Ich hab' das mit Absicht nicht 'Was ist eine gute Geschichte?' genannt, denn wir sind alle verschieden, und genauso verschieden ist es wie Geschichten auf uns wirken. Aber es hilft vielleicht dem einen oder anderen genauer zu verstehen wie Leser funktionieren, was sie sich von einer Geschichte erhoffen. Das kann vielleicht auch nicht jeder Leser fuer sich so genau sagen, aber ich dachte mir ich schreib' mal was mich an einer Geschichte fesseln kann, und wenn andere Leser sich da auch beschreiben koennten - faende ich spannend und wuerde mich interessieren.
Fuer mich gibt es drei(einhalb) wichtige Punkte - und schon wenn einer davon da ist, lese ich eine Geschichte gerne. Drei auf einmal sind selten - das schafft bei mir vieleicht ein Buch in einem Jahrzehnt (und das ist dann immer was ganz besonderes).
Die Welt
Ein Grund warum ich lese ist es, an fremde Orte entfuehrt zu werden und das Gefuehl zu haben wirklich da zu sein. Dazu gehoert es, dass die Situation gut beschrieben wird so dass ich reiche Bilder vor Augen habe - aber idealerweise mag ich auch die Waerme der Sonne auf meiner Haut spueren, den Duft eines Gewuerzstands riechen und ein Dutzend verschiedene Sprachen hoeren wenn ich ueber einen Markt gefuehrt werde.
Dazu gehoert auch, dass die Welt Tiefe hat - ich muss das Gefuehl bekommen, dass da mehr ist als grade fuer die Geschichte wichtig ist. Wenn zum Beispiel eine Karawane ankommt und eine halbe Seite kurz ihre Reise umrissen wird waehrend der Protagonist mit einem Ohr lauscht, dann moechte ich die Reise gerne vor mir sehen - so dass ich sie mir vielleicht eines Tages als eine eigene Geschichte spinnen koennte. Geschichten in Geschichten ist da ein Thema - wie bei Tolkien, wo sich fast hinter jedem Namen noch eine Geschichte verbirgt, wo die Welt eine reiche Mythologie hat.
Wenn von Tolkien die Rede ist - Sprache ist das andere. In Marion Zimmer Bradley's 'Darkover' haben mich frueh die Einsprengsel von Casta und Cahuenga fasziniert - ob sich zwei Darkovaner mit Z'par servu, vai leronis. oder 'Zu Diensten.' begruessen macht einen grossen Unterschied im Flair - selbst wenn die Sprache nicht sehr ausgearbeitet ist. Darkover war auch das erste Werk in dem ich zur Welt passende Sprichwoerter bemerkt habe ('Man soll den Falken erst fliegen lassen, wenn seine Schwingen gewachsen sind.') - oder die haeufigen Anspielungen auf 'Durraman's Esel' - die doch nie erklaert werden.
Solche gut ausgearbeiteten Details koennen mich schnell in die Welt hineinfuehren und dort festhalten. Das Gefuehl dass ich haben moechte ist dass da diese ganze riesige interessante Welt ist, nicht um der Geschichte willen, sondern die Geschichte erzaehlt mir immer nur (leider) einen viel zu kleinen Ausschnitt aus der Welt, die ich doch eigentlich noch viel mehr erforschen moechte.
Was umgekehrt nicht fuer mich funktioniert ist, wenn die Welt nicht stimmig ist. Eine riesige Metropole, die kein Umland hat - wo kommt das Brot her das die da essen? Handel - muss immer in zwei Richtungen gehen - welche Gueter bringt eine Karawane, welche holt sie? Welche Rolle hat Magie in der Welt? Ich habe mal einen Fantasy-Krimi gelesen wo der Plot darin bestand dass jemand durch Magie ermordet wurde und der Stadtwache das nicht in den Sinn gekommen ist - wie glaubhaft ist das in einer Welt, in der in jeder Stadt ein Dutzend Magier sind dass da niemand in die Richtung denkt? Wenn Magier sehr maechtig sind und ganze Heere in den Boden stampfen koennen - warum stellt ueberhaupt noch jemand ein Heer auf? Wenn solche Probleme aufgeworfen werden ohne eine Loesung zu haben, macht das die Welt schnell fuer mich kaputt.
Buecher die eine tolle Welt im Hintergrund haben sind fuer mich zum Beispiel 'The Lord of the Rings' (J.R.R. Tolkien), 'The Name of the Wind' (Patrick Rothfuss) oder 'Darkover Cycle' (Marion Zimmer Bradley). Hier im Forum gefaellt mir z.B. Das Ritual wegen der detailreich beschriebenen Welt.
Die Erfahrung
Der zweite Grund der mich lesen laesst ist es, Erfahrungen zu erleben die ich so nicht (ohne weiteres) machen koennte (das ist in sofern was anderes, weil es mir hier auf das Innenleben der Figuren ankommt).
Das braucht einen Autor, der die Psychologie der Figuren richtig einfaengt - besonders in extremeren Erfahrungen - entweder weil er dei Erfahrung selbst gemacht hat, oder weil er gut recherchiert hat.
