Es gibt 119 Antworten in diesem Thema, welches 17.308 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (14. April 2024 um 09:36) ist von Jennagon.

  • Als Esther erwachte, befiel sie direkt die Erkenntnis, dass dieser Tag der Schlimmste in ihrem Leben werden würde. Umständlich schälte sie sich aus ihrer Decke, die sich erbarmungslos um sie herumgewickelt hatte. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend erhob sie sich und legte die Hand an ihren schmerzenden Kopf. Für einen kurzen Moment verdrehte sich die Welt vor ihren Augen und sie wartete, bis das vorüberging.

    Die Hexe und ihre vermaledeite Medizin!

    Siedend heiß fiel ihr auf, dass es das einzige war, woran sie sich erinnerte. Lediglich bruchstückhaft hingen noch Fetzen des vergangenen Abends in ihrem Gedächtnis, allerdings so schemenhaft, dass sie das kaum greifen konnte.

    Sie stieß die Luft aus und machte sich frisch, in der Hoffnung, dass ihr danach etwas wohler war. Schnell stellte sie fest, dass ihre Korsage unangenehm ihren Magen einengte und sie zog sie nach kurzer Überlegung wieder aus. Auch bei ihren Haaren beließ sie es dabei, sie lediglich lose zusammenzubinden

    Nachdem sie ihre Kabine ein wenig in Ordnung gebracht hatte, verließ sie diese und steuerte das Oberdeck an, wo sie schon zahlreiche Stimme hörte. Doch als sie ein neuerlicher Kopfschmerz packte, änderte sie ihren Weg und betrat kurze Zeit später die Kombüse. Sie wusste, dass Nelli und Trevor zunächst für Edmund und sie ein Frühstück zubereiteten, bevor der Smutje die Mannschaft vergiften konnte.

    Sie hörte Geschirr klappern und die Alte kicherte auf etwas, das Trevor sagte. Allerdings hatte sie kein Wort verstanden.

    Zögerlich trat sie ein und schlang die Arme um den Oberkörper, da ihr plötzlich ein wenig kühl wurde.

    Sie lächelte, als Nelli und Trevor sie bemerkten.

    Während Nelli voller Tatendrang in einer Schüssel herumrührte, sah Trevor aus wie der leibhaftige Tod. Und offen gestanden, fühlte Esther sich genauso wie Trevor aussah.

    „Setzt Euch doch“, sagte der Formwandler und deutete auf einen freien Stuhl, der neben dem Tisch stand.

    Sie nahm das Angebot dankbar an und zog sich den Stuhl dichter heran, der nicht nur unbequem, sondern auch ziemlich brüchig aussah. Trotzdem setzte sie sich, woraufhin das Holz protestierend knarrte und die Stille zwischen den Anwesenden wurde damit auf unangenehmste Weise beendete.

    Nelli gackerte und auf Trevors Lippen breitete sich ein Grinsen aus, das an Schadenfreude kaum zu übertreffen war. Gerade weil die beiden so belustigt auf die Situation reagierten, musste auch Esther kichern.

    Sie legte die Unterarme auf die Tischplatte und beugte sich etwas weiter vor, um in Nellis Schüssel linsen zu können. „Was macht Ihr da?“, wollte sie neugierig wissen. Sie gestand, dass sie die Alte sie auf irgendeine Weise faszinierte. Einerseits wirkte sie so herzlich wie eine Großmutter, andererseits glaubte Esther, dass man sich vor ihr hüten musste.

    Wie Trevor zuvor, grinste Nelli. „Die Salbe für unseren kleinen, reichen Händlersohn“, beantwortete sie die Frage und warf eine Handvoll zerstoßene Kräuter in die Schüssel, bevor sie weiterrührte.

    „Wo wir beim Thema sind“, ließ Trevor von sich hören und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte an. „Euer und Edmunds Frühstück ist fertig …“

    Esther streifte den Teller mit einem Blick und sah dann den Wandler an. „Könnt Ihr Edmund ausrichten, dass ich heute … hier frühstücken werde“, meinte sie und schaute kurz zu Nelli rüber. „Sicherlich schläft er auch noch …“

    „Hoffentlich“, schob Nelli dazwischen und stellte kichernd die Schüssel hinter sich ins Regal.

    Esther unterdrückte ein Grinsen. Offensichtlich führte ihr gestriges Beisammensein nicht dazu, dass Nelli ein besseres Bild von Edmund erhalten hatte.

    Schließlich lenkte sie ihren Blick wieder bittend auf Trevor, der dann nickte. „Öhm … Ja. Natürlich. Ich sag´s ihm.“ Trevor nahm einen der beiden Teller an sich und trollte sich dann. Seine Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten.

