Es gibt 91 Antworten in diesem Thema, welches 15.682 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (24. Juli 2021 um 21:17) ist von McFee.

  • Mundburt erfährt Neues von der Insel der Kopflosen.

    Ich beobachtete Kopf, wie er eine dicke Fleischwurst in Scheiben schnitt, hastig aß und den letzten Becher Rotwein hinunterstürzte. „Wie viele Geschwister hattet Ihr eigentlich?“, fragte ich, als er kurz Luft holte, „Ihr wirkt auf mich, als wäret Ihr immer der Letzte am Fressnapf gewesen.“

    Er sah mich irritiert an. „Ach so, das meint Ihr! Nein, daran liegt´s nicht. Ihr glaubt ja gar nicht, welche Wohltat es ist, mit dem Mund essen zu können und sich die Nahrung nicht durch einen Trichter in den Hals stopfen zu müssen! Außerdem schmecke ich jetzt, was ich zu mir nehme, und es schmeckt köstlich!“

    „Wo wir gerade bei diesem Thema sind“, sagte Gerlind, „wovon habt Ihr Euch eigentlich ernährt, als Ihr den Kopf noch unter dem Arm trugt? Durch so einen Trichter... hmnja... Rotwein geht, aber wie sah es mit Brot und Gebratenem aus?“

    Kopf schüttelte denselben. „Auf unserer Insel ernähren sich die anständigen Leute von Haferbrei und klarem Wasser, wie es die Regierung vorschreibt, die Verbrecher allerdings leben in Saus und Braus.“

    „Von Haferbrei und Wasser kann man doch nicht auf Dauer leben“, behauptete Wurst.

    „O doch, Herr! Ihr glaubt ja nicht, mit wie wenig Nahrung ein menschlicher Organismus auskommt! Eine Schütte Hafer, eine Kanne Milch, ein halber Eimer Wasser reichen für den Tag, und man bleibt auch noch gesund dabei. Während die –“

    „Ah, jetzt begreif ich!“, rief Gerlind, „die Verbrecher werden damit gestraft, dass sie sich zu Tode fressen! Pervers, aber irgendwie doch folgerichtig.“

    „Zumindest die mit lebenslänglich, ja. Viele von denen sterben tatsächlich am Schlagfluss, weil sie ihrem Gott Gaster* zu sehr gefrönt haben. Den anderen wird der Kopf nach Verbüßung der Strafe ja wieder abgetrennt, und dann ernähren sie sich wieder gesund.“

    „Hmm... Was mich noch interessiert, lieber Freund“, sagte ich, „wie Ihr Euren Körper ernährt habt, wissen wir jetzt. Aber wie sah´s mit Eurem Kopf aus? Auch Köpfe brauchen Nahrung, sonst hätte unser Herrgott ja nicht den Mund erschaffen, sondern bestimmt, dass man sich die Kuddeln hinten reinschiebt. Ich denke, wenn Ihr versucht habt, Nahrung herunterzuschluckten, ist sie Euch doch bestimmt wieder aus dem Hals gefallen, oder seh ich das falsch?“

    „Das seht Ihr goldrichtig, mein Herr“, antwortete Kopf nach einem kräftigen Rülpser, „deshalb werden die Köpfe auf der Insel einmal am Tag für eine Stunde mit dem Halsstumpf nach unten in eine Schüssel mit warmer Liebfrauen-Milch gelegt, und ob Ihr es glaubt oder nicht, man fühlte sich danach gesättigt und erfrischt.“

    „Erzählt keine Ammenmärchen!“, polterte Wurst, „wie soll das denn gehen, hä? Hab noch nie gehört, dass eine Frau, die in Milch badet, davon satt wird!“

    „Ich werde es bei passender Gelegenheit mal ausprobieren“, grinste Gerlind, „muss sowieso mehr für meine Haut tun. Lasst mir Eure Adresse da, Wurst, dann geb ich Euch Nachricht.“

    ____________

    Lat.=Magen

    Mundburt befreit Wurst von einer gefräßigen Ratte und badet ihn.

    Ein unheimliches Wimmern und Jammern, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, unterbrach die Diskussion. Es kam von einer Insel, auf die wir geradewegs zutrieben.

    Oh! Wie das in den Ohren gellte!

    Oh! Wie das die Haare zu Berge stellte!

    Ich schwöre bei Gott, solch schreckliche Töne hatte ich noch nie vernommen. Auch Kopf und Wurst, die sich wieder mal stritten, verstummten.

    Je näher wir der Insel kamen, desto lauter wurde der Lärm.

    „Hört sich an, als beweinten dort hunderttausend kleine Kinder den Tod ihrer Eltern“, meinte Gerlind, „lasst uns weiterfahren! Hab keinen Bock, schon wieder ein Schlachtfeld zu besichtigen und über Leichen zu springen. Diesmal sind´s bestimmt keine Würste.“

    „Hohoho!“, rief Wurst, „sind Würste weniger wert als Kinder?“

    „Ei was, lasst uns landen!“, rief ich, „gerade weil´s Kinder sind! Die Ehre eines Ritters gebietet, gerade den Schwächsten zu helfen! Also vorwärts, frisch drauf, hei, wir hauen die Feinde zusammen! Was zögert ihr noch?“ Endlich bot sich die Gelegenheit für einen Kampf Mann gegen Mann, und nicht wie bisher Mann gegen lebende Steine oder Mann gegen alberne Würste.

    „Nicht mit mir!“, rief Gerlind, „wenn du den Teufel im Leib hast, ist das dein Problem!“ Sie wandte sich verärgert an Kopf. „Dieser verdammte Kerl mit seinem Rittertum geht mir langsam auf den Geist! Das ist kein Edelmut, was er da vorhat, sondern Waghalsigkeit, wie sie die ganze Hölle zusammengenommen nicht kennt! Herr Magister, sagt Ihr doch auch mal was!“

    Der Magister trat von einem Bein aufs andere. „Hmm... nun ja... bei Licht gesehen...“

    „Fahrt zur Hölle!“, schrie ihn Gerlind an und wandte sich Wurst zu, „was meint Ihr, Herr Magister der Wurschtologie? Wollt Ihr auch anlegen?“

    „Hmm... nun ja... ich fühle ein tiefes Widerstreben...“

    „Geh zu allen Teufeln, du stinkendes Affenschwein!“

    In der Tat, jetzt war noch etwas anderes zu riechen als Brackwasser und Meeresluft. Ich trat näher an Wurst heran und bemerkte eine braune Stelle auf seinem ansonsten fleckenlos-schimmelgrauen Hemd, etwa in der Höhe, wo sich bei anderen Leuten die Hinterpforte befindet. Es bestand kein Zweifel: Wurst hatte sich ins Hemd geschissen. Er stand da, zitternd, starr vor Schreck, besudelt, außer sich mit allen Anzeichen höchster Angst.

    „Um alles in der Welt!“, rief ich, „Wurst, wovor hast du Angst?“

    „Davor, dass er nicht mehr frisch ist!“, höhnte Gerlind. „Auch Geräuchertes muss irgendwann einmal gegessen werden, sonst fängt es an zu stinken.“

    Mit einem Satz sprang Wurst auf und lief wie ein wild gewordener Bock ins Hinterschiff, wo er sich zwischen leeren Weinkannen und Stapeln von Brennholz versteckte.

    „Was hast du uns da nur ins Boot geholt“, giftete mich Gerlind an, „der verdammte Narr ist so feig und dabei so sensibel, dass er sich alle Augenblicke bescheißt, wenn man mal ein starkes Wort redet! Auf solche Leute kann ich verzichten.“

    Plötzlich erklang vom Hinterschiff her wildes Geschrei. „Hiii, Ahhh, Ohhh!“ tönte es; es war eindeutig Wursts Stimme. Da erschien er, eine Ratte hatte sich an ihm festgebissen; schon hing ein Gutteil seines Hemdes in Fetzen. Ich besann mich nicht lange; während Wurst wie von der Tarantel gestochen herumsprang und weiterhin „Hiii, Ahhh, Ohhh!“ schrie, nahm ich das Wurstmesser und warf es so geschickt, dass es die Ratte, ein halb verhungertes Tier, in der Mitte durchtrennte; die vordere Hälfte ließ von Wurst ab und verschwand in der Bilge, die hintere Hälfte lief ein paarmal kopflos hin und her und stürzte sich ins Meer.

    Es war Kopf, der als erster bemerkte, dass dieses entsetzliche Jammern und Klagen auf der Insel verstummt war. Es war nichts mehr zu hören als der sanfte Schlag der Dünung gegen die Planken der Schnigge. Wir atmeten erleichtert auf. Kopf äußerte die Vermutung, dass wir möglicherweise einer Sinnestäuschung erlegen waren; zwar wolle er die Geräusche nicht wegdiskutieren, aber von See her höre sich manches anders an als an Land. Vielleicht liege ja auf der Insel eine große Stadt, und das Jammern sei in Wirklichkeit das Läuten vieler Glocken, wie sie in Moskau an hohen Festtagen zu hören seien, großer, mittlerer, kleiner Klöppelschwinger, allerdings durch große Entfernung verzerrt. Obwohl diese Erklärung ziemlich hypothetisch klang, glaubte ich ihm gerne; Wursts Anblick dämpfte meinen Tatendrang erheblich.

    Der arme Kerl war aber auch in einer erbärmlichen Verfassung. Nicht nur dass sein Hemd in Fetzen hing und seine Innereien an verschiedenen Stellen zu Tage traten, er hatte sich auch noch weiter besudelt. Ich nahm eine leere Weinkanne und füllte sie randvoll mit Meerwasser. Dann hielt ich mir die Nase zu, ergriff Wurst mit der anderen Hand, stopfte den Stinker in die Kanne, schüttelte kräftig und goss den Sud über Bord. Das tat ich solange, bis das Wasser in der Kanne klar blieb.

    Gerlind, unter deren rauer Kehle ein empfindsames Herz pochte, hatte bereits Garn und Nadel besorgt und befahl: „Ausziehen!“ Doch der Magister der Wurschtologie ließ sich nicht dazu bewegen, das Hemd auszuziehen, er drehte und wendete sich, verschränkte die Hände und hielt sie sich vorne vor, machte „ach nee“ und „muss das denn sein?“, benahm sich wie eine Jungfer, welcher der Sturm unter die Röcke fährt, gerade so, als verstoße eine unbekleidete Cervelatwurst gegen die guten Sitten. Dabei passieren auf Burg Schwarzenraben noch ganz andere Sachen; etwa, wenn die Knaben mit steifem Ackermann über die Burgmauer spazieren und dabei Dinge tun, die ich lieber nicht beschreibe. Es blieb Gerlind nichts anderes übrig, als das Hemd an Wursts Körper zu flicken.

    Während sie an dem Magister herumstichelte, fragte ich: „Was war es denn nun, Herr Magister, wovor Ihr solche Angst hattet, dass Ihr Euch das Hemd besudel musstet?“

    „Ach, lieber Herr, da kam einiges zusammen! Zunächst das Jammern und Heulen, das mich entsetzlich aufregte, dann sah ich das Wurstmesser auf dem Tisch, dazu die abfällige Bemerkung Eurer Marketenderin, dann der ewig hungrige Herr Kopf – da dacht ich, jetzt ist es aus mit dir.“

    „Nana, was mich betrifft, Herr Kollege, da könnt Ihr beruhigt sein“, sagte Kopf, „bei Kollegen habe ich eine ausgeprägte Beißhemmung. Kollegen fresse ich nicht, Kollegen übersehe ich einfach.“

    Mundburt erfährt ein Mittel gegen Verstopfung und eins gegen Durchfall.

    Inzwischen hatten wir uns der Insel weiter genähert; plötzlich gab es einen Stoß, es knirschte – wir waren auf Grund gelaufen. Somit war die Frage, ob ankern oder weiterfahren, entschieden. Gerlind und Wurst blieben an Bord, Kopf, mit dem leeren Proviantkorb unterm Arm und ich, geharnischt und mit Pike und Schwert, soll heißen mit Messer und Zahn, sprangen ab und wateten zum Strand.

    Die Küste war steil, und wir suchten lange nach einem Aufstieg. Schließlich fanden wir in einer Felsnische eine künstliche Treppe, allerdings mit Stufen, die so hoch waren, dass wir uns auf jede einzelne hochwinden mussten. Schließlich standen wir auf einer Hochfläche, die bis zum Horizont reichte; ganz in der Ferne schimmerten die Mauern einer Stadt mit hohen Türmen. Es war unheimlich still; nur das Knirschen des Gerölls unter unseren Schuhen war zu hören.

    „Ein Oheim von mir“, fing Kopf auf einmal an, „ist ähnliches passiert wie dem guten Wurst eben. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.“

    „Wie meint Ihr das?“

    „Es ist aber eine längere Geschichte.“

    „Nur zu! Wir sind noch lange nicht am Ziel!“

    „Nun gut. Mein Oheim litt schwer unter Verstopfung, er saß sein Leben lang öfter auf dem Örtchen als in seinem Wohnzimmer. Auch der langstielige Apotheker*, den ihm seine Frau des öfteren angedeihen ließ, half da wenig; an einem Einlauf mit scharfem Senf, einer Mischung aus Pottasche und Schnepfendreck wäre er fast gestorben. Eines Tages, es ging schon auf Mitternacht zu – der Oheim saß bereits seit dem Vesperläuten auf dem Stuhl – hörte er vom Hof her Lärm; kurz darauf gellten Schreie durchs Haus, seine Frau schrie: „Hilfe! Diebe! Mörder!“, eine raue Stimme rief: „Geld her, oder wir fackeln die Hütte ab!“, und wüste Schritte näherten sich dem stillen Örtchen. Da tat mein Oheim einen Schiss, wie ihn zehn Prälaten und zwanzig Gerichtspräsidenten zusammen nicht fertig gebracht hätten – der Schreck hatte seine Darmträgheit in Höchstleistung versetzt. Als einer der Räuber die Tür zum Kabinett auftrat, wischte sich mein Oheim gerade den Hintern und rief: „Lieber Mann, Ihr habt mir viele Kosten erspart“ – nämlich für die teuren Abführmittel – „ich danke Euch!“, lachte aus vollem Hals und lud die Räuber ein, spätestens in drei Tagen wiederzukommen. Die kamen nicht, denn nach altem Glauben sind Irre die Kinder Gottes und bedürfen der Schonung. Der Oheim schwärmte noch tagelang von dem Überfall, sodass seine Frau schon fürchtete, er habe seinen Verstand mit ausgeschissen.“

    Wir mussten ein trockenes Bachbett überspringen, dessen Grund mit einer hauchdünnen, glitzernden Schicht überzogen war.

    „Ihr kennt meinen Neffen Gerbold nicht“, fuhr Kopf nach kurzer Atempause fort, „ein rechter Tausendsassa und Katzenschreck, dabei herzensgut bis in die Zehenspitzen, der immer noch denselben Kopf unterm Arm trägt, den er sich als Vierjähriger gegriffen hat, und er denkt nicht daran, ihn gegen einen anderen zu tauschen, denn dieser Kopf steckt voller Lausbubenstreiche und wunderlicher Einfälle. Wenn Ihr ihn also kennen würdet, lieber Herr, kämt ihr keine Sekunde auf die Idee, dass sich alles nicht genau so abgespielt hätte, wie ich es berichte. Gerbold, dem die immer wiederkehrenden Qualen seines Vaters stark an die Nieren gingen und erpicht darauf, dessen Beschwerden zu lindern, machte meiner Muhme** den Vorschlag, Burschen aus der Nachbarschaft zu dingen, die alle drei oder vier Tage, wenn der Vater wieder stöhnend und ächzend auf dem Nachtstuhl saß, einen Raubüberfall vortäuschen sollten. 'Scheiß doch aufs Geld!', rief er, 'wir kommen ohne Geld auf die Welt, aber mit einer guten Verdauung, also ist dem Herrgott die Verdauung wichtiger als das Geld. Ihr habt es doch am eigenen Leibe erfahren, Mutter: Schlecht geschissen ist halb gestorben!', womit er zweifellos Recht hat.

    'Ei', sagte meine Muhme, 'wir können´s nicht besser machen! Lauf ins Dorf und besorg ein paar handfeste Burschen, die sich nicht den Schneid abkaufen lassen, denn mit dem Teufel im Leib kann Vater ziemlich grantig werden!' Der Vorschlag wurde also in die Tat gesetzt. Doch die menschliche Natur ist so eingerichtet, dass regelmäßig wiederkehrende Ereignisse ihr Wirkung verlieren, und bald half auch räuberisches Getöse nichts mehr. Eines Nachts, als es wieder soweit war, drangen zwei finstere Gesellen mit Mistgabeln auf den Oheim ein, machten einige Luftstöße, als ob sie es wirklich auf ihn abgesehen hätten, und schrien Zeter und Mordio. Mein Oheim aber sagte: 'Liebe Leute, wenn ihr nichts anderes macht, so hilft es nichts. Ihr müsst schon stärker zustoßen!' Da versetzte ihm einer der Männer mit der Mistgabel eins zwischen Hals und Halskrause, worauf mein Oheim die Beine in den Himmel streckte und sich donnernd entleerte. Er lachte laut und rief: 'Potz Blitz, das nenn ich einen Schiss!'“

    Wir waren am Fuße einer riesigen Wanderdüne angelangt und beschlossen, den Gipfel dieses Gebirges aus Sand und Gras zu besteigen, um uns einen Überblick über die Gegend zu verschaffen. Kaum hatten wir die Düne betreten, da setzte sich sich in Bewegung, und wir kamen unverhofft zügig voran.

    „Bei meinen Studien zum Königshaus Furzimen“, fuhr Kopf schwitzend fort, während wir hochstiegen, „bin ich auf Dinge gestoßen, die in keinem Geschichtsbuch verzeichnet sind. Ich lasse mal das Problem der Darmentleerung bei wogender Schlacht und in voller Rüstung weg, eine überaus unappetitliche Angelegenheit. So berichtet Herodot, die Heerstraße, auf der Alexander nach Osten zog, habe gestunken wie eine offene Abortgrube. Vor hundert Jahren nun gab es einen König in Frankreich, genannt Malfarz, dem das Gegenteil von dem beschieden war, unter dem mein Oheim litt, und zwar aufgrund einer missglückten Hämorrhoiden-Operation, bei der ihm der Arzt den Schließmuskel filetierte. Zeitzeugen berichten, der König habe sich daraufhin immer wieder spontan entleeren müssen, egal, wo er sich gerade aufhielt, auf dem Burghof, in den Gängen des Schlosses, in der Friedhofskapelle, im Theater°. Damit nicht genug: Auch seine Minister und Mätressen taten dies; denn der König war in allen Lebensbereichen leuchtendes Vorbild; sein Tun und Lassen Maß aller Dinge. Schließlich stank nicht nur die Residenz erbärmlich zum Himmel, sondern auch das Land. Wollte jemand frische Luft atmen, musste er in den Schweinestall gehen.

    Da kam des Königs Narr auf folgende Idee. Er ließ sich ein möglichst genaues Bild des Königs von England, Knallfarz I., Malfarzens Erzfeind, anfertigen, und hielt es dem König, als er wieder einmal dabei war, sich in einem Winkel des Prunksaals die Hosen aufzuknöpfen, vor die Nase. Der König kniff die Hinterbacken so fest zusammen, dass ein Pfennig die Prägung verloren hätte und lief weg; zu bitter war noch die Erinnerung an die verlorene Schlacht, die ihm sein Erzfeind bereitet hatte, nur weil er, Malfarz, für kurze Zeit neben dem Schlachtfeld gekauert und daraufhin die Übersicht verloren hatte. Durch geschicktes Drehen und Wenden des Bildes erreichte es der Narr, den König dahin zu bugsieren, wohin er ihn haben wollte: Auf eine der zweihundertfünfzig offiziellen Latrinen des Schlosses.“

    Kopf schwieg.

    „Hmmm...“, sagte ich, „kaum zu glauben, dass ein lumpiger Narr einen König wie einen Affen, der sich vor seinem Spiegelbild fürchtet, durch die Gänge des Schlosses treibt.“

    „Ha, von wegen lumpiger Narr! Dieser Narr war kein gewöhnlicher Narr. Monsieur de Clamart war gleichzeitig sein Erster Ratgeber.“

    „Soso... na dann... Mal was anderes, Missjö. Ich frage mich: Als Ihr noch den Kopf unterm Arm trugt, lieber Magister, wie war´s da beim Toilettengang? Blieb Euer Kopf draußen, oder nahmt Ihr ihn mit hinein?“

    Kopf lachte. „O nein, Herr Knappe, wo denkt Ihr hin? Auf dem Stuhl war gerade mal für meinen Hintern Platz! Gut, ich hätte ihn auf den Schoß nehmen können, aber bei heruntergelassenen Hosen und der Dinge, die sich weiter hinten abspielten, wohl eine ungehörige Zumutung, denn mein Kopf ist sehr feinfühlig, hat feine Ohren und eine empfindliche Nase. Ich setzte ihn auf eine Bank in die offene Tür, sodass ich mich bei der Verrichtung beobachten konnte. Ha, ich versichere Euch, lieber Herr, es war ein überaus amüsanter Anblick! Habt Ihr schon einmal jemandem zugesehen, der an hartem Stuhl leidet – übrigens eine Familienkrankheit –, wie er verzweifelt die Hände ringt, drückt und schiebt und schiebt und drückt, dass ihm die Halsadern schwellen, wie er mit der Faust auf den Stuhl und mit den Füßen auf den Boden trommelt, den Körper nach rechts und links wendet, hin und her schwankt wie ein betrunkener Matrose, und wenn er´s dann endlich geschafft hat und die steinharten Kötel in die Schüssel rasseln, die geballte Faust erlöst in den Himmel stößt und mit der anderen Hand sieghaft den Arschlappen schwenkt wie ein junger Fähnrich die Regiments-Standarte?“

    ____________________

    * Klistiergerät, ** Tante, ° Wird so ähnlich von Ludwig XIV berichtet.


    Mundburt und Kopf töten zwei gefährliche Mörder und Frauenschänder.

    Vermutlich hätte der Magister noch eine Weile von seinen Abort-Erlebnissen berichtet, doch auf einmal war der Lärm wieder da, lauter und unheimlicher als zuvor, und an eine Unterhaltung zwischen zwei vernünftigen Menschen war nicht mehr zu denken. Jetzt waren ganz deutlich noch andere Töne zu hören; in das Jammern und Jaulen hinein erklang zuweilen ein elfenreines Ding-Ding-Ding, das an den Klang von Totenglöckchen erinnerte; dann wieder, und öfter, ein dämonisches Dong-Dong-Dong und ein breites Quork-Quork-Quork.

    „Es sind Frösche“, rief ich erleichtert, „allerdings in einer Lautstärke, wie ich sie noch nie gehört habe. Geradezu urweltlich. Wahrscheinlich liegt dort vor uns eine Stadt oder ein Kloster mit Fischteichen. Nur dieses Jammern ist mir ein Rätsel. Es kann auf keinen Fall von gewöhnlichen Fröschen stammen. So quakt kein normaler Frosch.“

    „Was meint Ihr mit Forsch?“

    Es stellte sich heraus, dass es auf Kopfs Insel keine Frösche gab, und ich erklärte es ihm so gut es bei dem Lärm ging.

    Wir erreichten den Kamm der Wanderdüne und blieben überrascht stehen – obwohl das Getöse immer lauter wurde, war weit und breit weder Stadt noch Burg noch Kloster zu sehen. Wir blickten auf eine weites, grünes Sumpfgelände mit Bulten von Binsen und Seeroseninseln, auf denen sich schillernde Libellen sonnten. Dazwischen blinkte schwarzes Wasser. Das, was ich für eine Stadt gehalten hatte, erwies sich als ein zerstörtes Dorf jenseits des Sumpfes. Auch die Düne war stehen geblieben.

    „Das wär´s dann“, rief ich, „wenn wir nicht riskieren wollen, in dem teuflischen Morast da zu versinken, sollten wir umkehren.“

    Der Magister machte ein verdrießliches Gesicht. Die Aussicht, eine Weile ohne Wein auskommen zu müssen, behagte ihm überhaupt nicht. „Thales von Milet behauptet zwar, das Wasser sei der Ursprung aller Dinge“, stöhnte er; „aber von trinken hat er nichts gesagt.“ Kaum war der letzte Laut verklungen, da tauchten vor uns zwei Gestalten auf, von denen ich in diesem Moment nicht hätte sagen können,

    waren´s Weibsen oder Mannzen,

    waren´s Schaben oder Schwaben,

    oder waren´s sogar Franzen*

    oder etwa Feuerwanzen?,

    denn sie krochen mehr über den Grund als dass sie gingen, aber es mussten Tiere sein, denn nach Aristoteles ist das sicherste Zeichen für ein Tier dessen Bewegung. Diese sonderbaren Wesen waren mit erdbraunen Harnischen bedeckt, die sie vollkommen einhüllten, und mit Knüppeln bewaffnet. Ungewöhnlich waren auch die kurzen Beine mit lächerlich großen Füßen und die Eigentümlichkeit, dass jeder Zeh in einem eigenen Schuhschnabel steckte.

    „Guten Tag, Ihr Herren“, rief uns eines der Wesen mit unangenehm kratziger Stimme an, „wohin des Weges?“

    Inzwischen hatte das Jammern und Klagen ein geradezu infernalisches Ausmaß angenommen, sodass wir schreien musste, um uns verständlich zu machen.

    „WIR WOLLNEN PROVIANT EINHOLEN“, brüllte der Magister und machte eine höfliche Verbeugung, „Wein, Brot, Fleisch und allerlei Dinge, die auf einer Seefahrt nötig sind. Gibt es hier irgendwo eine Stadt oder ein Kloster –“

    „NICHTS DA!“, schrie der andere Knüppelant mit hochrotem Kopf und nahm Drohhaltung an, „keinen Schritt weiter! Das Landesinnere ist für Fremde gesperrt! Am besten, Ihr kehrt sofort um, sonst nehmen wir euch gefangen und schlagen euch die Köpfe ab!“

    „Es wäre wirklich das beste“, echote sein Kumpan, „ohne Kopf ist das Leben nur noch halb so schön!“

    „Hahaha!“, lachte der Magister, „das schreckt mich nicht! Dann näht ihn Gerlind wieder an!“

    Doch die beiden Dragoner waren nicht zu Späßen aufgelegt. Plötzlich schwangen sie ihre knotigen Knüppel und drangen gegen uns vor.

    Wieder zögerte ich keinen Augenblick. „Auf und drauf!“ schrie ich dem Magister zu, „nehmt dies hier!“ und drückte ihm das Messer in die Hand. „Und jetzt kräftig das Schwert geschwungen und nicht mit Hieben gespart!“ Ich selbst brachte die Pieke in Stellung und stach dem Roten ein Loch in die Robe, worauf der versuchte, mir die Waffe zu zerschlagen. Doch da kannte er mich schlecht; schließlich hatte ich schon mehr als ein Dutzend Knappen vom Pferd gestochen. „Hei!“, rief ich, „komm nur, hässlicher Wicht, glaubst wohl, du Schisser, du könntest einen Ritter in spe bezwingen!“, getreu dem Grundsatz, dass man die Wirkung der Waffen mit Worten steigern kann. Der Schisser, knallrot vor Wut und mit irr funkelnden Augen, richtete sich hoch auf und holte zum Querschlag aus; ich nutzte die Gelegenheit seiner ungeschützten Flanke und stach zu. Mit einem widerlichen Laut sank er zu Boden und rührte sich nicht mehr.

    Auch der Magister hatte inzwischen für klare Verhältnisse gesorgt; sein Gegner lag mit zerhauenem Harnisch auf dem Rücken und streckte alle Viere von sich.

    Ein energisches „Dong, Dong, Dong“ erklang, und das Froschkonzert verstummte.

    Was ich schon vermutet hatte, wurde jetzt, als wir die Gefallenen betrachteten, Gewissheit: Die braunen Leichen waren hässliche Erdkröten aus dem Geschlecht der Schleimgeister. Während ich es Kopf erklärte, gewahrte ich zwei Gestalten, die in gehörigem Abstand zu uns herübersahen. Da die beiden unbewaffnet schienen und einen eher verschüchterten Eindruck machten, winkte ich, und sie sprangen in langen Sätzen heran. –

    _________

    * Schaben, Schwaben, Franzosen = landschaftliche Synonyme für Kakerlaken.

    Forts. folgt

  • Ich schwöre bei Gott und stifte freiwillig dro dusend Bündel Kirchenheu, wenn mich jemand bei dem, was ich jetzt berichte, mit einer Übertreibung erwischt. – Noch nie hatte ich solch sonderbar gekleidete Wesen gesehen. Das eine, gerade mal so hoch wie ein Nachttopf, trug ein halblanges knallgelbes Oberkleid mit knotigen Fransen, einen Wams mit Alltagsaufschlägen, wie sie im letzten Jahrhundert üblich waren. Das Bauchtuch war nach alter Weise geknöpft und in der Weiche gegürtet, hingegen hing das Unterkleid von der Farbe frischer Zwiebelsoße an verschiedenen Stellen in Fetzen. Zwei gamsfarbene hautenge Beinkleider, so alt wie löchrig, dass man die dünnen Waden sehen konnte, bedeckten die säbelkrummen Beine. Die Füße dieses Wesens waren groß und geformt wie Leiern und steckten in Bastsandalen.

    Der andere Zwerg sah möglicherweise noch bizarrer aus.

    Auf dem Kopf, rund und breitmäulig war wie eine Türkenbund-Melone, saß eine Haube von der Art, die man heute nicht mehr trägt und die zum Lachen reizt, am Hals eine Halskrause wie ein Mühlstein so groß. Die Augen, hart wie Krebsaugen, schienen außerhalb des Kopfes zu sitzen. Das bodenlange Oberkleid in der Farbe des Granatapfels bestand aus lauter Flickwerk, von dem ein Unzahl Bänder abhing wie Arme an einem Kraken. Vom Unterkleid, ehemals sicherlich schilfgrün, jetzt straßengrau, waren nur die Ärmel zu sehen, die einen Bogen schlugen, denn Arme und Beine des Wesens waren krumm wie Schießbogen und dem Körper zugewandt. Auch diese Füße waren von abnormer Größe und steckten in Schuhen, die mich an die Jagdtaschen meines Vaters erinnerten. Für einen Moment schien es mir, als seien die beiden gerade aus des Teufels Tiergarten herübergeweht.

    „Wer seid ihr?“, fragte ich.

    „Ich bin die Traudel“, sagte das breitmäulige Wesen mit weinerlicher Stimme, „und das ist meine Freundin Margarete. Wir sind zwei arme Unken –“

    Unken! Na klar! Jetzt fiel´s mir wie Schuppen von den Augen: Das Gejammer stammt von Unken! Noch nie hatte ich Unkenrufe, die ja bekanntlich von Unheil künden, gehört, deshalb war ich nicht darauf gekommen. Vielleicht lag´s aber auch an der Lautstärke, mit der diese Biester schrien.

    „ – und wer seid ihr, liebe Herren?“

    Ich sagte es ihr, und noch einiges mehr.

    Die Unke Traudel legte die niedrige Stirn in Falten. „Deutschland... Deutschland...“, überlegte sie laut, „ist das nicht das Land, wo Milch und Honig –“

    Ich hatte keine Lust, mich auf einen Diskurs über das Land, 'wo Milch und Honig fließt', einzulassen, und fragte barsch: „Wer sind diese beiden da?“

    „Zwei Assassinen. Wir nennen sie Braunhemd und Knotenstock, aber in Wirklichkeit sind es Mörder und Frauenschänder. Sind sie tot?“

    „Zumindest der mit dem Knüppel. Ein Ritter in spe macht keine halben Sachen.“ In der Tat, Knotenstock rührte sich nicht, während Braunhemd anfing, mit den Beinen zu strampeln. Kopf versetzte ihm ein paar kräftige Hiebe auf den Schädel, dann was Ruhe.

    „Ha!“, rief die andere Unke mit dünnem Stimmchen, „geschieht ihm recht, diesem Sauhund, war der Schrecken aller ehrbaren Frauen im Reich!“

    „Hört mal, Ihr beiden Hübschen“, sagte der Magister, „gibt es auf dieser Insel hier außer Wasser noch was anderes zu trinken? Hab einen Höllendurst!“

    „Oh oh oh“, jammerte die Traudel, „oh oh oh! Leider nein, lieber Herr! Das einzige Getränk, das uns diese verdammten Assassinen gönnen, ist Wasser. Sie selber saufen kannenweise Met und Wein, diese Mistkäfer, können nicht ohne –“

    Die Unke hatte diesen Satz noch nicht beendet, da beugte sich der Magister über Braunhemd und öffnete seinen Harnisch. „Ich ahnte es!“, rief er und zog eine Feldflasche hervor, „sonst hätte ich ihn gründlicher zusammengehauen!“ Er öffnete die Flasche, schnupperte, kostete. „Fantastisch! Ein herber Burgunder! Genau nach meinem Gusto!“ Ich trat zu Knotenstock und prallte zurück; der Anblick war überaus scheußlich. Die blutverschmierte Rüstung war übersät mit hässlichen Warzen, aus denen ätzender Schleim austrat; das Gesicht, mit wässernden Geschwüren bedeckt, starrte mich mit glasig-toten Augen an. Gottseidank musste ich nicht lange suchen, die Flasche lugte unter seiner Rüstung hervor, und ich konnte sie ohne Mühe abziehen. Somit war für unseren Durst für´s erste gesorgt.

    „Hier können wir nicht bleiben“, sagte ich, „über kurz oder lang wird man uns entdecken. Gibt es irgendwo ein stilles Plätzchen, wo wir ungestört den Wein schlürfen können?“

    „Ja gibt es“, jammerte Margarete, „seht Ihr dort die grüne Insel? Das ist unser Thinkplatz, dort sind wir sicher.“

    „Hahaha“, machte Kopf, den der erste Schluck wohl schon leicht benebelt hatte, „ein Trinkplatz – hätt ich nicht gedacht!“

    Ich gab ihm einen kräftigen Rippenstoß. „Und wie kommen wir dort hinüber? Doch nicht etwas durch den Sumpf?“

    „Doch, durch den Sumpf –“

    „Wie? Was? Wo schon ein einziger falscher Schritt –“

    „Keine Angst, Herr Ritter, es gibt dort sichere Wege, die aber nur wir Unken kennen... Schließlich ist es unser Land.“

    Ich weiß nicht, was mich mehr entzückte: Die Aussicht auf einen ordentlichen Schluck oder die Anrede 'Herr Ritter'! Stand kurz davor, die alte Unke zu umarmen und zu knuddeln.

    Auf einem schmalen Pfad stiegen wir den Abhang hinunter. Bevor wir das Moor betraten, drehte sich Margarete um und sagte: „Und immer hübsch der Reihe nach, Ihr Herren! Bleibt genau hinter uns! Ihr habt Recht, Herr Ritter: Ein unbedachter Schritt, und die Moorgeister ziehen Euch hinab in ihr Reich. Viele unserer Verfolger sind auf diese Weise schon umgekommen, hihihi!“

    Herrgott, war das ein Weg! Indem ich wieder daran denke, überzieht mich eine Gänsehaut! Es gluckerte, schlürfte, schwappte, schmatzte. Hörte sich an, als liefe den Moorgeistern schon das Wasser im Munde zusammen. Hunderte von Augenpaaren starrten uns an. Ein paarmal dachte ich, jetzt ist es aus, denn der Boden schwankte bedrohlich, drohte zur Seite zu kippen. Doch irgendwie erreichten wir glücklich die Insel, in deren Mitte sich wie der Rücken eines Walfischs ein riesiger runder Felsen wölbte. Drumherum standen in regelmäßigen Abständen hohe behauene Steine, offensichtlich einen Versammlungsplatz urzeitlicher Riesen. Doch irgendetwas stimmte nicht. Wenn hier Riesen gesessen hatten, überlegte ich, wieso können dann mickerige Unken und Frösche hier Platz nehmen?

    Jetzt erst bemerkte ich eine grüne Gestalt mit einer goldenen Krone auf dem Kopf, die auf uns zukam und sich gemessen verbeugte. Sie war in einen schlichten grünen Rock mit Goldknöpfen gekleidet. Auch sie war nicht viel größer als unsere Führerinnen. Dahinter hüpfte ein weiterer Grünling, allerdings ohne Krone.

    „König Bufo-Bufo* VIII., Herrscher der Unken und Frösche, grüßt Euch, Ihr Herren!“, rief der Grünling mit piepsiger Stimme, „nehmt Platz und erfrischt Euch!“

    „Wir danken Euch, Majestät“, erwiderte ich und verneigte mich tief, „wir nehmen Euer Angebot gerne an, denn der Weg zu Euch war beschwerlich.“ Zwei Unken sprangen herbei und reichten uns Wasser.

    „Nippt wenigstens“, zischte ich dem Magister zu, der die klare Flüssigkeit angewidert anstarrte, „das Geschenk eines Königs weist man nicht zurück!“

    Da hatte ich was gesagt! Schon kurze Zeit später sollte ich meinem eigenen Grundsatz untreu werden...

    _____________

    * Bufo, lat.=Unke

    Mundburt bekommt ein Königreich geschenkt und nimmt es nicht an.

    Der König setzte sich in eine Nische, die in dem großen Stein ausgehauen war, und wir nahmen ihm gegenüber Platz.

    Zunächst herrschte majestätisches Schweigen. Dann sagte ich: „Dürfte ich Eure Majestät etwas fragen?“

    „Gerne, mein wackerer Held!“, sagte seine Majestät mit einer Stimme wie ein Gong.

    „Majestät, warum jammert Euer Volk, dass es Steine erweichen könnte? Und was ist das für ein Reich, von dem die Traudel vorhin sprach?“

    „Ach, lieber Herr, das Reich des Bösen ist über uns gekommen! Dieses Land war einst frei und reich an Gütern, jetzt aber sind wir arm, unglücklich und den Eindringlingen untertänig. Das ist so zugegangen: Eines Tages kamen Fremde und verlangten, dass wir ihren Gott anbeten und nach ihren Regeln leben. Viele tapfere Männer weigerten sich und sind geköpft, gepfählt, gevierteilt oder sonst wie grausam zu Tode gefoltert worden°. Besonders einer, der sich Osama nannte, watete im Blut der Erschlagenen. Die Willfährigen wurden in die Sklaverei entführt, das Weibervolk in diesen Sumpf getrieben. Aber auch hier lassen sie uns nicht in Ruhe. Immer wieder entführen sie meine Untertanen, auch auf die Gefahr hin, mit ihrer Beute im Morast zu versinken, denn sie kennen die sicheren Wege nicht.“

    Bei diesen Worten schwoll das Gejammer, das hier und da schon vereinzelt aufgestiegen war, zu einem entsetzlichen Getöse an. Der König wartete einen Moment, dann ließ er seinen Gong erschallen, und der Lärm verstummte.

    Inzwischen hatte ich Kopf etwas aus den Augen verloren. Der war gerade dabei, der Unke Margarete, die das Treiben sichtlich genoss, den Hof zu machen. Anscheinend war der 'herbe Burgunder' eine Nummer zu groß für ihn. „Herr Magister!“, rief ich, „bezähmt Euch! Wir sind als Gäste, nicht als Eroberer hier!“

    „Besonders diese Kröte Knotenstock“, fuhr der Herrscher über Unken und Frösche mit allen Anzeichen der Bekümmernis fort, „war der reinste Teufel in Tiergestalt – seine Seele sei verdammt in alle Ewigkeit. Dieses Untier...!“ Eine zierliche Unke hüpfte heran und wischte dem König die Stirn. „Vor vierzehn Tagen sollte die Heirat meiner Tochter Bufonella gar feierlich und prächtig begangen werden, wie es bei uns im Lande Sitte war. Nach dem Abendessen gab es verschiedene Belustigungen für das Volk, Scherze, Possen, Tänze, Maskenzüge, Mummereien. Unter den Gauklern befand sich auch dieses Untier, im grünen Kleid eines Grasfroschs. Als das Toben und Wälzen seinen Höhepunkt erreichte, warf er den grünen Mantel ab und versprühte aus seinen Geschwüren einen giftigen Schleim, an dem viele Gäste starben.“ Der König griff sich an die Augen; es schien, als weine er. „Auch Prizessin Bufonella war unter den Toten.“ Wieder erklang Gejammer, schwoll gewaltig an, das Totenglöckchen bimmelte wie wahnsinnig. Auf ein Handzeichen des Königs verstummte der Lärm.

    „Ja um Himmels Willen!“, rief ich und sprang auf, „Majestät, habt Ihr denn niemanden, den Ihr zu Hilfe holen könntet? Es gibt doch genug gerechte Fürsten auf der Welt.“

    „Von welcher Welt redet Ihr, Herr? Oder meintet Ihr selbstgerechte?“ Der König schwieg bedrückt, endlich fuhr er fort: „Nun ja, wir wandten uns an einen, der auf der Affeninsel lebt. Dieser König, der sich selbst 'Der Fantastische' nennt und sich vieler großartiger Erfolge rühmt, schickte ein paar Krieger, doch die kehrten schnell wieder um, weil sie nicht wussten, gegen wen sie kämpfen sollten.“

    „Wie das?“

    „Obwohl unsere Unterdrücker alle an denselben Gott glauben, sind sie sich doch untereinander nicht grün. Die Assassinen trauen den Assassiden nicht über den Weg, diese wiederum den Assaliden nicht, und die Assawiden sind mit allen verfeindet. Jede Partei hat einen anderen mächtigen König als Beschützer erkoren, und die Assassinen, unsere Unterdrücker, haben dazu den 'Fantastischen' gewählt, sodass seine Soldaten Kämpfer eines Landes angreifen müssten, dem er Schutz gelobt hat.“

    „Wo liegt denn diese Affeninsel?“, wollte Kopf wissen, der gerade die Unke Margarete, die auf seinem Schoß saß, abknutschte, „königliche Affen haben mich schon immer interessiert.“

    „Wir reden, fühlen, denken zwar wie Menschen“, setzte der König sein Klagelied unbeirrt fort, „trotzdem sind wir Tiere und glauben an keinen Gott. Ich weiß nicht, ob es Zufall ist, aber wir lebten Jahrtausende friedlich zusammen, dann kamen diese Leute, die sich als die wahren Gläubigen bezeichnen, und alles versinkt im Chaos.“

    Wieder schwieg der König; er wirkte müde und abgezehrt. „Ich bin meines Amtes müde“, sagte er nach einer Weile, „und habe, seit Prinzessin Bufonella das Zeitliche segnete, keinen Nachfolger.“ Er sah erst mich, dann den Magister an. „Wenn Ihr wollt, Ihr Herren, könnt Ihr mein Königreich haben. Ich schenke es Euch.“

    Ich sprang auf, legte die Hand aufs Herz, verbeugte mich und sprach: „Euer Majestät, ich fühle mich tief geehrt; allein, ich bin in die Welt gezogen, um ein Ritter zu werden, dem Kaiser zur Ehre und meiner Gebieterin zu Gefallen; halten zu Gnaden, aber ich fürchte, ein Königreich wäre dabei nur hinderlich.“

    Der König der Unken und Frösche seufzte. „Da habt Ihr natürlich Recht, lieber Herr, aber man kann ja mal fragen. Gehabt Euch wohl! Traudel bringt euch wieder zurück.“ Der König stand auf, verbeugte sich knapp und watschelte mit schweren Schritten davon.

    „Wo liegt denn diese Insel?“, fragte der Magister, als wir uns auf dem schwankenden Rückweg befanden. „Abgesehen von den Affen, diesen König Fantastisch hätte ich mir gerne mal angesehen.“

    „Ach, Herr, weit weit weg von hier, so weit, dass es mir manchmal vorkommt, als liege diese Insel in einem noch unbekannten Winkel der Welt.“

    „Bei meiner Seel´“, rief ich, nachdem uns die Traudel wieder zurück an die Steilkante gebracht hatte, „was ist das für eine Drecksreise! Gibt es denn in dieser Welt auch nur Krieg und Verderben? Kreuzdonnerwetternochmal! Ich bin ausgezogen, um Heldentaten zu vollbringen, und nicht, um mir das Gejammer von irgendwelchen Leuten anzuhören! Das ist meine Art nicht! Fehlt noch, dass irgend ein König von mir verlangt, ich solle ihm wie ein gemeiner Mönch eine Messe lesen und die Beichte abhören! Pah und wieder pah! Wenn ich nicht bald ein paar Heldentaten vollbringe, stütze ich mich kopfüber ins Meer!“

    Der Magister knurrte irgendetwas.

    „Ich bin mir fast sicher, dass dieser Sumpf betörende Dünste ausdampft“, sagte er nach einer Weile, „anders kann ich mir mein Benehmen vorhin nicht erklären. Käme bei klarem Verstand doch nie auf die Idee, eine Kröte zu küssen –“

    „Unken sind keine Kröten.“

    „Unke oder Kröte – einerlei, alles glibbriges, kaltes Volk. Allerdings: Küssen konnte die Dame! Schmeckten nicht mal schlecht, die Schmatzer... Wie eine Mischung aus Bohnenkraut und Petersilie.“

    „Wo Ihr das sagt... Auch mir kam es so vor, als hätten sich meine Sinne verwirrt. Hab mich die ganze Zeit gefragt, wieso dieser Winzling von König auf dieser Riesensteinbank Platz nehmen konnte. Passte irgendwie nicht zusammen. Und dann, vorhin schien es mir, als bestehe Traudels Kleid nicht aus Tuch und Zwirn, wie ich zunächst annahm, sondern aus Blütenblättern, Algenfäden, Entengrütze und Schnüren von Froschlaich. Und noch etwas. Ich wundere mich, woher diese vielen Unken kommen, die da überall herumsitzen und jammern, wo doch alle nur weiblich sind.“

    „Es sind Windsbräute. Sie empfangen aus der Luft. Bei einem starken Wind gebären sie Söhne, bei einem schwachen Töchter. Da seit seit etwa sechs Wochen nur schwache Winde gehen, dürfte das die Erklärung sein.

    Ich sah den Magister von der Seite an. „Manchmal weiß man nicht, was man glauben soll.“

    „Das weiß man nie.“

    „Es sei denn, es handelt sich um die Lehren unserer heiligen Mutter Kirche.“

    „Viel bedenklicher scheint mir die Tatsache“, sagte Kopf, „dass wir wieder einmal bis auf ein paar Pinten Wein keinen Proviant fassen konnten.“

    Unter dergleichem angenehmen Geplauder erreichten wir den Strand.


    Mundburt erfährt eine Standpauke und kehrt wieder um.

    Schon auf den ersten Blick sah ich, dass die Schnigge immer noch festsaß, und dass Wurst verschwunden war. „Wo ist denn Wurst hin?“, fragte ich, als wir wieder an Bord waren.