Das Ding ist - Helden z.B. denken selten heroisch. Eine der aufschlussreichsten Geschichten die ich kenne ist von Jim Voss darueber was Astronauten vor dem Start durch den Kopf geht. Jim und Tom Henricks sind auf ihrem ersten Flug mit Story Musgrave (der seinen vierten Flug macht) im Cockpit des Space Shuttle, der Countdown laeuft, und Jim beschreibt die Situation ein nervoeses Rumbloedeln, wie bei einer Sportmannschaft kurz vor dem Spiel - zu viel Adrenalin im System, aber man muss still sitzen. Auf einmal bemerkt Tom dass Story nicht mitmacht, also fragt er 'Story, warum bist Du so ruhig?' Worauf er die Antwort bekommt: 'Weil ich eine Scheiss-Angst habe!' ('Because I'm scared to death!')
Ich finde die Geschichte sehr erhellend, denn Story Musgrave ist jemand den ich als mutig mit dem Zeug zum Helden beschreiben wuerde (da gibt's andere Geschichte, der Mann hat Nerven aus Stahl...). Aber er ist der einzige der wirklich weiss was gleich kommt - und grade deswegen hat er Angst. Genauso - der junge Ritter vor seiner ersten Schlacht kann heroisch denken, denn er weiss nicht was kommt - aber der alte Veteran an seiner Seite der es alles schon gesehen hat? Da kann ich mir denken was dem wirklich durch den Kopf geht.
Ich moechte bei einer guten Geschichte hinter die Fassade des prinzipienfesten, heroischen,... gefuehrt werden - was den Leuten wirklich im Kopf geht waehrend sie durch diese Erfahrungen gehen (und das ist selten das was sie zeigen...)
Ich moechte gerne teilnehmen wie sie mit moralischen Fragen ringen die die Geschichte aufwirft - nicht einfach nur kaempfen und toeten weil man das als Held halt so macht, sondern wie sie sich dazu bringen, solche Dinge zu tun die ein normaler Mensch nicht tun wuerde.
Und das alles erfordert dass ein Protagonist so gut beschrieben wird dass ich an sein Handeln im Normalen anknuepfen kann, dass ich mir vorstellen kann aus seinen Augen zu schauen und seine Entscheidungen nachvollziehen kann - dann kann mich der Autor auch in Extreme fuehren und mich was neues erleben lassen.
Buecher die das fuer mich tun sind z.B. Nochnoy Dozor - Nigth Watch (Sergei Lukyanenko) wo lange Abschnitte ueber Anton's Hadern mit seinem Selbstbild als Streiter des Lichts sind (der Autor ist Psychotherapeut...) oder Richard Morgan's spaetere Werke (Black Man, The Steel Remains,...) Im Forum bin ich bisher (noch?) nicht ueber eine Geschichte dieser Art gestolpert.
Die Idee
Geschichten koennen mich auch dadurch erreichen, dass sie mir einen neuen Einsicht geben, einen Gedanken den ich noch nicht gedacht hatte. So dass ich mir danach denke - aha - ist ja interessant wie das sein koennte.
In R.Scott Bakker's Werk zum Beispiel gibt es die Nonmen - eine Rasse die irgendwann durch eine (von einem ihrer Feinde hervorgerufene) Krankheit unsterblich geworden sind. Die neue Idee ist dass ihr Gedaechtnis immer noch das eines normalen 'Menschen' ist - nicht dafuer gemacht um tausende und tausende von Jahren Erfahrung aufzunehmen. Also koennen sie mit der Zeit weniger und weniger erinnern, und streben nach immer extremeren Erfahrungen - soweit dass sie Verrant an Freunden arrangieren - einfach nur um ein emotional intensives Erlebnis zu haben das lang im Gedaechtnis bleibt, weil alles andere fuer sie schon verschwimmt. Und Bakker's Buecher sind voll von solchen Einsichten und Ideen...
Es ist jetzt schwer, allgemeiner zu schreiben was eine neue Idee ausmacht - ich erkenne sie wenn ich sie sehe, aber nicht bevor ich sie sehe (sonst waere sie nicht neu) - hier im Forum z.B. finde ich diese Art von Geschichte in den Wortgefechten die ein magisches Schwert mit seinem Helden bestreitet - die Perspektiven und Einsichten des Schwerts sind oft neu und erfrischend fuer mich.
Das Raetsel
Der halbe Punkt ist, dass ich an Geschichten auch einen Plot zu schaetzen weiss der mich von Raetsel zu Raetsel bringt - wenn etwas mysterioeses passiert und langsam die Aufklaerung kommt.
Da passt oft das Gefuehl des Geworfenseins - eine Geschichte beginnt ohne dass ich als Leser irgendwas ueber den Kontext weiss, und allmaehlich finde ich heraus wo wir sind und warum. Ein Meisterstueck dieses Themas aus dem SciFi Bereich ist 'Hull Zero Three' von Greg Bear. Im Prinzip ist das Mitraetseln auch der Grund warum ich gerne Agatha Christie lese - die allermeisten ihrer Geschichten sind so gestrickt dass man als Leser eine Chance hat, den Taeter zu ueberfuehren bevor Poirot oder Mrs. Marple das tun.
Auch Alastair Reynolds' Geschichten sind hervorragend darin, Fragen und Raetsel aufzuwerfen und langsam aufzuloesen.
Fuer mich ist dieser Punkt aber eher ein Sahnehaeubchen, eine Geschichte die ich alleine deswegen lesen wuerde kenne ich nicht (bei Agatha Christie z.B. kommt fuer mich immer die Charakterisierung des alten England dazu, wie sie Land und Leute so nebenbei beschreibt).
***
Ja, das ist es was ich in Geschichten suche (und was ich umgekehrt versuche, hineinzupacken wenn ich schreibe) - wie gesagt, alles zusammen ist sehr selten. Wie ist das bei Euch?