habe ich auch so schnell hierher gelangen können. Blizostas sind sehr flink und haben einen guten Orientierungssinn.« Tempestas kraulte das Tier am Nacken.
»Aber solltest du dich nicht noch schonen?«, fragte May besorgt und musterte ihn genau.
»Wie ihr aufgebrochen seid, ist mir wirklich noch etwas schwummrig zumute, aber seit gut zwei Stunden bin ich wieder ganz bei Kräften«, versicherte Tempestas ihr.
»Konntest du denn gar nichts unternehmen, um sie daran zu hindern, Yarkiy mitzunehmen?«, fragte Zack verwundert.
Tempestas lächelte unbeholfen. »Wollte ich zunächst, aber du hättest Yarkiys Blick sehen sollen, als ich aufgestanden bin. Wenn Blicke töten könnten …«
»Kann ich mir bildhaft vorstellen«, brummte Zack nachdenklich. »Und was sollen wir jetzt tun? Hast du irgendeine Idee?«
»Ich glaube nicht, dass Yarkiy auf unsere Hilfe hofft. Ich denke eher, sie will nicht, dass wir uns hier einmischen …« Tempestas blieb stehen und warf den anderen einen erwartungsvollen Blick zu. »Doch ich würde behaupten, das sind wir ihr schuldig. Das bin ich ihr schuldig.«
Die anderen drei nickten zustimmend, woraufhin sie ihren Weg fortsetzten.
»Ach ja, wir haben den Armreif gefunden!«, unterrichtete May Tempestas schließlich über ihren Erfolg.
»Das habe ich mir schon gedacht. Ich bin eigentlich den Impulsen meines Amuletts gefolgt, das die Präsenz des Armreifs wahrgenommen hat. Ich bin mir aber nicht sicher gewesen, ob es sich nicht doch um eure Amulette handelt, die ich gespürt habe.« Tempestas blickte die drei abwechselnd an. »Hat ihn jemand von euch schon angelegt?«, fragte er interessiert.
»Nein, noch nicht. Wir wollten zunächst zu dir zurück«, erklärte Jiyuu.
»Wir sollten uns seine Kraft zunutze machen. Da dies hier ein Gebiet mit vulkanischen Aktivitäten ist, würde ich vermuten, dass die Macht des Feuers in ihm schlummert. Ich denke, May sollte ihn anlegen, was meint ihr?«, fragte Tempestas die beiden anderen.
»Das ist eine gute Idee!«, meinte Jiyuu. »Feuer in Kombination mit ihren Pfeilen könnte eine effektive Waffe sein«, überlegte er.
»Ja, stimmt – nimm du ihn, May. Dann bist du nicht mehr so hilf… ähm, ich meine schutzlos«, ermutigte sie Zack.
»Danke.« Sie warf ihm einen pikierten Blick zu und holte den Armreif behutsam aus der Tasche. Sein rötliches Schimmern spiegelte sich in Mays Augen und bei seinem Anblick fühlte sie sich wie hypnotisiert. Langsam führte sie ihre rechte Hand durch den Reif, der sich sogleich über ihrem Handgelenk zusammenzog und sich dessen Form genau anpasste.
»Unglaublich!«, staunte sie.
»Ja, ich war damals genauso fasziniert.« Tempestas lächelte.
»Hey, probier’ ihn mal aus«, meinte Zack ungeduldig.
»Dazu ist doch später noch Zeit. Wir sollten uns jetzt lieber beeilen, oder nicht?«, entgegnete May. »Ich mach mir Sorgen um Yarkiy. Tempestas, weißt du denn überhaupt, wo sie sie hingebracht haben?«
Dieser schüttelte unwissend seinen Kopf. »Ich nicht – aber Skoryy vielleicht.«
»Irgendwie find’ ich das jetzt nicht sehr beruhigend, dass wir uns auf einen fuchsschwänzigen Ziegenhirsch verlassen sollen«, seufzte Zack.
»Du hast aber auch keinen besseren Vorschlag, oder?«, entgegnete Jiyuu.
»Du doch auch nicht!«, erwiderte Zack und ging weiter.
Nachdem sie den Fluss wieder erreicht hatten, machten sie kurz Rast und teilten etwas Brot untereinander auf. Sie stillten ihren Durst und Tempestas tränkte den Blizosta am Flussufer.
May näherte sich dem Tier und streichelte es sanft auf seiner Stirn. »Dein Name ist Skoryy, nicht wahr? Weißt du, wo Yarkiy jetzt ist? Kannst du uns vielleicht zu ihr führen?«, fragte sie liebevoll.
»Ja, natürlich kann ich das. Ich bin schließlich ein Ziegenhirsch«, sprach Zack mit verstellter Stimme, während er sich hinter dem Blizosta versteckte.
»Du …« May erblickte ihn und schüttelte lachend ihren Kopf. »Du bist so ein Vollidiot.« Sie kam auf ihn zu und deutete an, ihn schlagen zu wollen.
»Aber fast hättest du’s mir abgekauft!«, lachte er und ging in Deckung.
»Zack ist manchmal ein richtiger Spaßvogel«, meinte Tempestas, kicherte und stellte sich vor Skoryy. Er berührte mit seiner Stirn sanft die des Tiers. »Bitte, führe uns zu Yarkiy«, flüsterte er, worauf der Blizosta ein paar Schritte zurück machte und sich dann in Bewegung setzte.
Die vier folgten ihm in nördliche Richtung den Weg zurück über die Brücke, auf die andere Seite des Flusses, durch den Wald, bis sie an den Fuß eines Berges im südöstlichen Teil des Nubs Gebirges kamen.
Skoryy hielt vor einer riesigen Felswand und blickte hinauf.