    „Als er den leeren Proviantkorb sah, hat er sich verkrochen“, sagte Gerlind. „Und, was habt ihr zu vermelden?“

    Ich berichtete.

    Plötzlich sprang Gerlind auf. „Was?“, schrie sie und stemmte die Arme wie eine alte Xanthippe in die Hüften, „höre ich recht? Du hast ein Königreich abgelehnt? Du Idiot! Ta ta ta, so dumm kann auch nur einer sein, der Mundburt heißt!“

    „Beruhige dich doch, mein Lämmchen! Was soll ich mit einem Königreich, in dem Krieg und Elend herrschen und in dem es nichts zu holen gibt? Ich bin in die Welt gezogen –“

    Gerlind stampfte so heftig mit dem Fuß auf, dass das Wasser in der Bilge hin und her schwappte.„Halunke!“, schrie sie, „noch ein Wort, und ich erwürge dich mit meinen eigenen Händen! Dein Rittertum geht mir mittlerweile vollkommen am Arsch vorbei! Herr im Himmel! Der Kerl verschenkt ein Königreich, ich fasse es nicht!“

    „Ähem“, machte Kopf, „wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Mamsell... Hat Mundburt nicht Recht? Was soll er mit einem wertlosen Königreich anfangen, wo er über Kröten, Unken und Frösche herrscht?“

    „Papperlapapp, Ihr haltet Euch jetzt mal schön zurück!“, fauchte Gerlind, „worüber ein König herrscht, ist doch scheißegal, und seien es Regenwürmer oder Kakerlaken, oder kennt Ihr ein Königreich, wo die Untertanen alle Philosophen sind ? Na seht Ihr! Pressen doch alle nur ihre Völker bis auf´s Blut aus, diese Herrschaften, und wenn ein Volk nicht mehr liefern kann, ziehen sie in den Krieg und nehmen sich das nächste vor! Doch darum geht es hier nicht. Er hätte sich König nennen können, der Trottel, versteht Ihr? KÖNIG! Mit einer Krone auf dem Kopf und den Insignien der Macht auf dem Nachthemd! Um das Recht, seinen Nachttopf auszuschütten, hätten sich die Hofschranzen blutige Nasen geschlagen! Mancher Minister oder Dompfaff hat ein Vermögen für sein Amt hingegeben, das weniger wert ist, und er kriegt ein Königreich geschenkt und lehnt es ab!“ Gerlinds Augen funkelten mich böse an. „Was meinst du wohl, du Affenschwanz, was würde wohl deine... deine Hä-hä-härrin, hä, sagen, wenn sie erführe, dass sie durch deine Dummheit nicht die Geliebte eines Königs werden kann? Verdammt nochmal, glaubst wohl, ein dummer Ritter ist mehr wert als ein armer König!“ Tränen traten in ihre Augen. „Und wir müssten nicht länger auf diesem beschissenen Kahn und diesem endlosen Meer herumschippern!“

    Aua! Der Hieb saß! Für einen Augenblick sah ich meine Hand mit dem königlichen Siegelring, vor dem die Herrin das Knie beugt und haucht: „Majestät, stehe ganz zu Euren Diensten!“ Doch so schnell wollte ich nicht klein bei geben. „Und du glaubst wirklich!“, rief ich, „die Herrin würde sich zu mir auf diese Kröteninsel begeben? Da kann ich nur lachen!“

    Auf einmal wurde Gerlind ganz leise, gefährlich leise. „Du bist und bleibst ein hoffnungsloser Fall“, zischte sie. „Hat man den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Teutscher Nation schon jemals in Rom gesehen? Nein! Er reist überall in der Welt herum*, ist so arm wie dein Froschkönig, und das Volk liegt ihm trotzdem zu Füßen! Und weißt du auch warum, du Schwachkopf? Weil er etwas hat, was du nicht hast: Macht und Einfluss!“

    Oha, dachte ich, bei allen Furien, das kann ja heiter werden! Die Jungfer hat Haare auf den Zähnen wie ein Waschbar am Schwanz! Doch innerlich musste ich ihr Recht geben. Da hatte ich wohl einen Riesenbock geschossen und die Gelegenheit des Jahrhunderts verpasst. Ehrlich gesagt, die Macht reizte mich nicht, denn Macht führt nur zu schlaflosen Nächten, und auch die Tatsache, dass meine Gebieterin nun nicht Mätresse eines Königs werden konnte, bekümmerte mich nicht sonderlich, doch die Aussicht, dass mir Gerlind mein angebliches Versagen bei jeder Gelegenheit wieder auftischen würde, bewog mich zum Handeln.

    „Also gut!“, rief ich, „ehe du noch ein Loch in den Schiffsboden trittst, ich gehe zurück und nehme das Königreich an!“ Ergriff mein Schwert und meinen Halben Zahn und sprang von Bord.

    _______

    * Damals gab es die sog. Reisekaiser, die in Ermangelung anderer Möglichkeiten in den Ländern des Reiches herumreisten, um ihre Existenz zu beweisen. ° Wie es einige Jahrzehnte zuvor die Truppen des Kaisers nach der Schlacht um Sizilien mit gefangenen arabischen Söldnern taten.

    Forts. folgt

  • Mundburt sucht einen König und kehrt mit Schnecken zurück.

    Sogleich eilte ich auf die Steintreppe zu und sprang sie hoch, denn es galt, keine Zeit zu verlieren; schon schnallte Orion seinen Gürtel um°. Ich überwand den glitzernden Bachgrund und stand bald darauf am Fuß der Wanderdüne, doch die rührte sich nicht. Bald erreichte ich den Kamm der Düne. Über mir wölbte sich der Himmel wie polierter Stahl, mit tausend Lichtpunkten übersät. Vor mir die Senke, in der wogende Nebelschwaden ein fantastisches Spiel trieben, und wieder war das Jammern der armen Unken zu hören, die den Verlust ihrer Freiheit beklagten.

    Mich überkam eine große Niedergeschlagenheit. Dieses Königreich erschien mir so fremd, so unheimlich, so abartig, so kalt und abweisend, dass es mich grauste. Doch konnte ich schon wieder wortbrüchig werden und jetzt auch noch Gerlinds gesteigerten Zorn auf mich ziehen? Schließlich saßen wir für unbestimmte Zeit im selben Boot, und ich hatte keine Lust, mich wochenlang anmaulen zu lassen. Dann doch lieber Krötenkönig werden!

    Verzweifelt blickte ich nach oben, in den gestirnten Himmel. „Gnädiger Gott!“, rief ich, „hilf! Sende mir ein Zeichen! Du, der die Macht und die Herrlichkeit –“ Mir blieb das Stoßgebet auf der Zungenspitze liegen. Was hatte ich da gerade gesagt? „...die Macht und die Herrlichkeit...“ Das war die Lösung. Gott hatte die Macht und die Herrlichkeit, nicht der Mensch! Auch ein König ist nicht Inhaber, sondern nur Verwalter der Macht, die ihm Gott verliehen hat. Wenn aber ein König keine Beziehung zu Gott hat, weil er ein Tier ist, wie der König der Unken dort, dann kommt seine Macht nicht von Gott, sondern aus unheimlichen Quellen. „Niemand, noch nicht einmal Gerlind“, rief ich in die Nebelschwaden hinein, „kann mich zwingen, eine Macht anzunehmen, die nicht von Gott kommt!“ Hob den Zahn, hieb mit dem Schwert wild durch die Luft, stach mit der Pike nach den Sternen. „Sei ein Mann und zeig ihr, wer die Segel setzt, auch wenn´s nicht einfach wird!“

    Fest entschlossen drehte ich mich auf dem Absatz um und lief so schnell ich konnte die schlafende Düne hinunter. Als ich mich der Beke näherte, hörte ich ein eigenartiges Geräusch, ein leises Schleifen und Kratzen, ein verhaltenes Ächzen und Flüstern, das mich entfernt an die Töne erinnerte, die nachts in der Wand meiner Kammer auf Burg Schwarzenraben zu hören gewesen waren. Sie stammten von den Kakerlaken, die dort Hochzeit hielten. Es war jetzt so dunkel, dass ich keine Einzelheiten erkennen konnte, sosehr ich auch versuchte, die Finsternis zu durchdringen. Erst als ich über den Bach sprang, entdeckte ich die Ursache dieser Geräusche: Schnecken, Tausende, ach, was sag ich, Millionen von Schnecken, die das Bachbett entlangzogen, und deren glänzender Schleim den Boden überzog.

    Spontan warf ich mich auf die Knie und dankte Gott. Wieder hatte er in seiner großen Güte ein Wunder gewirkt, und wieder eines, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Zog meinen Harnisch aus (der in Wirklichkeit ein Hafersack war), und füllte ihn randvoll. Denn Schnecken, über Holzkohle gebacken und mit Wein übergossen, sind eine Köstlichkeit, die ich oft mit meinem Vater genossen hatte. „Wie weise bist du doch, Herr!“, rief ich in den gestirnten Himmel, „denn was soll mir ein Königreich, wenn ich darin verhungern müsste!“ Jetzt galt es nur noch, Gerlind davon zu überzeugen, dass ein Sack Schnecken in unserer Lage mehr wert war als die schönste Königswürde, für die man sich nichts kaufen kann.

    ___________

    ° Um der untergehenden Sonne nachzujagen.

    Mundburt besteht ein Wortgefecht, und Wurst erzählt eine Geschichte.

    Auf dem Schiff hatte sich inzwischen Katerstimmung breit gemacht, denn der Hunger, nach dem Römer Plautus die einzig zuverlässige Zeitanzeige, wütete. Als ich an Bord kletterte, hörte ich deutlich das Knurren und Kollern leerer Mägen und das Knistern ausgedörrter Eingeweide. Doch ehe ich die frohe Botschaft des unverhofften Segens verkünden konnte, nahm mich Gerlind in den Arm, drückte mir einen Kuss auf und säuselte: „Muh, mein Dickerchen, dein Täubchen war wohl ein wenig zu spröde vorhin... ´tschuldige! Hab mir folgendes überlegt...“

    „Ich übrigens auch!“, sagte ich.

    „Was meinst du?“

    „Was meinst du?“

    „Sag du zuerst.“

    „Nein, sag du zuerst.“

    „Nein, sag du zuerst.“

    „Ich?“

    „Ja du.“

    „Warum gerade ich?“

    „Einer muss ja mal anfangen, sonst stehen wir morgen früh noch an der gleichen Stelle.“

    „Na schön, der Klügere gibt nach. Hab mir überlegt, dass die Macht –“

    „Genau das hab ich auch.“

    „Na was?“

    „Du warst dran.“

    „Hab mir überlegt, dass die Macht, so sie nicht von Gott kommt –“

    „Genau das hab ich mir auch überlegt.“

    „Ach ja?“

    „Was ach ja?“

    „Du denkst doch sonst nicht über solche Dinge nach!“

    „Woher willst du denn das wissen? Oder kannst du in meinen Hirnkasten hineinschauen?“

    „Nein, aber ich höre, was herauskommt!“

    „Alte Unke!“

    „Alter Bock!“

    „Den Bock verbitte ich mir!“

    „Geschenkt. Du hast dir überlegt, dass die Macht, so sie nicht von Gott kommt –“

    „Na? Nun weiter!“

    „Was weiter?“

    „Ich hab mir überlegt, dass die Macht, so sie nicht von Gott kommt – du bist dran.“

    „Woher soll ich das wissen? Sind schließlich deine Gedanken.“

    „Gib zu, Gerlind, dass du nicht mehr weiter weißt.“

    „Ich geb gar nichts zu.“

    „He, ihr beiden Streithammel!“, rief Kopf, „unser Abendbiss läuft weg!“

    In der Tat, einige Schnecken waren aus den Sack, den ich hinter die Reling gestellt hatte, heraus gekrochen und schickten sich gerade an, über Bord zu springen. „Na dann!“, rief ich, „hurtig Feuer geschlagen und den Wein kredenzt! – Wurst, Ihr könnt herauskommen! Es gibt Schnecken in Rotweintunke!“

    Während Kopf die Glut hochschürte und glühende Augen in die Kohlen blies, sagte ich: „Oben auf der Düne ist mir klar geworden, dass die Macht, die dieser König zu vergeben hat, nicht von Gott kommt, weil Tiere nicht an Gott glauben, auch wenn sie sich wie Menschen benehmen. Also kann diese Macht nicht hilfreich sein.“

    „Und das Königtum, das darauf gründet, ein Mummenschanz“, fügte der Magister hinzu.

    „So ähnlich dachte ich auch“, gestand Gerlind.

    „Na dann sind wir uns ja wieder mal einig“, schloss ich.

    Endlich kam Leben in unsere hohlen Wangen; die Schnecken mundeten ausgezeichnet, und der Wein tat ein übriges, um die Stimmung zu heben. Wurst, der keinen Hunger hatte, weil er, wie er sagte, immer noch bis obenhin voll war, meinte: „Ich hätte da eine nette Geschichte.“

    „Hmmpf... mampf... schmatz... schlürf... nur zu!“, kam es von allen Seiten.

    „Als die Tiere noch reden konnten“, begann Wurst, „ging ein alter Löwe im Wald spazieren und betete so vor sich hin, als er auf einen Kohlenbrenner traf, der sich Äste abhieb. Sobald der Nichtsnutz den Löwen sah, warf er seine Axt nach ihm und verwundete ihn schwer am Schenkel. Hinkend lief der Löwe davon, um Hilfe zu suchen. Schließlich traf er auf einen Mann, der mitleidig die Wunde so gut es ging untersuchte, reinigte und Moos hineinstopfte; dann befahl er dem Löwen, ja die Fliegen abzuwehren, damit sie ihren Schmeiß nicht hineinlegten; er wolle unterdessen Wundkraut holen. Der Löwe, von Schmerzen getrieben, spazierte weiter im Wald umher, als ihm eine alte Kräuterhexe entgegenkam. Kaum, dass sie den Löwen sah, so fiel sie vor Schrecken hintenüber und blieb wie tot liegen. Der Wind blies ihr Kleid, Unterrock und Hemd bis über die Schultern vom Leib weg.

    Mitleidig trat der Löwe näher, um zu sehen, ob sie nicht Schaden genommen habe, und als er ihre... äh... hmm...nun ja... wie soll ich sagen... sah, rief er: 'Ach, du arme Frau, wer hat dich so blessiert!' Er winkte einem Fuchs, der zufällig des Weges kam, und rief ihm zu: 'Herbei, Gevatter, schnell, hier ist Hilfe nötig!' Als der Fuchs herbei war, sagte er zu ihm: 'Lieber Freund und Gevatter, jemand hat diese Frau hier auf schändliche Weise verletzt, es ist ein schrecklicher Spalt. Das muss dieser Kohlenbrenner gewesen sein, der mit der Axt nach mir geworfen hat. Oh oh oh, die arme Frau!' Der Fuchs schnupperte. 'Ich glaub, die Wunde ist nicht mehr ganz frisch', sagte er, 'ich werde sie bewedeln, damit keine Fliegen hinein krabbeln.' – 'Ja, tu das, lieber Freund!', rief der Löwe, 'du hast einen schönen langen Wedel, also wedele nur, Gevatter, wedele! Ich gehe indes Moos holen, um es hineinzustopfen. Und immer gewedelt, Gevatterchen, tüchtig, tüchtig, wie sich´s gehört.' – Damit ging er fort, um Moos zu holen. Der arme Fuchs wedelte, so gut er konnte, hierhin, dahin, dorthin, inwendig, auswendig, oben, unten.“

    Wurst schwieg.

    „Warum erzählt Ihr nicht weiter?“, fragte ich und ließ einen herrschaftlichen Rülpser ab.

    „Hmm... ich weiß nicht...“

    „Was wisst Ihr nicht?“

    „Ich weiß nicht, ob ich wirklich weitererzählen soll, schließlich esst Ihr gerade, und dann haben wir eine Dame unter uns.“

    „Ha!“, rief Gerlind, „Dame? Meint Ihr mich? Da macht Euch mal keinen Hals! Ich denke mal: Der Fuchs entdeckt ihr Arschloch. Na und?“

    Wurst, verblüfft: „Ihr kennt die Geschichte?“

    „Nein, aber ich kenne Euch, hab Euch schließlich unters Hemd geschaut. Also wacker weiter erzählt! Was man angefangen hat, sollte man auch zuende bringen.“

    „Na gut denn. Ä-hem. Inzwischen war die Frau erwacht und ließ einem nach dem anderen fahren, sodass es ganz erbärmlich zu stinken anfing. Dem Fuchs wurde gar übel zu Mute, er wusste zuletzt nicht mehr, wohin er sich kehren und wenden sollte. Da sah er, dass sie hinten noch ein anderes Loch hatte, aus dem der gräuliche Stinkewind hinausblies.

    Endlich kam der Löwe mit dem Moos zurück, von dem er wohl etliche Fuder in den Armen trug, und machte sich daran, das Moos in die vermeintliche Wunde zu stopfen, worauf die Alte anfing, wie eine läufige Katze zu schnurren. 'Ach, Gevatter!', rief der Fuchs, 'ich bitte dich, stopft nicht alles da hinein, da unten ist noch ein anderes Loch, aus dem es entsetzlich stinkt.' Nachdem die Frau versorgt war, gingen sie weiter. Bald kamen sie an eine Stadt, um die gerade neue Mauern errichtet wurde. 'Diese neuen Mauern taugen nichts', sagte der Fuchs, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, 'bei meinem Wedel, für eine Stadt wie diese sind sie doch gar zu erbärmlich; sechs Stadttürme davon bläst doch ein einziger Kuhfurz um. Es ist immer gut für eine Stadt, etwas Solides um sich zu haben, sei´s auch nur, um Stapelgeld kassieren.' – 'Aber lieber Freund, wollte man sie in der Art wie Straßburg, Rom oder Ferrara befestigen, so würde das schon wegen der ungeheuren Kosten unmöglich sein.' – 'Was diese Kosten betrifft, um die du dich sorgst, Gevatter, so wollte ich dem Stadtrat gegen ein angemessenes Weindeputat eine ganz neue, kostengünstige Art angeben, wie man sie bauen könnte.' – 'Und auf welche Weise?' – 'Halte nur reinen Mund, dann will ich´s dir sagen. Statt gemauerter Wände sollen sie Holzgerüste mit sieben Etagen bauen; darein sollen sie im Ernstfall ihre Frauen und Mägde mit hochgezogenen Röcken legen, mit den Hintern stadtauswärts, und zwar in schönster, architektonischer Ordnung; die ganz großen unten, die mittelgroßen in die Mitte und die kleinen oben. Wer könnte einer solchen Mauer etwas anhaben? Es wäre ein unüberwindliches Bollwerk, nicht nur der abschreckenden Winde wegen, sondern weil weder Stein noch Eisen solche Stöße aushielte wie dieser Schutzschild aus nackten Weiberärschen.' – 'Donnerwetter!', rief der Löwe, 'darauf muss erst mal einer kommen! Nur, was ist mit den Fliegen? Würden die nicht scharenweise angezogen und das schöne Bauwerk beschmutzen?' – 'Das lass mal meine Sorge sein, Gevatter! Da würd ich tüchtig ausfegen! Bei Gott! Ich würde die Mauer nach allen Regeln der Kunst bewedeln, und du hast gesehen, welch prächtigen Wedel ich habe!' – 'Gut, gehen wir in die Stadt, eine Kanne Wein könnte jetzt nichts schaden.'

    Auf dem Weg zum Rathaus begegnete ihnen ein Mann, der zwei kleine Mädchen in einem Quersack über den Schultern trug, das eine vorn, das andere hinten. 'Sagt doch, guter Mann', redete ihn der Fuchs an, 'warum tragt Ihr die Kleinen im Sack über der Schulter? Dem Aussehen nach dürften sie in einem Alter sein, in dem Kinder schon laufen können!' – 'Das ist wohl wahr', erwiderte der, 'laufen können die beiden.' – 'Und warum tragt Ihr sie trotzdem mit Euch herum?' – 'Das ist deshalb, weil es in dieser Stadt siebenmalsiebenmalsieben Tricks und Kniffe gibt, junge Mädchen zu verführen. Und weil ich will, dass meine beiden unbeschädigt in die Ehe gehen, trage ich sie mit mir herum.' – 'Wie lange tut Ihr das schon, lieber Mann?' – 'An die fünf Jahre.' – 'Oha! Nun denn, hat es was genutzt?' – 'Was die da vorne betrifft, die ich immer unter Augen habe, so glaube ich allerdings, dass sie noch Jungfer ist, doch beschwören möcht ich´s nicht; was aber die dahinten angeht, von der kann ich wirklich nichts sagen.'“

    „Wahrhaftig!“, rief Gerlind, da Wurst schwieg, „Ihr seid ein lustiger Geselle! Solltet eine Narrenkappe aufsetzen und Euch am Hofe eines Fürsten als Alleinunterhalter verdingen! Wo habt Ihr nur diese Geschichten her?“

    „Von meiner Großmutter! Sie war Wurststopferin bei König Farcimen und hat so manches gehört, was sich die Wurstmacher während der Arbeit – “ Das Ende des Satzes ging in allgemeinem Gelächter unter.


    Mundburt nimmt einen Flüchtling von der Insel der Fleischfresser auf.

    Das Gelächter schwoll immer mehr an; Kopfs Hinterkastell donnerte wie eine Steinlawine. Dies und unser gewaltiges Schenkelklopfen setzten das Boot in Bewegung, es rutschte von der Sandbank, und bald erreichten wir die offene See. Gerlind, Kopf und ich begaben sich zur Ruhe und versuchten, den harten Bootsplanken etwas Schlaf abzutrotzen; Wurst, der versicherte, er könne doch nicht schlafen, übernahm die Bordwache und setzte eine Buglaterne auf.

    Gegen Mitternacht weckte mich leises Plätschern, denn der Schlaf eines Seemanns gleicht einer Sternschnuppe: Er kommt aus heiterem Himmel, ist leicht und erlischt schnell. „Hört Ihr nichts“, rief ich Kopf zu. „Himmel, was riecht hier so?“ In der Luft lag ein entsetzlicher Gestank.

    „Ich wollte Euch gerade wecken. Irgendetwas nähert sich dem Boot!“

    Angestrengt späte ich in die Richtung, aus der das Geräusch kam; allmählich zeichnete sich undeutlich ein dunkler Gegenstand ab, der genau auf uns zukam; schließlich erkannte ich zwei spitze Ohren und eine kugelförmigen Nase, die eine gute Spanne vor den Ohren im Wasser trieb und offensichtlich einem Hund gehörte.

    „Um Himmels Willen!“, rief der Hund prustend, „liebe Leute, lasst mich an Bord, die Menschen sind hinter mir her!“

    Was soll´s, dachte ich, wo vier Leute Platz haben, kommt auch noch ein Fünfter unter; außerdem ist es die Christenpflicht eines Kapitäns, jedermann aus Seenot zu retten, egal, ob ihn Haut, Fell, Federn, Warzen, Schuppen oder sonstwas bedecken. „Ahoi, steigt nur ein!“, rief ich, „hurtig, hurtig, für Euch ist noch allemal Platz!“

    Inzwischen waren die anderen aufgewacht und betrachteten neugierig den Schwimmer, der mit Anzeichen schwerer Erschöpfung über die Reling kletterte. „Puhhh...birrr... Danke, liebe Leute, heißen Dank“, keuchte der Hund mit rauer Stimme und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell, sodass wir Deckung nehmen mussten, „beim Maul meiner Großmutter, das war knapp!“

    Von Backbord, von der Seite, aus welcher der Zugestiegene gekommen war, hörte man Hundegebell und Männerstimmen. „Bitte, Herr Kapitän“, sagte der Flüchtling, „löscht die Laterne, das Licht ist meilenweit zu sehen!“

    „Wie heißt die Insel, von der Ihr gekommen seid?“, wollte Kopf wissen, „und warum stinkt es hier so?“

    „Die Insel heißt Sarkophagos, ihre Bewohner nennen sich Sarkophagen*. Der Gestank kommt von den Schlachthöfen.“

    „Und was sind das für Leute auf dieser Stinke-Insel?“

    „Nichts als Paternosterhelden, Credoheuchler, Rosenkranzdiebe, Kuttenkacker, Bettpisser und Säulenheilige, alles arme Leute, die sich von dem ernähren, was ihnen Wurst ist. Die übrigen sind Metzger. Allen gemein ist der wahnsinnige Hunger auf Fleisch. Geht da bloß nicht hin, das rat ich Euch!“

    Vom Hinterschiff erscholl Geklapper; Wurst, dieser Angsthase, hatte wieder einmal das Weite gesucht.

    „Warum ist der Herr weggelaufen?“, fragte der Flüchtling.

    „Habt Ihr ihn nicht gesehen? Ihr seid ein Hund, er ist eine Wurst.“

    „Ach so! – Lieber Freund, kommt zurück!“, rief der Hund, „ich tue Euch nichts! Ich bin ein zivilisierter Hund und weiß mich zu beherrschen. Außerdem würde ich nie jemanden verspeisen, der mir Asyl bietet!“

    „Ihr seid eine Zierde Eurer Rasse“, sagte Gerlind. „Doch warum musstet Ihr fliehen?“

    „Hat das nicht Zeit bis morgen? Bin hundemüde!“

    „Verstehe. Nur eine Frage noch, bitte. Wir waren doch gerade noch bei der Unkeninsel! Sind wir denn in der kurzen Zeit so weit abgetrieben!“

    „Das ist wohl möglich! Wir liegen hier schon verteufelt nahe am Rande der Welt. Musste ziemlich hart gegen diese verdammte Strömung ankämpfen, um auf Kurs zu bleiben. Ich rate dringend, die nächste Insel oder ein Festland anzusteuern, sonst laufen wir Gefahr, herunterzufallen.“

    Herrje, dachte ich. Dergleichen hatte ich schon befürchtet; wie sonst war diese Meeresströmung zu erklären, die uns immer schneller vorantrieb, wenn nicht das Wasser über den Rand der Erdscheibe ablief? Für einen Moment blieb mir das Herz stehen. Wenn weder Insel noch Festland kämen und wir bereits hart auf den Rand der bekannten Welt zutrieben? Ohne Ruderpinne und Wind vorm Segel, um den Kurs zu ändern?

    „Lieber Freund“, sprach ich, „gibt es denn überhaupt noch eine Insel oder ein Festland hier in der Nähe?“

    „O ja, doch, die Affeninsel! Wenn wir dort an Land gehen, sind wir gerettet!“

    „Viel wichtiger als die Affeninsel“, sagte Gerlind, „ist jetzt eine Mütze Schlaf für jeden. Unser neuer Gast ist ja völlig erschöpft! Wie heißt Ihr denn, lieber Mann?“

    „Mein erster Herr rief mich Kynos**.“

    „Schon wieder so ein Fremdwort! Ich werde Euch Hund nennen. Übrigens, seid Ihr auch Magister?“

    „Nein.“

    „Na endlich ein normaler Mann!“, rief Gerlind, wobei ihr Blick nachdenklich auf Hunds Rute ruhte.

    Ich konnte nicht mehr einschlafen. Wegen des Gestanks und der Befürchtung, demnächst irgendwo zwischen der Säulen der Unterwelt zu enden, drückte ich kein Auge zu. Auch Kopf lag mit offenen Augen und zugeklemmter Nase da und starrte in den Himmel.

    „Herr Magister, schlaft Ihr?“, flüsterte ich.

    „Nein.“

    „Dürfte ich Euch etwas fragen?“

    „Ja.“

    „Ihr seid ein gelehrter Mann, haltet Ihr es für möglich, dass wir tatsächlich auf den Rand der Welt zutreiben und in die Unterwelt abrutschen könnten, wie manche behaupten?“

    „Es ist möglich, aber auch wieder nicht.“

    „Wie meint Ihr das?“

    „Manche Schiffe versinken hinter dem Horizont und kommen nicht wieder, andere kommen zurück.“

    „Hmmm... Und von der Besatzung derer, die zurück kommen, hat da schon mal jemand den Rand der Welt gesehen?“

    „Manche behaupten sie hätten, andere wiederum nicht.“

    „Hmmm... Das heißt, nichts genaues weiß man nicht... Was meint Ihr persönlich?“

    „Ich persönlich? Hmm, nun ja... Dass wir in die Unterwelt abrutschen könnte halte ich für eher unwahrscheinlich. Ich glaube nicht an eine flache Scheibe, ich glaube, die Erde hat die Form einer Schüssel mit hohen Rändern, in der das Meer hin- und herschwappt.“

    Das wusste ich besser. „Würdet Ihr es auf einen Versuch ankommen lassen und bis zum Ende der Welt segeln?“

    „Lieber Herr, darüber habe ich mir noch nicht den Kopf zerbrochen. Außerdem besitze ich kein Schiff.“

    „Und wenn Ihr denn eines hättet?“

    „Hmm... nun ja... man müsste sehen...“

    „Was redet Ihr da für einen Unsinn, Kopf!“, rief Wurst, der unbemerkt herangeschlichen war. „Der Grieche Anaximander hat schon vor tausendfünfhundert Jahren den Umfang der Erde zu zweitausend Stadien berechnet und behauptet, sie habe die Form einer Kugel. Demnach müssten wir, wenn wir lange genug segeln, am anderen Ende der Welt wieder hochkommen.“

    Der Magister fuhr auf. „Hoho, wollt Ihr behaupten, Wurst, ich lüge?“

    „Haha, hört sich aber, Kopf, so an!“

    „Ihr seid ein –“

    „Und Ihr ein –“

    „Schluss jetzt!“, rief ich, „noch ein Wort, und ihr geht beide über Bord!“

    ______________________

    * gr. = Fleischfresser, ** gr. = Hund

    Forts. folgt

  • Kynos berichtet von den Verhältnissen auf der Insel der Sarkophagen.

    Keine Tageszeit ist weniger geeignet zum Anhören von Geschichten als die vor dem Morgenbiss, besonders wenn die Nacht schlecht war, der Kopf dick und der Magen leer. Dessen ungeachtet fing Kynos, während Gerlind die letzte Blutwurst und verdünnten Wein auftischte, schon an, seine Geschichte zu erzählen.

    „Hey, Herr Hund“, unterbrach sie ihn nach den ersten Worten, „wollt Ihr, bevor Ihr loslegt, nicht wenigstens einen Happen essen? Ihm müsst doch hungrig sein!“

    Kynos verbeugte sich leicht. „Das ist sehr freundlich, Jungfer, aber ich bin nicht hungrig, und wenn Ihr meine Geschichte gehört habt, werdet Ihr verstehen, warum ich keinen Appetit auf Fleisch habe und auf Blutwurst erst recht nicht.“

    „Na dann schießt mal los!“

    Der Gestank hatte sich fast vollkommen verflüchtigt, also waren wir wieder eine gehörige Strecke weiter getrieben, was meine Laune nicht gerade steigerte.

    Wir frühstückten. Kynos fing an: „Das Licht der Welt erblickte ich im Schlachthaus vor dem Fleischertore zu Sarkosia. Meine Eltern waren zwei Bullenbeißer, von der Sorte, die Ochsen anfallen und bei den Ohren packen, und auch ich wurde in dieser Kunst unterrichtet. Doch bald zeigte es sich, dass ich als Diener eines Meisters des Blutvergießens, Metztger genannt, nicht taugte, und man jagte mich davon. – Was würdet Ihr wohl, meine lieben Retter, zu all den Streichen sagen, die ich da sah, von den Bubenstücken, die dort getrieben wurden! Die Menschen, die dort arbeiten, vom kleinsten bis zum größten, vom jüngsten bis zum ältesten, sind Leute mit einem weiten Gewissen und ohne Gefühl, scheren sich einen Dreck um die Gesetze. An jedem Schlachttag wimmelt es von Mägden und Dienern, alles Verwandte der Fleischer, die dort die besten Stücke abholen, natürlich ohne zu bezahlen. Aber noch viel abscheulicher ist der Umgang der Metzger untereinander. Um nichts und wieder nichts jagen sie sich im Blutrausch das Schlachtmesser in den Wanst, als wenn sie ein Kalb abstächen. Es ist ein Wunder, wenn mal ein Tag vergeht ohne Balgerei, Zank und Totschlag. Jeder hält sich für einen Tyrannen, der nach gut Dünken über Kalbskeulen, Ochsenzungen, Schweinenacken, Rinderfilets und dergleichen verfügen kann. Kurz, ich hörte jüngst von einem vernünftigen Menschen den Ausspruch, auf unserer Insel gäbe es drei Orte, an denen sogar der König nichts zu sagen habe: Im Kloster Sta. Maria, in der Straße de la Casa, und im Schlachthaus.

    Nachdem ich drei Nächte unter freiem Himmel geschlafen hatte, kam ich bei einem Herrn unter, der mich lehrte, einen Korb im Mund zu tragen, damit zum Schlachthof zu rennen und für ihn Fleisch zu holen. Einmal – es war noch in der Morgendämmerung – rief mich eine zarte Frauenstimme bei meinem Namen. Ich blickte zu dem Fenster hoch, aus dem die Stimme gekommen war und erblickte ein feines schönes Mädchen, das mir zuwinkte. Die Haustür öffnete sich, ich lief hoch; und siehe da, sie nahm das Fleisch aus dem Korb und warf dafür einen alten Pantoffel hinein. Dann gab sie mir einen Fußtritt, und ich kollerte die Treppe hinunter. Das Fleisch ist weg, dachte ich und schlich mit schmerzenden Knochen betrübt davon, und die Prügel kommen! Ich täuschte mich nicht. Als mein Herr den Pantoffel sah, zog er seinen Degen und tat einen solchen Stoß nach mir, dass Ihr meine Lebensgeschichte jetzt nicht hören würdet, wäre ich nicht hurtig zur Seite gesprungen, so sehr hatte ihn der Verlust des Fleisches erzürnt. Denn es vergeht kein Tag, wo er und seine Leute nicht mindestens zehn Schock Blutwürste, zwanzig Paar Ochsenbacken, sechs Kalbskeulen und drei Spanferkel in sich hineinschlagen, und dabei gilt diese Familie noch als zurückhaltend im Fleischverzehr. Da der Schlachthof diesen riesigen Fleischbedarf nicht liefern kann, schlachten viele Leute privat; fast jeder Mann, der einen Hof besitzt, hat darin eine kleine Metzgerei mit einem Verkaufsstand. Geschlachtet wird alles, was vier Beine hat, fliegt, schwimmt, kackt, pisst, bläht; es ist schon vorgekommen, dass kleine Kinder, die auf dem Boden krabbelten, abgestochen wurden. Alles wird verwertet, nichts weggeworfen. Was sich nicht direkt zum Verzehr eignet, kommt kleingehackt in die Wurst –“

    „Hoho“, rief Wurst, „wollt Ihr behaupten, ich –“

    „Herr Kynos will überhaupt nichts behaupten!“, fuhr ich dazwischen, „er will nur seine Geschichte erzählen! Also seid gefälligst still und hört zu! Bitte, Herr, fahrt fort!“

    „Die Ausdünstungen und Ausscheidungen des Schlachtviehs verpesten die Luft; das Gebrüll und das Quietschen der Fleischwölfe lässt empfindsame Menschen nachts nicht schlafen. Oh, oh, oh, was ist aus diesem herrlichen Land geworden! Wo sind die anmutigen Fluren, die sonnendurchfluteten Haine, die heiligen Hügel und dunklen Wälder, die bezaubernden Gärten, heiteren Bäche, kristallklaren Seen, munteren Quellen? Wo fände man noch ein Überbleibsel des glücklichen Lebens, wo die ebenso keusch wie zärtlich ausgedrückten Leidenschaften hier einen Schäfer schmachten, dort eine Schäferin seufzen ließen, wo eine liebliche Schalmei dem verlockenden Klang der Panflöte antwortet? Alles der Viehwirtschaft geopfert! Nicht zärtliche Liebe regiert die Menschen, sondern die Gier nach Fleisch, Fleisch, Fleisch... Und immer wieder Fleisch... Besonders gerne gegessen wird halbgar gegrilltes Ochsenfilet sowie durch den Wolf gedrehtes Schweinefleisch. Und um den Wahnsinn auf die Spitze zu treiben, heizen gewissenlose Werber die Gier noch an, indem sie an allen Ecken und Enden des Landes stark übertriebene Bilder von rohem, blutigen Fleisch aufstellen.“

    Kynos schwieg.

    „Ihr hättet ein Dichter werden sollen“, meinte Gerlind lächelnd.

    „Ein großer Dichter des Altertums behauptete“, sagte Kopf, „es sei für einen Schriftsteller oder Erzähler schwer bis unmöglich, sich der Satire zu enthalten.“

    „Dies war keine Satire“, erwiderte Kynos, „das ist unsere Wirklichkeit!“

    „Jetzt verstehe ich“, sagte Wurst, „warum Ihr keinen gesteigerten Wert auf Fleischnahrung legt, und ich vertraue Euch. Demnach seid Ihr geflohen, weil Ihr diese Verhältnisse nicht mehr ertragen konntet?“

    „Oh, oh, wenn ich´s doch wäre!“, rief Kynos und rang die Pfoten, „mir wären viele Prügel erspart geblieben!“

    „Und warum tatet Ihr´s nicht?“

    „Weil ich... weil ich...“

    „Nur heraus damit!“

    „Weil ich zu gerne Wu... wu...“

    „Nun sagt es schon!“, rief Wurst, „weil Ihr zu gerne Wurst gegessen habt! Wenn es nicht gerade Cervelatwürste waren, verzeihe ich Euch.“

    „Ich danke Euch, lieber Herr, und schwöre, nie in meinem Leben würde ich noch eine Cervelatwurst anrühren, schon garnicht, seit ich Euch kennengelernt habe. Außerdem waren es nie ganze Würste, die man mir zuwarf, sondern immer nur Zipfel und Reste.“

    „Wie ging´s nun weiter?“, fragte ich. „Wenn es nicht das Übermaß an Fleisch war, was trieb Euch dann zur Flucht?“

    „Wenn Ihr meine ganze Geschichte hören wollt, ist das nicht so schnell erzählt.“

    „Gut erzählt ist besser als schlecht gesungen.“

    „Weiter demnach. Ähem. Ich nahm Reißaus, flüchtete in die Felder, ging, wohin mich das Schicksal führte und verbrachte wieder eine unruhige Nacht unter freiem Himmel. Anderntags führte mich das Schicksal zu einer Herde Schafe. Da glaubte ich, endlich meine wahre Berufung gefunden zu haben; denn nichts schien mir für einen Hund ein edleres Geschäft, als dass man die Demütigen und Schwachen gegen die Mächtigen und Stolzen verteidigt. Als mich einer der Hirten bemerkte, lockte er mich zu sich, und ich ging hin. Er streichelte mir den Rücken, blickte mir in die Augen, betrachtete meine Zähne, sah wie jung und gut gebaut ich bin und rief den anderen Hirten zu: „Hey, der hat alle Merkmale eines vortrefflichen Wachhundes! Den behalten wir!“ Ich senkte den Kopf und wedelte Einverständnis. Der Hirte schüttete mir in einem einen tüchtigen Napf Milchbrei vor, gab mir zu trinken; dann legte er mir ein stacheliges Halsband um. Zum Dank hütete ich die Herde mit Fleiß und Sorgfalt und verließ sie nur am Nachmittag, um im Schatten eines Baumes oder am kühlen Bachgrund auszuruhen. Dort dachte ich über mein verflossenes Leben nach, aber damit Ihr mich nicht für einen Schwätzer haltet, schweig´ ich davon.

    Ich hatte mir eingebildet, in der Schäferidylle ein geruhsames Leben führen zu können, doch nur zu schnell lernte ich, dass Idyllen nur für den idyllisch sind, der sie nicht kennt. Wenn ich auch tagsüber etwas Müßiggang pflegen konnte, so kam doch nachts oft kein Schlaf in meine Augen, weil uns die Wölfe keine Ruhe ließen. Wie oft musste ich mitten in der Nacht die Stimme der Schäfer hören: „Auf, Manuel (so nannten sie mich), der Wolf!“ Lief dann, den anderen Hunden voran, in die Richtung, in die sie zeigten. Dann ging es über Berg und Tal, durch Feld und Wald, über Dornsträucher, Hecken, Hohlwege und Heerstraßen, bis ich des Morgens, ohne auch nur die Spur eines Wolfes erschnüffelt zu haben, atemlos, matt und müde zurückkam, und wieder hatte der Wolf ein Schaf oder einen Widder zerrissen und halb aufgefressen. Ich wollte rasend darüber werden, dass mein Eifer und meine Wachsamkeit so wenig fruchteten. Wenn dann der Herr kam, so gingen ihm die Schäfer mit dem Fell des gerissenen Tieres entgegen. Er schalt dann ihre Nachlässigkeit und befahl, die Hunde wegen ihrer Faulheit zu prügeln. Nachdem ich dreimal unschuldig bestraft worden war, entschloss ich mich, meinen Plan zu ändern und nicht wie bisher hinter dem Wolf herzuhetzen, sondern ihm aufzulauern, denn dass es kein gewöhnlicher Wolf sein konnte war mir schon seit einiger Zeit klar.

    Normalerweise liegt wollige Wolfslosung um den Mordplatz, ganze Schüsseln voll; sein ewig gleiches Siegel. Mit unerfindlicher Hast verschlingt er die Bissen und verbrennt sie im Magen; während er vorne noch frisst, gibt er das erste hinten wieder von sich. Doch nichts dergleichen konnte ich entdecken.

    Wieder ging der Lärm in einer sehr dunklen Nacht los, und da entdeckte ich Wölfe, vor denen man keine Herde der Welt schützen kann: Zwei Schäferknechte griffen einen der fettesten Widder und töteten ihn auf solche Art, dass es aussah, als habe ihn ein Wolf gerissen. Ich war außer mir, als ich sah, dass die Hüter der Herde die Wölfe waren, die in ihrer Gier nach Fleisch unschuldige Wesen töteten und andere grundlos des Mordes beschuldigten, und dass ich mir umsonst die Pfoten wund gelaufen hatte. Hilf Himmel, dacht´ ich, welch freche Büberei, wenn der Verteidiger angreift, die Schildwache beiseite blickt, der Vertraute zum Dieb wird, der Hüter mordet!“

    „Weiter!“, drängte Gerhild, „haltet Euch nicht mit unnützen Betrachtungen auf! Die Welt ist nun mal so und wird auch noch in tausend Jahren so sein.“

    „Nun ja“, meinte Kopf, „aber unglücklicherweise kann man in dieser Welt ohne ein Mindestmaß an gegenseitigem Zutrauen nicht leben. Aber ich will jetzt keine Moralpredigten halten. Erzählt nur weiter.“

    „Gerne. Ich überlegte hin und her, wie ich dem Herrn klarmachen könnte, wer hier die Wölfe waren, aber die Erfahrung hatte mir gezeigt, dass er seinen Knechten mehr glaubte als seinen Hunden. – Als der Besitzer der Herde am anderen Morgen kam, zeigten sie ihm das Fell mit den Fleischresten, die besten Stücke hatten sie in einer Grube versteckt. Ich brannte vor Begierde, die wahre Ursache ans Tageslicht zu bringen, erhob anklagend meine Stimmer, lief zu der Grube und begann zu graben. Kaum hatten die Schäfer begriffen, was ich vorhatte, gingen sie mit Knüppeln auf mich los. Ich rettete mich in eine unübersichtliche Schlucht und verbrachte dort in trüber Stimmung zwei Tage und zwei Nächte.“

    „Und dort fasstet Ihr den Entschluss zu fliehen“, sagte Gerlind.

    „Oh nein, noch nicht, liebe Jungfer, denn immer noch hoffte ich, auf der Insel ein ehrenhaftes und auskömmliches Dasein fristen zu können. – Aber bevor ich weitererzähle, würde ich gerne einen Schluck Wasser trinken, meine Kehle ist ausgedörrt und rau wie ein Schabeisen.“

    Kynos legt den wahren Grund für seine Flucht dar.

    Während sich Kynos erfrischte, betrachtete ich ihn. Ein Bullenbeißer, dachte ich, aber seine Augen sind gut. – Manche Menschen behaupten, ein Hund habe keine Möglichkeit, sein Herz wirklich zu offenbaren, weil er kein Mienenspiel habe. Dann schau deinem Hund doch in die Augen, Mensch, und du wirst seine Seele erkennen! –

    „Euer Liebden“, fragte ich, „wieso sprecht Ihr unsere Sprache?“

    „Das ist schnell erklärt“, sagte Kynos, „ich bin der Sohn einer Menschenmutter. Durch einen Zauber gebar meine Mutter zwei Hundewelpen, die sie aufzog und das Sprechen lehrte. Aber das ist eine andere Geschichte.“

    „Trotzdem finde ich es ziemlich erstaunlich“, beharrte ich, „Ihr redet wie ein Mensch, aber Ihr seid immerhin noch ein Tier.“

    „Darüber habe ich mich auch schon gewundert“, sagte Kopf, „und wenn ich es nicht mit eigenen Ohren hörte, würde ich´s nicht glauben, wo doch die Vernunft den Menschen vor dem Tier auszeichnet.“

    „Ha, was redet Ihr da, Kopf!“, rief Gerlind, „der Mensch, das vernunftbegabte Tier, da kann ich nur lachen! Gut, einige Philosophen und Weise ausgenommen, aber die Menge ist doch nicht vernünftig, eher das Gegenteil ist der Fall! Und nach alldem, was Herr Hund bisher berichtet hat, scheint es mir wenig wahrscheinlich, dass sich daran jemals etwas ändern wird!“

    „Ich fürchte, die Jungfer hat Recht“, sagte Kynos, „denn was ich jetzt erzähle, passt genau in diese Kerbe! Ähem!

