Ich habe mich im Urlaub zu einer neuen Geschichte inspirieren lassen. Es ist nichts Anspruchsvolles, eher was Leichtes.
Eine Sommergeschichte halt.
_________________________________________________
„Omi?“
Der Tonfall dieses Wortes ließ vermuten, dass etwas Besonderes folgen würde, sobald sich die Neunzehnjährige Lena die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter Antonia gesichert hatte.
Die sah von ihrem Kreuzworträtsel hoch, betrachtete ihre Enkelin über den Rand der Lesebrille hinweg und hob erstaunt die Augenbrauen.
„Ja?“
Lena ließ sie ein wenig zappeln. Sie lehnte sich in ihrem Gartenstuhl zurück und schaute verträumt in den strahlendblauen Himmel, an dem weiße Wolken entlangsegelten.
Die beiden unterschiedlichen Frauen saßen wieder einmal im Garten der Seniorenresidenz am Stadtrand, in der Antonia zu Hause war. Sie hatten es sich in einer der lauschigen kleinen Lauben bei einer Tasse Kaffee gemütlich gemacht. Lena, die heute auf Arbeit früher Schluss gemacht hatte, um ihre Omi zu besuchen und über eine ganz bestimmte Sache mit ihr zu sprechen, entschied sich nun, mit der Sprache herauszurücken.
„Warst du schon mal verliebt?“, fragte sie jetzt die Zweige der üppig blühenden Bougainvillea, die ihre kleine Laube vor allzu sengenden Strahlen der Sonne schützte.
„Verliebt?“
Antonia setzte die schmale Goldrandbrille ab, legte den Stift aus der Hand und schob das Heft ein wenig von sich. Sie war gern mit ihrer Enkelin zusammen und genoss deren Besuche immer sehr. Lena hatte leider ein recht distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter, und es fiel ihr leichter, mit ihrer Omi zu reden als mit dieser. Vermutlich auch, weil besagte Omi immer ihr bester Freund war. Schon von Kind auf. Die fast achtundvierzig Jahre Altersunterschied störten weder die Ältere noch die Jüngere. Antonia war aufgrund einer Lähmung des linken Armes in der Residenz und nicht, weil sie alt war. Davon wollte sie nichts hören.
Jetzt trat ein ähnlich verträumter Ausdruck auf ihr Gesicht, wie er bereits auf Lenas lag, und in diesem Moment ähnelte sie der Enkelin stark.
„Ja, ich war schon mal verliebt“, erklärte sie nun mit Bestimmtheit und lächelte.
Lena wandte ihr den Blick zu.
„In Opa?“
„Nein.“ Antonia schüttelte den Kopf. „Opa habe ich geliebt. Geheiratet habe ich ihn, weil er mich so hartnäckig umworben hat. Den Himmel hat er mir zu Füßen legen wollen.“ Jetzt lachte sie leise. „Und das hat er getan. Die Liebe ist mit der Zeit gekommen. Aber verliebt - war ich in einen anderen. Warum fragst du?“
„Weil ich verliebt bin ...“ Lena ließ den Kopf wieder an die Stuhllehne zurücksinken und breitete die Arme aus, als wolle wie die Welt umarmen.
Antonia schenkte Kaffee nach. „Erzähl mal“, forderte sie interessiert.
Einen Augenblick nahm Lena sich Zeit, um sich zu erinnern. Wie war das gewesen? Wo sollte sie beginnen?
Er küsste sie!
Er küsste sie tatsächlich. Ja, es war schon klar erkennbar, dass sie der aktivere Teil des Duos war. Aber so, wie er nun seine Hände auf ihren Hintern legte, während sie ihre Arme um seinen Nacken schlang und ihn zu sich herabzog, konnte jeder sehen, dass er es genoss.
Dieser Mistkerl. Dieser schleimige, verlogene Mistkerl! Wie konnte er es wagen, diese Schnepfe anzutatschen und – was noch schlimmer war – zu küssen.
Sie fühlte, wie ihr die Tränen der Wut in die Augen stiegen. Ärgerlich blinzelte sie sie weg, doch es half nicht. Die Enttäuschung war zu groß.
Rings um sie herum herrschte Trubel. Die Menschen lachten, redeten laut miteinander, um sich trotz des Lärms verständigen zu können, dröhnendes Gelächter und fröhliches Kreischen waren vereinzelt zu hören. Es war Kirmes, und die lockeren Rhythmen der Blaskappelle gingen jedem in die Beine. Die Pärchen drehten sich auf der birkengeschmückten Holzbühne, dass der Bretterboden dröhnte. Hier wurde Musik noch live gemacht, hier gab es keine Bässe, Boxen und Beats. Die Frauen trugen samt und sonders Kleider. Es war ein bisschen, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. So etwas fand man heute nicht mehr so ohne Weiteres. Und vielleicht war es gerade deshalb rappelvoll auf der Tanzfläche. Die Kirmes in diesem Ort war ein Geheimtipp.
Und nun stand sie inmitten dieses Lärmens wie auf einer einsamen Insel. Sie nahm nichts von dem Getöse und der Geschäftigkeit um sie herum wahr. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem knutschenden Paar, das vielleicht fünf Meter vor ihr stand und sie nicht bemerkte.