»Da oben?«, fragte Jiyuu. »Na gut, dann lasst uns einen Weg nach oben suchen!«, meinte er entschlossen.
»Warte einen Moment.« Tempestas nahm die Felswand etwas genauer in Augenschein. »Dort! Dort oben!« Er zeigte auf etwas glänzendes, dass zwischen zwei hervorstehenden Felsen angebracht war. Bei genauerer Betrachtung sah es wie ein kleines silbernes Rundschild aus.
»May, kannst du das von hier aus treffen?«, fragte Tempestas sie.
»Mit dem Bogen? Ich kann’s versuchen.« Sie nahm ihren Bogen zur Hand, holte einen Pfeil aus dem Köcher und spannte ihn ein. Sie konzentrierte sich auf das Ziel und schoss.
»Das war wohl nix!«, rief Zack, nachdem der Pfeil daneben ging.
»Versuchs nochmal«, meinte Jiyuu zuversichtlich.
Sie nickte und spannte einen weiteren Pfeil ein. Wieder fokussierte sie die runde glänzende Scheibe und ließ den Pfeil los, doch auch dieses Mal traf sie nicht.
»Das war nur knapp daneben – beim nächsten Mal triffst du!«, rief Zack begeistert.
»Gut, ich versuch’s noch einmal.« Sie spannte erneut den Bogen und richtete die Pfeilspitze ihrem Ziel entgegen.
»Atme tief durch und denk nicht zu viel darüber nach, zu treffen. Lass den Pfeil sich sein Ziel suchen«, meinte Tempestas mit ruhiger Stimme.
May versuchte, seine Worte umzusetzen und atmete tief ein und wieder aus. Sie schloss kurz ihre Augen und lausche einen Moment lang den Geräuschen des Waldes. Schließlich ließ sie los und die Sehne zischte an ihrer Wange vorbei und dieses Mal landete sie einen Treffer, was einen hellen Klang erzeugte.
»Gut gemacht«, lobte Tempestas sie und richtete seinen Blick auf die riesige Felswand, die nun kaum merklich zu pulsieren begann.
Plötzlich formte sich eine Treppe ins Gestein, die in Schlangenlinie verlaufend weit nach oben führte.
»Das – das ist einfach unfassbar!«, staunte Zack. »Hab’ ich hier Hallus oder seht ihr das auch?« Er ging zu der Treppe und tastete die erste Stufe ab. »Was ist das für komisches Gestein? Anfühlen tut es sich ganz normal. Ha! Das würde den irren Geologie-Professor auf meiner Uni komplett aus der Bahn werfen«, meinte er völlig euphorisch.
»Beeindruckend, nicht wahr?« Tempestas lächelte. »Ich habe schon vieles über die raffinierten Höhlensysteme der Okhrana und ihre Fähigkeit, Gestein zu verformen, gehört, aber das übertrifft alle Erwartungen. Dieser Anblick erinnert mich ein wenig an meine Heimat.« Er betrat die erste Stufe und deutete den anderen, dass sie ihm folgen sollten.
»Kommst du mit Skoryy, oder wartest du hier?«, fragte May das Tier, bevor sie die Treppe betrat.
Der Blizosta ging einige Schritte zurück und machte ihnen klar, dass er zurückbleiben würde.
May nickte ihm verständnisvoll zu und folgte den anderen drei nach oben.
In einer Höhe von ungefähr dreißig Metern erblickten sie den Eingang einer Höhle. Er war sehr schmal und führte in einen dunklen Gang.
»Yarkiy ist also irgendwo hier drinnen«, meinte Jiyuu mit besorgtem Blick.
»Die Okhrana sind ein sehr friedliebendes Volk. Mach dir keine Sorgen«, erklärte Tempestas.
»Wenn du das sagst …« Jiyuu sorgte sich weniger um die Okhrana, als darum, die dunkle Höhle zu betreten, die ihn ein wenig an die Minen der Kemai erinnerte.
Schließlich schritten sie durch den Höhleneingang, der zweifelsohne nicht auf natürliche Weise entstanden war, und gelangten so ins Innere.
»Sind eigentlich alle Okhrana so heiß wie Yarkiy?«, fragte Zack.
»Wie genau meinst du das?«, fragte Tempestas ihn verwirrt.
Zack grinste und sah zu May, die ihm einen verachtenden Blick zuwarf, was er trotz des spärlichen Lichtes hier drinnen vernahm. »Ähm … nicht so wichtig«, meinte er daraufhin kleinlaut.
Sie tasteten sich den Gang entlang, dessen Wände total glatt waren und sich ungewöhnlich warm anfühlten. Da sie nun kaum noch etwas vom Vordermann erkennen konnten, mussten sie sich an den Wänden orientieren.
Am Ende des Gangs wurde es heller und nachdem sie ihn verlassen hatten, befanden sie sich unmittelbar vor zwei riesigen Rundbögen, die aus dem gleichen Gestein geformt waren.
Zack lief unter dem rechten der beiden Bögen hindurch, unter dem eine große metallene Glocke an einem Seil hing, und gelangte so auf eine Art Aussichtsplattform.
»Wahnsinn! Seht euch das an!« Er winkte die anderen zu sich.
Sie befanden sich inmitten einer gigantischen Höhlenhalle im Inneren des Berges. In den Felsformationen waren überall kleinere Höhlen, die wie Behausungen aussahen und durch unzählige Wege verbunden waren, doch niemand war zu sehen. Durch mehrere Öffnungen in der Decke der riesigen Halle drang vereinzelt schwaches Licht und die Wege und Treppen waren mit Fackeln erhellt.
»Das ist …« May blickte fasziniert hinab. »… Fantastisch …«
»Keine Bewegung!«, ertönte eine laute, verärgerte Stimme in einer unverständlichen Sprache.
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