    Am dritten Tag machte ich mich, von Hunger und Durst getrieben, wieder auf den Weg. Lange lief ich durch kahle, bis auf den Grund abgeweidete Felder, auf denen kein Halm mehr wuchs, kein Strauch, der nicht bis auf den Stumpf abgefressen war. Bald nahmen Hunger und Durst so zu, dass ich mich entschloss – denn Apollon schützt die Mutigen – mein Glück in der Stadt zu suchen, deren Türme gerade vor mir in den Himmel wuchsen. Dort traf ich auf einen Mann, der Almosen sammelte, ein braver, frommer Kavalier, und ich fragte ihn, warum er das tue, denn die hohen Mauern, festen Türme, prächtigen Kirchen, die stattlichen Bürgerhäuser erweckten bei mir nicht den Eindruck der Bedürftigkeit. 'Ach, lieber Herr', jammerte er, 'in dieser Stadt ist eine fürchterliche Seuche ausgebrochen, eine schädliche Pest, gegen die schleunige und wirksame Mittel erforderlich sind. Die Spitäler sind überfüllt, die Kranken liegen auf Gängen und Fluren, viele sind schon gestorben, über und über beschmutzt, denn sie können nicht mehr an sich halten.' Als ich nach der Ursache fragte, gab er zur Antwort: 'Keiner weiß, woher die Seuche kommt. Manche Ärzte nehmen verdorbenes Wasser an, andere schlechte Luft, die Pfaffen gar eine Strafe Gottes. Zu allem Übel steht die Stadt mittlerweile auch noch vor dem Bankrott, denn da keine Kaufleute mehr durchziehen und kaum jemand noch arbeitet, hat sie auch keine Einnahmen. Ach, es ist ein großes Unglück!', lamentierte er weiter, 'eine furchtbare Geißel hat uns getroffen, mit der der HERR uns für unsere Sünden strafen will.' Ich fragte: 'Werden denn alle krank, auch kleine Kinder?' Er gab zurück: 'Nein, die unschuldigen Kleinen bleiben verschont. Die Geistlichkeit sagt, das sei überhaupt der Beweis für die Gottesstrafe, denn sie sind noch frei von Sünde.' – 'Wie sieht es den bei den Hilfreichen Vätern und Mildtätigen Schwester aus? Werden auch die verschont?' Der Kavalier wandte mir ein überaus bekümmertes Gesicht zu. 'Das ist etwas, lieber Herr, das mir zusätzlich starken Kummer bereitet. Auch die werden krank... Anscheinend ist kein erwachsener Mensch von Sünden frei, auch der frömmste nicht!' Und wieder fing er an, jämmerlich über das Schicksal der Stadt zu klagen.

    Unsere Wege trennten sich. Überall sah ich kümmerliche Gestalten, die in ihrer Dürftigkeit vermutlich nicht einmal der Großtürke von Konstantinopel als Sklaven annehmen würde. Zum Teufel, dachte ich, was soll mir eine Stadt, in der man nicht das liebe Brot verdienen kann! Schon wollte ich diesen traurigen Ort wieder verlassen, da kam mir eine Idee. Du warst Bullenbeißer, Laufbursche, Hirtenhund, dachte ich, ha, warum verdienst du deinen Brei nicht mal als Berater?“

    Der Erzähler trank einen Schluck Wasser. Nachdem er sich das Maul geleckt hatte, fuhr er fort: „Ich bin ein Tier und besitze keine Vernunft – ob ich diesen Umstand beklagen soll, weiß ich nicht. Jedenfalls kann ich bis heute nicht glauben, dass diese Seuche eine Strafe des Menschengottes war, denn was wäre das für ein Gott, der Ungerechte und Gerechte gleichermaßen züchtigt? Auf einmal wurde mir klar, warum sich die diebischen Hirten alle Augenblicke die Hosen heruntergezogen über den Graben gehockt hatten: Irgendetwas in dem Fleisch hatte ihre Verdauung ruiniert, eine Substanz, deren Natur und Herkunft niemand kannte. Die Kinder blieben verschont, nicht, weil sie frei von Sünde waren, sondern weil sie noch kaum Fleisch gegessen hatten. Für mich war die Ursache der Seuche klar: Der zweifelhafte Genuss verdorbenen Fleisches.“

    Wurst sprang auf und drehte sich ein paarmal um seine eigene Achse. „Wie schön!“, rief er dabei, „dann bin ich ja in Zukunft vor Nachstellungen sicher!“

    „Vorsicht, Wurst“, grinste Gerlind, „roh und halbgar ist etwas anderes als gesalzen und geräuchert!“

    „Auf dem Weg zum Rathaus“, fuhr Kynos fort, „überlegte ich mir einen Vortrag, in dem ich darlegte, wie die Seuche und die Finanzkrise beendet werden könnten, und ließ mich beim Bürgermeister melden. Nachdem man mich eine gehörige Weile warten ließ, bat man mich hinein. Anwesend waren der Bürgermeister, ein stattlicher Herr mit einem großen, roten Kopf, ferner der Stadtkämmerer, ein kleines, mageres Männchen, das ständig grinste, sowie der Leiter des städtischen Spitals, ein noch junger Mann mit übernächtigten Augen und schlohweißen Haaren. 'Meine Herren', fing ich an, 'ich habe das Unglück, welches Eure Stadt getroffen hat, mit Erschütterung gesehen, ein Unglück, so groß und einzigartig, dass man nirgends seinesgleichen findet. Zwar besitze ich nicht den Stein der Weisen, kenne auch den unteilbaren Punkt nicht, nach dem die Mathematiker der ganzen Welt seit Jahrhunderten forschen, und die Quadratur des Zirkels ist mir ein Buch mit –“

    „Wie kommt es, Herr“, unterbrach Magister Kopf Kynos´ Wortschwall, „dass man Euch bei dieser Rede nicht sofort wieder hinauswarf? Denn diese hohen Herren lieben zwar ihr eigenes Geschwätz, dem anderer Leute jedoch hören sie ungern zu.“

    „Weil ich zwei Tugenden besitze, mit denen man als Hund immer punkten kann: Demut im Blick und Bescheidenheit im Auftreten, denn

    dem Hunde, wenn er wohl gezogen,

    ist selbst ein weiser Mann gewogen*.

    Bei meinem Eintritt hechelte ich freundlich, wedelte eifrig und blickte treuherzig in die Runde, Verrichtungen, die uns die Herzen der Menschen öffnen und alle Hindernisse beseitigen. – Ähem, nun weiter. 'So sprecht, aber fasst Euch kurz', sagte der Bürgermeister, nachdem ich meine Vorrede beendet hatte, 'was schlagt Ihr vor?' – 'Euer Ehren', sprach ich und wedelte heftig, 'primo schlage ich vor, den Verzehr rohen und halbgaren Fleisches zu verbieten und stattdessen Gemüse, Obst und Salat zu empfehlen, denn ich glaube nicht an eine Strafe Gottes, sondern an eine natürliche Krankheit, die aus dem Fleisch kommt.' Die Herren blickten mich erstaunt an, ihren Blicken entnahm ich, dass sie mich für einen ausgemachten Narren hielten. „Und wie stellt Ihr Euch die Wiederherstellung der Finanzen vor?', meckerte der Kämmerer grinsend. 'Auch darüber habe ich nachgedacht, lieber Herr', sagte ich und führte aus: Man solle dem Rat vorschlagen, dass jeder Bürger dieser Stadt von vierzehn bis sechzig Jahren monatlich einen Tag bei Wasser und Brot faste, und der Betrag dessen, den er sonst für Fleisch, Wein, Obst und Gemüse ausgeben würde, soll auf Eid und Gewissen ohne einen Heller Unterschleif in die Stadtkasse bezahlt werden; so stünde ich dafür, dass die Stadt in zwanzig Jahren schuldenfrei sei. Und die Fastenden würden mehr Vorteil als Nachteil davon haben, denn sie würden Gott gefallen und zudem ihrer Gesundheit dienen. – Während ich sprach, verfinsterten sich die Mienen der drei Herren immer mehr. „Was!“, schrie der Bürgermeister, „wir sollen auf Fleisch verzichten und wie das blöde Vieh Kraut fressen? Seid Ihr noch bei Trost?“ Er zog an einer Schnur; eine Glocke ertönte, eine Tapetentür öffnete sich, zwei mit Piken bewaffnete Stadtknechte sprangen heraus und drangen auf mich ein. Ich rannte sofort weg und fand wie durch ein Wunder zur Stadt hinaus, doch die Schergen verfolgten mich. Endlich gelang es mir, sie abzuschütteln und mich in eine Höhle über dem Strand zu verbergen. Doch meine Vorschläge hatten den Bürgermeister derart erzürnt, dass er weiter nach mir suchen ließ. Schließlich sah ich Euer Licht und entschloss mich, die Gelegenheit zu nutzen und zu fliehen.“

    _____________

    * Goethe

    Forts. folgt

  • Mundburt und seine Leute geraten in Seenot.

    „Nun habt Ihr den Grund für meine Flucht erfahren, meine lieben Retter“, schloss Kynos seinen Bericht, „und ich bitt Euch, setzt mich an der nächsten Insel auf Land, denn nach allem, was man hört, regiert dort ein weiser König, der jeden nach seiner Art leben lässt und auf den Rat vernünftiger Leute hört. Dort will ich mein Glück versuchen, denn ich denke, dort schätzt man den Rat eines weisen Mannes.“

    „Auch ein Weiser kann Verwirrung stiften“, stichelte Wurst.

    „Hoffentlich gibt es da unverseuchte Lebensmittel“, sagte Kopf, „lange halte ich dieses Zwangsfasten nicht mehr aus. Mag Fasten auch gottgefällig sein, verhungern und verdursten sind es mit Sicherheit nicht.“

    Ich betrachtete besorgt eine schwarze Wolkenwand, die über dem Horizont lag und immer weiter in den Himmel wuchs. Plötzlich fuhr ein kalter Windstoß über das Schiff und blähte das Segel. Im nächsten Moment bäumte sich das Meer auf, der Wind schwoll zum Sturm an, mächtige Wogen stiegen aus den Tiefen auf, von Poseidons wütendem Atem zu Gebirgen aus Wasser und Gischt aufgepeitscht. Die Luft, eben noch hell und klar, war jetzt finster und aller Durchsichtigkeit beraubt, Schleier aus Wasser und Hagel verdeckten die Sicht. Ich sprang auf, wurde jedoch sofort von einer Sturmboe wieder auf die Bretter gezwungen.

    „Ho!“, schrie ich, „Zeisinge los, holt Segel ein, aber dalli! Hände ans Gangspill, schnell, schnell! Anker eingeholt und aufgesetzt! Halsen, halsen, was das Zeug hält! Leeseite Helmstock los und beigelegt! Backbord in die Stengen, streicht, streicht“, alles so, wie ich es bei den Schiffern vom Bodensee gehört hatte. Doch meine Kommandos blieben erfolglos, nicht nur, weil das Pfeifen, Heulen, Donnern, Krachen meine Schreie verschluckte, sondern weil sich Kopf, Wurst und Hund unters Achterkastell verkrochen hatten. Nur Gerlind, meine gute Fee, war noch an meiner Seite; verzweifelt versuchten wir, das Segel zu reffen, doch eine rasende Boe riss uns die Schoten aus den Händen, und schon hing die Leinwand in Fetzten.

    „O ihr nichtswürdigen Wassermemmen!“, schrie ich wütend in den tosenden Lärm hinein, „kotz auf Haupt und Reliquien! Ihr Scheißkerle verkriecht euch wie feige Waschweiber, dieweil uns der Sturm in Stücke reißt! Hab euch Freunde genannt, doch was seid ihr? Elende Verräter!“ Eine Wasserhose verschloss mir den Mund, denn der Aufruhr der Elemente nahm noch zu. Rundum alles zerrissen, alles in Unordnung, alles in Bewegung; überall Blitze, Donner, Wasser, Hagel; es schien, als bekämpften sich die Elemente gegenseitig, alles vollkommen undurchsichtig, grau, schwarz, kein Licht mehr außer Wetterleuchten, flammender Wolkenrisse und Gewitterschein – unser Schiff, ein Spielzeug aufgepeitschter Wogen.

    In das entsetzliche Getöse hinein erscholl jetzt Kopfs Stimme, der, auf Knien rutschend und mit erhobenen Fäusten, herangekrochen kam. „Hu, hu, hu“, rief er, „dreifach, ach, ach, vierfach gesegnet sind die, welche da ihren Kohl pflanzen oder den Acker abfischen! Wäre ich doch bloß Ackerschollen-Fischer geblieben, anstatt mein Heil auf dieser verfluchten See zu suchen, denn da war festes Land! Warum musste ich unbedingt meinen eigenen Kopf haben! Ach, ach, ach, es ist alles frilore*, bi Gott – hilfe, ich ertrinke!“ Eine Woge überschüttete ihn mit einem Schwall Wasser, prustend lamentierte er weiter: „Ha, gibt es eine größere Köstlichkeit als einen guten festen Schweinestall – –“

    Eine riesige Woge, schaumgekrönt, rollte heran, hob das Schiff in schwindelnde Höhe – laut rief ich den Himmel um Beistand an – der Sturm schüttete fassweise Gischt über Bord, sodass ich befürchtete, wir würden absaufen. Doch der HERR erbarmte sich; wir soffen nicht ab, sondern das Wasser stand mir nur bis zu den Knien. Doch es war nur allzu klar: Noch so eine Woge würde das Ende bedeuten. „Alle Mann an Deck“, schrie ich verzweifelt, „die Pütze raus, und lenzen, lenzen!“ Doch da fiel mir ein, dass wir nur einen Eimer hatten, nämlich den aus der Küche, ein Nichts gegen die anrollenden Wassermassen, aber immerhin mehr als die bloßen Hände. „Gerlind!“, rief ich, „den Eimer, schnell“, doch die lag keuchend über der Reling und fütterte die Fische.

    Kopf, der immer noch auf den Knien lag, lamentierte weiter. „Buh buh hu hu Herrgott hilf, wir gehen unter!“ Jetzt blickte er mich verstört an. „Liebster Freund, Väterchen, Schwager, Onkel“, kreischte er, „habt Ihr nicht etwas Gebratenes da, denn zu saufen werden wir genug haben!“ Dann krächzte er mit irr verzerrter Stimme:

    „Reichlich saufen, wenig fressen

    und die Welt herum vergessen

    wird demnächst mein Wahlspruch heißen!“

    Wieder rollte eine Woge auf uns zu, und Kopf schrie: „Hilf, Bruder, hilf! Feder und Dinte her, will mein Testament machen – ach, ach, ach, nur ein kleiners Testamentchen, bäh, bäh, bäh, ich ertrinke, ich ersaufe... nur ein klitzekleines Testamentchen...!“ Anscheinend war der Querkopf vor Angst wahnsinnig geworden.

    Gerlind, grün im Gesicht, taumelte, sich an der Reling festhaltend, auf mich zu. „Den Eimer, rasch!“, rief ich, „sonst saufen wir bei der nächsten Riesenwelle ab!“

    „Den gibt es nicht mehr“, stammelte sie.

    „Wie, was sagst du da, den gibt es nicht mehr? Ich scheiß in die Taljen, und warum nicht?“

    „Hab ihn als Nachttopf benutzt, und beim Ausspülen ist er mir aus der Hand gerutscht und untergegangen.“

    Ich merkte, wie mir die Milz schwoll und schickte einen gotteslästerlichen Fluch los, denn Fluchen tut dem Eingeweide gut.

    Wieder rollte eine dieser Furcht erregenden Riesenwogen auf uns zu. „Dann bete!“, rief ich, „bete!“

    Gerlind betete, und ich rief alle Heiligen beiderlei Geschlechts an, deren Namen ich kannte, und auch die, deren Namen ich nicht kannte. Die Riesenwoge kam, hob uns hoch, hoch, hoch –

    – auf einmal schwebte ich über einer endlosen schneeweißen Fläche, und eine strahlende Helligkeit umgab mich. Sie ging von einer Gestalt auf einem goldenen Thron aus, deren Antlitz so gleißend hell war, dass ich den Anblick nicht ertragen konnte und den Blick senkte. Um den Thron herum schwebten Engel mit silbernen Flügeln, die auf gläsernen Posaunen bliesen, und eine liebliche Musik erfüllte den Äther. Zur Rechten des Göttersitzes saß eine heitere Gestalt, in ein köstliches Gewand gehüllt, deren liebevoller Blick mich traf und mein Herz vor Freude erbeben ließ. Zur Linken erkannte ich deutlich eine Frauengestalt, umgeben von einer Gloriole aus flammenden Strahlen, eine Mondsichel war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt°.“ Davor kniete eine unzählbare Schar von Heiligen, Märtyrern und Gerechten, in immerwährende Anbetung versunken.

    Ein anderes Zeichen erschien jetzt am Himmel: ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben feuerspeienden Rachen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf jedem seiner sieben Köpfe. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab°°. Jetzt verdunkelte sich der Himmel, Blitze zuckten, Donner krachten –

    – und schon ging es mit atemberaubender Geschwindigkeit wieder abwärts, hinein ins Wellental, das Bugspriet tauchte die Nase ins Wasser, der Kiel schnappte frische Luft, ich rief: „Gerlind, Gerlind, wenn ich dich auch nicht minnen kann, so schätze ich dich doch über alles in der Welt!“ – denn ich war fest davon überzeugt, jeden Augenblick ins Paradies, das ich eben erblickt hatte, hinüberzuwechseln, allerdings aus dem schrecklichsten aller Gräber heraus, wie schon Homer sagt, aus dem Seemannsgrab, denn wer auf See

    hätt´ sein Schicksal so in Händen doch,

    dass er könnt sagen: Morgen leb´ ich noch?

    Doch nichts dergleichen geschah; die Woge rauschte davon, der Sturm ließ nach, die Luft wurde klarer, die Wolkendecke riss auf und gab den Blick auf strahlend blauen Himmel frei. Ich fiel auf die Knie, um Gott zu danken und fand mich bis zum Bauchnabel im Wasser.

    ___________

    * Verloren. ° Eine Mondsichelmadonna, eine im MA beliebte Mariendarstellung. °° Nach Offb, 12, 1-5. So ungebildet, wie der Verf. seinen Lesern weiß machen will, ist er anscheinend nicht. Zumindest kennt er sich in der hl. Schrift aus.

    Mundburt hält eine Strafpredigt. Wursts Ende.

    Bald beruhigte sich das Meer, und unser Schiff, in leichtem Seegang rollend, trieb friedlich dahin. Schon sah ich, wie sich im Norden die Wolken zerteilten und spürte einen milden Südost.

    „Ihr Jammerlappen könnt herauskommen“, rief ich nach achtern, „die Gefahr ist vorbei!“

    Kynos, mit Wurst auf dem Rücken (denn auf eigenen Füßen wäre der bei seiner geringen Größe ersoffen), watete heran. „Lieber Herr Ritter, mein Wohltäter und Seelenarzt“, fing er an, „versteht doch! Wir Hunde –“

    „Tatata“, unterbrach ich ihn, „redet keinen Unsinn und nennt mich nicht Ritter! Wenn ich einer wäre, würde ich jetzt anders handeln, aber nicht zu Eurem Vergnügen! Ihr habt das Maul eines Wolfs, aber das Herz eins Waschbären! Tausend Teufel über Euch! Ich dachte, ich hätte Freunde – doch was hab ich?“

    „Eh du dich weiter echauffierst und unnütze Tiraden vom Stapel lässt“, unterbrach mich Gerlind scharf, „fänd ich es besser, du würdest überlegen, wie wir das Wasser wieder aus dem Kahn kriegen. Denn wie ich die Herren einschätze, sind sie erpicht darauf, endlich mit Hand anzulegen, um die Scharte wieder auszuwetzen, die ihnen ihre Verzagtheit eingebrockt hat. Kopf, Ihr versteht Euch doch sonst auf allerlei Kunststückchen. Habt Ihr keine Idee?“

    „Natürlich hab ich eine!“, rief Kopf und fuchtelte mit den Armen, „nur die Eimer hergereicht! Nur wacker her damit, liebe Freunde... Nein, ich fühle kein Quäntchen Furcht mehr, alles wie weggeblasen... Auch das allerschrecklichste Unglück könnte mich nicht mehr erschüttern... Sogar der Anblick von Skylla und Charybdis ließ mich jetzt völlig kalt.“ Er sah mich blöde an. „Aber muss es denn sofort sein, lieber Freund, das Lenzen, das Pumpen, das Schütten, hat das nicht bis morgen Zeit? Fühle mich momentan sauwohl.“

    „Wie?“, rief ich verblüfft, „Ihr kniet bis über die Hüften im kalten Wasser und fühlt Euch sauwohl?“

    „Ja, es ist wegen meiner Hämorrhoiden. Das viele fehlgeleitete Lachen hat die Säfte nach unten gedrückt und mir ein feuriges Arschloch beschert... Doch jetzt, im kühlen Wasser –“

    Es war klar: Mit dem Magister war vorerst nicht zu rechnen. Er hatte wieder den Kopf verloren, und wie es schien, endgültig.

    Nun war guter Rat gefragt. Mit dem Grapen* und den Trinkbechern Wasser zu lenzen, das kübelweise hereingeschwappt war, würde eine Ewigkeit dauern. Kynos, dem die Scham in den Augen stand, machte, vom Drang beseelt, sich nützlich zu erweisen, den Vorschlag, rechts und links ein Loch in die Planken zu schlagen; dann könne das Wasser bei jeder Neigung des Schiffes abfließen, und der Rest ließe sich dann leicht ausschöpfen.

    „Tod und Teufel!“, rief ich, „Mensch, Hund, seid Ihr wahnsinnig? Auf eine solche hirnstutzige Idee die kann auch nur ein eingefleischter Passgänger wie Ihr kommen! Kein echter Seemann schlägt ein Loch in sein Schiff, eher geht er mit ihm ehrenvoll unter!“

    Kopf schlug Abwarten vor; vielleicht, meinte er, würde uns ja irgendwann, wie einstens Odysseus, eine hohe Woge an Land setzen, und eine Königstochter, die gerade am Strand spazieren ginge, „denn nach Ansicht vieler antiker Autoren sei ein Spaziergang am Strand unter warmer Sonne der höchste aller Genüsse –“

    „Land, Land!“, rief da plötzlich Wurst aus (der immer noch auf Kynos´ Rücken ritt), „Land! Kinder, Mut gefasst, wir sind gerettet! Seht Ihr dort den Hafen? Da, da! Der Leuchtturm! Hei, ich sehe den Hafendamm, ich sehe eine Menge Leute, die uns zuwinken! Ahoi, ahoi, ahoi! O ihr Engel, ihr Nothelfer, ihr hilfreichen Brüder und Schwestern, ich komme!“

    Was jetzt geschah, spielte sich so überraschend ab, dass jede Warnung zu spät kommen musste. In seinem Überschwang richtete sich Wurst auf; in diesem Moment kränkte das Schiff stark nach Backbord, denn da wir manövrierunfähig waren, hatte es sich parallel zur Dünung gelegt. Ich schrie noch: „Wurst, zurück, zurück!“, denn genau vor ihm tauchte ein riesiges Maul mit fürchterlichen Zahnreihen auf, doch es war bereits zu spät. Wurst verlor den Halt und fiel genau in diesen Schlund hinein, das Maul klappte zu und verschwand.

    Gerlind, Kopf, Hund, ich – wir alle waren starr vor Schrecken. Das Ungeheuer hatte uns unbemerkt beobachtet, den günstigen Moment genutzt, und wartete jetzt auf die nächste Gelegenheit. Als Erste fasste sich Gerlind. „Der arme Wurst“, meinte sie trocken, „jetzt wird er nie erfahren, ob man vom Baden in Milch satt wird.“

    _____________________

    * eiserner Kochtopf

    Mundburt und seine Leute werden wie Könige empfangen und verköstigt.

    Doch der arme Wurst hatte richtig gesehen, die guten Leute von der Insel schickten uns Hilfe. Hunderte von Booten, Kähnen, Barken, Dschunken, Galeeren, Koggen hielten direkt auf uns zu, alles herrliche Schiffe mit blendend weißen und voll aufgetrimmten Segeln, was mich allerdings sehr verwunderte, denn bei uns herrschte wieder einmal absolute Windstille. Ein Zweimaster drehte bei, machte fest, ich traute meinen Augen nicht: Statt des Besansegels hing dort ein Sack oder riesiger Beutel, aus dem es zischte und fauchte. Unter viel Ahoi!, Hoho! und rauem Gelächter ging es ab in den Hafen, wo wir von einer jubelnden Menge empfangen wurden.

    Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass es sich hauptsächlich um Weibervolk handelte; kaum ein Mann war zu sehen. Und noch etwas anderes verwirrte mich: Über dem Gejohle und Gejauchze lag ein Geräusch, das ich nicht deuten konnte, obgleich es mir bekannt vorkam.

    „Womit, um Himmels Willen, haben wir diesen Empfang verdient?“, sagte ich zu Gerlind, „sogar der Kaiser wäre damit wohl zufrieden.“

    Auf dem Hafendamm erschien ein Mann in einer mit viel Gold und Silber beladenen Amtstracht, vor der Brust ein schweres Medaillon mit dem Stadtwappen. Er stellte sich als Willibold von Lerchenhorst, Bürgermeister, vor und bat uns, doch an Land zu kommen; er wolle uns aufs Rathaus führen, wo wir trockene Kleider empfangen und uns restaurieren könnten.

    Doch ich weigerte mich, die Mole zu verlassen, bevor nicht für unser Schiff gesorgt sei, denn jetzt sah ich erst, wie jämmerlich unsere Schnigge zugerichtet war: Das Großsegel hing in Fetzen, Großschot, Niederholer und etliches Tauwerk abgerissen; der Bugkorb eingedrückt und noch einiges Andere – kurz, mit diesem Fahrzeug war kein sicheres Fortkommen mehr.

    „Lieber Herr“, sagte der Bürgermeister, „ich verspreche Euch bei meiner Ehre, dass Euer Schiff wieder in tüchtigen Stand gesetzt wird. Die Bewohner dieser Insel sind vortreffliche Handwerker und Zimmerleute, wie man sie sogar in Venedig nicht besser findet. Sie tun es gerne und ohne einen Heller zu verlangen.“ Ich wollte den Grund für diese Freundlichkeit erfahren, doch der Amtsträger schüttelte den Kogf. „Nicht jetzt, Herr“, sagte er, „später ist noch genug Zeit für Erklärungen.“

    Nachdem wir in trockenen Kleidern waren, führte uns der Bürgermeister in einen festlich erleuchteten Saal und sprach: „So, meine lieben Herren, und auch Ihr, ehrbare Jungfer, lasst es Euch schmecken!“

    Noch waren diese Worte nicht verhallt, da eilten Tafeldiener und schlugen Ess- und Trinktische auf und bedeckten sie mit duftenden Linnen, Tellern, Servietten, Schüsseln; trugen große Krüge, Flaschen, Schalen, Humpen, Becher auf und bestreuten Tische und Boden mit Rosenblüten. Ein dicker schwitzender Küchenmeister erschien, einen ganzen Schweif von Haushofmeistern, Oberhofmeistern, Mondhofmeistern, Haupt-, Neben-, Über-, Unter-Brotmeistern, Mundschenken, Maulschenken, Stadtschenken, Dorfschenken, Seeschenken, Vorlegern, Nachlegern, Übers-Knie-Legern, Kellnern, Löfflern, Gablern und Dienern hinter sich. Sie schleppten, gefolgt von drei keuchenden Küchenjungen, vier mächtige Fleischplatten heran, so groß, dass sie mich an den Zwinghof von Burg Wolkenstein erinnerten. Der Oberhofmeister klatschte in die Hände; sofort sprangen Diener herbei und schoben uns Stühle unter.

    Du lieber Gott, wie wir das schmausten, zechten, jubilierten, denn wir waren ausgehungert wie Kirchenmäuse in der Fastenzeit. Ihr könnt es mir glauben: Zu essen war da genug, und zu trinken noch viel mehr. Die Tische bogen sich unter den erlesensten Köstlichkeiten. Immer wieder forderten uns bunt betresste Lakaien mit den anmutigsten Verbeugungen zum Essen und Trinken auf; sogar dem Kaiser von China, von dem berichtet wird, dass ihm die gebackenen Tauben ins Maul flögen und der Wein durch die Nasenlöcher, dürfte kein üppigeres Mahl bereitet worden sein. Mich störte auch nicht, dass uns der Tross mit gierigen Augen beim Essen zusah. Allerdings fiel mir bei dieser Mahlzeit auf, dass alles Fleisch, das auf den Platten lag, von Ziegen, Kapaunen, Tauben, Kaninchen, Hasen, Putern, wenn man es zerschnitt, Luft abließ. Uns störte es nicht, denn was die Masse vermissen ließ, machte die Menge wett.

    Indem wir beim Nachtisch saßen, öffnete sich eine Seitentür, und eine Schar hübscher Mädchen tänzelte herein, alle ohne Ausnahme mannbare Jungfrauen, schöne, appetitliche, blonde, schlanke, pausbäckige, rosigwangige, anmutige Gestalten, die uns schmachtende Blicke zuwarfen. Ich flunkere nicht, so wahr ich lebe! Sie trugen lange wallende Gewänder mit doppeltem Gürtel, die Haare mit goldseidenen Streifen und Bändern durchflochten und allerlei duftende Blumen und Kräuter darin, wie Rosen, Nelken, Salbei, Majoran, Dill und so weiter. Jetzt nahmen sich die Jungfern bei den Händen und tanzten um unseren Tisch herum, wobei sie mit glockenreinen Stimmen sangen:

    „Was aus der Traube quoll

    ist Wahrheit voll!

    Orakelspruch, so wundervoll!

    Der Mund, wie liebestoll,

    erschlürft das Trinkersoll!“

    Meine Gerlind, nicht faul, hielt dagegen:

    „Auf der Stirne Pickel,

    in den Socken Spickel°,

    auf dem Kopfe Wickel -

    mich schert´s keinen Nickel!“

    Der Magister, der gerade den dritten oder vierten Becher Wein vertilgte, schielte die Blumen-Jungfern mit gesenktem Blick an wie ein Hund, der eine Wurst gestohlen hat, und ließ einen entsetzlichen Rülpser vom Stapel. „Pardon“, sagte er mit einem Seitenblick auf Gerlind, „wollte nicht aus dem Hintern lärmen... Zum Henker, weiß nicht, was mit mir los ist! Fühle mich, als hätte mir der Teufel ins Hirn geblasen.“

    Aber auch in meinen Eingeweiden rumorte es; mein Magen blähte wie ein Dudelsack auf einem Ritterturnier. Doch ich bezwang mich und ließ den Druck nach unten ab. Irgendetwas mit dem Essen schien nicht zu stimmen, denn auch Gerlind und Kynos sahen bedrückt drein; doch es schmeckte vorzüglich, und wir griffen weiter zu.

    Nachdem auch der Nachtisch erledigt war, trat der Bürgermeister vor und rief uns vergnügt und lustig zu: „Liebe Freunde, ich heiße Euch von ganzem Herzen auf der Insel der Windesser willkommen! Ganz besonders freut es mich, dass Ihr gesund und munter dem entsetzlichen Unglück entkommen seid! Darauf lasst uns trinken!“ Sofort reichte ihm ein Mundschenk einen extravagant verzierten Becher und goss aus einer ebenso kostbar wirkenden Kanne ein – und zwar nichts, jedenfalls konnte ich nicht den kleinsten Tropfen irgendeiner Flüssigkeit erkennen. Doch zum Wundern war jetzt keine Zeit; schon hielt der Bürgermeister seinen Becher hoch und rief: „Trinken wir also auf unser aller Gesundheit und besonders auf Eure, liebe Gäste!“ Auch das Begleitpersonal ergriff jetzt die Becher, wir tranken – und was jetzt geschah, spottet jeder Beschreibung, aber ich wag´s trotzdem – ein gewaltiges Lärmen aus Mund und Hintern begann, sogar die Jungfern machten eifrig mit.

    Wieder, meine lieben Kuddelesser und Branntweintrinker, beschleicht mich das Gefühl, dass ihr mir nicht glaubt. Doch ich schwöre bei allem was mir heilig ist: Es war so, kein Buchstabe ist gelogen! Alles, was ich aus diesem allerliebsten Wirtshaus und von dieser allerverwunderlichsten Insel berichte, hat sich so zugetragen, Wort für Wort!

    Nun weiter.

    ___________

    ° Dreiecke der Sockenferse.

    Forts. folgt

  • Mundburt und seine Leute besichtigen die Insel der Ventivoren*.

    Das Allererstaunlichste aber war die Reaktion seiner Ehren, des Bürgermeisters. Nicht nur, dass er mit keiner Miene erkennen ließ, dass ihm das Rülpsen, Furzen und Husten peinlich war – nun gut, auch Burg Wolkenstein war in dieser Hinsicht weiß Gott kein Nachtigallennest, aber es wurde niemand dazu ermutigt – aber gerade das tat dieser seltsame Herr: Er forderte uns auf, die Winde nur recht frei und ungeniert fahren zu lassen, denn je größer der Lärm, meinte er, desto größer sei die Lebensfreude, die dadurch zum Ausdruck käme. Ferner erklärte er, die Winde würden wieder eingefangen und erneut verwendet. Dann lud er uns zu einer Besichtigungsfahrt ein.

    Während die Stute furzend den Weg unter sich wegtrat, erzählte uns der Ortsvorsteher, dass die Bewohner der Insel einzig und allein vom Wind leben. Sogar das Vieh werde mit Wind gefüttert, Saaten und Rebstöcke würden mit regenfeuchtem Wind gedüngt. In ihren Gärten bauten sie alle Arten von Windrosen an, auf den Obstbäumen wüchsen Windbeutel in den verschiedensten Farben und Formen. Alles, was den Wind behindern könnte, vernichteten sie. So sahen wir auf der ganzen Fahrt nicht einen einzigen Baum oder höheren Strauch; alles Gehölz war gründlich abgesägt oder ausgerissen. Das gemeine Volk ernähre sich, so der Medaillenträger weiter, indem es sich Wind, so er denn wehe, je nach Vermögen mit Stroh- , Feder- oder Leinwandwedeln zufächle und durch die Nase einziehe. Die Bessergestellten führten kleine Blasebälge mit sich, die sie, wenn sie der Hunger überkäme, in Bewegung setzten, denn Wind sei ja nichts anderes als bewegte Luft. Die Reichen gar besäßen Windmühlen, unter denen sie auch ihre Feste feierten. Ihre Behausungen bestünden meist aus Luftschlössern, die Ärmeren hingegen wohnten in der Regel in luftigen Windböen. Bekleidet seinen sie mit Windhosen und Windjacken, je nach Geldbeutel aus warmen oder kalten Winden bestehend. Allein der Klerus mache hiervon eine Ausnahme; die Talare und Sutanen der Prälaten bestünden aus Jungfernfürzchen, auch „Himmelstönchen“ genannt, sowie Nonnenrülpsern.

    Hier wurde der Bürgermeister von einer hässlichen Szene unterbrochen, die sich im Windschatten eines Luftschlosses abspielte. Ein Mann von ganz anständigem Aussehen, einen Windhund an seiner Seite und mit einem riesigen Blähbauch, prügelte mit hochroten Gesicht und höchstem Zorn auf einen kleinen Pagen ein, warf ihn zu Boden und bearbeitete ihn mit den Stiefelabsätzen. „Brrr!“, rief der Bürgermeister, und als das Pferd stand: „Heda, was soll das? Warum misshandelt Ihr diesen Jungen? Hört sofort damit auf!“

    „Der Lümmel hat mir einen Schlauch Südwester auslaufen lassen!“, rief der Dicke zurück, „einen süffigen Wind, den ich mir als Leckerbissen für spätere Zeiten sorgfältig aufbewahrt und gehütet habe wie einen zweiten Graal!“ – wieder ein Tritt – „und jetzt lässt ihn mir dieser Tölpel ab.“

    „Kerl, noch einen Tritt, und Ihr bekommt die Fallwinde!“

    Der Mann richtete den Kleinen auf, gab ihm einen Tritt in den Hintern, dass er wie der Wind davon sauste, und verschwand.

    „Das mit den Fallwinden will ich Euch gerne erklären“, sagte der Bürgermeister, als wir wieder fuhren, „damit hat es folgende Bewandtnis: So einer wie der da würde – na sagen wir zu zehn Fallwinden verurteilt, die ihn zehnmal heftig zu Boden werfen und ihm blaue Flecken und eine blutige Nase bescheren, damit er in Zukunft weiß, wie weh Prügel tun.“

    „Und wie bestraft Ihr die Schwerverbrecher?“, wollte Kynos wissen.

    „Früher wurden sie solange mit Fallwinden traktiert, bis sie nicht mehr aufstanden. Mörder kamen zuvor für ein Jahr in die Windmühlen.“

    „Früher?“, rief ich erstaunt, „wollte Ihr damit sagen, dass es auf dieser Insel keine Mörder, Räuber und Diebe mehr gibt? Dass wäre dann doch recht unglaubwürdig!“

    „Natürlich gibt es die noch“, entgegnete der Wind essende Würdenträger, „alles andere wäre ja gegen die menschliche Natur. Aber diese Leute hüten sich, ihr Geschäft zu betreiben und bleiben friedlich, denn die Windmühlen fürchten sie mehr als die Todesstrafe.“

    „Wie das?“, fragte Kynos, „gibt es war nützlicheres und friedlicheres als Windmühlen? Und dann, wo stehen denn diese Windmühlen? Ich sehe keine!“

    „Wartet noch ein Weilchen, wir sind gleich da.“

    Wir kamen an einem Schild vorbei, auf dem in goldenen Lettern zu lesen stand:

    Dr. med. Heino Lufticus

    Facharzt für pneumatische Erkrankungen

    alle Währungen

    Sprechzeiten usw.

    „Das verstehe ich nicht“, sagte Gerlind, „wieso gibt es hier Ärzte? Bei dieser Diät müssten doch alle Leute vor Gesundheit nur so strotzen!“

    „Leider ist es nicht so, meine Teuerste“, entgegnete der Bürgermeister, „denn auch das wäre gegen die menschliche Natur.“

    „Und woran leiden die Leute so?“

    Seine Ehren ließ einen gewaltigen Furz fahren, wie ihn zehn Kurienkardinäle nicht besser hinbekommen hätten. „Hauptsächlich unter Blähungen. Blähungen sind geradezu epidemisch. Und an Erkrankungen der Atemwege einschließlich der Lungen, denn leicht kommt ein Wind in die falsche Röhre, und dann beginnt ein gewaltiges Husten und Würgen. Viele sterben dabei –“

    „Und ihre Seele entweicht ihnen aus dem Hintern“, murmelte Gerlind.

    Nun fing der Bürgermeister an, die hervorragende medizinische Versorgung zu preisen, an der sich die Insulaner erfreuten. Als er damit fertig war, wollte ich ihn auf die Probe stellen und fragte: „Was verordnen denn Eure Mediziner zum Beispiel bei Schnupfen und Heiserkeit?“

    „Zugwind.“

    „Aha! Und wenn´s einer im Kreuz hat oder die Gicht und schlecht hochkommt?“

    „Aufwind.“

    „Soso. Und nehmen wir einmal an, jemand hat ein lahmes Bein oder einen kranken Fuß und kann schlecht gehen. Was verordnen Eure Ärzte dem?“

    „Rückenwind.“

    „Ei der Daus!“, rief ich, „Euer Ehren, zu diesem Gesundheitssystem preis ich Euch glücklich! Es ist sicherlich dass billigste der Welt, denn eine Arznei, die aus Wind besteht, kostet Euch nichts oder doch nur wenig, denn der Wind muss ja einfach nur wehen.“

    Die Miene des Bürgermeisters verfinsterte sich. „So könnte es sein, lieber Freund, aber in diesem irdischen Leben gibt es eben kein vollkommenes Glück. Ja, der Wind könnte einfach nur wehen, aber er tut es nicht. Auf diesem Eiland bläst der Wind nicht von selbst, und wenn, dann nur schwach. Das reicht nicht einmal für den Eigenbedarf, denn die Bevölkerung auf dieser Insel hat in den letzten Jahren dank unserer medizinischen Errungenschaften stark zugenommen. Seht Ihr die Frau dort mit dem Käscher? Sowie sich ein Lüftchen regt fängt sie es ein und isst es auf. Und so machen´s Hunderttausende. Hol mich dieser oder jener, wo soll denn da der Wind herkommen, um all die hungrigen Mäuler, die jedes Jahr dazukommen, zu stopfen? Um die Luft kräftiger zu bewegen, sind enorme technische Vorrichten vonnöten, die sehr viel Geld kosten. Wir sind gleich da, dann werdet Ihr es mit eigenen Augen sehen.“

    „Diese Speise wird, scheint´s, nicht überall geschätzt“, warf ich ein, „denn wie sonst ist es zu erklären, dass Ihr Nutztiere züchtet und hervorragende Küchenmeister habt?“

    Der Bürgermeister rülpste kräftig. „Diese Nahrung ist lediglich für Delegationen aus Ländern bestimmt, mit denen wir Handel treiben. Ein gutes Essen hebt nicht nur das Gemüt, sondern auch den Preis der Ware. Wir selbst sind und bleiben leidenschaftliche Windesser.“

    „Aber wo bleibt denn da der Genuss, der den Menschen vom Tier unterscheidet?“, meinte Kopf nachdenklich, „ich bin der Ansicht, wie der alte Epikur, dass der Genuss das Höchste auf der Welt sei, und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Nahrung, die nur aus Wind besteht, sehr viel Freude bereitet.“

    Seine Ehren schüttelte den Kopf. „Oh, lieber Herr, genau das Gegenteil ist der Fall! Ein Windgericht, ha!, das ist genauso ein vorzüglicher Schmaus wie ein herkömmlicher Braten! Es gibt Winde, die es in ihrer Vorzüglichkeit, Güte, Bekömmlichkeit mit jeder anderen Nahrung aufnehmen. Und für jeden Geschmack ist etwas dabei: Der eine lobt den Schirokko, der andere den Südwest, ein dritter den Südost, den Ora, die Bise, den Mistral, den Zephir; dieser hält sich an einen milden Sommerwind, jener zieht einen herben Herbstwind vor; es soll sogar Leute geben, die von nördlich-kalten Winterwinden schwärmen.“

    Wir waren auf einer Anhöhe angelangt; ein breites Tal öffnete sich, auf dessen Grund etliche Windmühlen standen. Ihre weißen Flügel leuchteten in der Sonne. Zwischen den Windmühlen waren auf hölzernen Gestellen Dreiecksegel gespannt, mit dem Unterliek nach oben und dem Hals unten, etliche in den Wind gebrasst und prall gefüllt; andere hingen schlaff herunter.

    „Ha!“, rief Gerlind, „hätt ich mir denken können! Hier stehen die Windmühlen im Tal, und der Wein wächst auf der Kirchturmspitze!“

    „Was mich mehr verwundert ist die Beobachtung, dass sich die Mühlen eifrig drehen, obwohl kein fühlbarer Wind geht“ sagte der Magister. „Nach Äophilus von Salem, De natura windicorum, liber septem et alii, drehen sich Windmühlen nur im wehenden Wind, was auch der heilige Blasius Balgius in liber –“

    „Mein Lieber“, unterbrach ihn Herr von Lerchenhost, „wartet´s ab!“

    ___________

    * Windesser


    Mundburt erfährt, dass man Wind in Fässer stampften kann und betrachtet einen Werwolf.

    Die Stute ließ einen gewaltigen Furz fahren, und als die Sicht wieder klar war, hielten wir neben einer dieser Windmühlen an und stiegen aus. –

    Meiner Treu, manch Verwunderliches habe ich auf meiner Irrfahrt durch die Welt gesehen, und, meine lieben Leser, ich versichere euch, manche dieser Narreteien und Hexenkünste würde ich nicht glauben, hätte ich sie nicht mit meinen eigenen Augen gesehen – noch nicht einmal dem Papst. Doch dies jetzt setzte allem die Krone auf: Potz Bauch und Arsch! Diese Mühlen drehten sich, aber nicht nicht im Wind, sie erzeugten ihn! Es war deutlich zu spüren, dass er von ihnen wegwehte! Musste meine Mütze mit beiden Händen festhalten, sonst wäre sich mir vom Kopf geflogen! Herrgottsakra, piss die Wand an, jawohl! Wer oder was sie antrieb war nicht zu erkennen; aber wo die Winde blieben, darüber bestand kein Zweifel. Sie blähten die Großsegel auf den Gestellen, diese lenkten sie in hölzerne Fässer, und Männer mit klobigen Kolben stampften sie fest – wie Butter in einem Butterfass. Waren die Fässer voll, wurden sie verschlossen und auf Karren verladen. Schon ging wieder einer hoch beladen ab.

    „Bei meinen Hämorrhoiden!“, rief der Magister, „unglaublich! Windbuttern! Hätte nie gedacht, dass so etwas überhaupt möglich ist!“

    „Da seid Ihr nicht der Einzige“, sagte der Bürgermeister schmunzelnd, „dergleichen haben unsere Fachleute zunächst auch behauptet. Sie meinten, Wind könne man nicht zusammendrücken, denn schließlich sei er nur bewegte Luft, Luft sei unsichtbar, und könne man Unsichtbares komprimieren? Ergo sei es schlichtweg unmöglich. 'Doch man kann', behauptete unser Stadtnarr, ein notorischer Querdenker, man solle es nur versuchen. Wieso er sich denn da so sicher sei, fragten die Weisen. 'Ich denke es mir gerade aus', erwiderte der Narr, 'und nach Plato ist alles was gedacht werden kann, auch möglich.' Und siehe da, es war möglich. Mittlerweile erzeugen wir soviel Wind, dass alle satt werden und wir noch exportieren können.“

    „Nichts für ungut“, meinte Gerlind, „aber warum füllt Ihr den Wind denn überhaupt in Fässer? Lasst ihn doch frei wehen!“

    „Damit er in alle Himmelsrichtungen davon weht? Auf die Nachbarinsel? So weit kommt´s noch! Ein Teil ist unser täglich Brot, ein anderer Teil wird für Notzeiten eingelagert, und mit dem Überschuss treiben wir unsere Schiffe an.“ Der Bürgermeister seufzte. „Leider geht diese Art des Antriebs nicht ohne Unfälle ab. Es kommt immer wieder vor, dass eines dieser Fässer birst, und dann gibt es einen gewaltigen Sturm, der die Atmosphäre in Aufruhr versetzt –“

    „Wollt Ihr behaupten“, rief ich verblüfft, „wir seien in einen solchen Sturm geraten?“

    „Das ist so gut wie gewiss! Heute Morgen traf eine Brieftaube mit der Nachricht ein, dass auf einem unserer Schiffe ein Fass explodiert sei. Deshalb fühlt sich der Stadtrat verpflichtet, Euch für das Ungemach, das Ihr infolgedessen ertragen musstet, zu entschädigen.“

    „Euer Ehren“, sagte ich gerührt, „wir sind Euch in höchstem Maße dank–“

    „Ihr schuldet uns keinen Dank“, winkte der Bürgermeister ab, „werfen wir lieber einen Blick hinter die Kulissen.“

    Er führte uns um eine dieser Windmühlen herum, und wenn ich gedacht hätte, des Erstaunens sei schon genug geübt, so hätte ich mich getäuscht: Die Mühle war nach hinten offen; ein riesiges Laufrad im Untergeschoss, wie man es winzig klein in Hamsterkäfigen verwendet, drehte sich; die Drehbewegung wurde über Stangen mit Zahnrädern nach oben übertragen. Und in diesem Käfig lief – ein Wolf, ein riesiges, zottiges, mageres Tier, das von einem blutigen Schafskadaver vor seiner Nase auf Trab gehalten wurde.