    „Danke, Trevor“, sagte sie noch schnell und zog sich ihren Teller heran. Bei dem Gedanken ans Essen, drehte sich ihr der Magen um. Appetitlos stocherte sie in den Bratkartoffeln herum.

    „Wie es aussieht, braucht Ihr was anderes als Kartoffeln, Mädchen“, sprach die Alte und gackerte voller Herzenslust.

    Esther stockte vor Verwunderung. Mädchen? Wann bei allen Silbererzen hatte Nelli angefangen, sie so zu nennen. Offensichtlich bekam jeder von ihnen eine Bezeichnung angedichtet.

    Schnaufend schob sie den Teller wieder zurück, sie würde ohnehin keinen Bissen runter kriegen. „Etwas gegen Kopfschmerzen und flauen Magen“, gestand sie. In Trevors Gegenwart war es ihr peinlich gewesen, über ihre miserable Verfassung zu sprechen, aber bei Nelli fiel es überraschenderweise leichter.

    „Dachte ich es mir doch!“, rief die Hexe aus. „Euer zierlicher Körper hat meine Medizin offensichtlich nicht so gut vertragen.“ Sie zwinkerte in Esthers Richtung und begann dann, einige Kräuter zusammenzusammeln. Dazu gesellten sich allerhand Fläschchen.

    Interessiert beobachtete Esther, wie einiges davon in einem Mörser landete. „Darf ich Euch zur Hand gehen?“, fragte sie schließlich und erhob sich.

    Nelli musterte sie und stellte ihr dann den Mörser vor die Nase. „Ordentlich zerstoßen, damit sich die Wirkung entfalten kann.“

    Esther versuchte ihr Bestes, um die Kräuter wie gewünscht zu zerkleinern. Nach einer gefühlten Ewigkeit schien es der Hexe auszureichen. Sie füllte eine kleine Menge aus dem Mörser in einen Becher und gab eine Flüssigkeit hinzu. Dann vermengte sie alles miteinander, während sie vor sich hinsummte.

    Danach hielt sie Esther das Gebräu hin. Der Geruch erinnerte sie ganz wage an etwas anderes und sie rümpfte die Nase, den Brechreiz unterdrückend.

    „Nun habt Euch nicht so, Mädchen“, feixte Nelli. „Gestern hattet Ihr euch nicht so zimperlich.“

    Esther vermied es, einzuatmen, während sie den Trank runterwürgte. Sie schüttelte sich wie eine nass gewordene Katze und stellte den Becher zurück auf den Tisch. „Das ist ja widerlich!“, spie sie aus und Nelli lachte. Ganz klar lachte die Alte Esther aus!

    „Wie peinlich war ich gestern?“, fragte sie die Hexe, nachdem sie Tränen aus ihren Augenwinkeln gewischt hatte.

    „Ihr habt gelacht und wart offen“, meinte Nelli und räumte ihre Sachen weg. „Daran ist nichts peinlich.“

    Erleichterung machte sich in Esther breit, doch bevor sie ihr Gewissen reinwaschte, wiegte die Heilerin den Kopf. „Naja. Ein bisschen peinlich wart Ihr schon.“

    Esther ließ sich auf den Stuhl zurückfallen und verbarg seufzend das Gesicht hinter den Händen.

    Sie spürte, wie man ihr gegen die Schulter tippte und zwischen den gespreizten Fingern sah sie, wie Nelli sie mit einem Holzlöffel anstieß. „Und wenn das Leben es gut mich Euch meint, dann wird es noch viele solcher Momente für Euch geben“, gluckste die Hexe.

    „Ich verstehe nicht, was Ihr meint“, gab Esther zu und ließ die Hände sinken. Sie bemerkte, dass die Kopfschmerzen allmählich nachließen und auch das ekelhafte Gefühl in ihrer Magengegend verebbte.

    In Nellis Augen glitzerte es verräterisch. „Es gibt so viel, dass Ihr noch nicht versteht“, meinte sie und fuchtelte mit dem Löffel vor Esthers Gesicht herum. „Und jetzt ab mit Euch! Ihr werdet an Deck gebraucht.“

    Wieder etwas, das Esther nicht verstand, aber diesmal erhob sie sich ohne Worte und bedankte sich bei Nelli. Sie verließ das schützende Unterdeck und blinzelte, als sie ins Freie trat. Der Morgen war zwar frisch, aber die See flach und der Himmel klar. Ihr war schleierhaft, wozu man sie brauchen könnte. Davon abgesehen schien die Mannschaft im Allgemeinen nichts von ihrer Anwesenheit zu halten.