Martin, dachte sie wehmütig, was tust du nur?
Als es nun warm über ihre Wange rann, drehte sie sich um und rannte mit einem unterdrückten Aufschluchzen davon. Ihre schicke Hochsteckfrisur löste sich nach wenigen Schritten schon auf, und an der Losbude verlor sie ihre Tasche und musste umkehren, um sie aufzuheben. Halb blind vor Tränen merkte sie, dass sie mehrere Menschen anrempelte, die ihr aufgebracht hinterherschimpften.
Martin ...
Nach ihrem Plan hatte heute ihr erster gemeinsamer Abend sein sollen.
Sie waren sich erstmals begegnet, als sie ihre Cousine zu Weihnachten das letzte Mal besucht hatte. Pia und ihre Eltern wohnten noch in dem Dorf, in dem auch Omi mit ihren zwei Töchtern früher gelebt hatte. Als sie selbst gerade erst vierzehn geworden war, war Mama, Omis jüngere Tochter, in eine luxuriöse Eigentumswohnung in der Stadt gezogen. Und nach dem Schlaganfall vor vier Jahren war Omi ihrer Tochter gefolgt und hatte in der Seniorenresidenz, die nahe bei deren Wohnung lag, ein hübsches Zimmer bekommen. Die ältere Tochter, Pias Mutter Agnes, war mit ihrer Familie im Dorf geblieben.
Sie mochte ihre Cousine wirklich sehr gern und sie schrieben sich regelmäßig. Die Einladung zur Kirmes in der Mittsommernacht war ein geplanter und seit langem fälliger Besuch, besonders für sie natürlich, weil sie bei diesem Anlass unbedingt Martin wiedersehen wollte. Es sollte eine Überraschung für ihn sein. Nach all den endlosen WhatsApp-Texten mit seinen Liebesschwüren und ihren Träumen von einer gemeinsamen Zukunft war sie sich sicher gewesen, dass er der Mann ihres Lebens war.
Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, hatte ihre Flucht sie schon ein ganzes Stück vom Festplatz weggeführt. Die stampfenden Rhythmen der Musik waren noch hörbar, aber ihre Füße liefen wie von selbst weiter. Weg hier, weg von diesem Ort. Einfach nur allein sein.
Energisch wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. Sicher sah ihr Makeup furchtbar aus. Doch es war ihr egal. Heute musste sie niemandem mehr gefallen.
Sie merkte, dass sie auf dem Feldweg unterwegs war, der zur alten Ruine führte. Der verfallene Bau, der einsam inmitten eines Feldes stand, war einstmals ein Rittergut oder eher ein kleines Schloss gewesen. Nicht nur die Mauern standen noch, auch die große Freitreppe und die gewaltigen Torsäulen mit den steinernen Löwen darauf war erhalten geblieben. Heute jedoch gähnten denjenigen, der sich dorthin verirrte, nur leere Fensterhöhlen an. In allen noch erhaltenen Räumen und den teils zusammengebrochenen Nebengebäuden hatte ein verheerender Brand seine schwarzen Spuren hinterlassen. Und doch oder gerade deshalb hatte der einstmals stolze Wohnsitz in ihrer Kinderzeit den idealen Spielplatz abgegeben. Sie waren Prinzessinnen und Prinzen, Räuber und Räuberbräute gewesen. Selbst Seeräuber, böse Hexen und Drachen hatten dort ihre Daseinsberechtigung gehabt.
Jetzt blieb sie stehen. Es war schon fast dunkel geworden. War es klug. erst bis dorthin zu laufen? Wenn sie ankam, würde es stockfinster sein. Und was sollte sie dort? In den Erinnerungen aus der Kindheit schwelgen?
Ihre Kinderzeit war vorbei. Mit neunzehn wollte sie ihr Leben planen. Und Martin sollte ein Teil davon sein.
Okay, dann wurde er es eben nicht. Er war nicht der einzige Mann auf der Welt.
Sie hob den Kopf und schaute sich um. Hinter sich sah sie die Silhouetten der Häuser, und ganz rechts war der von Fackeln erleuchtete Festplatz. Die Musik war bis hierher zu hören, auch Lachen und Stimmenlärm. Sollte sie zurückgehen? Sich nichts anmerken lassen? Immerhin wusste Martin gar nicht, dass sie da war. Vielleicht würde er ja die Schnepfe auch ihretwegen stehenlassen?
Doch im selben Moment, wie diese Gedanken auftauchten, waren sie auch wieder verschwunden. Sie wollte gar nicht, dass er sie beachtete. Nicht mehr. Nicht nach dem, was sie gesehen hatte.
Verzagt ließ sie sich ins weiche, noch sonnenwarme Gras fallen. Ihre Finger spielten mit den Halmen, während sie hinüber zum Dorf starrte und schon wieder Tränen in ihren Augen aufsteigen fühlte.
„So ganz allein hier? Und so traurig?“
Die Männerstimme ließ sie erschrocken wieder aufspringen. Sie hatte niemanden kommen hören. War ihr etwa jemand bis hierher gefolgt? Angestrengt versuchte sie, ihr Unbehagen zu unterdrücken. Sie war ganz allein hier mit dem Fremden.