    Ich trat näher an den Wolf heran. Der Kopf der Bestie war riesig, die Ohren außergewöhnlich lang und spitz, die Schnauze, aus der stinkender Atem wehte, ungeheuerlich; der Hals, bedeckt mit sehr dichtem Fell, schimmerte rötlich; die Brust wies einen großen weißen Fleck in Form eines Herzens auf. Die Pfoten, ha! Die reinsten Drachentatzen: Bestückt mit grässlichen Krallen, viel mächtiger als die der anderen Wölfe, die ich bisher gesehen hatte; die Vorderbeine dick, dick, dick und von der Farbe des Rehbocks, eine Farbe, die bei einem Wolf ungewöhnlich ist.

    „Früher wurden Sträflinge zu dieser Arbeit verurteilt“, erklärte seine Ehren, „je nach Schwere ihrer Verbrechen unterschiedlich lange. Doch die meisten starben schon nach kurzer Zeit an Erschöpfung oder Krankheiten. Zudem ist ein einzelner Mensch zu schwach, um dauerhaft einen nennenswerten Luftstrom zu erzeugen. Ein hungriger, wütender Wolf hingegen mit einem blutigen Kadaver vor der Nase, den er nie erreicht –“

    „Herr im Himmel!“, rief ich, „das ist ja fantastisch! Ihr ernährt Euch nicht nur vom Wind, er ergötzt Euch bei Euren Schmäusen, Ihr heilt mit Wind, der Wind schreckt sogar Eure Verbrecher ab, und dass alles mit geringsten Kosten. Mir scheint, Euer Ehren, dies ist wirkliche die Insel der Seligen, nach der sich die übrige Menschheit schon seit Jahrtausenden sehnt!“

    „Ich wünschte, lieber Herr, Ihr hättet Recht“, erwiderte seine Ehren bedrückt, „aber wie ich schon mehrmals sagte: In diesem irdischen Leben gibt es eben kein vollkommenes Glück. Mittlerweile herrscht ein extremer Mangel an Wölfen, doch ich finde kaum noch Freiwillige, die das Amt des Wolfsfängers übernehmen wollen, obwohl jedem, der einen gefangenen und kräftigen Wolf herbeischafft, eine schöne Jungfrau als Braut zugeführt wird.“ Dabei sah er den Magister auffordernd an.

    „Ha!“, rief der, „ich wollte, ich wäre ein Bewohner dieser Insel! Dann wäre das Problem in kurzer Zeit gelöst!“

    „Ausländer sind uns stets willkommen“, sagte der Bürgermeister

    „Ei, was ist denn daran so schwer, einen Wolf zu fangen“, grummelte Kynos, „man gräbt eine Grube, legt ein Luder hinein, versteckt sich mit einem ordentlichen Knüppel im Gebüsch, wartet eine Weile und holla, schon hat man ihn. Als ich noch in Dienst bei –“

    „Dies ist kein normaler Wolf“, unterbrach ich ihn, „diese Bestie ist ein Werwolf.“

    „Sehr richtig“, bestätigte der Bürgermeister, „wir benötigen Werwölfe, mit normalen Wölfen ist uns nicht gedient. Und einen Werwolf fangt Ihr nicht in einer Grube!“

    „Warum denn gerade Werwölfe?“, wollte Gerlind wissen.

    „Weil Werwölfe in ihrer Teufelsbesessenheit und Mordlust die beste Laufleistung erbringen. Wir bräuchten unbedingt einige neue, denn auch Werwölfe leben nicht ewig.“

    „Hmmm...“, machte ich, denn mir kam gerade eine Idee. „Wo fangt Ihr denn diese Wölfe?“

    Der Bürgermeister ließ einen kräftigen Rülpser ab. „Auf der Nachbarinsel Lykanthropon, der Insel der Wolfsmenschen, eine kleine Meile jenseits der Meerenge. Aber die Gelegenheit könnte nicht ungünstiger sein, denn erstens, heute Nacht ist Vollmond, und da feiern sie ihre teuflischen Feste, und zweitens –“

    Ich bückte mich, um ein Ei aufzuheben, das ich beinahe zertreten hatte, offensichtlich ein Windei; denn als ich es berührte, löste es sich auf, und ein zarter Lufthauch wehte mich an.

    „Herr Bürgermeister“, sagte ich, „wenn Ihr mir ein Pferd, ein Schwert und einen Harnisch besorgt, verspreche ich Euch, ein paar kräftige Werwölfe zu liefern!“

    Seine Ehren sah mich begeistert an. „Heureka!“, rief er, „Ihr seid unser Mann!“ Doch seine Begeisterung verfiel sofort.

    „Was ist denn noch?“, fragte ich.

    „Lieber Herr, ich wage es nicht –“

    „Nur zu!“

    „Hmm... ähem... nun denn. Da ist noch etwas, das uns Probleme bereitet. Einmal im Jahr überfällt uns ein schrecklicher Riese, der sich von Windmühlen ernährt. Er frisst sie mit allem Drum und Dran: Steine, Eisenstangen, Zahnräder, Bretter, Nägel... alles verschwindet in seinem gewaltigen Maul. Wenn es Euch gelingt, diesen Riesen zu töten, schlagen wir Euch zusätzlich noch zum Ritter der Winde.“

    „Wie kommt Ihr gerade auf mich?“

    „Ich denke, ein Mann wie Ihr, der ein sturmgepeitschtes Meer bezwingt, wird auch mit einem Riesen fertig.“

    „Eins nach dem anderen, erst die Wölfe, dann der Riese!“, sagte ich.

    „Abgemacht!“, rief der Bürgermeister und und lärmte aus Erleichterung aus Mund und Hintern.

    Der Handel wurde mit kräftigem Handschlag besiegelt, und wir kehrten zum Rathaus zurück. Auf der Fahrt dorthin trug ich dem Bürgermeister auf, für ein größeres Schiff sowie für ein paar Kleinigkeiten zu sorgen.

    Mundburt beschließt, dem heiligen Georg nachzueifern.

    Ihr könnt Euch gewiss denken, meine lieben Zechbrüder und Kegelschieber, und auch Ihr, ehrbare Vrouwen, in welcher Hochstimmung ich mich befand. Die Aussicht, endlich ans Ziel meiner Träume zu gelangen, raubte mir fast den Verstand. Egal, ob Ritter vom Heiligen Stuhl, vom güldenen Sporn, ob Ritter der Malteser oder der Winde, hauptsächlich Ritter! Wie viele Ritter fahren in der Welt herum und sind die Luft nicht wert, die sie atmen! Doch jeder Ritterschlag adelt, und ich schwor mir, mich ihm würdig zu erweisen. Und, Hand aufs Herz, liebe Leute, bist du erst Ritter, wer fragt dann noch, wo die Schwertleite* geschah!

    Gerlind allerdings war von diesem Vorschlag nicht begeistert. Während der Wagen dem Rathaus entgegen rumpelte, versuchte sie, mir mit viel ach! und oh! und allen Mitteln weiblicher Überredungskunst das Vorhaben auszureden. Schalt mich einen Narren, Hasardeur, Kindskopf, Rauschwanz, Affenarsch – ich weiß nicht mehr was noch. Nun gut, in meinem Überschwang schätzte ich die Gefahren eines solchen Unternehmens wohl nicht richtig ein, und wenn ich das Risiko bedenke, das ich damals einging, kann ich nachträglich nur den Kopf schütteln.

    Natürlich ist ein Werwolf ein schreckliches Ungeheuer, mit dem ich kein Paternoster beten würde, noch nicht einmal in der Kirche vor dem Hochaltar, noch nicht einmal mit Weihwasser besprengt! So eine Bestie tappt in keine Falle, dazu ist sie zu schlau; Lanzen, Pfeil und Bogen fürchtet sie nicht, denn der Teufel schützt sie, und wehe!, jemand kommt ihr zu nahe! Wen sie in ihre Fänge bekommt, den zerreißt sie unbarmherzig.

    Etwas flau in der Magengegend wurde mir schon. Erinnerungen an die Bestie von Gévaudan, von der die Mägde beim Kerzenschein erzählten, stiegen auf; ein Ungeheuer, das Dutzende von Männern, Frauen, Kindern zerfleischte, sowie an andere Berichte, die mir damals einen Schauer des Entsetzens nach dem anderen über den Rücken jagten. Doch ich blieb fest. Als ich mich bückte, um das Windei aufzuheben, war mir nämlich etwas eingefallen. Ich erinnerte mich an den Spruch, den Gudula, ein altes, krummes Frauken, bei einer dieser Erzählungen gemurmelt hatte...

    „Ha!“, rief ich und schlug mit der Faust in die flache Hand. „Wär doch gelacht! Bin ich ein Mann oder eine Memme?“, schleuderte ich Gerlind entgegen, „will ein Ritter werden und kein Schwerenöter! Allein der Ruhm, den es zu ernten gibt! Der Ruhm, der umso größer ist, je schrecklicher das Ungeheuer! Hatte nicht der heilige Georg keine Sekunde gezögert und die Jungfrau aus den Klauen des Drachens befreit, einem siebenköpfigen Untier, das gewiss noch schrecklicher war als ein Rudel Werwölfe?“ Der Ruhm, mein Ruhm, er würde übers Meer fliegen und die Herrin auf Burg Schwarzenraben erreichen... Sie würde an mich denken... ihr parfümiertes Taschentuch ziehen... sich eine Träne der Rührung aus dem Auge wischen... vielleicht sogar eine Liebesbotschaft schicken... Mir wurde schwindlig, suchte festen Halt. „Ha!“, rief ich, als ich wieder klar denken konnte, „was Georg konnte, kann ich schon lange! Also, frisch ans Werk! Außerdem ist es wieder mal Zeit für eine Heldentat! Tatata, von wegen Rauschwanz und Affenarsch!“ Ich war mir sicher, dass ich Erfolg haben würde! Vielleicht nicht gleich ein ganzes Rudel, aber den einen oder anderen Werwolf würde ich schon fangen.

    „Was red´st du da für einen Blödsinn!“, zischte Gerlind, „die Jungfrau sitzt neben dir, und kein Drache bewacht sie!“

    Doch ich hing weiter meinen Gedanken nach.

    „Na schön“, zischte mich die drachenlose Jungfrau an, „du bist und bleibst ein hartschaliger Dickkopf! Wenn es denn sein muss! Aber ich komme mit!“ –

    Warum ich von meinem Erfolg so sicher war, fragt ihr? Tja, liebe Freunde, geduldet euch! Ihr werdet staunen!

    Im Rathaus war ein „kleiner Imbiss“ bereitet (der auf Burg Wolkenstein das Menü für eine ganze Woche abgegeben hätte), und gegen Abend machten wir uns zum Hafen auf, wo bereits ein Schiff für uns bereit stand.

    ___________

    * Ritterschlag

    Forts. folgt


  • Mundburt besucht die Insel der Wolfsmenschen und erlebt, wie man aus einem Schneider Most presst.

    Gut genährt und gut getränkt bestiegen wir die Karavelle, die schon am Hafen für uns bereit lag. Auf dem Heck stand das Fass, das für den nötigen Wind sorgen sollte, denn wieder einmal regte sich über dem spiegelglatten Meer kein Lüftchen. Ich übernahm das Ruder, Gerlind und Hund ergriffen die Leinen, der Magister öffnete das Spundloch; der Wind schoss zischend heraus und blähte die Segel.

    „Seltsame Leute, diese Windesser“, murmelte Gerlind, „hätte nicht geglaubt, dass man von Wind satt werden kann.“

    „Ob sie satt werden, weiß ich nicht, da müsstet Ihr mal jemanden fragen“, erwiderte der Magister, „aber sie vermitteln durchaus den Anschein ganz normaler Menschen: Sie sprechen, sie bewegen sich, sie prügeln sich...“

    „Ja schon“, wand ich ein, „aber ich bezweifele, dass sie zu ausdauernder Arbeit fähig sind. Wir haben es doch gesehen! Viele Windmühlen stehen still, weil es ihnen an kräftigen Kerlen mangelt, und sie müssen... wie soll ich sagen... sie sind auf Gastarbeiter angewiesen. Die Kraft, die Lebenskraft ist es, die ihnen fehlt.“

    „Nicht unbedingt“, widersprach Kopf, „aus der Bewegung, die in einem Wind steckt, kann durchaus ein Mensch seine Lebenskraft beziehen. Ich für meinen Teil halte diese Ernährungsweise überhaupt für die angenehmere. Flüssige und feste Nahrung führen doch, unter uns gesagt, nur dazu, dass der Esser ständig pissen, scheißen, zuweilen sogar kotzen muss und eine Menge Arschlappen und sonst was beschmutzt. Das alles fällt bei ihnen weg.“

    „Und der lästige Abwasch auch“, meinte Gerlind. „Andererseits kann einem dieses ständige Furzen, Rülpsen und Niesen ganz schön auf die Nerven gehen.“

    „Was soll´s“, sagte der Magister, „die Winde müssen raus, sonst geht es einem noch wie diesem verschämten Kurienkardinal, der aus Angst, der heilige Vater könnte ihm einen Furz übelnehmen, diesen unterdrückte und daran starb.“

    „Aber die Fürze und Rülpser der Windesser stinken wenigstens nicht!“, feixte Gerlind, „im Gegensatz zu euren!“

    Bald näherten wir uns dem Ufer von Lykanthropon; ich befahl, abseits des Hafens, der sich backbord zeigte, und in gehöriger Entfernung vom Strand, Anker zu werden. Sobald das Schiff festgelegt war, ließen wir das Beiboot zu Wasser, und Gerlind, Kynos sowie meine Wenigkeit ruderten an Land. Kopf, der sich geweigert hatte, sein Leben für einen „Schnepfendreck“, wie er sagte, zu riskieren, blieb an Bord zurück.

    Wir machten das Beiboot fest und gingen den Strand hoch. Zunächst war nichts Interessantes zu sehen, abgesehen von einem rasierten Stachelschwein, einem hornlosen Einhorn und einem Chamäleon, das bei unserm Anblick die Farbe verlor. Der Weg war beschwerlich, mit spitzen Steinen und Felsbrocken übersät; rechts und links wuchsen Dornsträucher und einzelne seltsam knorrige Bäume. Fast schien es, als sei die Gegend darauf angelegt, Fremde abzuschrecken.

    „Ich bewundere Euren Mut“, begann Kynos nach einer Weile, „Ihr wollt reißende Tiere fangen, und zieht doch ohne jede Bewaffnung aus.“

    „Mitnichten“, entgegnete ich, „ich bin bewaffnet, doch Ihr könnt es nicht sehen.“

    „Aha, Ihr habt die Waffen versteckt! Doch wo, lieber Herr, wenn ich fragen darf, wo? Eine Pike passt unter kein Wams, ein Schwert in keine Hosentasche!“

    „Da mögt Ihr wohl Recht haben.“

    „Knurr! Also wo?“

    „Das würd ich auch gerne wissen“, meinte Gerlind.

    „In meinem Kopf.“

    Die beiden sahen mich von der Seite an; in ihren Blicken lagen deutliche Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit.

    Schweigend gingen wir weiter.

    „Herr Hund“, sagte ich nach einer Weile, „auch ich hab da mal eine Frage, wenn´s recht ist. Was hat Euch dazu bewogen, diese Expedition mitzumachen, denn ungefährlich ist die Sache nicht. Das Großmaul Kopf war ums Verrecken nicht dazu bereit, also, Missjö, warum gerade Ihr? Und, sagt´s nur frei heraus, wenn Ihr umkehren wollt, ich würd´s Euch nicht übel nehmen. Werde schon allein klar kommen.“

    „Ach! Mich zählst du wohl überhaupt nicht!“, kodderte Gerlind.

    „Aus Dankbarkeit, Herr!“, rief Kynos, „Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich brenne darauf, wenn es nötig sein sollte, an Euch ein Gleiches zu tun, und wenn ich dabei verrecken müsste! Außerdem bin ich auch nicht ganz wehrlos! Wenn Ihr mir ins Maul schautet, wüsstet Ihr, wovon ich rede! Dieses Gebiss und meinen Zorn haben sogar die korrupten Schäfer, von denen ich Euch erzählte, gefürchtet und mich mit Prügeln verschont.“

    „Ihr habt ein edles Herz, Euer Liebden!“, sagte Gerlind. „Ach, wenn doch die Menschen auch so dächten!“

    Wieder stapften wir schweigend drauflos. Kynos, nach einer Weile: „Das mit dem Kopf verstehe ich nicht. Erklärt es mir bitte genauer.“

    Ich: „Welchen Kopf meint Ihr denn? Den Magister oder meinen?“

    Unter dergleichen Geplauder setzten wir unseren Weg fort, als plötzlich, wie aus dem Boden geschossen, fünf Männer vor uns standen.

    „Heda, ihr guten Leute, wer seid Ihr, und wohin des Weges?“, rief uns ein breiter Kerl mit einem Federbusch auf dem Kopf zu, „es wird schon dunkel! Habt Ihr nicht Angst, Euch zu verlaufen?“

    „Gott zum Gruß, Brüder!“, rief ich zurück, „viele Fragen auf einmal! Na dann! Wir sind arme Schiffersleut und suchen einen Ort, wo wir uns mit Proviant versorgen können. Angst kennen wir nicht, denn mit uns ist Gott, und verlaufen werden wir uns nicht, denn Ihr werdet uns bestimmt den richtigen Weg weisen.“

    „Darauf könnt Ihr Gift nehmen“, rief der Kerl – offensichtlich der Anführer der Bande – „den Weg werden wir Euch weisen, und auf einen Trunk mehr oder weniger soll es uns auch nicht ankommen. Unsere Kelter arbeitet Tag und Nacht!“

    Die Gesellen lachten rau und nahmen uns in ihre Mitte.

    Während wir weitergingen, musterte ich sie. Wie Straßenräuber sahen sie nicht aus – dazu waren sie zu sauber und teuer gekleidet – eher wie anständige Bürger. Ich sah die Robe eines Advokaten, das Gewand eines Arztes, den Talar eines Prälaten, die Klappmütze eines Kämmerers. Als besonderes Abzeichen trug jeder von ihnen einen offenen Geldbeutel am Leib; dem Advokaten hing er um den Hals, der Arzt trug ihn am Wanst, der Prälat am Hintern, dem Kämmerer baumelte er am Gürtel. Ich steckte den Daumen in die Faust und drückte ihn kräftig. Jetzt keinen Fehler machen, dachte ich, und du hast das Rudel im Netz! Wenn das keine verkappten Werwölfe sind!

    Gerlind trat näher an mich heran und flüsterte: „Mundburt, hast du ihre Augen gesehen?“

    „Natürlich, mein Täubchen! Gelb wie Safran! Und hast du gesehen, wie sie beim Wort 'Gott' zusammenzuckten? Es sind Wölfe in Menschengestalt. Schließlich bedeutet Lykanthropos Wolfsmensch.“

    „Spar dir deine Belehrungen! Und du bist sicher, dass wir von dieser Insel wieder heil abfahren?“

    „Sehr sicher sogar! Bisher konnte es nicht besser laufen!“

    Inzwischen waren wir vor einer Burg angelangt. Die Männer führten uns in den von Fackeln erhellten Zwinggard, das schwere, eisenbeschlagene Tor fiel zu – wir waren gefangen. „RRRRR!“, machte Kynos, „ich verspüre Zorn und Tatendrang! Was haltet Ihr davon: Ich gehe dem Breiten an die Kehle, nehme ihn als Geisel und Ihr, Jungfer –“

    „Kynos“, zischte ich, „Ihr geht niemanden an die Kehle und verhaltet Euch ruhig! Wehe, Ihr vermasselt mir meinen Plan! Schaut lieber nach vorne!“

    Um eine große Kelter herum saßen an die zehn struppige Gestalten, die uns finster entgegen starrten. Es waren die widerwärtigsten Kerle, die mir je vorgekommen sind.

    „Wen habt ihr denn da?“, schrie einer mit einem fast zugewachsenem Gesicht, „und sogar eine Jungfer bringt ihr mit! Recht so, Schlagtot, Jungfernöl ist das beste Öl! Die letzte Pressung

    schmeckte nach diesem Pfaffensack,

    und der war gar nicht nach meinem Geschmack!“

    Brüllendes Gelächter.

    „Freunde“, krähte Schlagtot, „diesmal sind die Gäste arme, halb verhungerte Schiffersleut, auf der Suche nach Nahrung!“

    „Hoho!“, kam es zurück, „sollen sie haben, die Nahrung, und nicht zu knapp! Werden sie schon Ver – pflegen, hahaha! Aber zum Teufel, arm sehen sie nicht gerade aus, und verhungert erst recht nicht! Ein wenig Druck wird ihnen bestimmt nichts schaden!“

    Eine Tür flog auf, und zwei Kerle schleppten einen zappelnden Menschen herbei, der mit einer großen Schneiderschere in der Luft herumfuchtelte. „Liebe Leute!“, schrie er, „ich habe nichts mehr! Hab doch schon alles gegeben! Der Stadt, der Kirche, dem Kaiser, den mildtätigen Brüdern, den –“

    „Halt´s Maul!“, schnauzte einer, „ob du nichts mehr hast, wird sich bald zeigen! Auf die Kelter mit ihm!“

    Die beiden Galgenvögel hievten den Mann auf die Kelter, banden ihn fest und begannen zu drehen. „Erbarmen!“, zeterte der Schneider, „bei allen Heiligen, ich hab nichts mehr, auch wenn ihr mich noch so druckt und presst!“

    „Jaja, das Lied kennen wir! Hab noch keinen Schneider getroffen, der was hatte! Ihr Handwerksleut müsst nur ordentlich gepresst werden, und schon rinnt der Most!“

    Ein Mann mit der roten Fellmütze eines Steuereinnehmers trat vor und legte seinen offenen Geldbeutel vor die Kelter. „Wird sich ja gleich zeigen, ob du nichts hast!“, röhrte er. „Also, Freunde, dreht wacker und quetscht ihn ordentlich!“

    Tatsächlich, als der Schneider nur noch so dick wie ein Hammelkotelett war, klimperte Geld in den Beutel, was die Meute mit höhnischem Gelächter quittierte. Nun sprang ein Kerl im Talar vor und schrie: „Weg da, jetzt bin ich dran!“ Mit dem Fuß trat er den Beutel des Steuereinnehmers beiseite und legte dafür seinen hin. Wieder zog die Kelter an, und etwas Kleingeld fiel in den Beutel. Als der Schneider so platt war wie ein Buchenblatt, banden sie ihn los, ließen ihn laufen, doch schon nach zehn Schritten fingen sie ihn wieder ein. Der Prälat, sichtlich enttäuscht über die geringe Ausbeute, drehte sich um. „Heda, Ihr Herren und Ihr, Jungfer!“, rief er, „kommt doch näher! Ich sehe schon, Euer Most gibt einen vorzüglichen Jahrgang ab!“ Er schnalzte mit der Zunge. „Lecker, lecker, wird sicherlich ein süffiger Wein! Bei meiner Ehr´, Ihr steht gut im Futter und könnt ein wenig Druck wohl vertragen!“

    „Bei meiner Ehr´“, raunte Kynos, „ich wollte dem Gesindel keinen halben Heller bluten.“

    Die Situation begann brenzlig zu werden. Um Zeit zu gewinnen rief ich zurück: „Ich danke recht schön! Sagt, Hochwürden, habt Ihr nicht noch andere Trauben, aus denen Ihr solchen Most keltern könnt? Es gibt doch vielerlei Gewächse, von denen man Beeren lesen kann!“ Ich bückte mich, tat so, als schlüge ich eine Mücke von der Wade, hob unbemerkt – was bei dem flackernden Fackellicht nicht schwer war – einen Stein auf und steckte ihn ein.

    „Zum Teufel nein!“, schrie der Halunke, „sind schon alle bis aufs Blut ausgepresst!“

    „Ha, und warum legt Ihr den Schneider wieder in den Zehntstock? Den armen Mann habt Ihr doch schon gründlich ausgekeltert!“

    „Wahrhaftig, um zu sehen, ob man nicht noch etwas aus dem Treber gewinnen kann!“

    Wir fiel der Spruch ein, den mein Vater oft sagte, wenn ihn die Melancholie ergriff: Homo hominis lupus*. Recht hat er, der Alte, dachte ich.

    „Los jetzt!“, schrie Schlagtot, „genug geschwatzt! Vorwärts!“ Seine Spießgesellen kamen drohend auf uns zu –

    „Meine Herren“, sagte ich, „warum so eilig? Ihr presst arme Leute aus, die von der Hand in den Mund leben, und was kommt letztendlich dabei heraus? Ein paar schimmelige Heller! Da hab ich etwas, das mehr Most bringt als tausend dürre Schneider!“

    „Große Worte, Herr, große Worte!“, grölte jemand, „doch von Worten allein lässt sich schlecht leben!“

    „Wenn Ihr den Schneider laufen lasst, zeig ich Euch, wie man aus einem Stein feine schlesische Groschen presst.“

    „Hihaho! Aus einem Stein? Das möcht ich sehen!“

    Ich hielt den Stein hoch. „Da seht Ihr ihn!“

    „Schon, schon“, grunzte einer der Gesellen, „den Stein seh ich wohl, aber nicht die Groschen.“

    „Lasst erst den Schneider laufen, dann seht Ihr auch das Geld.“

    „Bindet ihn los“, rief Schlagtot, „die Fabel fängt an, interessant zu werden.“ Zu mir: „Wehe du flunkerst, Kerl, dann drucken wir dich, dass dir das Schmalz aus den Ohren tropft!“

    Ich presste den Stein, und etliche Silbergroschen fielen heraus. Sofort stürzten sich die Kerle in den Staub und gebärdeten sich wie Maulesel, denen man eine chinesische Rakete an den Schwanz gebunden und angezündet hat. Es setzte Püffe, Tritte und Ohrfeigen. Inzwischen waren auch die anderen herangekommen, alle mit Steinen in den Händen; sie umringten mich und hielten mir die Steine unter die Nase. Dabei schrien sie wild durcheinander: „Hier, nehmt meinen zuerst!“ – „Nein, erst meinen!“ – „Weg da, Affenarsch, hab Frau und Kinder!“ – „Kotzinschuh, du glaubst wohl...“ – „Ha, Lausekamm, fahr zum Teufel!“

    „Meine Herren!“, rief ich, „so geht das nicht! Dies ist natürlich kein gewöhnlicher Stein, wie man ihn auf dem Acker oder hier im Burghof findet. An Land findet man solche Steine überhaupt nicht, man muss sie aus dem Meer fischen!“**

    „Habt Ihr noch mehr von diesen Geldsteinen?“, fragte ein großer Mann mit außergewöhnlich spitzen Ohren.

    „Von den Steinen nicht, aber von dem Geld, das meine Leute daraus geschlagen haben! Auf meinem Schiff draußen vor der Küste! Ich schätze, tausendfünfhundert Millionen Silbergroschen und noch einmal doppelt so viele Peterspfennige werden es schon sein.“

    „Ha, das reicht für alle!“, schrie jemand, „los, was zögert ihr noch! Auf, zum Schiff!“

    Sie rissen die Fackeln aus den Halterungen, und wir marschierten los, wobei uns Schlagtot und seine Kumpanen nicht aus den Augen ließen.

    „Ich hoffe, du hast dir gut überlegt, was du da machst“, raunte mir Gerlind zu, „wenn die merken, dass du sie hereingelegt hast –“

    „Dann sind wir bereits in Sicherheit, mein Schnuckelchen!“

    ____________

    * Der Mensch ist des Menschen Wolf. ** Anm. d. Hrg.: Sollte der Verf. Manganknollen gemeint haben? Es ist unwahrscheinlich, wenn man die Zeit bedenkt, aber ist es, bei alldem, das man schon von ihm erfahren hat, wirklich unmöglich?

    Mundburt fängt ein Rudel Wolfsmenschen und wird trotzdem nicht froh.

    Als wir uns dem Strand näherten, gab eine Wolke den vollen Mond frei. Sein Schein übergoss Meer und Schiff mit silbrigem Glanz, was die Bande außer Rand und Band geraten ließ. „Seht doch, das Silberschiff!“ schrien einige und stießen sich mit den Fäusten in die Seite, „wie es strahlt und blinkt! Er hat recht geredet! Das Schiff ist voll von Silber!“

    Wirklich, es konnte nicht besser laufen.

    Nach kurzem Suchen fanden wir das Beiboot. Kaum hatte es die Horde entdeckt, da stürzten auch schon alle drauf los. „He, ihr Leute!“, rief ich, „nicht so hastig! Alle auf einmal geht nicht! Das Boot trägt höchstens acht Personen; wir sind drei, also können zunächst nur fünf von euch mit hinüber. Die anderen müssen sich schon gedulden.“

    Wieder fingen sie zu feilschen und krakeelen an.

    „Ruhe!“, rief jetzt der Große mit den spitzen Ohren, „jetzt fahren mit: Hasenscharte, Plattnase, Schlagtot, Kotzinschuh, Pissdiewandan! Also ab mit euch. Schimmelpfeng, Springintgut, Kaulquappe, Ochsenbacke und Nimmersatt fahren als nächste. Alle anderen müssen sich noch gedulden.“ Er sah mich an, und ich schwöre, sein Blick ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. „Kerl“, zischte er, „wenn du kein reelles Spiel spielst, ist es aus mit euch! Dich und den Hund da zerreißen wir, und die leckere Jungfer –“

    „Warum sollte ich?“, gab ich zurück, „außerdem, Ihr habt doch gesehen, wie das Silber aus dem Stein fiel! Ist das nicht genug Beweis und Exempel, dass ich´s reell meine?“

    „Na schön, dann fahrt in drei Teufels Namen!“

    Während wir einstiegen, flüstert ich Gerlind und Kynos zu: „Wenn ihr an Bord seid, nimmt jeder von euch sofort einen Hammer aus dem Backkasten, geht zum Ankerspill und haut kräftig drauflos. Aber achtet darauf, dass euch die Kerle dabei nicht sehen. Wenn die Klappe zur Bilge aufs Deck knallt, hört ihr damit auf. Keine Fragen jetzt! Tut, was ich sage!“

    Kurz vor dem Schiff rief ich: „Hoiho, Herr Magister, wir kommen mit ein paar lieben Gästen! Sind alles gute Leute! Lasst das Fallreep herunter!“

    Das Boot legte bei, wir kletterten an Bord, ich als erster. Oben gelang es mir noch, dem Magister ein paar Worte zuzuflüstern, bevor der erste Halunken-Schopf über der Reling erschien: „Stellt jetzt keine Fragen und tut das, was ich Euch sage! Als erstes dreht Ihr das Schiff mit einigen kräftigen Windstößen so, dass der Mond durch die geöffnete Klappe hinunter in die Bilge scheinen kann. Wenn alle unten sind, löscht Ihr die Laternen, lichtet den Anker, dann das Schiff gewendet und unter starkem Wind schleunig umgekehrt und zurück zur Insel der Windesser!“

    Sobald die „Herren“ sämtlich an Bord waren, sprach ich sie folgendermaßen an: „Meine Herren! Willkommen an Bord des Silberschiffs! Wahrlich, die Gier nach Silber ist keines von den allerschlimmsten Lastern, sie wird noch übertroffen –“

    „Was klingt da?“, schrie Plattnase.

    „Meine Feinschmiede! Sie schlagen Münzen aus dem Silber, dass aus den Steinen .“

    „He, du Schrägscheißer“, grunzte ein anderer und stampfte mit dem Fuß auf, „quatsch nicht so viel, sonst passiert noch was! Wo liegt das Geld, antworte, aber dalli!“

    Durch weiteres „Gequatsche“ wollte ich ihre Ungeduld soweit steigern, bis sie vor unbändiger Gier blind wären. Doch der Versuch misslang, denn auf einmal hatte Plattnase ein Messer in der Hand und fuchtelte mir damit vor der Nase herum. „Höre, du Narr!“, röhrt er, „tätest besser daran, uns jetzt das Geld zu zeigen! Dieser Kamerad hier ist ein verdammt guter Kämpfer und liebt ganz besonders das Blut von –“

    „Schon gut, Onkel“, wehrte ich ab, „Ihr regt Euch unnötig auf. Also dann, folgt mir!“

    Wir gingen zur Bodenklappe, unter der die Leiter zur Bilge stand. Ich öffnete sie und ließ sie aufs Deck krachen. Unten glitzerte das Wasser im Mondlicht. Die fünf Ganoven beugten sich alle auf einmal über die Öffnung. „Silber!“, grölte Schlagtot, „Silber, Silber, Silber!“ Sowie es aussah, war zumindest er bereits blind vor Gier.

    „Warum arbeiten die Feinschmiede nicht mehr?“, fragte jemand.

    „Weil alle Münzen geschlagen sind“, gab ich zur Antwort. „Geht hinunter und überzeugt euch!“

    „Weg da!“, schrie der Oberganove und stieg hinunter, zwei weitere drängten nach. „Zum Teufel, was ist das?“, rief Schlagtot von unten, „das ist ja Wasser!“ Plötzlich brüllte er auf: „O du Satansbraten! Ich hab´s doch geahnt! Na warte, mein Söhnchen, wenn ich wieder oben bin –“

    Doch so weit sollte es nicht kommen. Dem einen von den beiden, die noch oben standen und verblüfft in die Bilge starrten, versetzte ich einen kräftigen Stoß ins Kreuz; gab dem anderen einen harten Schlag mit der Handkante in den Nacken; sie fielen vornüber und rissen die drei, die gerade grölend und fluchend wieder hochstiegen, beim Sturz mit in die Tiefe.

    Krach! Die Klappe donnerte in die Zarge, der Riegel schoss vor. „Ha!“, rief ich, „jetzt hab ich euch!“ Die ganze Aktion war schneller gegangen als ein Falke zustößt.

    Unten begann ein gewaltiges Heulen und Fluchen; kurz darauf erschütterten heftige Stöße das Deck. Offenbar versuchten die Gefangenen, die Klappe mit der Leiter aus der Verriegelung zu reißen. „Gebt euch keine Mühe!“, rief ich, „hört ihr? Auch wenn der Riegel bricht, die Klappe kriegt ihr trotzdem nicht auf!“

    Kynos und ich rollten das volle Windfass, das als Reserve noch in der Back stand, über die Klappe, richteten es auf und setzten uns drauf. – Puh, ihr glaubt nicht, wie schwer das Teil war! Dass Unsichtbares so viel wiegen kann!

    Am Stand wurde es jetzt laut; allmählich dämmerte den zurückgebliebenen Ganoven, dass mein Spiel wohl doch nicht reell war, und sie begannen, schreiend und fluchend hin und her zu laufen; einige dieser Galgenstricke wateten sogar ins Wasser, meinten wohl, sie könnten das Schiff zu Fuß erreichen! „Zum Hafen!“, schrie der Spitzohrige, „schnell in die Ruderboote und hinter ihnen her! Bei dieser Flaute haben wir sie bald eingeholt!“

    „He, du Narr!“, rief ich hinüber, „das denkst du dir! Warum hab ich wohl nicht in eurem Hafen geankert? Schau mal her, du Affenarsch! – Herr Magister, gebt ordentlich Wind!“

    „Zu Befehl, Herr Kapitän!“, rief Kopf fröhlich und zog den Stopfen aus dem Loch; der Wind füllte die Segel, und unter dem wütenden Geheul der Ganoven setzte sich die Karavelle in Richtung Heimathafen in Bewegung.

    Mundburt verwandelt die Wolfsmenschen in Werwölfe.

    Aus dem Windfass zischte und fauchte es, das Schiff neigte sich im Wind, die weißen Segel leuchteten im Mondschein, die Wellen rauschten – ich sah und hörte es wohl, aber der herrliche Anblick erreichte nicht mein Herz, denn die größte Bewährungsprobe stand mir noch bevor.

    Als habe Kynos meine Gedanken erraten, fragte er: „Wie soll es denn nun weitergehen? Ihr habt Wolfsmenschen gefangen, aber dem Bürgermeister habt Ihr Werwölfe versprochen.“

    „Das ist zweifellos ein Problem, über das ich noch nachdenken muss“, orakelte ich, „aber macht Euch keine Sorgen, lieber Hund, bisher ist alles gut gegangen, und warum sollte es nicht weiter so gehen?“

    „Deine Chuzpe möcht ich haben!“, ätzte Gerlind, die inzwischen statt meiner auf dem Fass saß, „ich fürchte, das mit Pferd, Harnisch und Schwert wird so schnell nichts.“

    Mittlerweile hatte das Stoßen unter uns aufgehört, dafür ertönte es jetzt von achtern. Offenbar versuchten die Ganoven, sich durch das Schott zum Hinterkastell durchzuarbeiten. Lass sie, dachte ich, wir laufen gleich ein, und dann ist es egal, aus welchem Loch sie kriechen.

    Ich sagte noch einmal den Spruch auf, von dem die Magd Gudula damals behauptete, damit könne man bei Vollmond einen Werwolf, wobei man ihm in die Augen blickt, in einen Menschen zurückverwandeln – und heute war Vollmond! Der Spruch lautete:

    Wolf, Gott schicke dir Mannsgestalt

    sollst wieder sein wie ein Mann gestalt´t!

    Gleich wirst du verlieren Wolfsgewalt

    Wolf, Gott schicke dir Mannsgestalt.

    In himmelschreiendem Leichtsinn nahm ich an, dass ich nur die Worte Mann und Wolf vertauschen musste, um den Bannspruch in entgegengesetzter Weise wirken zu lassen. –

    Als die Karavelle die Pier erreichte, war bereits der gesamte Stadtrat versammelt. Stadtwächter waren damit beschäftigt, Neugierige abzudrängen, denn ein zufällig entwichener Werwolf, in seiner rasenden Wut, da sag ich euch sicherlich nichts Neues, ist ein unberechenbares Ungeheuer.

    Man brachte die Netze, mit denen die Ganoven einzeln gefangen werden sollten; die Fänger, vier kräftige Burschen, stellten sich hinter dem Abstieg zur Bilge auf.

    Ich öffnete die Klappe einen Spalt breit und rief hinunter: „Los, ihr Halunken, ihr könnt wieder herauskommen, aber einzeln und mit Abstand! Wenn ihr euch nicht daran haltet, könnt ihr dort unten verfaulen!“

    Der Erste kroch heraus, die Männer warfen das Netz, zogen es zu, der Ganove war gefangen. Ich stellte mich vor ihn hin, sah ihn fest an und rief:

    „Mensch, Gott schicke dir Wolfsgestalt

    sollst wieder sein wie ein Wolf gestalt´t!

    Gleich wirst du verlieren Menschengewalt

    Mensch, Gott schicke dir Wolfsgestalt.“

    Ich wartete – nichts geschah, außer dass der Gefangene wüste Verwünschungen ausstieß und wild am Netz herumzerrte.

    Ich wiederholte den Spruch lauter – nichts.

    Mir wurden die Knie weich, das Leuchtfeuer tanzte vor meinen Augen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Bürgermeister und die Herren vom Rat die Köpfe schüttelten.

    „Was zum Teufel soll das?“, schrie der Kerl im Netz mit Schaum vorm Mund, „fahr zur Hölle, du gottverdammter Bube du! Ich zähle bis drei, dann –

    Teufel? Hölle? Gottverdammter Bube?

    Plötzlich wusste ich, wo der Fehler lag! Ich hatte vergessen, das Wort Gott gegen das Wort Teufel auszutauschen. Rief erneut:

    „Mensch, der Teufel schicke dir Wolfsgestalt

    sollst wieder sein wie ein Wolf gestalt´t!

    Gleich wirst du verlieren Menschengewalt

    Mensch, der Teufel schicke dir Wolfsgestalt.“

    Und tatsächlich! Der Spruch wirkte! Der Ganove – wenn ich recht erinnere Pissdiewandan – eben noch schwarz im Gesicht, wurde grau, sein Geschrei verwandelte sich in wütendes Jaulen, und bald hatte er die Gestalt eines großen Wolfs angenommen. Die Männer schnürten das Netz fester, zogen es von Deck, luden es in einen Karren und brachten den frisch gebackenen Werwolf weg. So geschah es auch mit den anderen.

    Ich machte einen Luftsprung und rief: „Danke, Herr, für deine Hilfe und dafür, dass du´s mir nicht übel nimmst, wenn ich mich mal mit an den Teufel wende. Soll nicht wieder vorkommen!“

    „Bist du sicher, dass es wirklich Gott war und nicht der Teufel, der dir geholfen hat?“

    Gerlind stand neben mir, in meiner Euphorie hatte ich ihr Kommen nicht bemerkt. „Könnte mir vorstellen, dass der Teufel eher für solche finsteren Händel zuständig ist!“

    „Aber nicht doch!“, rief ich, „der Herrgott ist dem Teufel einfach zuvorgekommen!“ Umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf.

    Forts. folgt

  • Mundburt erhält seine wohlverdiente Belohnung.

    Doch zunächst sah es nicht danach aus.

    Nachdem alle Werwölfe weggebracht waren, kam der Bürgermeister an Bord und lobte unter dem lebhaften Beifall der Ratsherren, dass ich zu meinem Wort gestanden und für ein Ende ihres Windmangels gesorgt hätte. „Man trifft nicht alle Tage auf solch einen Recken“, sagte er, „der den Mut für ein derart gewagtes Unternehmen hat“; er danke Gott, dass wir wohlbehalten zurückgekehrt seien und so weiter und so fort. Bei dieser Rede, die er in überschwängliche Worte kleidete, rülpste er mehrmals kräftig, wodurch er seine Zufriedenheit ausdrückte; auch die Ratsherren taten ein Gleiches. Dann führte er uns zurück ins Rathaus, in die Ratsdörnse°, an deren Wänden Spiegel aus glattem poliertem Silber hingen.

    „Und nun, lieber Herr“, sagte er, „Eure wohlverdiente Belohnung!“ Er ging auf einen Tisch zu und tat so, als nehme er etwas auf. Das machte er noch zweimal, dann trat er lächelnd auf mich zu.

    In diesem Moment war mir, als berührten meine Hände und Beine kaltes Metall, und meine Schultern fühlten sich an, als trügen sie eine schwere Last.

    „Herr, was soll das?“, stotterte ich verblüfft.

    „Ihr tragt Harnisch, Schwert und Schild, die versprochene Belohnung. Auch wir stehen zu unserem Wort!“

    „Wie, was...Ich sehe nichts!“

    „Das könnt Ihr auch so ohne weiteres nicht. Die Waffen bestehen aus geschmiedetem Wind.“

    O du Satansbraten!, dachte ich, willst mich wohl hereinlegen! Ich liefere echte Werwölfe, und du, ha, belohnst mich mit geschmiedetem Wind! Na warte, Freundchen, ich hetzt dir den Riesen auf den Hals! – Andrerseits, meine Lieben, hätte ich von einem Windesser etwas anderes erwarten können? Der Fehler lag eindeutig bei mir.

    Was ich dachte, sprach Gerlind aus. „Hoho, Euer Merkwürden!“, rief sie aufgebracht, „was soll der Unsinn? Nee, nee, nee...Entweder Ihr rückt mit den Sachen heraus, oder ich –“

    „Warum so unhöflich, Jungfer?“, sagte der Bürgermeister und furzte kräftig, wodurch er seinen Unmut zum Ausdruck brachte, und auch die Herren des Rates taten ein Gleiches, „Herr Knappe, blickt gefälligst in den Spiegel! Setzt aber vorher diese Gläser auf Eure Nase.“

    Er übergab mir einen gebogenen Metallbügel, an dem zwei rund geschliffene Gläser befestigt waren (ein Beryllium, die Erfindung des Arabers Alhazam*, wie ich später erfuhr).

    Indem ich das Beryllium** aufsetzte, ging ich auf einen der silbernen Spiegel zu.

    Verblüfft blieb ich stehen.

    Hei, welch einen entzückenden Ritter erblickte ich da! Schlank von Wuchs, wohlgebildet und angenehm in seinen Bewegungen! Und gar der köstliche Kürass, der Ringkragen, die Arm- und Beinschienen, nicht weniger hell poliert als der Spiegel und mit Gold eingelegt, dann der Schild, rund und leuchtend wie der volle Mond. Der Ritter trug keinen Helm, sondern einen großen grauen Hut, mit vielfarbigen Federn geziert und auf wallonisch gestutzt. Um seine in weite Schweizerhosen gehüllten Hüften hing an einem reich verzierten Wehrgehänge ein breites Schlachtschwert. In diesem Aufzug glich er dem Kriegsgott, dann wieder, wegen seiner Schönheit, kam er mir wie der Liebesgott Amor vor, der sich, um Ares einen Streich zu spielen, in kriegerische Waffen geworfen hatte.

    Ich hob den Schild hoch – auch der Ritter in der Wand hob den Schild hoch. Winkelte das rechte Bein an – auch der Ritter in der Wand winkelte das Bein an. Grinste ihn an – er grinste zurück. Streckte die Zunge heraus – er streckte die Zunge heraus. Kein Zweifel, was ich da sah, war mein Spiegelbild.

    Ich nahm den Bügel mit den Gläser ab, der mir die Nase kniff, und blickte zu Gerlind und den anderen, um in ihren Augen Bewunderung zu lesen. Doch nichts dergleichen sah ich, höchstens mokantes Lächeln. Als ich wieder in den Spiegel blickte, war der Ritter verschwunden. Vor mir stand, in schlechter Haltung und noch schlechterer Kleidung, ein magerer Jüngling mit flaumig-flockigem Kinn. „Zum Teufel!“, rief ich verärgert, „Herr Bürgermeister, was soll das?“

    „Setzt das Beryllium wieder auf!“

    Ich setzte es wieder auf – und siehe da, der der Ritter im Spiegel stand wieder vor mir.

    Inzwischen waren Kopf und Gerlind näher getreten.

    „Darf ich auch mal?“, sagte Gerlind und nahm mir die Gläser von der Nase. Dabei glitten sie ihr aus der Hand, fielen zu Boden und zerbrachen.

    „Da habt Ihr was Schönes angerichtet, Jungfer“, brummte der Bürgermeister verdrossen, „dieses Beryllium gibt es nicht ein zweites Mal!“

    „Ist denn jetzt alles weg?“, fragte Gerlind kleinlaut.

    „Nein, Harnisch, Schild und Schwert bleiben dem tapferen Helden, aber Ihr könnt sie nicht mehr sehen.“

    „Aber ich spüre sie noch!“, rief ich, „auch wenn ich sie nicht mehr sehe! Gerlind, mein Täubchen, gräm dich nicht! Unsichtbare Waffen sind nicht mit Gold aufzuwiegen!“

    Mir war nämlich klar geworden, welche Möglichkeiten in dieser Ausrüstung steckten. Ich konnte auf dem Schlachtfeld in voller Montur auftreten und doch dem gewöhnlichen Auge unbewaffnet erscheinen.

    Jetzt interessierte mich natürlich brennend, ob das Schwert traf, ob der Schild Geschosse abhielt, ob der Kürass Sicherheit bot. Denn der Wind ist bekanntlich ein unzuverlässiger Geselle.