    Dann gewahrte sie Bewegungen am anderen Ende des Schiffes. Sie sah, wie zwei Männer sich schuppsten und immer wieder aufeinander losgingen. Vom Weiten hörte es sich an, als stritten sich die Männer. Sie erblickte weder Edmund noch Trevor in der Gruppe, die den Streit auflösen konnten. Auch sonst bemühte sich niemand, dem ein Ende zu setzen.

    Edmund hätte vermutlich schon irgendetwas geworfen. Oder besser gesagt: werfen lassen.

    Sie näherte sich der Gruppe mit weit ausgreifenden Schritten und packte einen der beiden Streithähne an der Schulter. Im nächsten Moment zog sie ihren Zauberstab und richtete ihn auf den Anderen. Ihr Bannspruch zeigte sofort Wirkung, denn der Mann stockte in seiner Bewegung und glotzte sie ungläubig an. Der hinter ihr stehende Matrose schnaufte und wollte sich an ihr vorbeidrängen.

    „Einen Schritt weiter und Ihr seid der Nächste!“, fauchte sie über ihre Schulter, woraufhin er mit hochrotem Kopf innehielt.

    „Der Scheißkerl spielt mit gezinkten Würfeln!“, entrüstete dieser sich. Stiev, so glaubte sie, war sein Name.

    Ernsthaft?!

    „Das ist mir vollkommen gleich!“, rief sie genervt, während der Zauberstab weiter in Richtung des anderen Mannes zeigte. Sie sah allerdings Stiev an. „Regelt das gefälligst wie zivilisierte Menschen!“ Sie war sich zwar sicher, dass das Wort zivilisiert nicht zum Wortschatz der Matrosen gehörte, aber man konnte es ja probieren.

    Sie wartete einen Augenblick, bis beide Beteiligten sich zu einem zustimmenden Nicken durchgerungen hatten und gab den Mann schließlich aus ihrem Bann frei. Sie steckte den Zauberstab zurück und wollte der Situation entfliehen. Dann eskalierte es erneut.

    Lauthals schimpfend warf sich Stiev auf seinen Kontrahenten und einige Umstehenden traten ihm bei. Esther wurde mitgerissen und bevor sie ihren Stab zücken konnte, geriet sie zwischen das Handgemenge.

  • Edmund massierte sich seit einer gefühlten Ewigkeit die Schläfen. Doch das unerträgliche Pochen ließ nicht nach. Die Alte musste sie mit ihrer komischen "Medizin" vergiftet haben. Immerhin erinnerte er sich an fast nichts mehr. Wie viel musste er getrunken haben, dass selbst sein Blut nicht mehr mit dem Alkohol zurechtkam?
    Trevor betrat seine Gemächer ohne zu klopfen. Unter normalen Umständen hätte er ihn freundlich darauf hingewiesen, dass er gefälligst anzuklopfen hatte. Er war jedoch dankbar, dass ihm kein Geräusch die wohlige Ruhe zunichte machte.
    Kommentarlos stellte Trevor einen Teller auf den Tisch. Allein der Geruch des Essens ließ seinen Magen rumoren.
    „Ich soll Euch ausrichten, dass es Esther vorzieht, allein zu essen.“
    Edmund seufzte. Zum einen war er ganz froh, niemanden sehen zu müssen, zum anderen hoffte er, dass er am vergangenen Abend nichts getan oder gesagt hatte, das seine Chancen bei der Gräfin schmälern würde.
    Er wollte gerade Luft holen, als etwas an Deck bis zu ihnen herunterpolterte, dann war lautes Brüllen und Schreien zu hören. Schritte, die in Edmunds Kopf klangen, als würde ein Berg in sich zusammenbrechen, stampfen durch die Gänge und über das Deck.
    Trevor verzog gequält das Gesicht.
    „Was ist denn jetzt schon wieder?“, stellte er die berechtigte Frage, die auch Edmund durch den Kopf schoss. Schweigend lautschten sie dem Scheppern und Knallen. Wenn er in den letzten Stunden etwas gelernt hatte, dann, dass es nichts Gutes bedeutete, wenn jemand schrie, kurz nachdem etwas zu Bruch gegangen war. Und dann noch mehr zu Bruch ging.
    „Nichts Gutes … “, murrte Edmund. Nahmen diese Trottel ihm das Schiff auseinander?

