Die wilde Horde
Der Radau aus dem Wald wurde immer lauter.
Nerd der Waldläufer legte mit einem mißbilligenden Blick das Stück Holz neben sich auf die Bank, an dem er seit mehreren Stunden herumgeschnitzt hatte und steckte seufzend den Dolch zurück in die Scheide an seinem Gürtel. Pokale sahen wohl anders aus.
Die Bank stand im Schein der langsam untergehenden Sonne an der Wand eines kleinen Hauses, welches wiederum inmitten einer ausgedehnten Lichtung stand. Und neben dem kleinen Haus erhob sich ein windschiefer Turm, den niemand freiwillig betrat. Zu morsch waren die Stufen in seinem Inneren.
Daß Terry hier eingezogen war, hatte mehrere Gründe: Das Haus gehörte scheinbar niemandem, also mußte er dafür auch niemandem einen Mietzins zahlen. Sehr praktisch für einen Jungzauberer, den man kurz vorher aus dem Dorf verjagt hatte, weil seine Zauberkunst zwar mächtig, aber leider nicht wirklich das war, was sich normale Menschen meistens wünschten.
Keiner hatte ein Problem damit, wenn ein Redner seine Rede mit Gesten unterstrich. Schwierig wurde es für die meisten spätestens dann, wenn man sich nicht sicher sein konnte, ob aus den gestikulierenden Händen unvermutet Feuerbälle zucken würden. Oder irgendwelche Blitze. Auf einen selbst vielleicht.
Das war in der jüngeren Vergangenheit leider mehrfach passiert. Zum Glück nicht, als Terry's Finger auf Menschen zeigten. Dafür auf strohgedeckte Häuserdächer.
Was die Sache nicht unbedingt besser macht, wenn man in einer Zeit und an Orten lebt, wo niemand etwas mit dem Begriff "Feuerwehr" anzufangen weiß.
Nerd's Blick glitt zum Waldrand hinüber. Der sandige Weg, der sich aus einer Öffnung im dichten Grün an das Haus heran schlängelte, es einmal umkreiste und danach, die Lichtung verlassend, auf der anderen Seite wieder im Walde verschwand, lag still vor seinen Augen.
Umso lauter klangen ihm die Flüche in den Ohren, die er bereits seit fünf Minuten aus dem Wald schallen hörte. Und jetzt war er auch in der Lage, sie zu verstehen.
"Dieses vermaledeite Dreckspack!!!" tönte es aus dem dichten Buschwerk. "Borniertes Thaumaturgengesocks!"
Es gab einen lauten Knall, als eine Baumkrone in hübschem Orangerot explodierte. Die Blätter flogen in den Himmel und verwandelten sich in blitzende Sterne.
"Oh Scheiße," dachte Nerd. "Terry ist echt sauer."
Er besah sich nochmal das Ergebnis seiner Schnitzkunst neben ihm. Nö.
Wie ein Pokal sah das Ding ganz sicher nicht mehr aus. Dabei war ihm das zu Beginn so einfach vorgekommen: Ein dickes rundes Stück Birkenholz. Da mußte man mit dem Messer nur zur Mitte hin wegschnitzen, bis sich nach oben und unten sowas wie eine gleichmäßige Wespentaille ergab. Dann das Ganze unten noch etwas glätten und wegspanen für einen sicheren Stand. Und am Schluß das Holz oben aushöhlen, damit man ein Gefäß bekam.
Aber die Stunden des Wartens waren eben die Stunden des Wartens gewesen.
Wenn überhaupt würde Terry das dünne Ding jetzt nur noch als Kerzenhalter verwenden können.
Zwei Blitze zuckten aus dem Wald, brannten das Gras rechts und links des Weges zu rauchender Asche.
"Diese Penner können mich endgültig mal!!!"
Nerd der Waldläufer erhob sich von der Bank, schmiß den Pokalkerzenständer auf den an der Wand aufgestapelten Haufen Brennholz und ging ins Haus zurück.
Die Siegesparty heute abend konnten sie vergessen, das war mal sicher.
II.
Er hatte sich in die Ecke gesetzt, die am weitesten von der Tür entfernt war, was gar nicht so einfach ist, wenn man sich in einem quadratischen Raum befindet.
Daß der Tisch, der sonst dicht neben der Feuerstelle stand, sich jetzt auch in der Ecke befand, in der er saß und das es davor sogar noch eine Ecke gab, hinter der sowohl er als auch der Tisch in Sicherheit waren, mag vielleicht dem einen oder anderen komisch vorkommen, aber im Haus eines Zauberers ist vieles möglich.
Und Nerd der Waldläufer sah nicht ein, warum sein mühsam erkämpfter Topf Wildhonig, den er auf dem Tisch abgestellt hatte, Terrys Wut zum Opfer fallen sollte. Bienen mögen es nämlich gar nicht, wenn man sie beklaut. Wilde Bienen erst recht nicht. Nerd rieb abwesend über die geröteten Stellen an seinen Armen, an denen sie ihn erwischt hatten. Es juckte gräßlich.
"Drecksäcke!!!" hörte er Terrys Stimme dicht vor dem Haus
Ein kupferner Kessel flog durch die offene Tür in's Zimmer, prallte hart an der Wand ab und landete mit einem verbeulten Keuchen auf dem Boden.
"Mistkerle! Arschgeigen!!!"
Zwei Säcke mit irgendwas drin folgten dem Kessel, stiessen, an der Wand aufschlagend jeder für sich in unterschiedlichen Tonlagen ein schwaches "Uff" aus und rutschten zu Boden.