    Und dann war da noch die Frage, wie würde ich die Waffen wiederfinden, wenn ich sie abgelegt hätte?

    __________

    ° Prunksaal. * An anderer Stelle schreibt der Verf. diese Erfindung einem Italiener zu. Wie so oft wurden bedeutende Erfindungen wie diese von mehreren Erfindern gemacht ** Im Mittelalter bestand das Glas dieser optischen Geräte aus Beryllium (daher der Name Brille).

    Mundburt zerhaut eine Sau und eine Bank.

    „Euer Wohlgeboren“, sagte ich, „wer garantiert mir, dass das Schwert auch trifft, dass der Schild auch Geschosse abhält, dass der Kürass auch Sicherheit bietet?“

    „Ich!“

    Der Bürgermeister klatschte in die Hände. „Bringt die Sau!“

    Zwei Ventivoren schoben eine Bank herein, auf der eine tote Sau lag, ihr mächtiger Schädel hing über das Bankende hinaus.

    „Nehmt Euer Schwert und schlagt der Sau den Kopf ab!“

    Ich hob das Schwert, ließ es niedersausen – der Kopf fiel.

    „Wenn Ihr wollt, Herr Knappe, könnt Ihr jetzt Sau und Bank zerhauen!“

    Ich hob das Schwert, ließ es niedersausen – der Körper der Sau und die Bank zerfielen in zwei Teile. Es war ganz leicht gegangen, wie durch Butter.

    „Fantastisch!“, rief ich, „eine Wunderwaffe!“

    „Freilich“, sagte das Stadtoberhaupt und rülpste zufrieden, „es gibt nichts, was schärfer trifft, nichts, was besser schützt, nichts, was mehr Sicherheit verleiht als geschmiedeter Wind.“

    „Ich verzichte auf weitere Proben“, sagte ich. „Nur, wie finde ich das Schwert wieder, wenn ich es abgelegt habe? Jetzt, wo das Beryllium kaputt ist.“

    Seine Ehren warf Gerlind einen scheelen Seitenblick zu. „Dafür gibt es gottseidank einen Ersatz!“ Er winkte, und ein würdiger Greis mit einem Silbertablett, auf dem eine ebenfalls silberne Kapsel lag, trat heran. Der Bürgermeister forderte mich auf, die Kapsel zu öffnen. Darin lag ein polygonal geschliffener durchsichtiger Stein.

    „Reinstes Marienglas“, erklärte er, „das in dieser Form eine ähnliche Wirkung hat wie das Beryllium. Nehmt den Stein, tretet vor den Spiegel und schaut hindurch.“

    Vorsichtig nahm ich die kantige Perle mit zwei Fingern heraus, trat vor den Spiegel und schaute hindurch.

    Wieder stand da der Ritter, aber oha!, dreimal, viermal, fünfmal, in jeder Kante einer, allerdings nicht größer als eine Fliege.

    Der Bürgermeister war hinter mich getreten und sagte: „Der Kristall entwirft sieben Bilder. Nach jedem Hieb mit dem Schwert erlischt eines davon. Nach dem siebten Hieb ist er blind, und Ihr werdet Euer Schwert nicht wiederfinden. Also überlegt genau, bevor Ihr zuschlagt!“

    „Wahrlich“,sagte der Magister so laut, dass es im ganzen Saal zu hören war, „ein guter Trunk und eine Schüssel fetter Kuddeln wäre mir lieber als jede Wunderwaffe! Mein Dudelsack von Magen spielt schon wieder verrückt. Die Expedition war doch reichlich kräftezehrend.“

    Der Haus-Und-Hof-Meister trat hervor. „Euer Liebden, dafür ist gesorgt“, sagte er mit einladender Handbewegung, „kommt bitte!“

    Er führte uns in den schon bekannten Saal, in dem bereits aufgetischt war, allerdings an zwei Tischen. Die einschenkenden Jungfrauen standen hold lächelnd bereit.

    Zwei der Schönen traten auf mich zu. „Herr Knappe, wollt Ihr nicht ablegen?“, säuselte die eine, „in voller Montur isst und trinkt es sich schlecht!“ Ohne meine Antwort abzuwarten knieten sie nieder; ich fühlte, wie sich das Metall von meinen Schenkeln löste – die eine der Schönen nahm mir die Beinschienen ab, die andere den Schild; schließlich traten sie hinter mich und begannen die Riemen des Kürass zu lösen; kurz darauf konnte ich freier atmen, denn das Stück hatte meine Brust doch stark eingeengt. Schließlich legten sie alles auf einem Tisch mit Löwenfüßen ab.

    Der Bürgermeister bat uns Platz zu nehmen, und ein fröhliches Schmausen und Zechen begann. Diesmal sah man uns jedoch nicht beim Essen zu, sondern man aß selber, aber auf eine Weise, die ich euch unbedingt erzählen muss.

    Auf dem Tisch des Stadtrates standen zwölf kleine Windmühlen – gemäß der Anzahl der Mitglieder, wobei eine etwas größer war als die anderen, nämlich die vor dem Bürgermeister, dessen Bauchumfang auch größer war als der der anderen Mitglieder des Rates. Die Mühlen waren nach der Art gebaut, wie wir sie draußen gesehen hatten, nur besaßen sie statt der Wolfskäfige Laufräder für Hamster. Der Küchenmeister klatschte in die Hände, die Hamster rannten los, die Windmühlen drehten sich, und die Ratsleute begannen mit sichtlichen Vergnügen den Luftzug einzuatmen, wobei sie immer wieder „köstlich“, „ganz ausgezeichnet“, „Herr Küchenmeister, wo habt Ihr diesen Wind her?“ und Ähnliches riefen. Wünschte einer etwas zu trinken, winkte er eine der Hübschen herbei, die ihm mit einer kleinen Gießkanne einschenkte. Der Magister, der dies beobachtete, murmelte: „T, t, t... Wein aus der Gießkanne... Ideen haben die Leute!“

    „Wenn es mal Wein ist“, sagte Gerlind, „ich denke, so wie diese Leute gestrickt sind, wird´s wohl Wasser sein. Denn wer Wind isst, wird sicherlich Regen trinken.“

    Mundburt verteidigt sein Schwert und beruhigt einen durchgedrehten Hofbeamten.

    Mitten in der schönsten Schmauserei sagte Gerlind: „Ich glaub´s nicht.“

    „Was glaubst du nicht, mein Täubchen?“

    „Verdammt nochmal! Nenn mich doch nicht immer Täubchen! Ich heiße Gerlind!“

    „Gut, mein Täu – mein Gerlindchen, was glaubst du nicht?“

    „Ich glaub nicht, dass die Hiebe echt waren. Die Sau und die Bank waren präpariert. Das ganze war eine hirnverbrannte Pantomime.“

    „Himmel, nicht so laut! Der Bürgermeister ist sowieso schon schlecht auf mich zu sprechen.“

    „Ach nee! Weswegen denn?“

    „Er meinte, den letzten Hieb hätte ich nicht tun sollen. Er mag keine Haudegen.“

    „Ich übrigens auch nicht. Wie man sich doch in einem Menschen täuschen kann. Mir schien er eher einer von der Sorte, die ganz scharf essen.“

    „Wie soll er das denn bei seiner Nahrung machen?“

    „Werd bitte nicht albern! Du weißt genau, was ich meine!“

    „Aber die Hiebe waren echt! Als ich das Schwert hob, war der Hals der Sau unversehrt, und als ich es niedersausen ließ –“

    „Ich habe übrigens dasselbe gedacht wie Ihr jetzt, Jungfer“, mischte sich der Magister ein, „man kennt dergleichen Possen ja zur Genüge vom Jahrmarkt. Deshalb habe ich mir, als der Bürgermeister den Herrn Knappen zum zweiten Hieb einlud, hmmm... habe ich mir Sau und Bank genau angesehen und konnte nichts Verdächtiges erkennen. Allerdings wundere ich mich etwas, dass –“, Kopf hielt einer schönen Schenkin seinen leeren Becher hin – „dass der Hieb – danke, Mamsell, äh, was wollte ich sagen... ach ja... Ich wollte sagen, ich wunderte mich etwas, dass der zweite Hieb so glatt durchging. Den ersten, gut...hmpf... den glaub ich noch, obwohl, wie wir wissen, mancher Henker schon beim Abtrennen eines Menschenkopfes so seine liebe Not hat, und ein Schweinenacken ist noch eine Nummer fester. Aber der zweite Hieb lässt doch, ahhh, einige Zweifel aufkommen. Sau und... mmmpf... und Bank aus Eichenholz auf einen Streich – nee, meine Herren, da ist was oberfaul.“

    „Nichts ist da oberfaul“, rief ich, „ich lass mir doch nicht von euch Narren mein Schwert schlecht reden! Es ist eben eine Wunderwaffe! Ich bin zwar nicht so gelehrt wie Ihr, Herr Magister, und kenne mich in der Antike nicht aus, aber mein Vater hat mir mal vom Schwert Alexanders erzählt, das auf einen Streich so und so viele Feinde... kurz und überhaupt: Solche Wunder-Waffen hat es schon immer gegeben, und es wird sie auch in Zukunft geben! Amen!“ Wütend stand ich auf und verließ den Saal, denn ich sehnte mich nach frischer Luft.

    „Großartig, junger Herr, ganz großartig!“

    Ich drehte mich um. Ein Mann in der Robe eines königlichen Beamten kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. „Großartig, junger Herr, ganz großartig!“, rief er schon von Weitem, „ich kam zufällig vorbei, da hörte ich Eure Worte. Ihr habt Euch nicht nur mit dem Schwert großartig geschlagen, sondern auch mit dem Mund! Ich kann nur wiederholen: Großartig, ganz großartig!“ Etwas außer Atem ergriff er mit beiden Händen die meine und drückte sie kräftig. „Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen, junger Herr. Mein Name ist Neidhardt Mühlenknecht, Edler zu Reuenthal, Oberaufseher über die königlichen Windmühlen. Großartig, ganz großartig! Allerdings verstehe ich nicht, wie der Stadtrat bei dieser Lage –“ Er unterbrach sein Geschwätz und lauschte – „Da! Hört Ihr es? Wie es rumpelt und stößt? Spürt Ihr das Beben? Es sind die Schritte des Ungeheuers! Es sind die Schritte des Riesen, des Titanen! Er ist bereits unterwegs!“

    Tatsächlich verspürte ich unter den Füßen ein leichtes Beben, als wenn in der Nähe ein Hammerwerk arbeitete.

    Gerlind erschien in der Tür. „Mundburt, nun nimm doch nicht gleich alles – oh, ich störe wohl!“

    „Nein, Ihr stört keineswegs, schöne Frau!“, kam mir Herr Neidhardt zuvor, „ist der vortreffliche Herr Euer Bräutigam oder sogar der Herr Gemahl? Großartig, ganz großartig! Ich war gerade dabei, dem jungen Herrn zu erklären – da, schon wieder, spürt Ihr´s auch, schöne Frau? Das Rumpeln und Stoßen? Ich verstehe nicht, wie der Stadtrat bei dieser Lage –“

    „Lieber Mann“, unterbrach ich ihn, „worum geht es denn?“

    Die Miene des Oberaufsehers wechselte schlagartig von angestrengt heiter nach ehrlich zerknirscht. „Es geht um den Bestand der königlichen Windmühlen“, grumelte er trübselig. „Ich weiß mir keinen Rat mehr, und der Rat weiß auch keinen. Seine Majestät macht mir die Hölle heiß. Wenn nicht bald irgendetwas passiert, bin ich mein Amt los und kann Hamster füttern. Ähem... Wie mir seine Ehren sagte, wäret Ihr möglicherweise bereit, den Riesen –“

    „Ach, Ihr meint dieses Windmühlen fressende Ungeheuer! Ja, ich wäre möglicherweise –“

    „Großartig, ganz großartig! Lieber Herr, Ihr seid meine letzte Hoffnung! Habt Ihr schon einen Plan?“

    „Ehrlich gesagt, noch nicht. Aber irgendetwas wird mir schon einfallen.“

    „Großartig, ganz großartig! Herr, denkt nach, denkt gründlich nach, die Zeit drängt!"

    „Wie viel Zeit bleibt denn noch?“, fragte Gerlind.

    Der königliche Beamte rang die Hände. „Keine, schöne Frau!“, rief er bestürzt, „so gut wie keine! Heute um Mitternacht ist es wieder so weit! Ich weiß mir keinen Rat mehr, und seine Majestät –“

    „Und warum kommt Ihr erst jetzt damit?“

    „Ach, ach , ach, es ist nicht so, wie Ihr denkt, schöne Frau! Der Riese ist unberechenbar! Manchmal rührt er sich ein Jahr nicht, und dann... Eines Tages wacht er auf, schüttelt sich, dass es über dem Land Steine und Eisschollen regnet, und dann macht er sich mit riesigem Hunger auf den Weg.“

    „Wo lebt er denn?“, wollte ich wissen.

    „In einem Wald hinter dem Großen Bären, ja, das ist ein Berg, der wegen seiner Form so heißt. Dort liegt er in einem Tal und schläft die meiste Zeit.“ Der Beamte wischte sich die schweißbeperlte Stirn

    „Lieber Herr Mühlenknecht“, sagte ich, „beruhigt Euch doch! Müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich Euch da nicht heraushelfen kann. Ein Ungeheuer! Pah! Hab schon achtundzwanzigtausend ein halb zerhauen, und da wär´s doch gelacht, wenn ich den neunundzwanzigtausendsten nicht auch noch bezwingen könnte! Allerdings, davor steht eine Kleinigkeit... Der Herr Bürgermeister machte so eine Andeutung... Nun ja... Er meinte, ein Ritterschlag –“

    „Großartig, ganz großartig! Ein Ritterschlag? Aber ja doch! Den hättet Ihr Euch dann wahrlich verdient!“

    Der Bürgermeister erschien. Mühlenknecht lief ihm aufgeregt entgegen.

    „Herr Bürgermeister, ich verstehe nicht, wie der Stadtrat in dieser Situation... ähem... ich meine –“

    „Herr, nun lasst mal die Kirche im Dorf! Schließlich können wir unsere Gäste nicht unbewirtet ziehen lassen. Ich nehme an, Ihr besprecht gerade mit dem Herrn Knappen das weitere Prozedere in der causa Riese.“

    „Großartig! Genau so ist es, Euer Ehren, genau so ist es! Allerdings, davor steht eine Kleinigkeit“

    Der Bürgermeister machte ein verdrießliches Gesicht. „So?“

    „Der Herr Knappe erwähnte, Ihr hättet ihm im Falle des Gelingens –“

    „Ach das meint Ihr! Natürlich, natürlich! Werde sofort diesbezüglich alles Notwendige veranlassen!“ Zu mir: „Nur sputet Euch, lieber Herr, sputet Euch! Viel Zeit bleibt nicht mehr!“ Der Bürgermeister verbeugte sich knapp und ging.

    Mühlenknecht sah mich mit schwarz umrandeten Augen niedergeschlagen an. „Was meint Ihr, werdet Ihr es schaffen?“

    „Denke schon. Ich pflege gute Beziehungen zu einem Herrn, der weiter oben wohnt, und der mir schon mehrmals geholfen hat. Allerdings, versprechen kann ich es nicht. “

    „Großartig, ganz großartig! Habt Dank, lieber Herr, habt heißen Dank!“ Wieder drückte mir Mühlenknecht beidhändig die Hand. „Ach, ist das großartig, ganz großartig! Wann darf ich mit einem Ergebnis Eurer werten Überlegungen rechnen?“

    „Hmm... Kann ich so genau nicht sagen...Wo seid Ihr denn zu erreichen?“

    „Hier im Rathaus Zimmer dreitausendachthunderteins, siebente Etage, zehnter Flur rechts! Wenn Euch der Gang dahin zu mühsam erscheint, schickt einen Boten! Also dann, bis dahin! Ich warte, ich harre, ich brenne!“ Er verbeugte sich vor Gerlind. „Meine Verehrung, schöne Frau! Ihr habt einen großartigen Gemahl!“ Dann vor mir. „Wenn Ihr Menschen in Werwölfe verwandeln könnt, lieber Herr, dann werdet Ihr bestimmt auch mit einem Riesen fertig! Und grüßt diesen hohen Herren von mir!“

    Er drehte sich um, wischte sich die schweißbeperlte Stirn, wobei er heftig Wind abließ, und ging. Dabei rief er immer wieder: „Großartig, ganz großartig! Ein Ritterschlag für einen erlegten Riesen! Großartig, ganz großartig! Ein Ritterschlag für –“

    Forts. folgt


  • Mundburt erbittet wieder Gottes Hilfe und wird nicht enttäuscht.

    „Habe selten solch einen durchgedrehten Menschen gesehen wie diesen Mühlenknecht“, sagte ich, als der Edle außer Hörweite war. „Na ja, kein Wunder bei dem Amt.“

    „Und ich habe selten einen Mann gesehen, der so schamlos lügt wie du!“ ätzte Gerlind. „Welche Ungeheuer hast du denn bisher zerhauen, hä?“

    „Hunderte, mein T..., tausende! Jede Nacht mindestens zehn! Sie sitzen überall: Da!, in der Takelage, dort!, in den Kajütenecken, hier!, unter Tischen und Bänken, sogar, ha!, auf meiner Brust! Ich kämpfe mit ihnen und verwandle sie in Schatten.“

    „Ach du... Hast du wenigstens eine Idee?“

    „Nicht eine einzige! Mein Hirn ist leer wie ein Opferstock.“

    Wir gingen zurück in den Saal, wo sich der Magister, allein am Tisch, gerade wieder einschenken ließ. Vor ihm stand eine halbvolle Schale mit Kuddeln, eine Schüssel mit Salat und eine Kanne Wein. Die Tafel der Windesser war schon aufgehoben; von den einschenkenden Jungfrauen tat nur noch eine Dienst.

    Wir setzten uns.

    „Herr Magister“, fragte ich, „wie lange braucht Ihr noch? Möchte Euch mal um Rat fragen.“

    „Hmpf, bin gleich fertig, nur diese noch, dann diese noch, diese noch, diese noch.“ Er lachte fettig. „Nichts für ungut! Wo – mampf – brennt´s denn?“

    „Ich hatte eben ein Gespräch mit dem Oberaufseher über die königlichen Windmühlen. Er meinte, ein schrecklicher Windmühlen fressender Riese nähere sich. Die Erschütterung, die wir gerade spüren, sind seine Schritte.“

    „Des Oberaufsehers.“

    „Nein, des Riesen.“

    „Na und? Was hab ich damit zu tun?“

    „Ich hab versprochen, ihm zu helfen.“

    „Dem Riesen?“

    „Verdammt nochmal! Nein dem Oberaufseher. Der arme Mann steht kurz vor einem Schlagfluss.“

    „Fein! Ein fauler Beamter weniger!“

    „Herr Magister, bitte!“, rief ich.

    Kopf sah mich belustigt an. „Und nun... hmmpf... wisst Ihr nicht weiter. Ihr werdet Euch nochmal um Kopf und Kragen helfen.“

    „Ist es Euer Kopf?“

    „Na schön. Was kann ich für Euch tun?“

    „Ich denke, weil Ihr so gelehrt seid, könntet Ihr mir helfen.“

    Der Magister tat so, als denke er nach. „Hmm... nun ja... lasst mich überlegen... Wisst Ihr was? Schlagt dem Riesen mit Eurer Wunderwaffe doch einfach den Kopf ab!“

    „Herr des Himmels! Kopf, überlegt doch mal, was Ihr da sagt! Einem Riesen, der höher ist als der Turm des Ulmer Münsters, schlägt man nicht so einfach den Kopf ab.“

    „Hmm...nun ja... schlürf... hicks... mampf... ahhh... schluck!“

    „Kopf!“, brauste Gerlind auf, „seid Ihr noch bei Trost?“

    „Herr Magister, wenn ich bitten darf!“

    „Gerne. Also, was schlagt Ihr vor?“

    „Mir fällt nix ein, und, hicks, wo mir nix einfällt, da ist auch nix!“

    Es war nicht zu übersehen, Kopf war sternhagelvoll.

    Ich blickte Gerlind ratlos an. „Was machen wir nun?“

    „Wieso wir? Du!“

    Betrübt stand ich auf und ging nach draußen, an die frische Luft. Jetzt konnte nur noch einer helfen.

    „O Gott, der du im Himmel bist und über Heerscharen von Cherubimen, Seraphimen und anderen Engeln gebietest“, rief ich in die Wolken, „dein Knecht Mundburt braucht wieder einmal deine Hilfe! Die Menschen haben mich verlassen, jetzt steh ich ganz allein da und habe nur noch dich!“ Ich lauschte, denn ein Lärm erhob sich; doch es war nur eine Schar Krähen, die über mich hinwegzogen. „Dir, o HERR, brauche ich nicht sagen, worum es geht“, betete ich mit demütigem Sinn, wie es mich der Monsignore gelehrt hatte, „sende mir also ein Zeichen, aus dem ich erkennen kann, in welcher Richtung die Lösung liegt!“ Auf ein Gelöbnis verzichtete ich, denn die Hilfe Gottes wird nicht durch eitle Gelübde oder weibisches Jammern erfleht, sondern durch tapferes Handanlegen. Das bringt die Dinge ins Lot und zu einem guten Ende. Außerdem hätte ich in diesem Moment nicht recht gewusst, was ich geloben sollte, und zum Nachdenken war keine Zeit.

    Inzwischen hatte ich gelernt, dass der HERR seine Hilfe selten in der Weise gewährt, wie man sie sich erwünscht. Ich rechnete also nicht mit bedeutenden Himmelserscheinungen wie Wetterleuchten, Donner, Blitz, Hagelschlag, Sternschnuppen, Sonnenfinsternis, Blutmond, Blutschnee oder anderen Anzeichen, die den Auguren im alten Rom bei ihren Weissagungen geholfen hatten. Deshalb hielt ich nach einem eher unscheinbaren Zeichen Ausschau, etwa nach einem Feuersalamander, der mir unversehens über den Weg lief, nach einem toten Sperling, der mir auf den Kopf fiel, oder nach dem Kot eines Wolfs, von dem die Alten behaupteten, an seinem Duft könne man erkennen, ob man sich in einem glücklichen oder unglücklichen Lebensabschnitt befinde. Doch wo ich auch hinblickte, forschte, suchte, roch, schnüffelte, wühlte – es war wie verhext, ich fand nicht den kleinsten Hinweis, in welche Richtung ich denken sollte.

    Niedergeschlagen kehrte ich um. Drei Hühner auf einer Stange hielten die geöffneten Schnäbel in den Wind. Plötzlich sprang ein Fuchs hoch, packte eines der Hühner am Hals und verschwand damit hinter einer Hausecke.

    Im Saal saßen Gerlind, der Bürgermeister sowie Herr Mühlenknecht und steckten die Köpfe zusammen: Der Kriegsrat. Bei meinem Eintreten sprang der Oberaufseher über die königlichen Windmühlen auf und kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Ich hielt es nicht mehr in meinem Zimmer aus“, rief er aufgeregt, „ist Euch etwas eingefallen? Habt Ihr einen Plan? Das wäre großartig, ganz großartig!“

    „Leider nein, Euer Liebden.“

    Ich setze mich. „Wo ist denn Kopf?“

    „Der Halunke schläft seinen Rausch aus“, sagte Gerlind.

    „Meine Herren“, sagte ich, „bevor wir hier Trübsal blasen, erzählt mir doch, was Ihr schon gegen den Riesen unternommen habt. Vielleicht hilft das ja meiner geistigen Schwachheit auf.“

    „Nun ja“, fing der Bürgermeister an, „wir haben brennende Fackeln an die Windmühlenflügel gebunden und in Bewegung gesetzt, in der Annahme, dass der Riese wie alle Waldbewohner eine panische Angst vor Feuer hat. Doch er hat die Fackeln einfach ausgeblasen.“

    „Vorletztes Jahr und das Jahr davor“, sagte der Edle, „haben wir ihn mit brennenden Pfeilen beschossen. Doch die Geschosse sind an ihm abgeprallt und haben zusätzlich noch zwei Windmühlen in Brand gesetzt.“

    „Hmm, das hört sich nicht gut an. Wie sieht er denn aus, Euer Riese?“

    „Oh, er ist eine ungeschlachte, lächerliche, hässliche Figur, mit Augen, größer als der Bauch und einem Kopf, breiter als der Körper und mit schrecklich breiten Kinnbacken. Sein fürchterliches Maul ist oben und unten mit mächtigen Zähnen bewaffnet, und sein –“

    „Verzeihung, das meine ich nicht. Hat er etwas Besonderes an sich, womit man ihn packen könnte? Ein lahmes Bein, einen Buckel, ein blindes Auge, ein Magenleiden?“

    „Ha, Magenleiden“, rief der Bürgermeister laut, „wenn er´s bloß hätte! Aber dieser Eisenfresser hat einen Magen wie das trojanische Pferd! Und lahm, blind und buckelig ist er, soweit man sehen kann, auch nicht.“

    „Großartig, ganz großartig habt Ihr das gesagt, Euer Ehren!“, lobte Mühlenknecht, „vielleicht solltet Ihr noch den dunklen Fleck auf seiner Stirn erwähnen.“

    „Ach ja! Auf der Stirn hat er einen dunklen Fleck, aber der wird keine weitere Bedeutung haben. Ein Muttermal eben.“

    Der Magister erschien. „Kinder!“, rief er, „nehmt´s mir nicht übel, aber das musste mal sein. Versteht doch! Hab mich mein halbes Leben von Dünnbier und Grießbrei ernähren müssen –“

    „Schon gut, Kopf, setzt Euch“, sagte Gerlind, „seid Ihr wenigstens wieder klar im Kopf?“

    „Ich denke schon.“

    „Kopf, Kopf? Ich höre immer nur Kopf!“, sagte Herr von Lerchenhorst, „ich verstehe nicht... Hat der Herr keinen Namen?“

    Ich erklärte kurz, was es damit auf sich hatte.

    „Großartig, ganz großartig!“, rief der edle Mühlenknecht, „wieder angenäht! Großartig, ganz großartig!“

    „Herr Magister“, sagte ich, „als ich eben draußen war, flog eine Schar Krähen über mich hinweg, und kurz darauf schnappte sich ein Fuchs ein junges Huhn. Hat das möglicherweise eine Bedeutung?“

    „In welche Richtung flogen die Vögel? Gegen Sonnenauf- oder gegen Sonnenuntergang?“

    „Oha! Darauf habe ich nicht geachtet. Außerdem ist der Himmel bewölkt.“

    „Denkt nach!“

    „Hmmm... Sie flogen auf jeden Fall über mich hinweg, als ich mit dem Rücken zum Rathaus stand.“

    „Also flogen sie in Richtung Sonnenaufgang“, bemerkte der Bürgermeister.

    „Sehr gut! Das bedeutet gutes Gelingen für denjenigen, der genau unter dem Schwarm steht und sich mit einem außergewöhnlichen Vorhaben trägt. Das mit dem Huhn –“

    „Ha, gutes Gelingen! Großartig, ganz großartig!“

    „Mensch, Mühlenknecht, könnt Ihr nicht endlich mal Euer Maul halten?“, polterte seine Ehren, „Euer Gequatsche ist ja unerträglich!“

    „Das mit dem Huhn ist unschwer zu erraten“, fuhr der Magister fort, „es bedeutet, dass jemand bald sterben wird.“

    „Nee, nee, nee, Meister“, zischte Gerlind, „das ergibt doch alles keinen Sinn! Gutes Gelingen und Tod, wie passt das denn zusammen?“

    „Mir fällt gerade ein“, sagte ich, „auf der Stange saßen drei Hühner. Zwei nebeneinander, und eines weiter weg. Sah aus, als gehörte das, welches der Fuchs holte, nicht dazu...“ Eine winziger Lichtpunkt nistete sich in meinem Hirn ein, wurde allmählich größer, nahm schließlich Gestalt an. „Eins zwei drei Hühner“ , murmelte ich, „und das dritte ist tot, eins zwei drei Augen, und das dritte ist rot.“ Der Lichtpunkt strahlte jetzt ganz hell, wie eine Erleuchtung.

    „Geht´s dir nicht gut?“, fragte Gerlind.

    „Wie wehrte sich der Riese, als er unter Beschuss stand?“, fragte ich, ohne auf Gerlinds dumme Frage zu achten.

    „Überhaupt nicht“, antwortete der Bürgermeister. „Wie ich schon sagte, die Geschosse prallten wirkungslos an ihm ab.“

    „Er hielt sich die Faust vor die Stirn“, ergänzte Mühlenknecht kleinlaut.

    „Ha!“, rief ich und sprang auf, „das ist es! Dieser Fleck auf der Stirn des Riesen ist kein gewöhnliches Muttermal, sondern etwas ganz Besonderes. Warum, fragte ich mich, hält er sich bei Beschuss die Faust davor? Jetzt ahne ich es zumindest. An dieser Stelle ist er tödlich verwundbar.“

    „Ha!“, rief der Magister, was ihr da sagt, mein Lieber, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, es könnte sich bei dem Fleck tatsächlich um ein drittes Auge handeln, um ein Stirnauge, das nach Meinung vieler Gelehrter früher alle Menschen und Tiere, die Knochen haben, besaßen, und durch das, wenn es zerstört wird, die Seele entweicht*.“

    Der Bürgermeister setzte sich kerzengerade auf. „Wollt Ihr damit sagen, wenn das dritte Auge des Riesen zerschossen wird, entweicht seine Seele, und er stirbt?“

    „Ja, die Möglichkeit besteht.“

    Mühlenknechts Faust knallte auf den Tisch. „Das ist es!“, rief er, „großartig, ganz großartig!“

    Der Bürgermeister winkte einen der Türsteher herbei. „Bittet sofort den Hauptmann der königlichen Scharfschützen zu mir. Aber dalli!“

    Ich richtete den Blick gen Himmel. „Danke, Herr!“

    __________

    * Noch bis weit ins 19. Jh. wurde die Theorie vertreten, dass die Seele in der Zirbeldrüse sitzt, die sich aus diesem dritten Auge entwickelt haben soll.

    Mundburt besteht auf seinem Willen und entwirft einen Schlachtplan.

    Der Hauptmann war ein ernster mürrischer Kerl, abgemagert bis auf die Knochen; anscheinend schmeckte ihm die Kost nicht, die man ihm hier vorgesetzte. Ich fragte mich, wie dieser Mensch eine Armbrust spannen und halten konnte, wozu doch die geballte Kraft eines durchtrainierten und muskulösen Körpers nötig ist, und erhielt bald darauf eine Antwort, die mich in Erstaunen versetzte.

    „Herr Hauptmann“, sagte der Bürgermeister, „ist die Hornisse einsatzbereit?“

    „Natürlich, Euer Ehren.“

    „Wie heißt Euer bester Scharfschütze?“

    Der Soldat nannte einen Namen, der mir entfallen ist, und lügen will ich nicht. Übrigens, ich vergaß zu sagen, dass das Rumpeln und Stoßen jetzt ziemlich stark war und dem Edlen zu Reuenthal Sturzbäche von Angstschweiß über die Wangen trieb.

    „Ist der Mann zuverlässig?“

    „Aber natürlich! Er schießt Euch auf tausend Schritt den Korken aus einer Flasche, und die Flasche bleibt stehen.“

    „Wo befindet sich der Mann jetzt?“

    „Er hat bereits Posten bezogen.“

    „Gut, ich danke Euch, Herr! Ihr könnt gehen.“

    „Hmmm... ähem...“, ließ sich der Magister vernehmen, „eine Frage, Euer Ehren, wenn Ihr beliebt. Schießen Eure Truppen tatsächlich immer noch mit Bogen und Pfeilen, wo alle Welt doch schon längst Armbrüste gebraucht? Schließlich leben wir im vierzehnten Jahrhundert und nicht im alten Rom.“

    Der Bürgermeister rülpste heftig. „Habe ich Bogen gesagt?“ Er winkte den Türwächter herbei und flüsterte ihm etwas zu. „Armbrüste, lächerlich! Für diesen Riesen bräuchte es eines dieser montierten Geschütze von dreißig Fuß Länge! Viel zu unbeweglich, zu schwer und zu langsam! Wir benutzen eine andere, völlig neuartige Technik. Wartet einen Moment.“

    Von draußen hörte man schwere Schritte, dann schleppten zwei Soldaten ein dickes, eisenbewehrtes Rohr von etwa zehn Fuß Länge herein, das allerlei Hebel und Stangen an sich hatte; ein dritter trug eine Eisenkugel von der Größe eines Straußeneis.

    „Das ist unsere Hornisse“, sagte der Bürgermeister nicht ohne Stolz, „ihr Stich tötet auf tausend Schritt Entfernung einen schwer gepanzerten Ritter. Die Waffe funktioniert folgendermaßen: Mit diesem Hebel wird Luft in die Ladekammer gepresst, die durch eine Nuss zum Rohr hin verschlossen ist. Ist genug gepresste Luft in der Kammer, legt der Ladelschütze das Geschoss ein, und das Ziel wird mithilfe des Korns hier vorne an der Gabel anvisiert. Auf den Ruf 'Schuss frei!' zieht der Hintermann den Abzugshebel, wodurch die Nuss hochgezogen wird und den Wind freigibt*. Der große Vorteil dieser Waffe besteht erstens in ihrer Durchschlagskraft und zweitens darin, dass die Schützen schnell auf Positionsänderungen des Ziels reagieren können. Bei den aufmontierten großen Armbrüsten ist dies nicht so ohne weiteres möglich. – Danke, meine Herren.“ Die Soldaten trabten wieder ab.

    „Trotzdem seht Ihr nicht glücklich aus“, sagte ich, „wo hapert´s denn noch?“

    „Gegen den Riesen hat sich die Waffe bisher als unwirksam erwiesen. Er fängt die Kugeln mit der Hand auf und wirft sie zurück. Schlimmer noch: Als ihn letztes Mal eine an der Stirn traf, brach er in rasende Wut aus und trampelt alles kurz und klein. Wir hatten tausend getötete Krieger und hundert zertrampelte Windmühlen zu beklagen.“

    „Das heißt, wir haben nur einen Schuss“, stellte der Oberaufseher fest, der wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl hing und sich die Stirn wischte.

    „So ist es! Und dieser Schuss muss sitzen!“, bekräftigte der Bürgermeister.

    Wieder erschütterte den Boden ein heftiger Stoß. In diesem Moment flog die Flügeltür auf, und ein Bote erschien. „Euer Ehren!“, keuchte er, „der Riese! Er ist nur noch zehn Schritte von den Windmühlen entfernt!“

    „Den Wagen!“, rief der Bürgermeister, „aber dalli!“

    „Mundburt!“, rief Gerlind plötzlich in heller Aufregung, „wir kehren sofort zum Schiff zurück! Hab keine Lust, mich von diesem dämlichen Riesen zertreten zu lassen!“

    „Das wird schlecht gehen. Ich hab den Leuten Hilfe zugesagt, und was ich verspreche, halte ich auch.“

    „G-großartig, g-g-ganz groß – “, stammelte Mühlenknecht und verstummte unter dem wütenden Blick seiner Ehren.

    „Nein, nein, nein!“, zeterte Gerlind weiter, „du bist doch ein hirnverbrannter Dickschädel! Ich sag dir was: Wann und so oft es dir gefällt, zur Hölle zu fahren oder abzusaufen oder dich tot treten zu lassen, dann bitte schön, aber ohne mich! Pah, nochmal zurück aufs Windmühlenfeld kriegen mich keine zehn Teufel! Wenn´s dir unbedingt gefällt, gut, aber dann such dir eine andere Gesellschafterin! Ich gehe jedenfalls nicht mit! Das steht fest wie eine eiserne Mauer.“

    „Mein Gott, Gerlind, so versteh doch! Ich habe Hilfe –“

    „Welche Hilfe denn, he, du Affenschwanz, wo das Ungeheuer schon zehn Schritte vor der Tür steht?“

    „Es sind immerhin noch zehn Meilen“, beruhigte der Bürgermeister, „dafür benötigt der Riese eine halbe Stunde. Ein so schweres Ungeheuer kann sich wegen seiner Masse nur langsam bewegen. Aber wenn ihr darauf besteht, Jungfer, lasse ich Euch und den Herrn Knappen –“

    „Ha, ho, ha!“, rief ich, „kommt überhaupt nicht infrage! Ich bin mir sicher: Der Schuss trifft, so wahr mit Gott hilft! Aber bitteschön, wenn du unbedingt zurück aufs Schiff willst, ich halte dich nicht!“

    „Blah, blah, blah! Du bist und bleibst ein Arschloch!“

    „Herr Bürgermeister“, sagte ich, ohne weiter auf Gerlinds Getöse zu achten, „lasst sofort alles Kriegsvolk abziehen, die Windmühlen bis auf eine anhalten und um diese herum möglichst viele Fackeln setzen. An die Flügel dieser einen Mühle lasst Ihr ebenfalls Fackeln anbringen. Das Geschütz soll, den Blicken des Riesen verborgen, vor dieser Mühle in Position gehen. Und nun auf in die Schlacht!“

    ________

    * Sollten die Windesser bereits das Luftgewehr erfunden haben? Verwunderlich wär´s nicht.


    Mundburt erweist sich als bissig und erhält den versprochenen Lohn.

    Als wir auf dem Mühlenfeld ankamen, hatten die Krieger bereits ihre Stellungen verlassen. Der Bürgermeister und ich stiegen aus und gingen zur Geschützstellung; Kopf und Gerlind fuhren zu dem Höhenzug zurück, auf dem wir schon einmal gestanden hatten, und von dem aus sie das Geschehen beobachten und sich nötigenfalls in einen Fluchttunnel retten konnten.

    Vor besagter Mühle waren zehn Männer dabei, in einer Entfernung von hundert Schritt einen Erdwall aufzuschichten, hinter dem sich die Soldaten mit der Hornisse verbergen konnten. Vom Riesen war jetzt weder etwas zu sehen noch zu spüren; der Bürgermeister meinte, das sei bisher immer so gewesen, der Riese warte ab, bis es vollständig dunkel sei.

    Der Erdwall war nun fertig, die Männer, die Schaufeln geschultert, zogen ab, das Geschütz wurde in Stellung gebracht. Nun hieß es abwarten.

    Ich blickte nach oben, in den wolkenverhangenen Himmel. Ganz weit hinten, über dem Horizont, lag ein heller Streifen, in den ein wüster Berg hinein ragte. Der Bürgermeister schaute in die gleiche Richtung.

    „Ist er das?“, fragte ich.

    „Ja, das ist er.“

    Weil mir vor Ungeduld die Zeit lang wurde, fragte ich den Bürgermeister, warum er hier das Kommando habe, ob es in seinem Land keine Generale gäbe.

    „Die Generalität ist abgeschafft“, sagte er, „fressen viel und verlieren aus Dusslichkeit eine Schacht nach der anderen. Wenn ich nur an diese Sache mit den Sturmpfeilen denke, schwillt mir jetzt noch die Milz. Lässt sich doch der Obergeneral Sturmpfeile von einer deutschen Rüstungswerkstatt andrehen, die bei Hitze krumm werden und um die Ecke fliegen, hahaha! Na ja, ich will nicht übertreiben, nicht um die Ecke, aber auch nicht ins Ziel. Oha!“ Seine Ehren sah mich verlegen an. „Ähem... Ich wollte Euch nicht beleidigen, lieber Herr. Ihr kommt doch aus Deutschland, oder irre ich mich da?“

    „Ihr irrt Euch keineswegs ganz, nur etwas. Sagen wir mal so: Ich komme aus Schwaben, doch diese Waffen machen die Westfalen. “

    Hinter uns raschelte es: Kopf und Gerlind.

    „Was zum Teufel wollt ihr denn hier?“, rief ich.

    „Bruder!“, rief der Magister, „mein linkes Eichen, mein Augenstern, mein Wohltäter, hielt es dahinten nicht mehr aus, erstens, weil mir schlecht war, zweitens, weil es mir schlecht ging, drittens, weil die Welt schlecht ist. Höre mich an, mein tapferer Ritter in spe, höre, was ich dir ins rechte Ohr flüstere: Ich schwöre, ich beeide, ich gelobe –“

    „Kopf! Wenn Ihr solche Angst habt, warum seid Ihr nicht in der Etappe geblieben?“

    „Ach ach ach, nehmt´s mir nicht übel, mein Homer, mein Horaz, mein Hosenlaatz... musste Euch sehen, Eure Stimme hören, musste –“

    „Wenn Ihr nicht sofort mit dem Unsinn aufhört, beiße ich Euch das rechte Eichen ab!“, rief ich. Allem Anschein nach stand der Magister wieder einmal aus Angst kurz vor dem Wahnsinn. „Und du, Gerlind, du meine eierlose Vorspeise, was treibt dich her?“

    „O, du Bube, du herziger Hosenhalter, du knalliger Knappe mit knatternder Kappe, o sage doch, du sauberes Bürschchen, was plagt dich, du mageres Menü, dass du den Mund so voll nimmst? Mit welchem Recht schiltst du mich eine eierlose Speise, du kackfrecher Knabe –“

    „Wenn ihr nicht sofort verschwindet!“, brüllte ich, „lasse ich euch –“

    Der Rest des Satzes wurde von einem gewaltigen Getöse überdeckt, die Erde bebte, und ein schwarzer Schatten wuchs hinter dem Mühlenfeld empor.

    „Die Fackeln anzünden!“, rief der Bürgermeister, „Geschütz klar machen zum Schuss! Aber dalli!“

    Noch viermal bebte die Erde, dann stand der Zyklop schnaubend, prustend und tosend vor uns; ein Gebirge aus Haut, Leder, Haaren und Wut. Wenn er ausatmete, toste ein Orkan durch die Luft.

    Der Riese, offensichtlich verwirrt durch die lodernden Fackeln und die brennende Mühle, oder auch fasziniert durch den ungewohnten Anblick, verharrte eine Weile unbeweglich, dann hörte man ein Ächzen, Stöhnen und Knarren: Der Riese packte den himmelhohen Stamm einer Fichte, der ihm als Gehhilfe diente, fester und ließ sich auf die Knie nieder. Mit der Faust vor der Stirn blickte er sich um; da er das Feld frei von Angreifern fand, beugte er sich weiter vor, wobei er sich beidhändig abstützte. Deutlich war das dritte Auge zu erkennen.

    „Fertigmachen zu Schuss“, flüsterte der Bürgermeister den Soldaten zu.

    Jetzt, im Fackelschein, konnte man sehen, wie hässlich der Riese war, viel hässlicher, als ihn der Mühlenwächter geschildert hatte. Aus seinen Nasenlöchern tropfte zäher Schleim, und an seinen Mundwinkeln hing blasiger Schaum. Über dem schwarzen, fast zugewachsenen Gesicht, in dem die wagenradgroßen Augen böse funkelten, lag, wie Drachengezücht, ein wüster Haarschopf. Sein Maul glich einem Höllenrachen, die Zähne denen eines wütenden Ebers. Die Füße dieses Ungetüms waren mit Morast beschmiert, mit Nägeln so lang wie die Krallen der Harpyien*. Und der Körper, von zottigen Haaren bedeckt, war über alle Beschreibung scheußlich, sodass ich es erst gar nicht versuche.

    Der Riese zog die Luft ein, was endlos dauerte, spitzte er seine gewaltigen, rissigen Lippen, dann beugte er sich weiter vor. Anscheinend wollte er die Fackeln auspusten.

    „Schuss!“, rief der Bürgermeister.

    Der Pfeil beschrieb einen flachen Bogen und drang in das dritte Auge ein. Mit wütendem Gebrüll riss der getroffene Gigant den Pfeil heraus, erhob sich und drosch wie besessen mit dem Fichtenstamm auf die Fackeln ein, die wie feurige Kometen durch die Luft flogen. Plötzlich hielt er inne, ließ ein gewaltiges UUAAAHHHH hören und sackte kraftlos zusammen; sein Sturz erschütterte die Erde wie ein Beben.

    *

    Der Bürgermeister hielt Wort. Der Ritterschlag erfolgte nur wenige Stunden später, in Anwesenheit der königlichen Garde, des Stadtrates und einer unübersehbaren Menschenmenge, die mir begeistert zujubelte.

    Wieder höre ich die Worte, die er sprach, als er mir den Schwertstreich gab:

    „Zuo gotes unde Marien er,

    diesen slac und keinen mer!

    wis küene, biderbe und gerecht;

    bezzer ritter denne knecht!“

    Zum Abschied schenkte er uns ein Fass mit Wind – für alle Fälle –, und reichlich Proviant. Bevor er von Bord ging, empfahl er uns mit eindringlichen Worten den Besuch der Nachbarinsel. Dort würden wir Dinge erleben, wie sie in den kühnsten Träumen nicht vorkämen.

    ________

    * Geflügelte Todesgöttinnen

    ***

    Was sagt Ihr, Schreiber? Keine Dinte mehr im Topf? Dann hurtig auf und nachgefüllt! Das Beste kommt noch!

    Forts. folgt

  • Mundburt und seine Leute besuchen die Insel der Basophilen*.

    Wieder auf offener See, zechten, schmausten und schwatzen wir und führten allerhand interessante Gespräche. Der Wind pfiff lustig durch die Stengen, die Luft war angenehm mild, die See glatt, der Wein vorzüglich.

    Bald hatte ich genug von dem Gerede, setze mich aufs Achterkastell, blickte in den blanken Himmel und horchte in mich hinein.

    Wo war ich? In irgend einem unbekannten Teil der Welt.

    Wer war ich? Ein Luftikus, ein Ritter der Winde, zum Ritter geschlagen mit einem Schwert aus Wind.

    Was wollte ich? Die Minne der Herrin gewinnen.

    Doch, Teufel auch, bisher war ich diesem Ziel noch keinen Schritt nähergekommen.

    Ich ging in die Kajüte, nahm den Kristall und blickte hindurch. Da lagen mein Schwert, mein Schild, mein Harnisch. Ich ergriff das Schwert. Ja, es lag gut in der Hand, wenn es auch nur geschmiedeter Wind war. „Sechs Hiebe hast du“, murmelte ich, „mit dem sechsten zerschlägst ich das Band, das dich von der Herrin trennt!“

    Damals wusste ich noch nicht, dass die Schicksalsgöttinnen ihren Lieblingen gerne ein Schnippchen schlagen.

    *

    Es ging schon auf den Abend zu, da erblickten wir die Insel, deren Besuch uns die Windesser so warm empfohlen hatten. Eine halbe Sonntagspredigt später warfen wir den Anker aus und gingen an Land. Trabto blieb an Bord.

    Ich muss gestehen, liebe Freunde, das, was wir dort erlebten, übertraf meine kühnsten Erwartungen. Die Andeutungen des Bürgermeisters hatten dazu geführt, dass meine Fantasie Speck angesetzt hatte, alles Mögliche und Unmögliche stellte ich mir vor – nur nicht das, was wir dann tatsächlich sahen und erlebten. Schon die Windesser hatten mein Menschenbild nachhaltig verändert; diese Insulaner nun warfen es endgültig über den Haufen.

