Haben wir sie nicht alle?
Die Geschichten, die im langweiligen Unterricht oder in unseren kleinen schwarzen Notizbüchern enstehen und von niemandem gelesen werden? Ich habe hunderte davon. Geschichte ohne Zusammenhang, die mehr Gekritzel als irgendwas anders sind.
Also warum sollte ich sie euch nicht präsentieren? So vergilben sie immerhin nicht zwischen den vergessenen Seiten meiner Gedanken. Ja ich gebe es zu ... einige davon sind etwas düster aber ich kann auch fröhliche Sachen schreiben.
Namenlos war sie
Ihr Blick galt nicht der Menschenmasse, in deren Mitte sie sich befand. Sie starrte auf den Fluss.
Auf dem schmutzigen Gewässer tummelten sich die grossen Schiffe. Manche lagen tiefer als andere, sie mussten beladen sein mit Seidenballen, Gewürzen, vielleicht sogar Gold.
Bereit in See zu stechen.
Es waren verschiedene Schiffe, nicht bloss von ihrer Form her, auch die Segel und Maste waren unterschiedlich.
Matrosen jagten auf den Decks auf und ab. Befehle wurden gebrüllt. Und zwischen diesem Wirbelwind des Lebens erklang das Zischen der Peitsche.
Sie war fasziniert von diesem Chaos. Sie wollte so gerne wissen, wie die Schiffe genannt wurden. Wollte die verschieden Begriffe verstehen. Wollte wissen, wie man ein Segel hisste.
Doch dies war alles nur ein träumerischer Wunsch.
Sie war dazu verdammt, ein verlorenes Kind zu sein.
Als junge Frau würde sie die Entscheidung fällen müssen, ob sie ihren Körper verkaufen wollte - und würde sie es nicht tun, würde ihr Leben kurz sein.
Doch es spielte keine Rolle. Denn selbst wenn sie in eines der Freudenhäuser eintreten würde, gäbe es nur den Tod, der seine Arme schützend um sie legen würde.
Das eine führte zum anderen.
Wählte sie das Leben einer Hure, würde sie beginnen zu trinken, um es erträglicher zu machen.
Jede Münze, die sie verdiente, gleich wieder verlieren. Es würde ein Kreis entstehen, aus dem es kein entkommen gab.
Dort auf dem Fluss, auf einem der Dreimaster, war kein Platz für sie. An der Seite eines wohlhabenden Mannes war kein Platz für sie.
Da war nichts.
Es wartete nur der Tod auf sie.
Sie war noch so jung und doch wusste sie all dies schon.
Kannte die gierigen Blicke der Männer, das Gefühl von Hunger und die Einsamkeit in der Dunkelheit. Den Wunsch, einfach zu schlafen und nie wieder aufzuwachen.
Und so erhob sich das Mädchen, das nicht einmal ein Paar Schuhe ihr Eigen nennen konnte.
Im Hafen gab es Brücken. Viele Brücken.
Niemand beachtete sie, als sie plötzlich unbeholfen auf der Brüstung stand.
Es schien, als existierte sie überhaupt nicht.
Irgendwo in der Stadt trank sich eine Hure ins Delirium.
Ein Freier erlebte seinen Höhepunkt.
Ein Junge biss in einen Apfel.
Eine Frau nestelte an der Hose eines Kunden.
Ein Gentleman ging vor seiner Geliebten auf die Knie.
Ein Kapitän studierte seinen Kompass.
Ein Matrose spürte die Peitsche.
Und ein Mann sah ein Mädchen.
Sie war so zierlich.
Dort, nur wenige Schritte von ihm entfernt auf der Brüstung stand sie.
Völlig verloren.
Die Füsse dreckig, das dünne Kleidchen zerrissen, die Haare fettig.
Er wollte zu ihr. Wollte sie halten. Doch er war zu spät.
Sie würde niemals erfahren, dass er sie dort oben gesehen hatte. Sie würde niemals erfahren, was passiert wäre, wenn er sie rechtzeitig erreicht und in seine Arme genommen hätte. Denn sie verschwand einfach im Wasser. Wurde von der grauen Masse empfangen.
Sie war nie wieder gesehen worden. Es schien, als wollte der Fluss das Mädchen behalten, sie nicht wieder der Welt übergeben, die sie niemals gewollt hatte.
Irgendwo in der Stadt weinte die Hure sich in den Schlaf.
Der Freier liess die Münzen klimpern.
Der Junge reichte den Apfel weiter.
Die Frau wurde für ihre Dienste entlohnt.
Der Gentleman öffnete das Kästchen.
Der Kapitän schloss seinen Kompass.
Der Matrose schrie auf, wieder und wieder.
Und der Mann rannte zur Brüstung.