Die Türe knallte zu. Nerd der Waldläufer linste vorsichtig um die Ecke. Terry stand in seinem Zeremoniengewand mitten im Raum. Seine schlanke Gestalt zitterte. Sein Gesicht war hochrot vor Wut.
"Die mache ich fertig!!!" brüllte er und hob die Hände. Ein gemeines Knistern wurde laut.
Nerd sah die Blitze zwischen Terrys Fingern aufzucken und zog rasch den Kopf zurück.
'Nicht zu verachten, diese Ecken' dachte er. Dann fiel ihm ein, daß ein Zauberer sich immer selbst einen Bann in den eigenen vier Wänden auferlegt, wenn er denn welche hat, getreu der uralten Weisheit:
"Zaubere nie im Haus, denn die Asche, die dann fällt, könnte Deine eigene ein!"
Der geschlossene Raum wirkte daher jetzt wie ein Schwamm, der die sich entladene Magie aufsog. Sie quasi abfederte.
Daher ertönte nur ein schwaches "Puff",ein blauer Schimmer flackerte kurz auf und ein bißchen Rauch stieg auf. Das war's.
"Trotzdem mache ich diese Idioten fertig!!!" schrie Terry, aber es klang schon weit weniger zornig. Erschöpft stützte er sich schwer auf den Tisch, der sonst dicht neben der Feuerstelle stand.
Und der jetzt hinter der Ecke stand, hinter der sich Nerd der Waldläufer verbarg.
Der Zauberer stützte sich also gerade auf etwas, daß nicht dort war, wo es eigentlich sein sollte. Es war eines der Probleme, mit denen niemand rechnet, die man nicht voraussieht und die trotzdem auf einmal da sind.
"Mist!", entfuhr es Terry.
Das Geräusch, mit dem ein Kopf hart auf dem Boden aufschlägt, ist immer sehr unschön. Selbst wenn der Boden nur aus gestampftem Lehm besteht...
III.
"Was hast Du denn gedacht, was geschehen würde?" Nerd hatte den Tisch wieder an die Feuerstelle zurückgebracht. Da sassen sie jetzt und beschäftigten sich mit dem Honigtopf.
Terry rieb sich mit der einen Hand die schmerzende Stirn, mit zwei Fingern der anderen fuhr er in den Wildhonig, zog sie vollgeschmiert wieder heraus und leckte ab.
"Weiß ich nicht," gab er nuschelnd zurück.
"Die könnten mich doch wenigstens als das akzeptieren, was ich bin. Ein Elementarzauberer." Terry machte ein wedelnde Bewegung mit der Hand, um die sich sofort eine grüne, glanzende Aura bildete.
Nerd zuckte kurz zurück, dann erinnerte er sich an den Bann und entspannte sich. In einem geschlossenen Raum konnte nichts geschehen.
Terry deutete mit dem Finger auf die Tür. Die in diesem Augenblick aufflog. Und dadurch den Bann des geschlossenen Raumes brach.
"Hey Leute, wie sieht's aus? Haben wir gewonnen??" fragte Caradon der Barbar. Auf seiner rechten Schulter trug er zwei volle Weinschläuche. Auf seiner linken ein Faß mit Met.
Der Blitz, der sich aus Terrys Hand löste, interessierte sich nicht im geringsten für Alkohol. Er wollte nur auf schnellstem Wege aus dem Raum hinaus. Durch die Tür. In der Caradon stand.
"Isser wieder wach?" Nerd nahm einen Schluck Met und sah zu Terry herüber. Terry sah zu Nerd hinüber.Beide sahen hinab auf den reglosen Barbaren. Aus Caradons muskulösem Körper stiegen Schwaden auf. Rauch? Dunst? Ein Dampf?
Sie konnten ein schwaches Stöhnen vernehmen.
"Bin mir nicht sicher," gab Terry zurück, leerte seinen Becher und schenkte sich neu ein. "Vor fünf Minuten hat er sich jedenfalls bewegt."
"Nicht er hat sich bewegt!" korrigierte Nerd. "DU hast ihn bewegt, um an das Metfass ranzukommen."
"ICH habe ja auch gesagt, wir sollten mit dem Wein anfangen. Aber du wolltest ja unbedingt was zu trinken haben, daß zu deinem blöden Honig passt!" Terry rollte die Augen. Jetzt ging das wieder los.
"Met IST Wein. Aus Honig. Honigwein eben," schoß Nerd zurück. "Weiß der Geier, was für eine Plörre in den Schläuchen ist."
Das Stöhnen am Boden wurde lauter.
"Jetzt bewegt er sich," bemerkte Terry, um von der Debatte über das Wesen des Weines abzulenken.
Insgeheim gab er dem Waldläufer jedoch recht:
Caradon besaß nicht wirklich einen guten Geschmack, was Wein betraf. Seine Faustregel war einfach: Ein Schlauch voller Wein enthält Alkohol und Alkohol macht betrunken. Und nur darum ging es, wenn ein Barbar trank. Wenn einem am nächsten Morgen der Schädel brummte, machte es keinen Unterschied, wie es am Abend zuvor geschmeckt hatte.
Der Barbar stieß ein tiefes Grunzen aus stemmte sich mühsam in die Höhe, stützte sich schwer auf den Tisch, der zum Glück jetzt wieder dort stand, wo er hingehörte. Er ließ sich ächzend auf den freien Schemel sinken.
"Mannomann, was für ein Schlag!" stellte er fest und rieb sich über die angesengten Brusthaare, von denen immer noch einige vor sich hin schwelten.
"Was ist?" fragte er dann grinsend in die Runde. "Trinken wir jetzt was zusammen...?"
(Fortsetzung folgt...)