    Wir waren noch keine hundert Schritte den Strand hinauf gegangen, da kam mit ausgebreiteten Armen winkend und mit freundlichem Hallo und Helau eine Gruppe von etwa fünfzehn Leuten auf uns zu, Männer, Weiber, Kinder. Wir blieben überrascht stehen, denn ein solcher Empfang war uns noch nie bereitet worden; ich kann mich auch trotz angestrengtem Nachdenken nicht erinnern, dergleichen später wieder erlebt zu haben. – Anstatt nun stehen zu bleiben, wie es die Höflichkeit erfordert hätte, liefen diese Menschen auf uns zu, umarmten uns und begannen, uns ungeniert abzuküssen.

    Herr im Himmel, ich bin mir sicher, meine ehrbaren Vrouwen, solche Küsse habt Ihr noch nicht erlebt! Wäre mir zudem auch nicht sicher, ob sie Euch überhaupt geschmeckt hätten! Gerlind jedenfalls schmeckten sie nicht. Sie reagierte empört und ging, wie es bei solchen Situationen ihre Art war, zum Angriff über: Einem langen, struppigen Kerl versetzte sie eine schallende Ohrfeige und rief: „He alter Kalbsschwanz, lass das, du stinkst!“, worauf der Kerl in helle Tränen ausbrach und sich auf ein kleines Mädchen stürzte und es abküsste. Der Magister, an dem zwei runde, dralle Dirnen hingen wie Blutegel an der Wade, keuchte begeistert: „Beim heiligen Ochsenziemer! Die gehen aber ran!“ Kynos leckte vergnügt das Gesicht eines zwölfjährigen Knaben, was der sichtlich genoss. –

    Und nun wollt ihr natürlich wissen, meine lieben Zechbrüder und Kegelschieber, was ich bei der Sache empfand. Tja, ich fürchte, da muss ich euch gründlich enttäuschen. Denn kaum hatte Gerlind den „alten Kalbsschwanz“ weggestoßen, da drehte sie sich zu mir um, griff einer üppigen Matrone, die gerade ihr spitzes Kussmäulchen dem meinen näherte, bei den Haaren und zerrte sie weg: „Lass das, du alte Hexe, der gehört mir!“, schrie sie. Kam also gar nicht dazu, etwas zu empfinden, höchstens verhaltenen Ärger über Gerlinds rüdes Benehmen; schließlich kamen wir als Gäste und nicht als Moralapostel auf die Insel. Doch meine Bedenken erwiesen sich als unbegründet. Ein kostbar gekleideter, eisgrauer Herr mit einer Mütze aus Taubenfedern** auf dem Kopf sagte lächelnd, aber ziemlich förmlich: „Liebe Fremdlinge, Ihr seid uns herzlich willkommen! Bitte folgt uns in den Palast des Königs, denn er brennt darauf, Euch zu begrüßen!“ Nach diesen Worten umarmte er die Matrone, offenbar seine Gattin oder Buhle, und siehe, die anderen Männer, Weiber, Kinder umarmten sich ebenfalls, und ein gewaltiges Lecken, Schmatzen, Knutschen begann.

    Und da, aus nächster Nähe, sah ich die Münder dieser seltsamen Vögel. Nur mit Mühe konnte ich ein lautes Auflachen unterdrücken. Dem Magister, um dessen Mundwinkel es ebenfalls zuckte, zische ich zu: „Um Himmels Willen, Kopf, lacht jetzt nicht! Kneift die Arschbacken zusammen, aber lacht nicht! Die Leutchen könnten Euer Lachen missverstehen!“ Denn es zeugt von keinem guten Stall, wenn man sich über körperliche Eigenheiten anderer Leute lustig macht.

    Was wir jetzt erblickten, war auch zu bizarr.

    Nun gut, diese Leute sahen zunächst, bis auf ein paar Kleinigkeiten, ganz normal aus. Da war einer mit einer schiefen Schulter, ein anderer hatte eine Nase wie ein Humpen, ein dritter Hände wie Salatschüsseln, eine Jungfer war von braunen Pockennarben übersät, ein alter Mann sah aus, als habe ihn eine Kuh feucht angefurzt und so weiter und so fort. Du lieber Gott, alles nicht des Lachens wert, wenn da nicht (haha, immer noch lächerts mich, wo ich wieder daran denke), ja, wenn da nicht diese Kussmäuler gewesen wären, die den Leuten vorm Gesicht standen wie Schweinerüssel, mit Lippen, so rot und wulstig wie Pavianärsche. Es war auch kein normales Küssen, was sie da taten, sondern eher ein schmatzendes aneinander Festsaugen, wie es Neunaugen oder Schiffshalter tun, und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie wieder voneinander ließen. Später erfuhr ich von einer mehrfachen Mutter, die zwei Säuglinge in zwei Kinderwagen schob und die ich, darüber verwundert fragte: Es sei gefährlich, die Kleinen in eine Wiege zu packen – ruckzuck hätten sie sich aneinander festgesaugt, und dann sei es schwer, da Ermahnungen noch nicht fruchteten, sie wieder auseinander zu bringen.

    Der Gang zum Königspalast war der eigenartigste, den ich jemals erlebte, ich spreche auch für Gerlind, Kopf und Hund, die mir bestätigten, diese öffentliche Küsserei habe sie völlig überrascht. Überall auf den Straßen und Plätzen der Stadt standen Pärchen in inniger Umarmung; andere liefen aufeinander zu, saugten sich fest und blieben unbeweglich stehen. Ein windschiefes mageres Männchen und eine stattliche Dame hielten sich mitten auf dem Weg eng umschlungen und küssten sich, wobei die Beine des Kleinen in der Luft hingen.

    „Hmm“, knurrte der Magister, „sollte der Kerl wirklich die richtige Peitsche haben, um solch einen Kreisel anzutreiben?“ – „Nur keinen Neid!“, konterte Gerlind, „brecht nicht die Lanze über Leute, die Ihr nicht kennt!“

    Doch nicht nur Erwachsene küssten sich coram publoco, sonder auch Kinder aller Altersstufen. Kurz: Jeder küsste jeden. Ich beobachtete einen etwa zehnjährigen Knaben, der auf einer Bank stand und jedem, der an ihm vorbei kam, einen Kuss aufdrückte. Eine Frau redete einen Mann mit 'grüß Euch, mein Ochsenschwänzchen' an, worauf der erwiderte: 'Wie seht Ihr heuer wieder gut aus, alte Kommode!', dann saugten sich die beiden fest. Das Absonderlichste aber war ein Greis, der ein kleines Mädchen hochhob und stammelte: „Küsse mich, mein Söhnchen!“, worauf das „Söhnchen“ antwortete: „Gerne, mein lieber Dudelsack!“ Immer wieder stürzten Leute auf uns zu und versuchten, uns abzuküssen, sogar Kynos wurde nicht verschont. Und überall Kinder, Kinder, Kinder... Alle mit den gleichen Nasen, und zum größten Teil mit dem Kostüm bekleidet, in dem sie zur Welt gekommen waren..

    „Euch Leuten aus einer anderen Welt“, sagte der Mann mit der Federmütze – er war, wie sich bald herausstellen sollte, der Hofmarschall des Königs, ein Herr von Urigk – „werden diese Gewohnheiten als etwas Absonderliches vorkommen, besonders, wenn Ihr erfahrt, dass alle Bewohner dieser Insel miteinander verwandt sind. Denn, ich will offen reden, beim Küssen allein bleibt es nicht.“

    „Wie gut“, raunte mir Gerlind zu, „dass ich den Kerl vorhin nicht an mich herangelassen habe. Hab keinen Bock, unversehens... na du weißt schon.“

    „Würdest du nicht, mein Dudelchen“, flüsterte ich zurück, „nicht beim Küssen! Genauso wenig, wie du vom Milchbaden satt wirst, es sei denn, du trinkst die Wanne aus!“

    „... wenn es sein muss“, sagte der Hofmarschall, „könnten wir nötigenfalls sechstausend Krieger stellen, die alle zu einer Familie gehören.“

    „Das ist nichts“, sagte der Magister, „ich wüsste sechs mal hunderttausend Recken, die alle von einem Elternpaar abstammen.“

    Der Hofbeamte blieb verdutzt stehen. „Wie, was“, rief er, „sechs mal hunderttausend? Von einem Elternpaar?“

    „Ja.“

    „Potz Kuss und Blitz, das ist stark! Mein Herr, übertreibt Ihr da vielleicht ein wenig?“

    „Aber... aber! Mitnichten! Ich könnte die Zahl sogar mehr als verdoppeln und bliebe immer noch bei der Wahrheit.“

    „Tz... tz... tz... Unglaublich! Haben diese Eltern auch einen Namen?“, fragte der Hofmarschall fast ehrfürchtig, „ich meine, zu welchem Geschlecht gehören sie?“

    „Das Geschlecht kennt Ihr, wie Ihr auch die Namen der Eltern kennt. Sie heißen Adam und Eva.“

    Herr von Urigk biss sich auf die Lippen. Anscheinend ärgerte er sich, dass er nicht selbst auf diese Idee gekommen war.

    Bald erreichten wir den Palast des Königs. –

    Was sagte ich gerade? Palast? Pah! Der große Saal auf Burg Wolkenstein war opulenter ausgestattet als die Halle, in die man uns jetzt führte – und mein Vater besaß zwar ein königliches Herz, aber kein königliches Einkommen. Doch dieser Saal nun – –

    Ehrlich, ich hatte kein Paradies der Düfte erwartet, auch keinen glitzernden Spiegelsaal. Auch nicht Rudel hochnäsiger Lakaien in Prunkgewändern, noch blitzblanke Volieren mit bunten Papageien, die uns alberne Worte entgegen krächzten. Auch nicht den einzigartigen Reichtum einer Königin von Saba, von dem noch tausend Jahre später der gute Diodor& in überschwänglichen Worten schwärmte. Doch zum Teufel, ein wenig fürstlicher Glanzz hätten es schon sein dürfen. Doch in dieser königlichen Hütte war nichts, was mein Herz hätte höher schlagen lassen, alles verteufelt karg, nichts, was einer näheren Beschreibung wert gewesen wäre – keine mit kostbarem Holz getäfelten Wände, keine goldenen Trinkgefäße, keine Ruhebetten mit silbernen Füßen, keine mit funkelnden Edelsteinen verzierte Türen, keine Sklavinnen in weißen Gewändern, keine – – Also lasse ich das Beschreiben und erzähle, was weiter geschah. Woher, meine Lieben, frag ich euch, woher soll der Reichtum auch kommen, bei einem Volk, das die meiste Zeit des Tages damit verbringt, sich zu küssen?

    Eine Flügeltür tat sich auf, ein Saaldiener verkündete: „Ihre Majestäten König Klebekuss II., Königin Hildekuss, Prinzessin Kusskuss!“

    Es gelang mir noch, Gerlind zuzuzischen: „Jetzt geht´s aber ohne Ohrfeige ab, hörst du?“, da fühlte ich mich umhalst, und ein gewaltiger Kussmund saugte sich an meinen Lippen fest, wobei die Nase darüber die Luft scharf einzog und wieder ausstieß. Aus den Augenwinkeln sah ich Prinzessin Kusskuss vor Kynos knien und ihm einen Schmatzer nach dem anderen auf die Nase drücken. Nach einer kleinen Ewigkeit löste Königin Hildekuss ihre Lippen von den meinen, blickte mich mit betörendem Augenaufschlag an uns säuselte: „Nun, mein Herr, wie schmecken meine Küsse?“ Ich beugte das Knie und log ohne rot zu werden: „Edle Monarchin, Eure Küsse schmecken unvergleichlich schön!“ Die Königin hob mich dankbar hoch, und wieder saugte sich ihr Kussmund an meinen Lippen fest.

    Als die königliche Begrüßung beendet war, entfernten sich die Majestäten unter ständigem Handkusszuwerfen. Mir fiel auf, dass sich die königliche Familie und die Domestiken vom Gesicht her auffällig glichen. Als die Tür ins Schloss gefallen war, bat uns der Hofmarschall zu einem kleinen Imbiss in den Speisesaal. Vorher raunte mir Gerlind zu: "Küsst nicht schlecht, der Monarch. Bei nächster Gelegenheit zeig ich dir mal, wie er´s macht."

    ______

    * Kussliebenden. **Weil Tauben nach Meinung der Alten gerne schnäbeln. & Griechischer Historiker, 2. Jh. nach Chr.

    Mundburt erfährt den Grund für die Küsserei.

    Ihr ahnt es schon, liebe Freunde, und ihr ahnt richtig: Der Imbiss war genau so fad wie das Drumherum.

    Während wir ungesüßten Pfefferminztee tranken und mit geschwollenen Lippen an einem Gebäck nagten, das der Truchsess „Kusskopf“ nannte, fragte ich den Hofmarschall: „Hoher Herr, erlaubt Ihr eine Frage?“

    „Gewiss doch, lieber Freund, fragt nur!“

    „Den Grund für die Kargheit dieses Palastes kann ich mir erklären“, sagte ich, „aber nicht den Drang, sich ständig und ausdauernd zu küssen. Liegt´s in Eurem Blut oder ist es eine Sache der Erziehung?“

    „Von beiden keines“, antwortete Herr von Urigk ohne zu zögern, „es liegt an der Eifersucht und an einem alten Zauberspruch, der deswegen erfolgte, und aus dem wir uns nicht mehr lösen können.“

    „Ei, wo gibt´s denn sowas!“, rief Kopf, „Zaubersprüche verfallen nach spätestens hundert Jahren!“

    „Dieser nicht, lieber Herr, er wurde ausdrücklich sub spezie aeternitatis* gesprochen. Außerdem ist es noch keine hundert Jahre her.“

    „Sagtet Ihr gerade Eifersucht?“, meinte Gerlind, „aber holla, Eifersucht konnte ich auf dem Weg hierher nun wirklich nicht erkennen!“

    „Wenn Ihr ein wenig Zeit habt, erzähle ich Euch, wie es zu dem Spruch kam.“

    Wir hatten.

    „Bevor uns der Spruch bannte“, begann der Hofmarschall, „war diese Stadt eine Hölle der Eifersucht und Nachstellung. Unselige Mordbuben gaben sich für billiges Geld her, einen vermeintlichen oder wirklichen Rivalen in frechem Wagnis ins Jenseits zu befördern. Immer wieder trieben die Leichen von Männern, in der Blüte ihrer Jahre erstochen oder zerhauen, den Fluss hinab, immer wieder fand man in den Gärten erwürgte Frauen mit blutig zerschnittenen Gesichtern, ja es kam sogar vor, dass ein eifersüchtiger Liebhaber seinen Nebenbuhler unter der Kirchenkanzel erstach. Einer Dame einen harmlosen Handkuss zuzuwerfen oder einer Jungfer länger als einen Herzschlag in die Augen zu schauen, konnte schon die erbitterte Rache des Gatten oder Vaters bedeuten. Vielleicht habt Ihr ja in diesem Punkt Recht, lieber Herr, dass uns diese Art angeboren war; auch heute noch sind die Männer dieser Insel für ihr heißes Blut bekannt.

    Doch eines Tages geschah eine entsetzliche Tat, die alles in den Schatten stellte, was an Unheilvollem bisher geschehen war. Ein Stich ins Herz – schrecklich, aber eine klare Sache; das zerstörte Gesicht einer Frau, die vorher erwürgt worden war – ein himmelschreiendes Verbrechen gegen die Frauenschaft. Aber alle diese Menschen hatten ihre Seelen Gott anvertraut, sie litten nicht mehr. Doch die Rache dieses Mannes, von dem ich jetzt –“

    „Herr Hochmarschall“, unterbrach Gerlind, „kommt bitte zur Sache! Lange halt ich´s in diesem zugigen Zimmer nicht mehr aus. Hab jetzt schon kalte Füße!“

    Der„Hochmarschall“, klatschte in die Hände. Eine Tapetentür öffnete sich, ein Diener erschien. „Einen Beinmuff für die Jungfer!“

    Gerlind: „Hochwürden, ich brauch keinen Beinmuff! Erzählt lieber zügiger und nicht so umständlich. Also, die Rache dieses Mannes...“

    Der Hofmarschall zuckte nicht mit der Wimper. Er verbeugte sich und sagte: „Wie die Jungfer wünscht!“ Wenn mir jemand in dieser seltsamen Stadt sympathisch war, dann dieser Mann.

    „Allerdings, ein klein wenig ausschweifen muss ich schon“, fuhr Herr von Urigk fort, „sonst versteht Ihr nicht, wie es zu dem Bannspruch kam. Besagter Mann, ein reicher Kaufmann – nennen wir ihn Fidelio – hatte in Indien durch Sparsamkeit und Fleiß sein Vermögen gemacht. Nach fünfundzwanzig Jahren fern der Heimat verspürte er den Drang, in seine Vaterstadt zurückzukehren und zu heiraten, denn was nutzt ein gutes Vermögen ohne Erben. Bald war auch ein Mädgen gefunden, eine Jungfrau von fünfzehn oder sechzehn Jahren, mit soviel Anmut und Reizen geschmückt, dass er darüber die Anzahl seiner Jahre vergaß, denn er ging schon stark auf die siebzig zu...“

    „Oha!“, schnappte Gerlind.

    „Kaum war der Ehekontrakt unterschrieben, in dem Fidelio ihr für den Fall seines Todes ein Witwengeld von... ähem... als ihn eine rasende Eifersucht überfiel, die sich in den nächsten Wochen noch tausendfach verstärkte. Den ersten Beweis lieferte er dadurch, dass er keinem Schneider erlaubte, Leonoren – so hieß das Mädgen – die Maße für das Brautkleid abzunehmen; es wurde nach der Figur einer anderen Jungfer von gleicher Statur gefertigt. Als nächstes ließ er sämtliche Fenster seines Hauses, die nach der Straße gingen, zumauern; zum Nachtwächter nahm er einen lendenlahmen Greis, dem er eine Kammer neben dem Tor zuwies. Ansonsten duldete er keine männlichen Bewohner in seinem Haus, sogar der Kater wurde vertrieben und der Hengst durch eine Stute ersetzt. Die Lieferanten mussten alles, was er brauchte, durch eine Klappe im Tor reichen. Nie war ein Kloster besser bewacht, nie eine Nonne sicherer verwahrt... Leonore saß in einem Gefängnis mit goldenen Türklinken.“

    Der Erzähler unterbrach sich, um einem spindeldürren Saaldiener etwas ins Ohr zu flüstern.

    „Ziemlich extrem, was Ihr da erzählt“, sagte ich.

    „Das Drama beginnt erst. Es gab damals in dieser Stadt gewisse junge Leute, ebenso wild und ausgelassen in ihren Sitten wie honigsüß und geschmeidig in ihren Manieren, die aus Langeweile die tollsten Streiche spielten. Einer dieser Stutzer – nennen wir ihn Leporello – hatte von der Schönheit der jungen Frau erfahren, auch von der Art ihrer Bewachung, und die Tatsache, dass er das Haus immer verschlossen fand, stachelte seine Neugier auf, und er beschloss, die Festung mit List oder Gewalt zu erobern. Eines Tages benutzte er die Abwesenheit des Hausherrn, einen ersten Versuch zu wagen. Er färbte sich den keimenden Bart, bedeckte ein Auge mit einem Pflaster, schnallte sich ein Bein hoch, hüllte sich in einen zerlumpten Kittel, ging auf Krücken – mit einem Wort: Leporello spielte den Lahmen so natürlich, dass ihm der kümmerlichste Krüppel nicht gleichkam. Dann ging er an das Tor, klopfte ein paarmal heftig dagegen, ließ sich wie einer, den der Schlag getroffen hat, fallen, und begann fürchterlich zu röcheln. Der Torwächter öffnete die Klappe, um nach der Ursache des Lärms zu sehen. 'Erbarmen', keuchte Leporello, 'ich verbrenne, ich sterbe! Wasser, Wasser!' – Der Alte lief weg, um Wasser zu holen, vergaß aber in seinem Schreck, die Klappe zu schließen. Leporello sprang auf, steckte die Krücke durch die Klappe, stieß den Riegel zurück, öffnete das Tor –“

    „In diesem Moment kam der Kaufmann überraschend zurück“, lachte Gerlind, „und als er sah, dass der vermeintliche Krüppel ein schöner Jüngling war, ergriff ihn eine rasende Wut, und er erstach nicht nur den Galan, sondern auch seine Frau, und den Greis warf er in die Abortgrube, und dann brachte er sich selber um, und wenn er nicht –“

    „Nichts von alledem tat er, schöne Maid“, fuhr der Hofmarschall ungerührt fort, „und wenn er´s getan hätte, niemand hätte sich sonderlich darüber aufgeregt, schließlich gehörten solche Moritaten damals fast schon zum alltäglichen Einerlei. Nein. Seine Rache war von teuflischer Grausamkeit. Zwei Tage später schüttete er der schönen Frau, von deren Untreue er überzeugt war, einen Topf siedendes Öl ins Gesicht, als sie gerade im Bade lag.“

    Der Erzähler schwieg.

    Kynos kratzte sich nach alter Hundeart mit der Hinterpfote am Ohr. „Ich habe“, sagte er, „den Menschen – mit einigen Ausnahmen – nie über den Weg getraut, und jetzt, wo ich dies höre, tu ich´s noch weniger“

    „Weniger als nie geht nicht“, schulmeisterte der Magister.

    „Hat Leonore überlebt?“, wollte ich wissen.

    „Ja, leider, muss man fast sagen. Im Spital schmierten die Ärzte sie von Kopf bis Fuß mit einer Salbe aus dem Fett einer trächtigen Siebenschläferin und zerstoßenen Schlafmohnsamen ein, worauf sie in einen langen Schlaf verfiel. Als sie wieder erwachte, waren die Wunden verheilt, aber ihr Gesicht war auf´s Entsetzlichste entstellt.“

    „Na schön“, meinte Gerlind, „so weit wären wir nun. Fehlt noch der Bannspruch. Aber bitte kurz.“

    „Einen Augenblick!“ Kynos. „Könnte ich bitte eine Schale klares Wasser haben? Dieser Tee hier ist mir zu dünn.“

    „Aber sicher doch!“ Der Hofmarschall winkte den zweiten Saaldiener heran, der den Eindruck machte, als könne er jeden Moment umfallen, und flüsterte ihm ins Ohr: „Eine Schale klares Wasser für den Herrn mit Wedel.“ Der Saaldiener öffnete die Tapetentür und rief: „EINE SCHALE KLARES WASSER FÜR DEN HERRN MIT WEDEL!“ Das Echo erfolgte sofort: „EINE SCHALE KLARES WASSER FÜR DEN HERRN MIT WEDEL!“ Die Rufe entfernten sich; nach dem letzten fuhr der Hofmarschall fort:

    „Es lebte damals vor den Toren der Stadt eine alte Frau, die manche eine alte bärtige Vettel, andere ein mannstolles Weibsstück nannten; einige hielten sie für eine Heilige, die in Weihwasser badete, andere für eine Hexe, die nachts mit dem Teufel auf dessen Besenstiel ritt. Wie dem auch sei; als erwiesen galt, dass sie Bannsprüche beherrschte. Als eine Frau eine Katze zur Welt brachte**, trieb sie den Dämon in eine Flasche, hieb einen Korken drauf und versenkte ihn im Teufelssee, und siehe da, die nächste Geburt war ein Menschenkind. Als die Alte von der scheußlichen Tat erfuhr, lief sie sie sofort ins Spital; der Anblick des fürchterlich entstellten Gesichts erschütterte sie derart, dass sie, mit dem Finger in Richtung Stadt weisend, in laut gestammelte Verwünschungen ausbrach, die aber, da sie nur noch einen Zahn im Maul hatte, niemand so recht verstand: Der Bannspruch. Einer der umstehenden Ärzte wollte die Worte 'Suppe', 'Spätzle' und 'Äther' verstanden haben, was jedoch keinen rechten Sinn ergab; später kam der Abt des Klosters Zu den Sieben Todsünden darauf, dass sie sub spezie aeternitatis gemeint hatte. Ich war damals –“

    Die Tapetentür öffnete sich, ein Diener mit einer Schale in der Hand erschien und rief: „EINE SCHALE KLARES WASSER FÜR DEN HERRN MIT WEDEL!

    Zum ersten Mal verlor der Hofmarschall die Beherrschung. „Stell sie auf den Tisch, du Affenarsch, und verschwinde!“, brüllte er. Sichtlich erregt setzte er seinen Bericht fort.

    „Ich war damals ein kleiner Junge von fünf oder sechs Jahren, der ständig mit seinem Bruder in Streit lag. Dass wir uns nicht die Köpfe einschlugen, ist allein der schützenden Hand der heiligen Jungfrau Maria zu verdanken. Eines Morgens wachte ich mit dem unwiderstehlichen Drang auf, meinen Bruder zu umarmen und zu küssen statt ihm den Nachttopf über den Kopf zu gießen. Ich ging zu seinem Bett: Da lag er schon mit ausgebreiteten Armen und gespitztem Mündchen... Ähem, ja, Jungfer, ich komme zum Ende. Der Bannspruch wirkte schon. Seitdem küssen sich die Bewohner dieser Insel, anstatt wie früher über sich herzufallen.“

    „Eine Frage noch, bitte“, sagte ich, „unterwegs hörte ich, wie ein alter Mann zu einem kleinen Mädchen 'mein Söhnchen' sagte, und dieses zu ihm 'mein Dudelsack'. Was hat es damit auf sich?“

    „Auch das ist eine Folge des Bannspruchs“, erklärte der Beamte. „Da hier mittlerweile jeder mit jedem verwandt ist und sich die Leute gleichen wie ein Eierkuchen dem anderen, sind solche Ausdrücke wie 'mein Sohn', 'meine Gattin' oder 'mein Oheim' sinnlos geworden, denn es könnte auch der Sohn, die Frau, der Oheim des Nachbarn sein.“

    „Verstehe!“, rief der Magister, „warum sollte ich Eifersucht auf die Frau meines Nachbarn empfinden, die meine Tochter sein könnte? Nicht schlecht, der Spruch!“

    „Der Dudelsack!“, drängte Gerlind.

    „Sofort. Viele haben inzwischen die Bedeutung von Verwandtschaftsbezeichnungen ganz verlernt. Sie gebrauchen stattdessen Wörter, die ihnen gefallen. Wie eben Dudelsack oder Heupferdchen oder –“

    Der Hofmarschall blickte zur Sanduhr, die gerade ablief. „Meine Lieben“, sagte er und erhob sich, „es war mir ein Vergnügen! Solltet Ihr mal wieder vorbeikommen, schaut doch gerne noch einmal herein!“ Dann warf er jedem von uns einen Handkuss zu. Damit war die Audienz ohne weitere Umstände beendet.

    ________

    * Für alle Ewigkeit, ** Wahrscheinlich die erste schriftliche Erwähnung des OFD- oder Katzenschrei-Syndroms.

    Forts. folgt

  • Mundburt befreit Gerlind aus einer gefährlichen Situation. Kynos gesteht seine Liebe zu Prinzessin Kusskuss.

    „Der Teufel soll mich holen“, knurrte Kynos, „ich kann nicht mehr, der Magen bellt mir vor Hunger! Lasst uns irgendwo einkehren und etwas essen.“

    Da mir auch der Magen quer hing, bat ich meine Küchenfee, jemanden nach einer Gaststätte zu fragen. In der irrigen Annahme, alte hässliche Frauen seinen weniger kusswütig als junge, hübsche, sprach sie ein älteres Frauken mit einem Damenbart an, das humpelnd am Stock ging. Kaum waren die ersten Worte gefallen, da warf die Alte die Krücke weg, umarmte Gerlind, spitze ihren bärtigen Mund und machte Anstalten, ihr einen Kuss aufzudrücken. Gerlind prallte entsetzt zurück und rief angewidert: „Untersteht Euch, alte Hexe! Noch eine Bewegung, und ich zerkratze Euch den Hals!“ Die Alte brach in Tränen aus; sofort lief ein junger Mann herbei und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. „Ekelhaft“, raunte Gerlind, „wie die Maulaffen.“

    Inzwischen waren einige Leute stehen geblieben, unter anderem auch zwei bewaffnete Stadtdiener. „Hoho, Jungfer!“, rief der eine „so geht das nicht! Ihr könnt hier nicht einfach einen Kuss verweigern! Macht zwei Heller Strafe, zahlbar sofort!“

    Ich trat vor. „Lieber Herr“, sagte ich fest, „wir sind fremd hier und mit den Sitten des Landes noch nicht vertraut! Nehmt meiner Marketenderin die kleine Nachlässigkeit bitte nicht übel. Sie ist im Küssen noch etwas unge – – “

    „Nichts da!“, rief der andere Recke, dem ein riesiger Kussmund unter der Nase stand, „was heißt hier ungeübt! Dann muss sie es eben lernen!“ Er drückte seinem Kameraden die Pike in die Hand und ging auf Gerlind zu, wobei er sich mit der Zunge die Lippen anfeuchtete. –

    Das war nun eine Situation, so recht nach meinem Geschmack! Wenn Gerlind auch nicht meine Dame war, so war sie doch eine Dame, und ein rechter Ritter verteidigt jede Dame, ob blond, braun, schwarz, gelb, rot, weiß, grau, lila, violett oder was es sonst noch für Haarfarben auf der Welt gibt! Trat also auf den Mann zu, zog mein Schwert Schlagto und rief: „Ha, wag es nicht, du Schelm! Noch ein Schritt, und ich schlage dich mitten durch!“ Kynos hatte sich aufgerichtet und knurrte fürchterlich. Der Mann blieb verblüfft stehen, und jetzt geschah etwas, das ihr glauben könnt oder auch nicht. Der andere Stadtdiener, der mit den beiden Piken, blickte von einer auf die andere wie Buridans Esel*, offensichtlich unfähig, sich für eine Waffe zu entscheiden, worauf das Publikum in heiteres Gelächter ausbrach. Fünf oder sechs Personen umringten ihn, nahmen ihm die Piken ab und begannen, ihn abzuküssen. Ein Gleiches geschah mit dem anderen Stadtdiener, der verblüfft stehen geblieben war. – Einige aber hatten Gerlind die abweisende Art übel genommen und bewarfen sie mit Handküssen. Da ich keine Lust verspürte, mich in weitere Händel einzulassen, sagte ich: „Kommt, wir machen uns aus dem Staub! Essen und trinken können wir auch an Bord!“ Ich blickte mich um. Wo war der Magister? Auf jeden Fall nicht bei uns. Da kam er keuchend angerannt. „Wo kommt Ihr denn her?“, fragte ich.

    „Ähem... nun ja“, stotterte er, „es war so: Ich musste mal.“

    Gerlind lachte laut auf. „Soso, Ihr musstet mal! Da kann ich nur lachen! Woher kommen dann Eure geschwollenen Lippen? Ihr seid ein –“

    „Lass es gut sein“, sagte ich, „keiner kann aus seiner Haut raus!“

    Inzwischen waren wir aus der Stadt heraus und auf dem Weg, den wir gekommen waren.

    „Die Pantomime vorhin war nicht schlecht, Mundburt“, lobte Gerlind, „sah fast aus, als hättest du wirklich ein Schwert in der Hand. Alle Achtung!“

    „Hatte ich doch! Nur, ihr könnt es nicht sehen.“

    „Wie dem auch sei, es war auf jeden Fall die seltsamste Entwaffnung, die mir je vorgekommen ist“, meinte Kynos, „sollten sich mal ein Beispiel daran nehmen, die anderen Völker.“

    „Hmm... nun ja“, machte der Magister.

    „Was ich mich schon die ganze Zeit frage“, sagte Gerlind, „wieso haben diese Leute diese großen Mäuler? Kann denn häufiges Küssen den Mund vergrößern? Was mein Ihr, Kopf, Ihr seid doch ein gelahrtes Haus!“

    Kopf dachte eine Weile nach. „Tja, Jungfer, diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn solch ein Fall wird unter Gelehrten kontrovers diskutiert“, erklärte er dann. „Der arabische Gelehrte Abu bin-Häckelius zum Beispiel vermerkt in seiner Schrift A´chram aud´n kal-if n´daram, zu Deutsch: Über die Aufblähung der Organe durch häufigen Gebrauch, dass so etwas durchaus möglich sei; die Tatsache nämlich, dass jemand, der gerne isst, mit der Zeit einen dicken Bauch bekommt, spreche entschieden dafür. Hingegen vertritt sein Kollege Abdullah al Dar-Win die Ansicht, dem sei nicht so; andernfalls müssten dann ja die großen Köpfe der Pferde durch häufiges Denken entstanden sein, aber noch nie habe jemand ein denkendes oder gar nachdenkliches Pferd gefunden; wie sei es sonst zu erklären, dass sich ein starker Hengst von einem kleinen Mädchen herumkommandieren lässt.“

    „Das heißt mal wieder: Nichts genaues weiß man nicht.“

    „So ist es, Jungfer.“

    Auf einmal rief Kynos: „Nein, ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht!“ und brach in lautes Jaulen aus.

    Wir blieben verdutzt stehen. „Was schafft Ihr nicht“, rief ich, „und warum weint Ihr?“

    Kynos sah mich mit traurigen Hundeaugen an, sodass mir das Herz brechen wollte. „Ich dachte, ich könnte es überwinden“, jammerte er, „aber je näher ich dem Schiff komme, desto mehr sehe ich die Unmöglichkeit ein, standhaft zu bleiben.“

    „Kynos, mein Freund“, sagte ich, „drückt Euch klarer aus! Wovon redet Ihr?“

    „Meine lieben Retter, ich kann nicht bei Euch bleiben! Bis hierher dacht´ ich´s noch, doch jetzt merke ich, es geht nicht, obwohl der Gedanke, ohne Euch zu sein, mir die Kehle abschnürt. Ja, ich habe mich in Prinzessin Kusskuss verliebt, und diese Liebe ist so stark, dass sie mich auf dieser Insel zurückhält. Ich habe mich entschlossen, um ihre Hand anzuhalten. Also fahrt ohne mich weiter und fahrt wohl.“

    „Mensch, Hund!“, rief Gerlind, „was soll das? Habt Ihr Euch das auch gut überlegt? Nur weil sie Euch die Nase geleckt hat, meint Ihr, die Vogelscheuche würde Euch gleich heiraten! Pah! Und, seid Ihr überhaupt von Adel?“

    „Nicht von Geblüt, aber von Herzen!“

    „Quatsch! Und wenn sie nein sagt?“

    „Dann bin ich wenigstens in ihrer Nähe, und ein guter Hund kommt überall unter.“

    Es half nichts, wir mussten Kynos ziehen lassen.

    In der gedrücktesten Stimmung gingen wir weiter. Wir hatten Wurst und Hund verloren, wer würde der nächste sein?

    „Es geht doch nichts über die Liebe eines Hundes“, sagte ich, „durch nichts zu erschüttern.“

    „Daran nimm dir mal ein Beispiel“, knurrte Gerlind.

    „Schade um ihn“, bemerkte der Magister, „so ein aufrechter Charakter und in höchstem Grad einnehmend und vernünftig. Man merkte an ihm, trotz seines rohen Wissens, dass er aus gutem Hause stammt, und für zärtliche Empfindungen ist er, wie man sieht, nicht unbegabt.“

    „Schwatzt keinen Unsinn!“, fuhr Gerlind auf, „rohes Wissen, hä, für zärtliche Empfindungen nicht unbegabt, hä? So kann nur ein fast hirntoter Schulmeister reden! Ich will Euch sagen, was der gute Herr Hund ist. Er ist eine ehrliche, mutige Haut, im Gegensatz zu Euch, Kopf. Irgendwie wird er mir fehlen.“

    Als wir den Strand erreichten, versank gerade die Sonne in den Fluten.

    __________

    * – der sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden konnte und jämmerlich verhungerte.

    Mundburt erzählt eine Geschichte und verdirbt damit dem Magister den Appetit auf Feigen.

    Nachdem wir der kussfreudigen Insel Lebewohl gesagt hatten, fuhren wir anderntags bei schönstem Wetter und leichter Fassbrise weiter.

    Ich stand auf, um nach Trabto zu sehen. Als ich wieder zurückkam, lag der Magister in der Hängematte und brütete vor sich hin.

    „Seltsam, seltsam“, sinnierte er „anscheinend ist weder Mensch noch Hund das gesunde Mittelmaß gegeben. Lieber fällt man von einem Extrem ins andere. Da gibt dieser Kynos seine gesicherte Existenz für ein Hirngespinst auf. Dann haben wir diese Leute kennengelernt, die ausschließlich von Fleisch leben und solche, die sich von Wind ernähren. Unterschiedlicher geht´s schon nicht mehr. Dann sind da, hol´s der Henker, diese seltsamen Menschen auf dieser komischen Kussinsel, und ich verwette meinen Kopf gegen eine getrocknete Feige, auf der nächsten Insel begegnen wir welchen, die sich überhaupt nicht küssen.“

    Gerlind, die gerade einen Wolfsbarsch ausweidete: „Toi, toi, toi, Herr Magister, aber ich hab Euch Euren Kopf nicht angenäht, damit Ihr ihn jetzt für nichts und wieder nichts verwettet. Die Wette gilt nicht.“

    „Sie ist auch nicht nötig“, sagte ich, „ solch Leute gibt es wirklich, aber vielleicht nicht unbedingt auf einer Insel. Wo Ihr eben das Wort Feige erwähntet –“

    „Ach, ist es wahr?“, schnappte Kopf, „oder sagt Ihr das nur so daher, um meinen Kopf zu retten?“

    „Auf Euern Kopf müsst Ihr schon selber aufpassen, Kopf, ich kann Euch aber berichten, was mir mein Vater einmal erzählte, als ich noch ein kleiner Hosenscheißer war.“

    „Na dann“, sagte Gerlind und legte den küchenfertigen Barsch auf den Bratrost, „dann schieß mal los! Ein bisserl dauert´s noch mit dem Essen.“

    „Ich gebe die Geschichte so wieder, wie ich sie vom meinem Vater gehört habe“, begann ich, „vielleicht nicht wortwörtlich, aber ich denke doch, im Wesentlichen korrekt. Also dann. Nach seinen Worten weilte mein Vater damals auf einem Ritterturnier in Mailand. Wie es so üblich ist, wurde nach dem Turnier kräftig gebechert, zumindest von denen, die dazu körperlich noch in der Lage waren. Zu vorgeschrittener Stunde, als die Becher schon mehrmals geleert waren und die Zecher auf den Bänken grölend von backbord nach steuerbord schwankten, erschien eine üppige Makrele* mit ihrem Gefolge auf dem Platz – wie es ebenfalls Usus ist – und ein emsiges Herzen und Küssen begann. Doch zuvor waren einige Recken aufgesprungen und unter allen Anzeichen höchsten Entsetzens vom Platz gerannt. Am andern Tag traf mein Vater einen dieser Männer, der ihm als Lohnknappe gedient hatte, vor dem Dom wieder; er lud ihn zu einem kleinen Trunk ein und fragte ihn aus. Nach anfänglichem Zögern erzählte der junge Mann folgendes:

    'Vor sechzig Jahren', so der Knappe, 'benutzten die Bewohner von Mailand die Abwesenheit des Herzogs, ihren Ärger über die Verschwendungssucht seiner Mätresse öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Sie banden die Dame rücklings auf eine alte Mauleselstute. Dann trieben sie die Stute durch die Straßen und zeigten der Frau die Feige**, was in jenem Land ein unzweideutiges Zeichen der Verachtung und Verhöhnung ist. Gleich nach seiner Rückkehr machte der Herzog zornbebend die Stute ausfindig und ließ die Bürger der Stadt auf dem Broglio-Platz zusammentreiben. Als alle versammelt waren, steckte der Henker eine Feige zwischen die Hinterlefzen der Stute; dann verkündete ein Ausrufer unter Trompetenschall, dass jeder, der nicht einen Kopf kürzer gemacht oder beim Hals zum Tode gewürgt werden wolle, diese Feige vor aller Augen, ohne Hilfe der Hände, mit den Zähnen da herausholen und wieder hineinstecken müsse. – Vielen von ihnen kam die Buße so schimpflich und schändlich vor, dass sie sich lieber henken ließen als das.. ähem... Hintermaul der Stute zu küssen. Meine Urgroßmutter tat es, denn sie ging gerade mit Zwillingen schwanger, von denen einer mein Großvater war. Aber seither verweigerte sie jeden Kuss, und auch viele andere gedemütigte Mailänderinnen hielten es so.' – 'Aber, lieber Knappe', fragte mein Vater, 'warum seid Ihr denn weggerannt, als die Liebesdienerinnen auf dem Platz erschienen? Das, was Ihr da eben erzählt habt, ist doch schon lange her und geschah weit vor Eurer Geburt!' – 'Oh, nicht lange und nicht weit genug, Herr Ritter, um die Schande, die unserer Familie angetan wurde, zu vergessen', antwortete der Knappe, 'eine Schande, die so groß ist, dass mich sogar jetzt noch, wenn ich die breiten Mäuler dieser Frauen sehe, bei dem Gedanken, so eine könnte mich küssen, ein heiliger Ekel überfällt, und meinen Brüdern geht es ebenso.'“

    „Nana“, machte Gerlind „das hat dein Vater wirklich erlebt? Kaum zu glauben!“

    „Er hat es jedenfalls erzählt, und für mich ist es wahr, basta. Ob du´s glauben willst oder nicht ist deine Sache.“

    „Pfui... Da vergeht einem ja der Appetit auf Feigen“, sagte Kopf, „ich male mir das gerade aus... hmm... mit den Zähnen... Um mit den Zähnen an die Feige zu gelangen, musste man doch die Nase mit hineinstecken.“

    Gerlind setzte den Barsch auf den Tisch, und das Gespräch wandte sich appetitlicheren Themen zu. Nach dem Essen ging ich in die Back, um Trabto mit einem Scheffel Wind zu füttern, dabei stellte ich zu meinem Entsetzten fest, dass das Reservefass so gut wie leer war. Ich ging zu Kopf, der gerade unsere Polhöhe bestimmte. „Na, wie weit ist es noch bis zur Affeninsel?“, fragte ich.

    „Nach meinen Berechnungen müssten wir bei gleichbleibendem Wind gegen Abend dort sein.“

    „Wie lange reicht das Fass noch?“

    „Hm, ich denke so bis Mittag.“

    „Wisst Ihr, dass das Reservefass so gut wie leer ist?“

    Kopf entfärbte sich. „Was sagt Ihr da? Unmöglich!“

    „Dann schaut doch selbst!“

    ________

    * Alte Bezeichnung für Bordellwirtin. ** Die bekannte Handbewegung, bei der der Daumen zwischen den gekrümmten Zeige- und Mittelfinger gesteckt wird.

    Mundburts Schiff wird von einem Wal vor ein singendes Nilpferd geworfen.

    Es stellte sich heraus, dass das Fass tatsächlich ein Leck hatte. Aus einer Daube war ein Aststück herausgesprungen; das Loch, obzwar winzig klein, war doch groß genug, um den Wind unbemerkt entweichen zu lassen.

    „Was machen wir nun?“, fragte ich, „wenn kein natürlicher Wind aufkommt, erreichen wir unser Ziel nie.“

    Der Magister zuckte mit den Schultern. „Tja...“

    „Dann gehen wir vor Anker und warten ab“, entschied ich. „Am besten, Ihr haltet auf die nächste Insel zu. Irgendwann muss das Wetter ja umschlagen.“

    „Das kann lange dauern.“

    „Wieso?“

    „Wir befinden uns hier offenbar im Bereich der Calmen, einer Zone absoluter Windstille, der Schrecken der Seeleute! Es soll schon vorgekommen sein, dass sie sich vor Hunger gegenseitig auffraßen. Und es kann noch Wochen so weiter gehen.“

    Betrübt ging ich zu Trabto, um ihm noch ein wenig Luft zuzufächeln. „Mein liebes Pferd“, sagte ich und kraulte ihm unterm Kinn, „lass nicht den Kopf hängen, ich tu´s ja auch nicht. Gottseidank haben uns die guten Kussmenschen reichlich mit Nahrung versorgt, und irgendwie wird´s schon weitergehen.“

    Zwei Glasen später ging ein Ruck durch das Schiff, es knirschte, das Schiff legte sich zur Seite – wir saßen wieder einmal fest.

    Der Magister stampfte mit dem Fuß auf und tanzte herum wie ein Bär auf dem heißen Blech. „Sakrakruzitürkenhimmelarschundzwirn!“, schimpfte er, „was soll denn das nun wieder! Ich will endlich den Großartigen sehen und nicht schon wieder mit irgendwelchen durchgeknallten Insulanern Pfefferminztee trinken! Allmählich reicht´s mir!“

    „Dann geht doch zu Fuß weiter!“, höhnte Gerlind, die in letzter Zeit schlecht auf Kopf zu sprechen war, „vielleicht seit Ihr dann ja vor uns da!“

    „Ha – ha – ha!“

    Ich blickte über die Reling. Diesmal war es keine Sandbank, die uns festhielt, sondern ein Felsen, der mit Seepocken übersät war wie die Stirn eines Pestkranken mit Geschwüren. Doch auf einmal kam Bewegung in den Felsen, er erhob sich aus dem Wasser. Kopf warf die Hände hoch und jammerte: „Hu hu hu, ein Seebeben!“ – vor dem Bug stieg eine Wassersäule in die Luft, Gerlind rief: „Eine Wasserhose! Wir gehen unter!“ – Ich rief: „Unsinn, ein Walfisch!“ Wir waren auf den Rücken eines ungeheuren Wals aufgelaufen. „Keine Angst, Gerlind, mein Täubchen!“, rief ich, „der Wal will uns nicht verschlingen, wie einst den Jonas, denn der Herr Jesus schickt ihn zu unserer Rettung!“ Genauso war es. Mit der gewaltigen Kraft seines Körpers zerteilte der Wal die Fluten und hielt auf einen Landstrich zu, der am Horizont auftauchte. Die Küste flog auf uns zu; schon erkannte ich Einzelheiten, einen Pharos*, Wälder, die Türme einer Burg, Felsen; fürchtete schon, wir müssten daran zerschellen, doch da krümmte das Tier seine Schwanzflosse, es gab einen einen kräftigen Stoß, und wir rauschten direkt in eine Lagune hinein. Ich fiel auf die Knie und dankte Gott für seine Güte. Dann sah ich noch, wie der Wal aus weiter Ferne seine Schwanzflosse aus dem Wasser hob und uns zum Abschied zuwinkte.

    Die Insel, vor der die Lagune lag, war von einem dichten Schilfgürtel umgeben und mit anscheinend undurchdringlichen Wald bedeckt, über dem die Zinnen der Burg aufragten. Jetzt wich das Schilf auseinander, ein Ruderboot erschien und kam auf uns zu. In dem Boot saßen vier Gestalten in eng anliegenden grauen Mänteln, eine davon mit einem Hut aus bunten Federn auf den Kopf. „Hoiho!“, rief die Gestalt mit ungewöhnlich hoher Stimme, „woher des Wegs und wohin?“

    „Ein großer Wal hat uns in diese Lagune katapultiert!“, rief ich, „eigentlich wollte wir zur Insel des Großartigen, aber dann ging uns der Wind aus.“

    „Zur Insel des Großartigen? Da seid Ihr völlig falsch!“

    Der Magister blickte betreten zur Seite.

    „Dürfen wir bis Wind aufkommt“, rief ich, „in Eurer Lagune vor Anker liegen? Wir fallen Euch auch nicht zur Last, denn wir sind gut mit Proviant ausgestattet!“

    „Aber ja doch!“, piepste die Gestalt, von der ich nicht erkennen konnte, ob es Mannse oder Weibse war. „Wie viele seid Ihr denn?“

    „Vier! Drei Personen und ein Pferd!“

    „Hmm... Das mit dem Pferd wird schwierig... Aber Ihr anderen seid uns herzlich willkommen!“

    „Es sind Ratten in Menschengestalt“, raunte Gerlind, „die grauen Mäntel, die spitzen Gesichter, die piepsigen Stimmen... Hoffentlich kommen sie nicht noch auf die Idee, uns einzuladen!“

    Doch genau das geschah jetzt. „Wir laden Euch zu einem Besuch unserer Insel ein! Gleich kommt ein Boot und holt Euch ab.“ Der bunt behutete stutzte, zog den Hut, verbeugte sich und rief: „Oh, wen sehe ich da? Die schönste Jungfer der Welt,

    strahlender als tausend Sonnen,

    schöner noch als tausend Wonnen,

    biegsam wie ein Rohr im Wind,

    komm an mein Herz, du holdes Kind!“

    „Der ist doch sternhagelvoll“, rief Gerlind ärgerlich –“

    „Oder rattenscharf!“, warf ich ein.

    „– Herr Magister, wie viel Wind haben wir noch? Hab keine Lust, mich schon wieder anmachen zu lassen!“

    „Wind? Zu wenig. Das bisschen brauchen wir für Notfälle!“

    Gerlind stampfe wütend mit dem Fuß auf. „Aber das ist doch ein Notfall!“

    „Zu spät“, sagte ich, „dreh dich mal um!“

    Über der Einfahrt zur Lagune ragte das riesige Maul eines Nilpferds auf, aus dem es jetzt auch noch entsetzlich misstönend röhrte:

    „Strahlender als tausend Sonnen,

    schöner noch als tausend Wonnen,

    biegsam wie ein Rohr im Wind,

    komm an mein Herz, du holdes Kind!“

    Das Maul klappte wieder zu, übrig blieben zwei gewaltig prustende Nasenlöcher.

    „Wusste bisher nicht, dass Nilpferde so gut singen können“, sagte ich. „Dachte bisher, singen sei das Geschäft von Singvögeln.“ Aber auch der Galgenhumor half nicht über die Tatsache hinweg, dass wir in der Falle saßen. Wenn ich auch das Nilpferd in Stücke hauen könnte, die Ratten würden uns das Schiff zernagen.

    Nach einiger Zeit legte ein Boot mit einem Gamsbarthut und zwei Ruderern bei, ich sah noch einmal nach Trabto, dann gingen wir von Bord.

    ___________

    * Leuchtturm


    Besuch der Insel der Schleckermäulchen und eine besondere Art der Heiligenverehrung.

    „Wo sind wir hier? Und wie heißt Ihr, mein Herr“, erkundigte ich mich, während Gerlind mit zusammengekniffenen Lippen uns steifem Rücken in die Ferne schaute und der Magister interessiert zwei kopulierenden Kanalratten zusah.

    „Die Insel heißt Theutenia“, sagte der Gamsbarthut, beziehungsweise was darunter war, „und mein Name ist Edler von Ratziwilli, gelt, Erster Hofmarschall seiner Majestät Rastzeputz XXIII. Die Burg, die Ihr dort über dem Wald seht, gelt, ist die Ratzeburg, Stammsitz und Residenz der königlichen Familie. Hmm... nun ja... Und mit wem habe ich die Ehre?“

    Da der Mann, offenbar eine Bisamratte in den besten Jahren, sah ziemlich heruntergekommen aus. Seine Kleidung – bis auf den Hut –, wiewohl aus feinsten Tuch gewebt, hatte allerdings die besten Zeiten hinter sich – überall geflickt, mit heißer Nadel zusammengenäht, mit dem Bügeleisen in Form gehalten. Der Mann selbst: Untersetzt, dick, kleinäugig, spitzohrig, kurzhalsig, schwitzend. Das Angenehme seiner Gesichtszüge verdarb sein vorstehendes Gebiss – nun ja, wie es bei Leuten seines Stammes eben üblich ist: Einer dieser Typen, die mit dem Teufel Geschäfte machen und mit seiner Schwiegermutter auf den Ball gehen. Mich irritierten die Blicke, die er Gerlind aus leicht hervorquellenden Augen zuwarf. Doch da er höflich sprach, sah ich keinen Grund, nicht ebenfalls höflich zu antworten. „Ich bin Mundburt der Erste von und zu Wolkenstein-Himmelhoch, Ritter der Winde und Knappe im Frauendienst der Herrin auf Schwarzenraben im schönen Schwabenlande“, ratterte ich herunter, denn je länger der Titel, desto höher das Ansehen. „Und dies hier sind –“

    „Schwabenlande? Nie gehört! Wo liegt das?“

    „In Deutschland, weit weg von –“

    „Ah, Deutschland, das Land wo Milch und Honig fließt, gelt?“

    Verdammt nochmal, dachte ich, gibt es denn keinen Winkel auf der Welt, wo Deutschland nicht als Land des Überflusses gepriesen wird? Sogar auf dieser vergessenen Ratzeninsel reden sie davon, wo doch zu diesem Zeitpunkt dort gerade die Große Seuche wütete!

    „Theutenia“, sinnierte der Magister, „seltsamer Name für ein Königreich... Wenn mich mein Griechisch nicht täuscht, heißt Theutes doch Schleckermäulchen.“

    „Damit liegt Ihr nicht falsch.“

    „Was schleckern die Theutonen denn so?“, fragte Gerlind.

    „Theutenen, bitte! Geduldet Euch, dann seht Ihr´s, gelt?“

    Wir erreichten eine Brücke und gingen an Land, wo schon ein leichtes Fahrzeug bereitstand.

    Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald; wir holperten in einen Park mit mächtigen Bäumen, der von fröhlichem Gesang erfüllt war. Ein Männerchor im Hintergrund schmetterte fröhlich:

    „Heiho, ein Ärschlein blinkt mir schon,

    meine Zunge zuckt mir im Mund,

    stopf´ sie hinein ganz bis zum Schlund,

    komm dann voran bis an die Kron´!“

    „Was singen die da?“, fragte Gerlind irritiert.

    „Konnte ich nicht so richtig verstehen“, log ich, „auf jeden Fall ein sangesfrohes Völkchen, diese Theutenen.“

    Forts. folgt

  • Hallo McFee ,

    ich les nun schon eine ganze Weile deine wirklich amüsante Geschichte mit. Heute muss ich dich mal bitten: Kannst du die Parts nicht etwas kürzen? Der letzte hat 3500 Wörter. Das ist mir echt zu viel. Zum schnell-mal-zwischendurch-Lesen wären mir die kleinen Abschnitte, für die du immer eine Überschrift hast, durchaus ausreichend. Das nur mal als Tipp. Ansonsten - kann weitergehen :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Zwischen schönen hohen Bäumen standen in schöner geometrischer Anordnung verschieden Skulpturen. Davor knieten etliche Gestalten; sie vermittelten den Eindruck, als beteten sie die Standbilder an. Als wir näher traten, sahen wir, was die Leute wirklich taten – war es Anbetung, dann auf ganz besondere Art! Es war dermaßen närrisch, dass Gerlind heftig den Kopf schüttelte und der Magister, bevor ich ihn warnen konnte, laut aus dem Hintern lärmte (Ihr erinnert euch, meine Lieben: Er lachte auf seine Weise), was der Edle zu Ratziwilli mit steinerner Miene überhörte.

    Es war aber auch über alles Maß ungewöhnlich! Die Figuren stellten die Hinterteile verschiedener Lebewesen dar – ich sah die Hinterfront eines Hundes, eines Hasen, einer Ziege, einer Katze, die aufgeblähten Hinterbacken eines Fettsteißschafes; aber auch die hoher Tiere sah ich, eines Elefanten, eines Nilpferds, eines Gerichtspräsidenten, eines Kurienkardinals, eines Fregatten-Kapitäns* – alles naturgetreu aus dem Marmor gehauen und fein geglättet – und die Knieenden leckten sie mit den heitersten Mienen, wobei sie von denen, die daneben standen, streng beobachtet wurden. Dann erhoben sie sich und knieten vor der nächsten Skulptur nieder. Der Chor schmetterte jetzt:


    „Denn sagt, bin ich nicht wohlgenährt,

    mit einem Arsch wie Pavianaffen

    und ganz der Kerl, den man begehrt?

    Nur frisch geschleckt, dann werd´ ich´s schaffen!“

    „Potz Blitz“, rief der Magister, „das ist das Schärfste, was mir bisher untergekommen ist!“

    Da lag er allerdings falsch. Es ging noch schärfer, wie sich bald zeigen sollte.

    „Dies ist die erste Eignungsprüfung für ein höheres Amt bei Hofe, gelt“, erklärte unser Führer, „nur diejenigen, die zehn Hinterteile freudig geleckt haben, dürfen den Burghof betreten, in dem die Prüfung für den höheren Dienst stattfindet.“

    „Was geschieht denn mit denen, die nicht freudig lecken?“, wollte ich wissen.

    „Die bleiben im einfachen Dienst, äh... gelt? Seine Majestät duldet nur die besten Lecker in seiner Umgebung.“

    „Ha!“, rief Gerlind, „dergleichen muss ich mir nicht antun. Ich verzichte! He, Kutscher, bring mich zurück!“

    „Ihr regt Euch unnötig auf, Jungfer! Diese Regel gilt natürlich nicht für Gäste!“ Der Edle von Ratziwilli grinste. „Oder wollt Ihr Euch für ein Amt bewerben?“

    „Ta ta ta, so weit kommt´s noch! Eher verkrieche ich mich in mein eigenes Arschloch, als dass ich mich bei Euch für ein Amt bewerbe!“

    „Herr Hofmarschall“, sagte ich, „ist es denn überhaupt nötig, dass wir die Burg besichtigen? Ich denke, wir haben genug –“

    „Seine Majestät wünscht es so... hmm... nun ja... gelt. Basta!“

    Meine lieben Zechbrüder, Kegelschieber und Scheibenschützen, und vor allen Ihr, ehrbar-züchtige Frauen, was ich jetzt berichte, ist ziemlich starker Tobak und nichts für zarte Naturen. Wir – ich meine mein verehrter Schreiber und ich – haben lange überlegt, ob wir dergleichen dem Pergament überhaupt anvertrauen sollten, denn es ist keineswegs ad usum delphini** bestimmt und könnte einer empfindlichen Seele die Milch der reinen Denkart sauer werden lassen. Doch dann hat uns die Treue zur Wahrheit bewogen, alle Bedenken fahren zu lassen und es doch zu bringen, schließlich wird Dinte nicht sauer, höchstens trocken. Wer also meint, seine Seele könnte an gewissen pikanten Einzelheiten Schaden nehmen, lese erst beim übernächsten Kapitel weiter. –

    Auch im Hof wurde fleißig geleckt, allerdings nicht Hintern, sondern... Zunächst konnte ich nicht erkennen, um was es sich handelte, denn wenn Ihr ein Ding aus seiner gewohnten Umgebung entfernt und auf einen Stiel steckt, ist seine Bedeutung auf den ersten Blick oftmals schwer zu erkennen. Hier nun... Kurz: Auf marmornen Stangen standen die Nachbildungen derjenigen Körperteile – und zwar in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit – mit denen vor Zeiten der gute Herr Priapus (so will es die Sage) die Frauen im Paradies° glücklich machte. Gerlind schlug züchtig die Augen nieder; Kopf und ich gingen neugierig an eine der Säulen heran, um uns von einem Umstand zu überzeugen, der uns zunächst unmöglich erschien, sich aber dann doch als wahr erwies: Der Kandidat leckte zwei der perfekten Nachbildungen gleichzeitig.

    „Donnerwetter!“, rief der Magister aus, „was ist denn das nun wieder für eine Hauptspaß! Der Kerl wird es noch weit bringen!“

    Der Hofmarschall nickte. „Herr von Södering-Schwafelfeld möchte gerne Kanzler°° werden, und mit dem, gelt, was er bisher an Leckleistung gezeigt hat, stehen seine Chancen nicht schlecht.“

    Über die Mauer wehte jetzt der kernige Gesang des Chores:


    „Sind wir auch nicht fähig,

    so sind wir doch sehr fleißig!

    Wir lecken Stücker dreißig,

    und gehen über –“

    Der Rest des närrischen Gesangs ging im Rauschen der Baumwipfel unter, in die gerade ein heftiger Windstoß fuhr.

    „Meine Herrschaften“, mahnte der Hofmarschall, „seine Majestät wartet nicht gerne! Also bitte hier entlang...äh... gelt!“

    Die Tür zum Burgfried öffnete sich, und wir begannen den Aufstieg. Nach unzähligen Stufen standen wir vor einer Wand, in der – –

    _________

    * Hier wird der Verf. unglaubwürdig, denn woran sollte man erkennen, ob ein bloßer Hintern einem Kapitän oder einem Kardinal gehört, wenn die Amtsinsignien fehlen? ( Anm. d. Hrgbs.: Auch S. irrt: Zu der Zeit gab es noch keine Fregatten.) ** Wörtlich: 'Zum Gebrauch des Thronfolgers' , will sagen: nicht jugendfrei.° Arab. faradis=Lustgarten. °° Im Original: Chancelier, v. frz. chanceler=schwanken.

    Mundburt erfleht erneut ein Wunder und wird erhört.

    „Nein!“

    „Tu es mir zuliebe!“

    „Ha!“

    „Gerlind, ich bitte dich! Was ist denn schon dabei?“

    „Du bist genau so ein Arschloch wie alle anderen auch!“

    „Du musst es ja nicht lecken!“

    „Du bist ein Arschloch und bleibst ein Arschloch!“

    „Dann bin ich´s eben und bleib es gern! Aber wir können doch jetzt nicht –“

    „Bäh bäh bäh! Du vielleicht nicht, aber ich kann! Da krieche ich nicht durch, und wenn du bittest und bettelst, bis du schwarz wirst!“

    Im Stillen musste ich Gerlind Recht geben. Die Wand bestand aus der Nachbildung eines riesigen Affenarsches, auf dem oben eine Krone saß! Und das Loch, alle Teufel, was für ein Loch war das! Eng, kantig, mit scharfen hämorrhoidalen Auswüchsen, und, so wie es aussah, der einzige Zugang zu den königlichen Gemächern (was allerdings nicht stimmte). Täuschte ich mich, oder roch es hier auch dementsprechend? War es da nicht nur zu verständlich, dass sich meine Gerlind entschieden weigerte, da hindurch zu kriechen?

    Ich blickte den Hofmarschall entschuldigend an. „Ihr hört es selbst, Herr Marschalk“, sagte ich, meine –“

    „Nichts da, die Jungfer wird es wohl müssen“, schnauzte der Edle von Ratzivilli nicht eben freundlich, „eine Weigerung käme einer Majestätsbeleidigung gleich, mit allen daraus resultierenden Folgen.“

    „Seid Ihr taub?“, fauchte Gerlind, „nein!“

    Der Kerl seufzte und winkte zwei bewaffnete Wächter herbei. „Diese Jungfer hier weigert sich –“

    „Halt!“, rief der Magister, „mein Herr, nicht ganz so forsch! Aufgrund welches Gesetzes oder Dekretes verlangt Ihr dermaßen kategorisch, dass die Jungfer da hindurch kriecht? Ich als Magister Beider Rechte weiß, dass es mit etwas gutem Willen immer einen Ausweg gibt! Wofür wären wir Meister der Jurisprudenz denn auf der Welt! Es findet sich immer ein Sixtum oder eine Clementine* –“

    „Nichts da!“, rief der Hofbeamte aufgeregt, „unsere heiligen Gesetze und Dekrete verordnen und befehlen, gelt, dass jeder, egal welchen Geschlechts oder Abkunft, gelt, die königlichen Gemächer nur, nachdem der oder die durch dieses Loch gekrochen ist, gelt, ähem... wie?.. ah ja, gelt, betreten dürfen. Von dieser lobenswerten Bestimmung abzuweichen käme einem Staatsstreich gleich, äh, gelt!“

    „Braver Mann“, sagte der Magister, dem allmählich der Hals schwoll, „habt Ihr von dieser lobenswerten Bestimmung irgendeinen Beleg? Vielleicht eine Urkunde oder die Abschrift einer –“

    „– das Original, gelt? Dort steht es!“ Der 'brave Mann' wies in eine Nische, in der auf einem Kasten ein dickes, vergoldetes Buch lag. „Geht dort hin, schlagt die erste Seite des Codex auf, gelt, und Ihr werdet erleuchtet werden!“

    „Was für ein Podex?“, fragte Gerlind irritiert.

    In der Tat, das Buch leuchtete in allen Farben des Regenbogens, denn es war mit den schönsten Edelsteinen bedeckt, mit Rubinen, Smaragden, Diamanten und Perlen, die köstlicher oder mindestens ebenso köstlich waren als die, mit denen die Schatztruhe der Herrin auf Burg Schwarzenraben übersät war. Ich wunderte mich, dass der Schlüssel für die eisernen Bänder daneben lag, denn solche Bücher liegen normalerweise unter strengstem Verschluss.

    „Oh ihr glückseligen Leute“, rief der Magister, „wie gesegnet seid ihr, solch ein Kleinod zu besitzen! Schon der Anblick bereitet mir eine unbeschreiblich Lust in der Seele! Bei allen Heiligen, das ist kein Menschenwerk, das ist Engelswerk!“

    „Schlagt das Buch nur auf, gelt!“, rief der Hofmarschall, „dann werdet ihr finden, wonach Ihr sucht, gelt!“

    „Lange halte ich diesen Ofenheizer nicht mehr aus“, murmelte ich, „dieses dauernde gelt, gelt, gelt ist ja furchtbar.“

    „Und ich verspüre einen sonderbaren Reiz in den Armen, diesen Cercopitheken** einmal gründlich durchzuhauen!“

    Ich blickte den Hofmarschall an. Sein Bisamrattengesicht sah keineswegs so dämlich aus, wie er sich gab, es strahlte sogar eine Art verschlagener Würde aus, doch in seinen Augen lag die nackte Gier. Ha!, durchfuhr es mich, der sagt nicht gelt, der sagt Geld, pecuniam, der Halunke meint Geld, kölnisch, Danziger, Augspurger Groschen, Batzen, Dukaten, Heller, Pfennige... Die ganze Zeit wollte uns zu verstehen geben, dass, wenn nur gehörig Münzen in den Kasten sprängen, uns das Loch erspart bliebe.

    „Wartet damit noch ein Weilchen“, raunte ich Kopf zu, „ich lasse zehn Vigilien lesen und Stifte zusätzlich noch einen Ewer° Messwein, wenn dies hier nicht eine Kasse ist!“

    Ich schlug den vergoldeten Deckel zurück – und blickte auf ein Brett mit einen Schlitz. „Oh, welche Weisheit!“ rief ich, „der Alte aus Athen lehrte die Welt das Denken – habt Ihr Geld?“, flüsterte ich dem Magister zu. – „Nicht einen Heller“, kam es ebenso leise zurück –“ – „Ich auch nicht! – der HERR gab den Juden durch Moses die Zehn Gebote – was machen wir nun?“ – „Tja...“ – „Allah gab den Gläubigen durch den Propheten den Koran – habt Ihr außer tja nicht mehr zu sagen? Doch dieser Codex hier, bei unserer heiligen Lehre, übertrifft alle an –“ – „Wenn ich noch meinen Querkopf hätte...“

    „übertrifft alle an –“

    „Ihr Herren!“, rief der Hofbeamte ungeduldig, „habt Ihr gefunden, wonach Ihr sucht?“

    „Aber ja doch“, rief ich zurück, „und es scheint uns ein überaus durchdachtes, kluges, wirksames, vorausschauendes, weittragendes Dekret zu sein, wie es besser nicht einmal der Papst in Rom verfassen könnte. Allein der –“

    „Und warum höre ich noch nichts?“

    Nun war es Gewissheit, er wollte Geld. „Euer Wohlgeboren, warum so ungeduldig?“ Verflixt, die Situation wurde langsam ungemütlich. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, denn lange konnte ich den Kerl nicht mehr hinhalten.

    „Wir überlegen noch, in welcher Weise wir das Dekret auslegen sollen“, kam mir der Magister zur Hilfe. „Man kann es so und so hypothetisieren, etwa auf päpstliche, kaiserliche oder königliche Art°°.“

    Der Hofmarschall gab den Knechten ein Zeichen, worauf sie ihre Piken senkten und drohend näher kamen. „Dann nehmt die königliche Art!“, knurrte er, „wenn ich nicht bald den Klang klingender Münzen höre, geht die Jungfer durchs Loch!“

    Ich faltete die Hände und richtete den Blick nach oben. O Herr, flehte ich innerlich, bitte, nur noch ein einziges kleines, klitzekleines Wunderchen, dann lasse ich dich auch damit in Ruhe!

    Ein dicker Höfling, vorne und hinten gepolstert wie ein Dachdecker an den Knien, kam herein, streckte er die Arme aus, warf sich kopfüber in das Loch – und blieb stecken. Sofort eilten Helfer herbei, fassten ihn bei den Beinen und schoben kräftig nach; doch es nützte nichts, der Kerl steckte gründlich fest. Man schob, drückte, stieß – der Körper bewegte sich keinen Zoll. „Stoßt, Leute, stoßt!“, hörte man ihn dumpf krakeelen, „oh – au – au – zieht - zieht – mein Bauch – ahhh – au!“ Nach einer Weile nutzlosen Schiebens und Zerrens öffnete sich eine Seitentür – es war eine dieser verteufelt gut getarnten Fluchttüren, ähnlich der, durch die Gerlind und ich Burg Schwarzenraben verlassen hatten – ein Lakai erschien und näselte: „Seine Majestät befiehlt, die Gäste sofort vorzulassen!“ – Der Hofmarschall, hochrot im Gesicht, murmelte Unverständliches, dann wies er mit der Hand auf die Tür.

    „Herr, ich danke dir“, murmelte ich, „wenn auch die Welt ein Tollhaus ist, auf dich ist Verlass!“

    ________

    * Scherzhafte Bezeichnungen für Dekrete, z. B. des Papstes Clemens. ** Schwanzaffen.° Kleiner Lastkahn. °° Gemeint sind Verfahren, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, etwa durch den römischen Peterspfennig. .

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (2. Mai 2021 um 10:24)

  • Mundburt erfährt, wo die eisernen Kochtöpfe herkommen und würgt einen königlichen Beamten.

    „Die angenehmste Verstopfung, die mir je vorgekommen ist“, raunte der Magister, „noch ein Weilchen, und der Schwachkopf hätte uns alle durch das Loch gezwungen.“ Indes war Gerlind an meine Seite getreten und blickte mich liebevoll an. „Wie hast du das denn nun wieder geschafft, mein Freund?“

    „Ach, nicht der Rede wert! Es geht doch nichts über Beziehungen.“

    In dem Saal, den wir durchschritten, sah und hörte ich die absonderlichsten Dinge. Er glich einem Marstall, nur standen in den Abteilungen keine Pferde, sondern Tische, an denen Männer saßen, die gestikulierten und wild herumschrien. Eine kratzige Stimme rief: „Wenn du mir eine Kanne Wein spendierst, verrate ich dir, wie man sich nach dem Scheißen auf die angenehmste Art den Arsch wischt!“

    „Hoho!“, grölte ein anderer, „und ich weiß dir für eine Schüssel fette Kuddeln ein sicheres Mittel gegen Zahnschmerzen!“

    „Erst das Mittel, dann die Kuddeln!“

    „Hoho! Erst die Kuddeln, dann das Mittel!“

    „Halunke! Siehst wohl meine geschwollene Backe! Also gut! Clerice*, eine Schüssel fette Kuddeln!“

    „Du badest die Wurzel ein Stunde lang in kochendem Essig und lässt sie dann an der Sonne trocknen.“

    In einem Fruchtkorb sah ich, wie eine Birne einem Apfel, an dessen Stiel eine Pflaume saugte, den Nabel leckte. Unter einem Tisch kopulierten ungeniert eine Bratpfanne und eine Kasserolle, was sie wohl nicht zum ersten Mal und auch nicht folgenlos taten, denn drumherum standen zehn oder zwölf kleine, putzige Grapen**. Das Absonderlichste aber war die Art und Weise, wie der Saal beleuchtet wurde und, bei Gott, hätt´ ich´s nicht mit eigenen Augen gesehen, ich könnt es immer noch nicht glauben. Ich meine jetzt nicht die Nachbildungen von Hinterteilen auf den Tischen, die als Kerzenhalter dienten. Was ich meine ist dies: Auf einem großen runden Tisch knieten in sternförmiger Anordnung, die Köpfe nach innen, zwölf Jungfern und streckten die nackten Hintern, aus denen brennende Kerzen ragten, in die Höhe. Mitten in diesem apokalyptischen Kronleuchter stand eine fette Makrele und rief:

    „O Gott, der du zu Kanaan aus Water

    Wein erschufst – so mach doch, Vater

    den Arsch mir zur Laterne,

    leucht´ meinem Nachbarn gar so gerne!“

    „Bei meinen Hämorrhoiden“, knurrte der Magister, „ich wollte darauf schwören, dass dies eine Diplomatenschule ist!“

    „Eher ein Tollhaus!“, flüsterte Gerlind mit schamvoll erröteten Wangen.

    „Es ist die Art von Geselligkeit, die der König liebt“, sagte unser Führer, „den Schamlosesten, Frechsten, Närrischsten überhäuft er mit Gunstbeweisen.“

    Zum Wundern war allerdings keine Zeit, denn wir erreichten eine Tür, neben der mit strahlendem Gesicht eine Laterne stand. Der Hofmarschall öffnete die Tür und sagte zu der Laterne: „Madam, geht Ihr voran!“

    Die Treppe war nicht nur steil, schmal, fensterlos-finster, sondern geradezu halsbrecherisch. Alles, was eine gut gefügte Steintreppe auszeichnet, war nicht vorhanden: Da war kein Geländer zum Festhalten, was verteufelt nötig gewesen wäre, denn die Stufen waren ausgetreten und bröckelig wie das Gebiss eines hundertjährigen Maulesels; einige fehlten sogar, sodass wir wie die Kängurus hüpfen mussten. In einem Treppenabsatz klaffte ein großes Loch, sodass jemand, der dort aus Versehen hineintappte, unweigerlich in die Tiefe stürzte. Alles sah danach aus, als sei die Treppe eigens dazu angelegt, Aufsteigern ein Bein zu stellen, was der Hofmarschall auch prompt bestätigte. „Normalerweise geschieht der Aufstieg in völliger Finsternis“, erklärte er, „und nur wenige erreichen das Ziel. Aber bei Besuchern machen wir eine Ausnahme, zumal wenn sie der König sehen will, wie in Eurem Fall, denn Ihr wollt ja nicht nach oben, Ihr müsst es!“

    Wir stiegen weiter hoch, bis wir auf einen Absatz kamen, nach dem sich die Treppe links wand; nach zwei weiteren ging es gerade hoch. Gerlind seufzte erleichtert, jedoch zu früh; die Stufen waren jetzt feucht-glitschig und mit einer schwarz-grünen, ekligen Algenschicht bedeckt, sodass man sehr Acht geben musste, nicht auszurutschen.

    „Könnt Ihr nicht etwas ruhiger leuchten, Madam?“, bat ich die Laterne.

    „Es ist die Kerze, die so flackert, nicht ich.“

    „Wie viel Stiegen sind es denn noch?“

    „Wie viele habt Ihr denn gezählt?“

    „So viele wie Haare auf meinem Kopf.“

    „Dann nehmt noch das Quadrat dazu und teilt´s durch drei, dann habt Ihr´s!“

    Auf der nächsten Raststelle stand ein Mann mit Kampfhandschuhen an den Händen. „Wozu ist denn der da?“, fragte Gerlind.

    „Es ist der letzte Versuch, jemanden zu Fall zu bringen“, beschied der Hofmarschall mürrisch.

    „Ziemlich perfide, die Methode, die Leute am Aufsteigen zu hindern.“

    „Was wollt Ihr, keiner wird dazu gezwungen.“

    . „Müssen wir denn über diese elende Treppe wieder hinunter?“, fragte ich.

    „Nun ja, gelt, das kommt darauf an...“

    Mir schwoll die Milz, nahm den Kerl beim Hals und schrie ihn an: „Noch einmal gelt, und ich stoße Euch die Treppe hinunter, gelt, elender Beutelschneider, gelt!“ –

    Herrgottnochmal, ja! Es war ein Fehler, aber, Himmel, es gibt Fehler, die muss man einfach machen, sonst verliert man seine Selbstachtung. Natürlich, der Scheißer spielte, wie es bei Leuten seines Schlages nicht anders zu erwarten war, den Unschuldigen. „Herr!“, gurgelte er, „ich weiß nicht was Ihr meint! Bitte benehmt Euch!“

    Nach gefühlt zehntausend Stufen und fünfhundert Treppenwindungen erreichten wir keuchend den letzten Absatz, wir standen vor der nächsten Tür, die ziemlich merkwürdig aussah, denn sie war mit einer Unzahl Schlüssellöcher übersät – mit großen, mittleren, kleinen, winzigen. Der Hofmarschall zog einen riesigen Schlüssel hervor und steckte ihn in ein riesiges Schlüsselloch, dann einen großen in ein großes und so weiter, bis er bei einen winzigen Schlüssel in ein winziges Loch steckte. Dann klopfte dreimal mit der Faust gegen die Tür, und sie tat sich auf.

    ____________________________

    * Lat. Ober! ** Eiserne Kochtöpfe


    Mundburt lernt den König der Ratzen kennen, und was sonst noch geschieht.

    Ehrlich gesagt, als wir die königlichen Gemächer betraten, freute ich mich schon auf weitere köstliche Abnormitäten, denn wo, liebe Freunde, wo auf der Welt bekommt man dergleichen Narreteien, wie wir sie gerade erlebt hatten, noch geboten? Ich dachte: Wenn schon auf dem Flur die Puppen tanzen, was wird dann erst in der Stube los sein? So dachte ich jedenfalls, doch da lag ich völlig falsch. –

    Zuvor führte uns der Hofmarschall durch eine Reihe von Vorzimmern. Als ich mich umblickte, sah ich – ja was wohl? Nichts sah ich, zumindest nichts, was mir rote Ohren beschert hätte. Es ging alles verteufelt sittsam zu – keine Arschleckerei, keine Schreierei, keine anzüglichen Gesänge, keine – ha! Kronleuchter aus bekerzten Jungfernsteißen. Ein Haufen Hofgesinde war mit lauter nützlichen Dingen beschäftigt. In der Küche blies eine junge Magd den Ofen mit dem Hintern an, eine andere setzte einem gerupften Huhn wieder die Federn auf; ein schieläugiger Knecht war damit beschäftigt, einen blutigen Eselskopf zu rasieren, was einen Haufen Wolle abwarf. In der Schreibstube fegte ein Schreiberlehrling heruntergefallene Buchstaben auf und warf sie zum Fenster hinaus; ein anderer zerstampfte in einem Mörser eingetrocknete Dinte, was sicherlich eine sehr nützliche Tätigkeit ist; an einer Leine, quer durch die Stube gespannt, sah ich ein Dutzend mehr oder weniger geistreiche Kommentare, die dort zum Trocknen hingen. Fast wäre ich noch über die langen Beine einer Bulle* gestolpert, die lässig über einem Stuhl fläzte und schlief.

    Auch der Anblick des Königs, vor dem wir endlich standen, war enttäuschend. Ich hatte ein Monarchen erwartet, der sich, auf einem Thron ohne Boden sitzend wie auf einem Nachtstuhl ohne Geschirr, den Arsch von seinen Ministern lecken ließ; Hofschranzen, die ihm aus dem Munde redeten, Herolde, die ihm Köstlichkeiten aus der Region anboten, wie gebackene Kriegserklärungen, angedünstete Katastrophenmeldungen, in Weinsoße eingelegte Gnadengesuche, zerstoßene Mörder, und die er mit gesalzenen Dekreten, kandierten Maulschellen, liebevoll verpackten Steuererhöhungen, gebratenen Nasenstübern, apokalyptischen Fußtritten belohnte. Nein, nichts von alledem geschah – es war wirklich abgrundtief enttäuschend.

    Als wir den Thronsaal betraten, skandierte gerade ein Chor aus Höflingen:

    „Heil dir, großer König!

    Von allen verehrt,

    von keinem versehrt,

    niemals beschwert

    und weltweit begehrt,

    wir neigen das Haupt tief bis zur Erd´.“

    Rastzeputz glitt, noch bevor wir die Knie beugen konnten, von seinem Thron herab und kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Er umarmte erst Gerlind, dann den Magister, dann mich und rief: „Wie schön, liebe Seeleute! Wie schön, dass Ihr meinem Reich einen Besuch abstattet! Gäste sind uns stets willkommen, wenn sie nicht zu lange bleiben! Hoffentlich war Herr von Ratzivilli nicht zu aufdringlich!“ Er lachte dröhnend und klopfte dem Hofmarschall jovial auf die Schulter – „manchmal übertreibt er ein bisschen, der Gute, der Beste, der Einzige! Aber irgendjemand muss sich ja um den Staatshaushalt kümmern! Nun, liebe Freunde, wie war die Reise?“

    „Beschwerlich, Majestät“, sagte ich, „ausgesprochen beschwerlich! Erst gerieten wir bei völliger Windstille in einen furchtbaren Sturm, dann saßen wir auf einer Untiefe fest, die aus Sternenstaub bestand; als wir wieder frei waren ging uns der Wind aus, ein Wal katapultierte uns schließlich in Eure Lagune, und ein singendes Nilpferd verhinderte unsere Weiterreise.“

    „Wal? Singendes Nilpferd?“ Der König blickte den Hofmarschall fragend an. „Vor meiner Küste?“

    „Der Wal ist mir neu“, antwortete der, „und das mit Egon erklär´ ich Euch später, Majestät.“

    „Egon? Wieso wusste ich – “

    „Eure Majestät haben befohlen, Eure Majestät nicht mit Kleinkram zu belästigen.“

    „So? Aha! Nun denn.“ Der König rieb sich die Hände. „Köstlich!“, rief er, „Ihr müsst mir später unbedingt mehr von dieser Reise erzählen!“ Plötzlich stutze er und ging auf den Magister zu. „Herr, was ist mit Eurem Hals? Habt Ihr schon einmal gehangen?“

    „Majestät!! Nein, nur... Ich hatte den Kopf verloren, und Jungfer Gerlind nähte ihn mir wieder fest.“

    Der König starrte Gerlind entgeistert an, und ich fürchtete schon, er würde uns hinauswerfen lassen. „Was!“, rief er dröhnend; „die Jungfer kann nähen? Und dann auch noch so meisterhaft?“ Ratzeputz trat näher an Kopf heran. „Unglaublich! Ratziwilli, schaut Euch das mal an! Bringt sofort meine Staatsrobe!“ Er sah Gerlind gnädig an. „Jungfer; wie ist Euer Name?“

    „Gerlind, Majestät.“

    „Und weiter?“

    „Nichts weiter. Aber ich würde mich gerne setzen, wenn´s nicht zu viel Mühe macht. Das Treppensteigen...“

    „Aber natürlich, setzten wir uns doch!“ Der Ratzenkönig klatschte in die Hände; sofort brachten Diener Stühle ohne Sitzfläche herbei. Wir nahmen Platz, seine Majestät bestieg wieder den Thron.

    „Halten zu Gnaden“, sagte ich, „aber was ist daran so außergewöhnlich, dass eine Frau nähen kann?“

    „Nichts. Außergewöhnlich ist die Meisterschaft, mit der die Jungfer offensichtlich arbeitet.“ Ratzeputz verzog angewidert das Gesicht. „Freilich, auch meine Untertaninnen können nähen, doch alles was dabei herauskommt sind Geldbeutel. Geldbeutel, immer nur Geldbeutel, Tag und Nacht! Alles andere haben sie verlernt. Wie sehe ich denn aus?“, rief er, heftig mit dem Zepter rudernd, und als wir höflich schwiegen: „Wie eine Vogelscheuche! Wie eine königliche Vogelscheuche! Meine Staatsrobe – dreimal gewendet und zehnmal geflickt!“ –

    An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass Ratzeputz tatsächlich ziemlich abgerissen aussah; sein Gewand wirkte keineswegs fürstlich, eher wie das eines armen Ritters in Zivil. Lediglich Krone und Zepter ließen erkennen, dass man einen König vor sich hatte. –

    „Und bei den anderen Gewerken sieht´s nicht besser aus“, lamentierte der König mit hoher Stimme weiter. „Der Schreiner will einen Sarg tischlern, na, und was steht eine Woche später in seiner Werkstatt? Ein Geldkasten! Der Schmied schlägt ein Hufeisen, und wenn er´s wenig später aus dem Wasser zieht, ist daraus ein eiserner Kassenriegel geworden!“ Der König der Ratzen seufzte schwer. „Es ist zum Verzweifeln!“

    Ratziwilli erschien mit der Staatsrobe überm Arm und hielt sie Gerlind hin. „Wenn Ihr so freundlich sein könntet, Jungfer!“

    Gerlind betrachtete die Robe mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Oha! Das kann aber länger dauern!“

    „Ihr habt alle Zeit der Welt!“, rief Ratzeputz begeistert, „nur frisch ans Werk! Wenn es Euch gelingt, erhebe ich Euch in den erblichen Adel!“

    „Dann bräuchte ich Nadel und Zwirn.“

    „Ratziwilli, habt Ihr nicht gehört? Nadel und Zwirn, aber dalli!“

    „Majestät, die Nadeln sind bis auf eine alle zerbrochen, und die letzte Docke Zwirn wurde heute Morgen für einen neuen königlichen Geldbeutel vernäht.“

    „So? Und warum wurde noch kein neues Material bestellt?“

    Der königliche Ausputzer wand sich wie ein Aal. „Majestät, die Handwerker weigern sich zu liefern.“

    „Wie, was, weigern sich? Sofort aufhängen, köpfen, vierteilen, rädern... ähem... und warum?“

    „Sie behaupten, unser Geld sei nichts mehr wert, und Stahl und Wolle bekämen sie nicht nachgeworfen.“

    „Da soll doch... Warum weiß ich davon nichts?“

    „Eure Majestät haben befohlen, Eure Majestät nicht mit Kleinkram zu belästigen.“

    „Ich könnte mit Seemannsgarn aushelfen“, schlug ich vor.

    Ein Waffenknecht erschien. „Was ist denn nun schon wieder?“, fistelte der König ungehalten.

    „Majestät, die Burg wird belagert –“

    „Was sagt Ihr da? Belagert? Aber, zum Teufel, ich habe doch niemandem den Krieg erklärt!“

    „Es sind hunderte Frauen, schwer beladen mit allen möglichen Kleidungsstücken! Sie schreien nach der Jungfer, die noch Nadel und Zwirn besitzt.“

    „Wer hat ihnen denn das erzählt? Sie sollen sich scheren und ihre Kleider selber flicken! Sagt ihnen das! Jagt sie davon, lasst nötigenfalls die Hunde los!“ Ratzeputz blicke zu den Höflingen, die im Hintergrund des Saales gelangweilt von einem Bein aufs andere traten. „Nun?“

    „Heil dir, großer König!“,

    kam es monoton, aber wie aus einem Munde,

    „Wir loben dich nicht wenig!

    Dein Ruhm erschall´ in alle Welt,

    soll klingen wie im Sack das Geld!

    Ich begriff. Hier oben wurde nicht mehr geleckt, sondern geschmeichelt.

    Ratzeputz drehte sich mit zufriedener Miene wieder um. „So. Jetzt wird erst einmal ein kräftiger Imbiss genommen!“

    ____________________

    * Päpstliches Schreiben

    Forts. folgt

  • Mundburt fabuliert das Blaue vom Himmel und bekommt eine Krone geschenkt.

    Bei allen heiligen Schleckermäulchen, die königliche Tafel konnte sich sehen lassen! Als wir den Speisesaal betraten und die gedeckte Tafel sahen, stöhnte der Magister in froher Erwartung auf; auch der Wolf in meinen Eingeweiden knurrte heftig. Auf den Tischen standen Körbe, Kiepen, Ballen, Schläuche, Töpfe, Teller, Kannen, Krüge, beladen mit allen nur erdenklichen Köstlichkeiten, zum Beispiel:

    Gebratene Kalbskeulen, mit Ingwer beschlagen,

    Brühwürste, mit Senf aufgezäumt,

    Blutwürste in vollem Pfefferharnisch,

    Heringe in Weihwasser-Remoulade,

    neunerlei gedämpfte Raben-Fricassées,

    sechserlei panierte Karbonaden vom Storch,

    gesalzenes Wildbret im Flamingofedernrock,

    geräucherte Ochsenbacken mit Rohrdommeln gefüllt,

    Hasen-, Lerchen-, Tauben-, Steinbock-,

    Siebenschläfer-, Nilpferd-, Elefantenpastete,

    Guineahühner in Holztaubensoße,

    eingelegte Hühneraugen

    gebackene Knurrhähne,

    getrocknete Skrupel,

    und noch vieles mehr.

    .

    Dann das Gebäck!

    Buttergebackenes,

    Schmalzgebackenes,

    Blütengeröstetes,

    Rindenknusper,

    Wurzeltörtchen,

    Weichteilchen,

    Nussteilchen,

    Austeilchen,

    Hefenüsse,

    Kopfnüsse,

    Schnirkelschnecken,

    Weinbergschnecken,

    Ohrschnecken,

    Selleriemakronen,

    Zuckermatronen,

    Nonnepfärzchen,

    Prälatenköttel,

    Bischofseier,

    Krähenfüße,

    Bärenpratzen,

    Katzenpfötchen,

    Hundekötchen,

    Windbeutel,

    Geldbeutel,

    Klingelbeutel°.

    Dazwischen Flaschen mit den herrlichsten Getränken:

    Mosel-, Saar-, Rhein-, Aar-Schleckerchen,

    Landweine, Dorfweine, Stadtweine,

    Feld-, Wald- und Wiesenweine,

    Weiß-, Rot-, Grün-, Blau-, Gelbweine,

    Messweine, Maßweine, Missweine,

    Lieb-Frauen-Milch, aber auch herbere Lagen wie Böse-Schwiedermutter-Tropfen,

    Winzerschweiß oder Württemberger Krätzer;

    Gröver Nacktarsch und andere Sehenswürdigkeiten,

    Burgunder, Holunder, Landunder...

    Fasziniert starrten wir auf all die Köstlichkeiten und wagten kaum zu atmen... überhörten auch die Frage des Königs – zumindest ich: „Na, mein Lieber, was habt Ihr denn diesmal zu bieten?“, und auf die Antwort des Küchenmeisters: „Erbsensuppe mit durchgeschossenen Wurstresten, Majestät!“, konnte ich mir, fasziniert von dem überwältigenden Anblick, überhaupt keinen Reim machen. Erst als er König rief: „Meine lieben Gäste, hier ist gedeckt!“ und auf einen winzigen Nebentisch wies, ging mir ein Licht auf. Das alles war nicht für uns bestimmt, sondern –

    „Attrappen!“, rief Ratzeputz XXIII und lachte unbändig, wobei seine Nagezähne hochklappten, „alles Attrappen! Aus heimischer Werkstatt! Zwei Dutzend Stuckateure und ein Gros* Maler haben zwei Jahre daran gearbeitet!“ Verdutzt beugte ich mich über die Schüssel mit den gefüllten Ochsenbacken – bemalter Stuckgips! Nahm eine Flasche Winzerschweiß hoch – leer! Wieder lachte der König so ausgelassen, dass er sich schnäuzen musste. „Wenn ich meinen Gästen schon nicht den Magen füllen kann, dann sollen ihnen doch wenigstens die Augen übergehen!“

    Während wir die Erbsensuppe mit durchgeschossenen Wurstresten löffelten – die königliche Einladung konnten wir unmöglich ablehnen –, sagte Ratzeputz (er selbst aß nichts): „Da habe ich doch, meine Herren, ganz vergessen, Euch nach Stand und Namen zu fragen! Seid doch so nett, und klärt mich auf!“

    Kopf stellte sich als Magister beider Rechte Jonathan Kopf vor; ich nannte Stand und Namen und sagte mein Sprüchlein auf.

    „Soso“, sagte der König, „aus dem schönen Schwabenlande kommt Ihr. Erzählt mir mehr davon.“

    „Was wollt Ihr denn wissen, Hoheit?“

    „Hmm... nun ja... wie es da so geht und steht.“

    Ha! Auf einmal wusste ich, wie ich mich für die falschen Hammelkeulen und die echte Wassersuppe revanchieren konnte, ohne dass mir der königliche Geizkragen den Hals zudrehen könnte. Ich erinnerte mich an die Worte meines Vaters, als ich ihn einmal fragte, ob er das, was er da erzähle, auch wirklich erlebt habe, oder ob er sich das alles beim Erzählen nur ausdenke. 'Du meinst, ob es wahr ist, was ich da quinquiliere?', fragte er zurück. Plötzlich brülle er los: 'Natürlich ist es wahr, du Scheißer, sonst würd ich´s ja nicht erzählen! Es ist erfundene Wahrheit! Glaubst du wirklich, die Bänkelsänger, die auf die Burg kommen und gegen ein Mundgeld die angeblich neuesten Neuigkeiten herunterträllern, singen immer die Wahrheit? Pah!, sag ich nur. Aber man glaubt´s halt, weil man nicht das Gegenteil beweisen kann.' – Na wartet, Hoheit, dachte ich, werd Euch die gestuckten Ochsenbacken und den luftgefüllten Nacktarsch mit gleicher Münze heimzahlen!

    „Nun ja, Majestät“, begann ich, „es geht und steht wie im Nachbarländle auch. Die Leute gehen mit dem Bauch voran, und der Hintern ist der erste, der sich setzt. Die meisten Köpfe sind noch auf dem Hals, einige sind schon unter der Erde, andere schaukeln im Wind. Wird einer gehenkt, freuen sich die Raben. Die Krebse gehen seitwärts und die Seiler rückwärts. In den Bienenstöcken ist das Platzangebot rar, und die Hummeln sind wie immer schlechter Laune. Die Flöhe sehen schwarz und tanzen den Läusen auf dem Kopf herum. An manchen Orten wird viel geredet und wenig gesungen, an anderen ist es umgekehrt. Ein Teil der Leute geht maskiert, der andere klistiert. Mancherorts ist ein großer Wirrwarr, wie man sein Lebtag nicht gesehen hat, denn die Verben werden immer unregelmäßiger. Wer a sagt, sagt auch b, nur in Großbuchstaben. Lässt jemand eine Bemerkung fallen, steigen die Leute achtlos darüber hinweg. Die Sterngucker gucken in die Sterne und die Ofensetzer in die Röhre...“

    Während ich diesen Unsinn ableierte, blickte mich der König unverwandt an. Oha, dachte ich, gleich platzt ihm der Kragen; ich schwieg.

    „Erzählt weiter!“

    „In diesem Jahr wird im Schwabenland einigen das Lachen im Halse steckenbleiben“, fuhr ich in erhöhter Tonlage fort, „anderen fährt es zum Hintern hinaus. Die Einäugigen sind die Könige unter den Blinden, die Stummen die Fürsten unter den Schwätzern, die Gesunden die Sklaven der Kranken. In diesem Jahr werden die Reichen noch reicher, die Armen noch ärmer, wie schon in den Jahren zuvor. Viele Hammel, Ochsen, Hühner, Schweine, Gänse werden ins Reich der Töpfe und Pfannen eingehen, aber auch bei Maulaffen und Prälaten steigt die Sterblichkeit. Das Altern ist nach wie zuvor unaufhaltsam, und der Tod nach wie vor unheilbar. Die mit Durchfall behafteten gehen noch öfter zu Stuhl als im letzten Jahr, die Venerischen preisen sich glücklich und vergnügen sich weiter. Die unter Frieselfieber ächzen steigen in die Zuber und wärmen das Badewasser, damit die Suppe beim Verzehr – “

    Der König sprang so hastig auf, dass ihm die Krone vom Kopf sprang und mir vor die Füße rollte.

    „Herr Ritter der Winde!“, rief er begeistert, „ist großartig, das ist köstlich! Wo habt Ihr das gelernt! Genau solch einen Mann wie Euch suche ich schon lange! Einen, der mit todernstem Gesicht den hellsten Unsinn erzählt! Bleibt hier, und ich ernenne Euch sofort zum Oberaufseher über meine Advokaten und Juristen – – ach was! Zum Präsidenten des Kammergerichts!“

    Ich stand auf und verbeugte mich. „Majestät, Euer Angebot ehrt mich ungemein, aber meine Lebensplanung gebietet mir –“

    „Soso, Eure Lebensplanung gebietet Euch! Schade, junger Mann, jammerschade! So einen wie Euch könnte ich gut brauchen. Nun gut, fahrt dahin und schlagt Euch tapfer. Meinen Segen habt Ihr.“

    „Untertänigsten Dank, Majestät! Hier, Eure Krone!“

    „Wie? Was? Ach so! Könnt Ihr behalten, als Andenken an einen großen König.“

    „Majestät!“, rief ich ehrlicher Entrüstung, „das Geschenk kann ich unmöglich annehmen“, – erhielt von Gerlind einen kräftigen Tritt vors Schienbein – „es ist immerhin Eure Krone! Die Krone eines großen Königs!“

    „Nun habt Euch nicht so! Ist doch nur angemaltes Blech! Wo die echte ist, weiß ich nicht. (Leise) Wahrscheinlich hat sie dieser Ratziwilli – (laut) ach, was soll´s!“ Ratzeputz blicke zu den Höflingen, die im Hintergrund des Saales gelangweilt von einem Bein aufs andere traten.

    „Nun?“

    „Heil dir, großer König!“,

    kam es monoton, aber wie aus einem Munde,

    keiner ist wie du so schönig!

    Herrlich wie ein Glockenhimmel,

    weise wie ein Apfelschimmel,

    stet und fest wie Beizhandschuhe,

    angenehme Mittagsruhe!

    Ratzeputz XXIII. gähnte zufrieden. „So, meine Liebden, fahrt mit Gott aber fahrt!“

    _________

    ° Darin wird in den Kirchen während des Gottesdienstes Geld eingesammelt. * Zwölf Dutzend

    Forts. folgt

  • Das war ein Feuerwerk der genialen Einfälle! Ich hab das Grinsen gar nicht mehr aus den Mundwinkeln bekommen^^

    Sehr gut! :thumbsup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Mundburt nimmt erneut einen Flüchtling auf und erfährt allerhand Kurioses.

    „Seit wann gibt es denn in Schwaben Affen?“, fragte Gerlind, als wir die Treppe hinunterstiegen – nicht jene halsbrecherische, sondern eine andere, bequemere.

    „Wie kommst du denn darauf?“

    „Hast du gerade erzählt.“

    „Ich?“

    „Ja, du.“

    „Ach so, die meinst du! Wenn wir wieder zurück im Ländle sind, zeig´ ich sie dir.“

    Als wir die Lagune erreichten, flatterte das Focksegel in leichter Brise. „Wind!“, rief ich, „endlich Wind!“ Wir wünschten den Ruderern eine guten Tag und stiegen an Bord. Mein erster Gang war zu Trabto, der mich freundlich wiehernd begrüßte. Ich warf ihm eine paar Scheffel Wind vor, und er ließ dankbar einige Windäpfel ab. Dann setzten wir das Großsegel und steuerten aus der Lagune heraus, an Hugo vorbei, der auf einer Klippe lag und mit offenem Munde schnarchte. Kaum hatten wir die freie See erreicht, da erscholl schräg vor uns uns Geschrei. „Hoiho!“, rief jemand, ein weißes Fähnchen schwenkend, „nehmt mich mit, um Himmels Willen, nehmt mich mit!“ Hinter einer Klippe wurde ein leichtes Ruderboot sichtbar, das in schneller Fahrt auf uns zukam und zügig längsseits ging. In dem Boot stand ein hagerer Mann in einem roten Überwurf. „Was wollt Ihr?“, rief ich. – „Ihr fahrt doch zur Insel des Fantastischen?“ – „Wenn wir sie finden! Gegenwärtig sieht es nicht so aus!“ – „Da könnte ich Euch, nützlich sein!“

    Ich ließ das Fallreep hinunter, der Theutene stieg keuchend an Bord. Kopf vertäute das Boot am Heck, und wir nahmen wieder Fahrt auf.

    „Dank Euch“, sagte der Mann und trocknete sich die Stirn, „hörte zufällig, wie Euch Ratzeputz verabschiedete... dachte bei mir: Knallratz, jetzt oder nie und die Beine bewegt! Leine los und ab! Sah Euch aus der Lagune fahren und ruderte wie der Teufel! Könnte jetzt irgendwas Feuchtes in der Kehle gebrauchen, von mir aus Wasser.“

    „Wer seid Ihr“, fragte ich, „und warum wolltet Ihr mitfahren?“

    „Ja, lieber Herr, gute Frage, wer bin ich? Bis vorhin wusste ich´s noch... Da nannte ich mich Knallratz Ritter zu Ratzeloh, Erster Reichskämmerer und, äh... Haupt-Domänenverwalter seiner Majestät Razeputz XXIII. Doch jetzt bin ich – nun ja, sagen wir mal, äh – ein Flüchtling.“ Gerlind stellte den Krug mit dem Wasser auf den Tisch; der Mann trank. „Ahh, tut das gut! Wasser! Das Leben kommt aus dem Wasser und geht zum Wasser! Ähem... Nichts für ungut meine Lieben, muss mir das Schwatzen noch gehörig abgewöhnen! Höre, Ihr wollt zum Fantastischen? Ich auch, will dort Asyl beantragen. Soll ein feines Land sein, nach allem, was man so hört, dort, wo jeder nach seiner Art und Beschaffenheit, äh, glücklich werden kann. So heißt es jedenfalls. Na ja, schau´n wir mal – “

    „Wisst Ihr denn, wie man dorthin kommt?“, fragte der Magister.

    „Aber sicher doch! Immer auf die untergehende, äh... Sonne zuhalten, dann könnt Ihr´s nicht verfehlen.“ Der Reichskämmerer blickte auf die Krone, die auf dem Tisch stand. „Euch hat er also auch eine geschenkt“, rief er.

    „Was meint Ihr?“

    „Dieser König ist der, äh... größte Narr von der Welt, und ich war der zweitgrößte! Nichts, aber auch gar nichts von dem, was er sagt, lässt und tut, darf man, äh, glauben. Alles Komödie und Narrenpossen! Seinen Gästen setzt er Wassersuppe vor, obwohl, äh... am Nebentisch die herrlichsten Speisen und Getränke –“

    „Aber die waren doch aus Gips!“, warf ich ein.

    „Ha! Hereingefallen! Hereingefallen! Hättet mal eine dieser, äh... verdammten Schüsseln oder Teller hochnehmen sollen! Darunter befinden sich in Terrinen die echten Speisen! Und die Kannen und Krüge – natürlich leer! Aber so wie die Gäste raus sind, schleppt der Kellermeister volle herbei! Der reinste Irrsinn! Er gefällt sich darin, die Menschen an der, äh... Nase herumzuführen und ihnen falsche Tatsachen vorzugaukeln. Vor einiger Zeit ließ er alle Nähnadeln und Garnrollen einsammeln. Seitdem weidet er sich daran, dass sein Volk in Sack und Asche geht. Dann das mit der Blechkrone... Eine, äh... Komödie! Er besitzt Dutzende davon! Damit will er die anderen Könige ärgern, die an ihren Kronen hängen wie der Arsch am Rücken. Sein Hofstaat, der allesamt aus erlesenen Halunken besteht, macht das perfide Spiel mit. Und ich war der, ähem, äh... Oberhalunke.“ Der Hofbeamte wischte sich die Augen.

    „Herr Kämmerer –“

    „Hat sich was mit Kämmerer! Meine Gattin nennt mich, äh, Knalli.“

    „Herr Knalli –“

    „Ohne Herr.“ Irgendwie wirkte der Kerl sympatisch, trotz seiner Nervosität und seines verschlagenen Aussehens.

    „Also, Knalli, nun macht Euch mal nicht schlechter, als Ihr seid! Es gibt, scheint´s, noch größere Halunken als Euch! Sonst wäret Ihr ja nicht geflohen.“

    „Ha, da sagt Ihr was! Größere Halunken! Zum Beispiel diesen Erz-Gauner Ratziwilli! Na schön, man trifft sich im Leben immer zweimal, und dann, äh... Ja, ich konnte es nicht mehr ertragen. Sagte zu meiner, äh, Gattin: Klothilde, sagte ich, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wandere ich, äh... aus, und wenn ich drüben Fuß gefasst habe, lass ich euch nachkommen. Und dann sah ich Euer Schiff.“

    „Wollt ihr damit sagen“, fragte ich, „das königliche Gehabe war nur Schauspiel und seine Zuneigung nicht echt? Mir schien der König ein eher freundlicher Herr.“

    „Zum Teufel, natürlich, alles nur Schauspiel!“ Knalli lachte bitter. „Alles nur ,äh... Narretei! Ja, Fremden gegenüber... Nach außen hin tut er so, als wüsste er von nichts, dabei scheißt ohne sein Wissen keine Fliege an die Wand! Und, äh, freundlich? Hat sich was! Ein Menschenverächter, wie ihn die Welt seit Kaiser Nero nicht mehr, äh... gesehen hat, ist er, und unendlich selbstverliebt! Tag und Nacht müssen ihm seine Schmeichler Elogen seiner... äh, Herrlichkeit vorleiern –“

    „Haben wir gehört und gesehen“, meinte Gerlind, „sahen aus wie dressierte Pinguine.“

    „Wie? Ähem... äh... AHHH!!!“ Knalli knallte sich mit der Hand auf den Schenkel, dass Trabto vor Schreck einen Windapfel fahren ließ. „Dressierte Pinguine! Ja, genau das ist es! Jungfer, da habt Ihr den Nagel auf den äh... Kopf getroffen. Dressierte Pinguine. Sein Volk besteht nur noch aus dressierten Pinguinen.“

    Ich sagte: „Wenn ich Euch recht verstehe, Knalli, dann geschehen diese unsäglichen... A... Leckereien auf Anordnung seiner Majestät.“

    „Aber sicher doch! Kein Theutene würde so etwas aus freien Stücken tun.“

    „Und warum tun sie´s trotzdem?“

    „Tja, äh, Jungfer, warum tun sie´s trotzdem.“ Knalli blickte betrübt ins Weite. „Weil diejenigen, die ganz oben sind, das Volk ungehindert ausplündern können.“

    „Und Ihr wart also einer von denen.“

    Knalli, hochrot im Gesicht, sprang auf; er sah aus, als könne ihn jeden Moment der Schlagfluss treffen. „Ho ha ihh ohh ähh bu bu bu knall fratz loh!“, schrie er, sprang auf den Tisch und riss sich das Obergewand herunter, zum Vorschein kam eine Unzahl goldener Spangen, Nadeln und Knöpfe.„Da da da!“, grölte er, „seht steht geht Gold Volk Gold Gold Volksgold ich ich bin bin Dieb Dieb Dieb knall Fall prall!“ Plötzlich hielt er inne, blickte um sich, wirkte, als sähe er uns zum ersten Mal und stammelte: „Ähem, au Backe, schöne Bescherung.“

    „Nun kommt mal wieder runter vom Tisch und setzt Euch“, sagte ich, „dass Ihr bei Eurem Amt am Bettelstab geht, hat ja wohl keiner von uns erwartet.“

    „Außerdem ist ein Flüchtling ohne Geld nirgendwo willkommen“, meinte Kopf.

    „Oh oh oh meine Lieben, ich danke Euch!“ Knalli machte Anstalten, Gerlind zu umarmen, was ich aber verhindern konnte. „Euer Verständnis wälzt mir eine Zentnerlast vom Herzen!“ Er nestelte an seinem Wams herum. „Hier, Jungfer, nehmt, und auch Ihr, meine, äh... Herren, sollt nicht zu kurz kommen –“

    „Soweit kommt´s noch!“, rief Gerlind entrüstet, „ich behäng mich doch nicht mit Raubgold!“

    „Lasst getrost stecken“, sagte ich, „könnt es besser gebrauchen als wir.“

    „Da habt Ihr wohl Recht.“ Der Ex-Kämmerer trank einen Schluck und fuhr fort: „Seine größte Narretei aber ist die Art und Weise, wie er seine Geldvorräte vermehrt. Bei dem Aufwand, den der König sich leistet, ist in seiner Kasse natürlich immer Ebbe. Die ständigen Gauklerspiele, Ritterturniere, Schlämmereien, Tanzvergnügen, diese ewigen Scharfrennen, Bärenhatzen, Fuchsjagden verschlingen jährlich Millionen guten Geldes. Damit seine Gold- und Silbervorräte nicht zu sehr leiden, lässt er schon seit Jahren monözisches* Erz und andere unedle Metalle

    unter die Münzschmelze mischen, gut, das machen die anderen Könige auch. Doch ihm reicht das nicht mehr. – Eines Tages bat ein Bankier aus dem schönen Lande Italia um eine Audienz, ein Narr, sag ich Euch, wie man ihn nicht alle Tage trifft. Hatte wohl von Ratzeputzens Finanzproblemen gehört und suchte nun daraus Gewinn zu ziehen. 'Majestät', sagte der Schlingel, 'warum greift Ihr Eure Schatulle an? Es gibt sparsamere Möglichkeiten der Geldvermehrung! Auf Kosten des Volkes! Macht mich zum Präsidenten der Münze, und ich verrat sie Euch!' Der Banause wurde Präsident der Münze und sagte: 'Warum gebt Ihr echtes Geld aus? Reißt Pergament in kleine Schnipsel, schreibt irgendwelche Zahlen darauf, lasst im ganzen Lande verkünden, die sei das neue Geld, kein anderes sei mehr gültig, und Ihr seid die Sorgen los!' – 'Nicht schlecht, Euer Vorschlag, mein Lieber', sagte ich – ich war dabei, denn die Besorgung des Geldes ist, äh... war schließlich mein Metier – 'doch woher sollen wir das Pergament nehmen? Sagt uns das! Wir haben kaum – ' – 'Ach schon wieder Ihr mit Euren Bedenken!', fuhr Ratzeputz auf mich los, 'dann nehmen wir eben Birkenrinde!' Ich meldete Bedenken an, doch es nützte nichts.“

    Knalli blickte verstört vor sich hin. „Hu hu“, stöhnte er, „was ist aus unserer schönen Ratzeburger Mark geworden! Und das mir, dem Hüter des Geldes! Seitdem gibt es im ganzen Lande nicht genug Geldbeutel und Kassen, um die Flut an Birkengeld aufzunehmen.“

    „Verstehe“, sagte Gerlind, „weil Ihr als Hüter des Geldes dieses Elend nicht mehr mit ansehen könnt, seid Ihr geflohen.“

    „Hmm...nun ja...äh...“

    „Hmmnunjaäh – verdammt nochmal, ja oder nein?“

    „Nun ja, nicht allein deswegen... Ausschlaggebend war... äh... wie man so sagt: Wegen einer – ach, ach.“

    „Etwas genauer bitte!“

    Knalli rutschte verlegen mit dem Hintern auf der Bank herum, dass ich schon befürchtete, sie könnte Feuer fangen. „Äh, hmmm, nun ja... es war so: Seit dem Tag an begann Ratzeputz mich zu schikanieren. Zum Beispiel verlangte er von mir, diese, äh... Arschleckereien wieder mitzumachen, und zwar am lebenden Objekt, an seinem – brrrrr... Dabei hatte ich noch vom ersten Mal eine wunde Zunge. Ich tat´s, aus Liebe zu meiner, äh... Frau und meinen Kindern. Konnte sie doch nicht...“ Der Theutene schwieg.

    „Es sind schon ganz andere Leute nach Canossa gegangen“, sagte ich, „also macht Euch darum mal keinen Hals. Was ist es denn nun wirklich, das Euch aus dem Land treibt?“

    Plötzlich brüllte er los. „Gestern verlangte dieses Schwein von mir, ich solle den Jungfern die Kerzen aufzustecken! Alle Teufel über ihn! Hab selbst zwei Töchter in diesem Alter, und... und... und... ach... ach...“ Der Rest war Schluchzen.

    Wir schwiegen bestürzt, nicht so sehr aus Mitleid, sondern eher aus Verwunderung darüber, dass ein Mann seines Stammes solch edler Gefühle mächtig war. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, fuhr er fort: „Ich war genug Herr über mich selbst, um dieses Ansinnen entschieden zurückzuweisen. Doch bei diesem König kommt ein zurückgewiesener Wunsch einem, äh... Todesurteil oder zumindest Verbannung gleich. Leck´ Euch, wenn´s nicht wahr ist! Wie? Ah... äh... Pardon, war nicht so gemeint... Da sagte ich zu mir: Knallratz, äh... zaudere nicht, handle. Und ich handelte, wie Ihr seht. Besser in der Fremde kleine Haufen kacken als zuhause mit Gütern gesegnet unterm Galgen den... oh... äh... puh...“

    Die Sonne versank gerade im Meer, wir hielten genau auf sie zu. Rechts und links stiegen fliegende Fische auf und beäugten uns neugierig. Ich ging ins Hinterschiff, um Kopf am Ruder abzulösen. „Einen seltsamen Vogel haben wir uns da eingefangen“, sagte ich, „einerseits korrupt bis in die Haarspitzen, dann wieder edel und gut. Hätte ich von einem Ratzen nicht erwartet.“

    „Urteilt nicht vorschnell“, entgegnete der Magister, „nicht ohne Grund sind die Ratzen den Indern heilig, denn das Heilige erwächst häufig aus dem größten Unheil, wie das Beispiel des heiligen Augustinus zeigt, der in seiner Jugend ein großer Wüstling war und sich im Alter zum Mann Gottes mauserte. Außerdem stellt Meister Alfredus Brehmus in seinem Liber de vita animaliae, p. C&CC§IIXY?Z fest, dass Ratzen dieselben Nahrungsmittel und Getränke genießen wie der Mensch. Wenn sich also zwei Gattungen in ihren Ernährungsgewohnheiten so ähnlich sind, werden sie es auch in puncto Sitten und Gebräuche sein.“

    ________

    * Kupfer

    Die Ballade von der unglücklichen Königin Ratzilind

    „Knalli, Ich frage mich die ganze Zeit“, sagte Gerlind anderntags beim Frühbiss, „was macht eigentlich eure Königin? Kann mir nicht vorstellen, dass das Leben an der Seite eines solchen Rattenschwanzes besonders angenehm ist.“

    „Ach ach ach!“, rief Knalli aufgeregt, „das ist eine traurige Geschichte! Lasst mich erst zuende essen, Jungfer, dann singe ich sie Euch vor!“

    „Wie, was, singen könnt Ihr auch?“

    „Nicht wirklich, aber notgedrungen. Ratzeputz, geizig wie er ist, verlangte von mir, dass ich den Hofpoeten ersetze, nachdem er, um Geld zu sparen, sich selbst zum Narren erklärt hatte. Ich musste Verse wie diese verfassen:

    Heil dir großer König!

    Wir loben dich nicht wenig!,

    und ähnlichen Schwachsinn! Ihr habt es doch gehört! Grauenhaft! Vielleicht war das ja sogar der Hauptgrund für meine Flucht, und nicht die Jungfernsteiße. So etwas hält doch eine zartbesaitete Seele auf die Dauer nicht aus! Mein Herz verlangt noch Höherem. Um mich geistig wieder aufzurichten, dichtete ich in meiner Freizeit Balladen und sang sie meiner Frau vor. Unter anderem auch die Ballade von der unglücklichen Königin Ratzilind, Ratzeputzens Gemahlin.“

    „Na schön! Dann lasst mal hören!“

    „Würd ich ja gerne! Allein es fehlt die Laute! Die hab ich in der Aufregung ganz vergessen! Und ohne Begleitung kann ich nicht singen.“

    „Schade“, sagte der Magister, „für Eutherpes* Kunst bin ich immer zu haben, besonders nach einem guten Frühbiss!“

    „Dann machen wir eben die Musik!“, rief ich. Alle blickten mich erstaunt an. „Wir bilden einen Summchor! Auf 'Hmmmm'.“

    Knalli war einverstanden, leerte seinen Becher, setzte sich zurecht und begann:

    „Die Ballade von der unglücklichen Königin Ratzilind!“

    (Gerlind, der Magister und ich: Hmmmhmmmhmmmhmmmmmmhmmm)

    Der Sänger von eigenen Gnaden sah uns glücklich an und fuhr fort:

    „Hört, wie einst zur Christnachtmette

    ging die junge Königstochter,

    reich an Tugend, reich an Schönheit

    und mit beidem gleich betörend.

    (Wir unterdes: Hmmmhmmmhmmmhmmmhmmmhmmm)

    Alle Augen zog sie auf sich,

    alle Herzen zog sie an sich.

    Die in ihrer Pracht sie sahen

    sanken seufzend vor ihr nieder.

    (Wir: Hmmmhmmm usw.)

    Lunas Schein auf ihrer Stirne

    mit dem goldnen Diademe,

    hold von Antlitz wie Zythere,

    keusch wie Vesta in den Sitten.

    (Wir: Hmmmhmmm usw.)

    Strahlend folgte ihren Tritten

    eine Phalanx edler Ritter,

    und die Reihe schöner Jungfern

    machte selbst den Chronos lüstern.

    (Wir: Hmmmhmmm usw.)

    Sah sie da der junge König,

    furchtgebietend wie ein Kriegsgott,

    von Millionen Blitzen glänzend,

    Wangen rot wie Eos´ Lippen.

    (Wir: Hmmmhmmm usw.)

    Sah sie und entbrannt´ in Liebe,

    die sein Herz mit Feuer füllte.

    Vor den Thron des Vaters trat er,

    fiel aufs Knie und sprach die Worte:

    (Wir: Hmmmhmmm usw.)

    'Heil dir König, großer Herrscher!

    Der du machst den Mars erbleichen!

    Lebe nicht in Bettlerhütten,

    habe Mailands edle Stoffe,

    (Wir: Hmmmhmmm usw.)

    beider Indien Edelsteine,

    Perlen in der Zahl von Sternen.

    Aus Arabien umduften

    mich die edelsten Gerüche.'

    ( – – – )

    Mit solch prahlerischen Reden

    bat er um die Hand der Tochter.

    Stieg vom Thron der gute König – –“

    Knalli stutzte. „Warum summt ihr nicht mehr?“

    „Wie viele Strophen sind es denn noch?“, fragte der Magister.

    Der Sänger strich sich verlegen das Kinn. „Hm, nun ja, noch etliche. Die Ballade fängt ja erst an.“

    „Also, wie viele?“

    „Hundert.“

    „Hundert!“ Gerlind schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Eure Dichtkunst in allen Ehren, Meister, aber so viel Strophen kann ich unmöglich mitsummen. Meine Kehle ist jetzt schon rau wie ein Waschbrett!“

    „Und meine wie ein Reibeisen!“, assistierte Kopf.

    „Na gut, dann muss es eben ohne Begleitmusik gehen.“ Knalli holte tief Luft, doch ich kam ihm zuvor. „Mein Lieber, ich hätte da eine bessere Idee. Ihr erzählt einfach in ungedrechselten Sätzen, worum es geht. Wir werden Euch sicherlich auch dann verstehen.“

    Um es kurz zu machen: König Ratzeputz erhielt die Hand der schönen Ratzilind, und sie waren glücklich und ein stolzes Paar. Eines Tages stürzte der König bei einer Hirschjagd vom Pferd und prallte mit dem Hinterkopf hart auf einen Stein. Seitdem ist in seinem Oberstübchen nicht mehr alles in Ordnung. Ratzilind hat sich in ein Schloss auf einer Insel weit vor der Küste zurückgezogen und lässt sich von Hugo täglich über ihren Gemahl berichten, denn sie liebt ihn immer noch sehr.

    Ich frage euch, meine Lieben, braucht man dafür hundertzwanzig Strophen?

    __________

    * Muse der Dichtkunst

    Forts. folgt


  • Mundburt wird auf eine seltsame Insel gezwungen und um ein Wunder gebeten.

    Die nächsten zwei Tage verliefen ruhig. Das Schiff segelte bedächtig bei einem Wind dahin, der genau so träge war wie wir. Knalli erzählte von seinem Leben bei Hofe, Geschichten, so haarsträubend, das jede Dinte beim Versuch, es aufzuschreiben, verdampfen müsste. Der Magister erinnerte sich an die Zeiten, als er noch den Kopf unterm Arm trug. Gerlind fing mit der Bratpfanne fliegende Fische. Ich gähnte und schnarchte, schnarchte und gähnte. Am dritten Tag, kurz nach Sonnenaufgang, näherte sich aus der Luft ein schwarzes spitzes Dreieck, dass sich beim Näherkommen in einzelne Vögel auflöste, die in schnellem Flug dahineilten. Sie setzten zum Tiefflug an, schossen in geringer Höhe über uns hinweg und riefen etwas, das ich nicht verstand. Dann machten sie kehrt und bedrängte uns erneut, und jetzt verstand ich, was sie riefen. Sie forderte uns zum Beidrehen und Folgen auf.

    Mir wurde es zu bunt. „Verschwindet, ihr elenden Krähen“, schrie ich und drohte mit der Faust, „sonst feuere ich euch eine Ladung Wind in euer dreckiges Gefieder!“ Doch wieder setzten die Vögel zum Tiefflug an.

    „Es wird das Beste sein, wir gehorchen“, sagte der Magister, der neben mich getreten war und das Manöver mit besorgten Blicken verfolgte.

    „Pah! Ich denke nicht daran! Lass mir doch nicht von einem Schwarm verlauster Krähen vorschreiben, was ich zu tun und lassen habe!“

    „Es sind keine Krähen.“

    „Zum Teufel, dann sind es eben Raben.“

    Wieder zog der Schwarm über uns hinweg, und jetzt klatschte an verschiedenen Stellen etwas dickflüssig aufs Deck, das ekelhaft roch.

    „Es sind Beos“, sagte der Magister, „Kriegsvögel. Wenn Euch am Bestand Eures Schiffes etwas liegt, solltet Ihr klein beigeben. Was da gerade herunterkam, ist ihr Kot, eine Waffe, gegen die auch das schärfste Schwert machtlos ist: Er ist scharf wie Nitrum und Ammoniak aus Gebers* Küche. Wenn sie das Schiff einsudeln, fließt er durch alle Ritzen und Spalten und zerfrisst es von innen.“

    Der nächste Angriff.

    „Also, zaudert nicht, handelt!“ Das Zeug klatschte aufs Deck, mir sogar auf die Nasen, die sofort zu brennen anfing. „Verdammte Schweinerei“, schrie ich „das ist Erpressung!“

    „Hier nehmt“, sagte Kopf und reichte mir ein weißes Tuch. „Eure Nase könnt Ihr gleich putzen, jetzt wird erst einmal Kapitulation gewinkt!“

    Ich winkte, die Vögel zogen eine Schleife, wir folgten.

    An der Hafenmole standen zehn oder zwölf schwarz gekleidete Gestalten unterschiedlicher Größe. Ihr einziger Schmuck: Ein kleines goldenes Amulett in Form eines Phallus, das ihnen an einem Kettchen vor der Brust hing. Es waren seltsame Figuren, die uns anstarrten, halb Mensch, halb Vogel; Arme und Beine die eines Menschen, der Kopf, die eulenartigen Augen sowie die Körperform vogelähnlich.

    Kaum war der Anker geworfen und die Seile festgezurrt, bat der Größte von ihnen, ein stattlicher Herr mit angegrautem Kopf, bekuttet und beschuht wie ein Mönch, an Bord kommen zu dürfen. Seine höfliche Art stand ganz im Gegensatz zu dem, was uns seine Kriegsleute bisher geboten hatten. „Seid Ihr der Kapitän?“, sprach er den Magister an.

    „Ich bin´s“, sagte ich und trat einen Schritt vor. Auf der Fahrt hierhin hatte ich mich mit Schwert und Harnisch gerüstet und fühlte mich jetzt stark genug, die Bande in Grund und Boden zu hauen. Zog mein Schwert Schlagto und rief: „Ha, meint Ihr, ich hätte Angst? Ich, Ritter vom Wind, habe mehr Courage als alle Flöhe°, die zwischen Rom und Konstantinopel in den Teig geknetet werden! Hoho, haha, hallo! Was zum Teufel wollt Ihr? Warum bekleckert Ihr mein Schiff mit Scheiße, oder war´s etwa Schokolade?“

    Der Schwarze machte eine tiefe Verbeugung und stammelte: „Oh oh oh, lieber Herr, ein Missverständnis, ein großes Missverständnis! Wir hegen keineswegs feindliche Absichten gegen Euch! Im Gegenteil, wir erbitten Eure Hilfe!“

    „Ach! Und dann lasst Ihr uns aus der Luft bombardieren?“

    Wieder verbeugte sich der Kerl. „Wäret Ihr den Kriegern sonst gefolgt?“

    Inzwischen hatte sich auf der Mole eine gehörige Anzahl von Leuten versammelt, alle schwarz gekleidet, und alle mit diesem grünen Gegenstand in der Hand, den sie unentwegt anstarrten, sogar die Kleinsten. An unserem Schiff schienen sie kein Interesse zu nehmen.

    „Liebe Seefahrer“, sagte jetzt ein anderer aus der Gruppe, „ich bin Heinrich von Elster, Meister des Ritterordens vom Goldenen Phallus“ Er bat uns unter allerlei Verrenkungen, ihm zum Hospital der Mildtätigen Brüder zu folgen, wo er den Grund zu dieser Bitte erklären wolle. Inzwischen werde das Schiff aufs Sorgfältigste gesäubert.

    Obwohl das alles höchst undurchsichtig war, steckte ich mein Schwert wieder ein. Wenn ich nicht ein Blutbad anrichten wollte, blieb keine andere Wahl, als der Bitte des Meisters nachzukommen. Knalli blieb als Wache an Deck. Während wir durch die Straßen gingen, sah ich, was die Leute in Händen hielten und so fasziniert anstarrten: Es waren angebissene grüne Äpfel. Und das Seltsame war: Keiner aß sie, alle starrten sie nur an. „Zu sauer“, meinte der Magister, als ich ihn darauf hinwies. Auch das Liebespaar, das eng aneinander geschmiegt auf einer Bank saß, starrte stumm auf seine Äpfel statt sich in Amors Arme zu werfen.

    „Seltsames Volk“, staunte Gerlind, „was die wohl an diesen unreifen Äpfeln finden? Wenn sie ihnen zu sauer sind, warum kaufen sie dann überhaupt welche?“

    Mir fiel auf, dass es bei diesen Leuten – abgesehen von den Kindern – nur drei sehr unterschiedliche Gestalten gab: Kleine, mittelgroße und große. Auch in ihrer Kleidung unterschieden sie sich kaum, alle trugen schlichtes Schwarz. Später erfuhr ich, dass die Stände hier nicht an die Herkunft, sondern an die Körpergröße gebunden war, ein Verfahren, das Verwechselungen und Irrtümer sowie den zuweilen kostspieligen Drang, mehr zu scheinen als zu sein, von vornherein ausschloss.

    „Potz Blitz und alle Wettert“, raunte mir der Magister ein paar Schritte später zu, „habt Ihr das gesehen? Da ist gerade jemand krachend gegen eine Mauer gelaufen! Narr! Sollte lieber auf den Weg achten als ständig auf diesen Apfel zu starren!“

    In einem Hof sah ich mehrere Haufen dieser Äpfel, teilweise in Fäulnis übergegangen und mit Schimmel überzogen. Leute kamen und warfen weitere dazu.

    An einer Straßenecke stand ein Obsthändler und schrie: „Leute, kauft grüne Äpfel! Gerade frisch eingetroffen! Allerbeste Ware!“ Sofort bildete sich vor seiner Bude eine Käuferschlange.

    Die herren führten uns in ein von hohen Mauern umgebenes Spital, über dem ein riesiger goldener Phallus aufragte. Neben dem Tor standen zwei mit Piken bewaffnete Schildwachen. Der Rittermeister bewegte einen schweren eisernen Türklopfer; alsbald erschien eine Gestalt im Kleid eines Arztes. „Meine lieben Herren, und auch Ihr, Jungfer“, sagte der Arzt, „entschuldigt vielmals unser rüdes Benehmen! Aber die Not, die ein furchtbarer Dämon diesem Land auferlegt hat, lässt uns keine andere Wahl. Mein Name ist Guillaume de Harsigny°°, Arezt wider die Pest. Bitte, mir zu folgen.“

    „Kann mir schon denken“, raunte mir Gerlind zu, „welcher Dämon sie ergriffen hat. Wahrscheinlich die venerische Pest. Diese goldenen Teufelsruten** sagen doch alles!“

    „Hmm... Ich denke“, raunte ich zurück, „das wird der Grund sein, warum sie uns... eingeladen haben. Es ist eine Art Volkskrankheit, und die Ärzte versuchen, sie mit grünen Äpfeln zu kurieren. Dadurch haben alle mehr oder weniger Dünnschiss, und die Arschlappen gehen ihnen langsam aus. Fragt sich nur, warum sie gerade uns zu Rate ziehen? Es sind doch noch mehr Schiffe unterwegs, sogar mit Ärzten an Bord.“

    „Geschlechtskrankheiten kuriert man nicht mit grünen Äpfeln, sondern mit Enthaltsamkeit“, tuschelte der Magister.

    „Danach sieht es hier aber nicht aus“, sagte ich laut, „diese Figuren hier lassen eher das Gegenteil vermuten.“ Wir kamen nämlich gerade an der dritten oder vierten Priapusstele mit aufgerichtetem Amorschwengel vorbei, und langsam schwoll mir der Hals. In welcher Welt sind wir hier eigentlich, dachte ich wütend, erst diese arschleckenden Stinknasen, und jetzt ein Volk, dass sich hemmungslos der Wollust ergibt!

    Zwei Gestalten in Pestgewändern, die Gesichter hinter Pesthauben verborgen, kamen uns entgegen. Ihre Augenlöcher über den Schnäbeln glühten wie Höllenfeuer, dass mir grauste. Sie führten einen klapperdürren Greis am Arm, der kaum noch gehen konnte. Auf dem Hof saßen Männer, Frauen, Kinder; mit leeren Blicken starrten sie auf ihre Äpfel oder blöde ins Weite. „Brrrr“, murmelte Gerlind, „das sieht ja furchtbar aus! Und die Kinder! Was in aller Welt ist denn in diese Leute gefahren, sich so dem Laster zu ergeben!“

    Bei unserem Eintritt erhoben sich sechs würdige Gestalten, nach ihren Wappen zu urteilen alles Mitglieder des Ritterordens vom Goldenen Phallus. Bei meiner Ehre, eine erlauchte Gesellschaft! Sogar der Teufel, dachte ich, würde sich geehrt fühlen, bei denen Mitglied zu sein!

    Der Meister blicke mich erst an. „Lieber Herr Ritter der Winde“, sagte er mit ziemlich schriller Stimme, die seiner Würde etwas Abbruch tat, „Ihr wundert Euch sicherlich, warum wir gerade Euch zu uns... ähem... eingeladen haben. Der Grund ist einfach erklärt. Das Konvent ist der Meinung, ein Held, der einen Windmühlen verschlingenden Riesen bezwingen konnte, kann auch einen Dämon in einem angebissenen Apfel bezwingen. Denn unser Unglück liegt in dem Apfel und nicht, wie Ihr irrtümlich annahmt, in der Wollust.“

    Teufel auch, dachte ich, ist dein Ruhm schon bis hierher gedrungen! „Zu viel der Ehre, Euer Wohlgeboren! Einen Riesen zu bezwingen ist leicht, wenn man seine Schwächen kennt. Aber einen unbekannten Dämon in einem Apfel... zumal in einem angebissenen... Zunächst aber wundere ich mich über den Gegenstand Eurer Verehrung.“

    „Wir verehren nicht den Gegenstand, sondern den Gott, für den er steht. Er ist ein wohltätiger, gebefreudiger Gott, ein Freund männlicher Nächstenliebe und sinnlicher Beglückung. Wir waren ein zufrieden-heiteres Volk, doch dann kam jemand aus Übersee und verkaufte diese Äpfel... Seitdem spricht der Vater nicht mehr mit dem Sohn, der Bruder nicht mehr mit der Schwester, der Nachbar nicht mehr mit der Nachbarin.“

    „Warum werft Ihr die Äpfel nicht einfach weg wie diese Leute auf der Straße vorhin!“

    Durch die ehrwürdige Versammlung ging ein aufgeregtes Raunen. „Das waren alte Äpfel, die ihre Farbe verloren hatten! Die Leute holen sich sofort wieder neue, noch grünere. Beim Goldenen Phallus, wir werden diese Äpfel einfach nicht los!“ Der Meister seufzte wie von schwerer Krankheit befallen.

    „Dann ersetzt sie doch einfach durch Birnen!“

    Herr Heinrich lachte überlaut. „Wer will denn Birnen haben! Niemand will Birnen haben, alle wollen Äpfel, grüne Äpfel!“

    „Na dann lasst ihnen doch die Äpfel! Obst ist gesund! Wo ist da ein Problem?“

    „Das Beste wird sein, ich zeige Euch ein paar Patienten.“

    Der Magister betrachtete interessiert zwei Einheimische, die mit leuchtenden Schnäbeln und in metallisch schillernden Gewändern einen Rollwagen mit allerlei Leckerem hereinschoben. „Kommt Ihr nicht mit?“, fragte ich ihn, da er keine Anstalten machte, uns zu folgen.

    „Dieser verwünschte Dudelsack, mein Magen“, sagte er, „will wieder gefüllt werden, aber nicht mit Luft! Will mal schauen, ob die Sachen dort genießbar sind oder wieder aus Gips bestehen wie beim Ratzenkönig.“

    Herr de Harsigny führte uns zu den Leuten auf dem Hof, die mir vorhin schon aufgefallen waren. Sie saßen friedlich in der Sonne und hantierten mit ihren Äpfeln. Unsere Anwesenheit nahmen sie nicht zur Kenntnis.

    „Diese Patienten nehmen wenigstens noch Nahrung auf und sind für die Wohltat des Sonnenscheins empfänglich“, erklärte der Doktor, „sodass noch Hoffnung auf eine Genesung besteht. Bei denen, die ich Euch jetzt zeige, ist auch dies nicht mehr der Fall.“

    In zwei Reihen standen Betten an den Wänden des großen Krankensaals, mit feinen weißen Laken und Kissen, darin die Kranken. Der Doktor trat an eines der Betten heran und sprach den Kranken an, doch der reagierte nicht. Er starrte nur stumm auf den Apfel, der neben ihm auf dem Nachttisch lag. Auch beim nächsten Patienten erging es ihm nicht anders.

    „Wir versuchen, sie am Leben zu halten, indem wir ihnen kalte Rindfleischbrühe klistieren. Aber letztendlich nutzt es nichts. Die meisten sterben an Auszehrung. Es kommt allerdings vor, dass ein Patient plötzlich laut aufschreit, seinen Apfel wegwirft und wieder am Leben teilnimmt. Eine Art Spontanheilung, die wir uns nicht erklären können.“

    Ich näherte mich dem Kranken; seine Augen waren stumpf, der Blick teilnahmslos, starr auf den Apfel gerichtet.

    „Warum nehmt Ihr ihnen die Äpfel nicht einfach weg?“, fragte Gerlind sichtlich ergriffen.

    „Wir haben es versucht“, sagte der Arzt, „doch die Folgen sind noch verheerender. Die Patienten schreien, schlagen um sich, werden gewalttätig, verweigern jeden Kontakt mit den Pflegern, sodass wir einige isolieren müssen.“

    Der Doktor führte uns treppab in den Gewölbekeller des Spitals. Vor einer Tür blieb er stehen, schob die Klappe zurück. Ich blickte in eine winzige, weiß getünchte Kammer.

    Auf einer Pritsche lag ein völlig ausgedörrtes Wesen mit spindeldürren Beinen, das, am ganzen Körper zitternd und mit stumpfen Augen, an die Decke starrte. Auf dem Tisch daneben standen ein Krug mit Wasser und eine Schale mit Brot und Schinken – alles unberührt.

    „Seitdem wir der Patientin den Apfel weggenommen haben“, sagte der Arzt, „lässt sie niemanden an sich heran und verweigert jede Nahrung. Sie trocknet langsam aus.“

    Der Anblick in der nächsten Kammer war noch grauenhafter. Der Kranke lag mit verbundenem Kopf und gefesselt auf der Liege. Das einzige Lebenszeichen war sein röchelnd gehender Atem. Plötzlich bäumte er sich auf, zerrte wild an seinen Fesseln und stieß mit Schaum vor dem Mund wüste Beschimpfungen aus. Dann fiel er kraftlos auf das Lager zurück und lag wieder wie tot da.

    Erschüttert wandte ich mich ab.

    „Er rennt ständig mit dem Kopf gegen die Wand, sodass wir ihn zu seinem eigenen Schutz festbinden mussten,“ erklärte der Doktor. „Bisher sind alle Versuche gescheitert, ihn von diesem grausamen Feind, der Apfelbesessenheit, zu heilen. Noch heute morgen hat ein Bader seine Brust mit Merkurium eingerieben, in der Hoffnung dadurch das Gleichgewicht seiner Säfte wieder herzustellen. Geholfen hat es nicht, wie Ihr seht.“

    „Dann gebt ihnen doch die Äpfel zurück! Alles ist besser als ein grausamer Tod!“

    „Lieber Herr, Ihr verkennt den Ernst der Lage! Wenn wir dem Dämon, der in dem Apfel steckt, nachgeben, wird er noch das ganze Volk verderben! Schon jetzt können die Spitäler und Herbergen die Zahl der Schwerkranken nicht mehr aufnehmen. Viele von ihnen führen ein elendes Dasein auf der Straße. Diese beiden Patienten sollen mir und meinen Kollegen zeigen, wie weit es der Dämon treibt.“

    Herr de Harsigny führte uns wieder nach oben in ein geräumiges, spartanisch eingerichtetes Zimmer. Der einzige Schmuck war ein großes goldener Phallus an der Wand. Der Patient saß schweißüberströmt auf einem Stuhl; ihm wurde gerade zur Ader gelassen, wobei er unentwegt den Apfel anstarrte.

    „Wer ist der Kranke?“, fragte ich.

    „Seine Erhabenheit, der Großmeister unseres Ordens, ein leuchtendes Beispiel an Nächstenliebe und Tugend. Lange hat sich unser Orden gegen den Apfel gesperrt, denn er ist Blendwerk, das vom Teufel stammt. Doch eines Tages geschah das Entsetzliche: Der Dämon ergriff Besitz von Seiner Erhabenheit und befahl ihm, den Apfel zu benutzen.“ Der Doktor sah mich mit rot umrandeten Augen flehend an. „Lieber Herr, ich bin am Ende meiner Kunst. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird er für den Rest seiner Tage ein Besessener sein, wie weitere neunundneunzig Patienten in diesem Haus, unter ihnen viele ehrenwerte Ritter.“

    Schreie hallte durch das Gewölbe, jemand klopfte wie besessen gegen eine Tür, eine hohe Frauenstimme stieß lästerliche Flüche aus: Das reinste Inferno.

    „Und dieses Wunder erwartet Ihr von mir.“

    Der Doktor schwieg bedrückt.

    „Lieber Herr“, ließ sich jetzt Herr Heinrich vernehmen, „wenn es Euch gelingt, Seine Erhabenheit wieder in das wirkliche Leben zu versetzen, wird Euch der Orden fürstlich belohnen!“

    Für einen Moment war ich geneigt, den beiden die kalte Schulter zu zeigen. Diese Leute beteten nicht das Kreuz an, sondern ein heidnisches Symbol, sie waren Heiden, schlimmer noch: Ketzer, denn nur dem Kreuz gebührt Anbetung. Doch es waren Ritter, ein Stand, dem auch ich mich zugehörig fühlte.

    Gerlind, mit leichenfahlen Gesicht, stöhnte: „Ich halte das hier nicht mehr aus! Könnt ihr alles Weitere nicht anderswo bereden?“

    Herr Guillaume de Harsigny nickte.

    ___________________________________________________________________________________

    * Arabischer Alchimist d. 8. Jh. °Floh als Sinnbild der Aufdringlichkeit und Frechheit. °° Berühmter Pestarzt des 14. Jh. ** Stinkmorchel, ein Pilz, Phallus impudicus.

    Forts. folgt