    Hatte er sich tags zuvor noch beschwert, dass ihm langweilig war? Nun hätte er diese Langeweile bevorzugt. Und Ruhe.
    „Ich hoffe, das Schiff ist auf einen Eisberg aufgelaufen, um den Krawall zu rechtfertigen.“ Trevor knurrte und machte sich auf den Weg.
    Edmund fuhr sich nochmal über das Gesicht. Immerhin würde er diese alberne Paste dieser Hexe nicht mehr benötigen. Auch ohne Spiegel war er sich sicher, dass die Wunde bereits zu heilen begonnen hatte. Was definitiv nicht (!) an Nellis Mittelchen lag!

    Edmund überlegte noch, ob er einfach bleiben und noch etwas schlafen sollte. Allerdings war der Krach infernalisch.

    Er stopfte sich genervt und notdürftig das Hemd in den Hosenbund und schlüpfte in seine Schuhe, ehe er aufstand und dem Lärm und Trevor nachschlurfte.

    Als er an Deck trat, blendete ihn das Licht. Dann blockierte Lärm für einige Augenblicke sein ganzes Denken.
    Neben Trevor blieb er stehen und strich sich die Locken aus dem Gesicht.
    Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Sonne und sein Kopf brauchte noch mal länger, um den Anblick zu verarbeiten, der sich ihm bot.
    „Ähm … “, stieß er aus. Mehr fiel ihm nicht ein, als er die ganzen erwachsenen Männer sah, die sich teils auf dem Boden wälzten und ineinanderverkeilt aufeinander eindroschen wie Kleinkinder.
    Ein Eimer floh haarscharf an seinem Kopf vorbei und verabschiedete sich durch die Tür, aus der er gerade getreten war, polternd die Treppen ins Schiffsinnere nach unten.
    Diese Leute durfte man aber auch keine Sekunde allein lassen…
    „Was ist denn hier los?!“, rief Edmund einem der am nächsten stehenden Männer zu. Dieser ignorierte ihn einfach, zu sehr war er damit beschäftigt, seinem Nebenmann einen Besen wieder über den Schädel zu ziehen.
    Zorn wallte in Edmund auf, der sich dank seinem Kater nur langsam Bahn brach, aber dafür umso stärker war.
    „Sofort aufhören!“, brüllte er über das Geschrei. Die eigene Stimme tat ihm im Kopf weh, aber sonst erhielt er nur mäßige Reaktionen. Drei Matrosen wandten sich ihm zu und hörten in ihrem Tun auf - und verschwanden pfeifend aus seinem Blickfeld -, der Rest prügelte weiter aufeinander ein, als wären sie beim Wochenmarkt.
    Zu seinem Schrecken hallte von irgendwo aus dem ganzen Durcheinander Esthers Stimme. Sie klang seltsam erstickt und ihr Hilferuf gingen in der Masse ebenso unter wie Edmunds Anweisung.
    Edmund reckte sich und schirmte die Augen gegen die grelle Belichtung ab.
    Tatsächlich erspähte er Esther in einigen Schritten Entfernung. Sie kämpfte sich gerade wieder auf die Beine und hielt sich die Wange. Sie sah sich verwirrt um, als konnte sie nicht glauben, was um sie herum geschah, da wurde sie auch schon wieder umhergeschubst.
    Damit hatte die Respektlosigkeit auf diesem Schiff eine neue Ebene erreicht. Er kochte vor Wut. Ihn nahm niemand Ernst und kaum wandte er diesen ganzen Schwachköpfen den Hintern zu, schlugen sie aufeinander ein und zogen auch noch eine Adlige in die ganze Sache hinein.

    Fast zeitgleich mit Trevor raffte er die Ärmel und suchte eine Lücke in dem Gekloppe.

    Na wartet nur ab, das werdet ihr alle noch bereuen!

    Ob Trevor ihm folgte, als er sich seinen Weg bahnte, wusste er nicht, dafür legte sich der Lärm zu sehr über seine Wahrnehmung. Was er aber wahrnahm, waren Ellenbogen, die sich in seinem Rücken gruben und Füße, die ihm die Beine wegzogen. Ansonsten kam er jedoch erstaunlich gut voran.
    Esther raffte ihr Kleid und wollte sich ebenfalls durch die Masse bewegen, doch ein riesiger Kerl versperrte ihr den Weg und schubste sie erneut zu Boden.

    Edmund schlängelte sich an zwei Männern vorbei, die sich mit Fischen kloppten, woher auch immer sie diese hatten!
    Vorerst ignorierte er den großen Kerl.
    „Geht es Euch gut?“ Eine dumme Frage, aber ihm fielen einfach keine Worte mehr ein. Die rote Stelle in ihrem Gesicht machte klar, dass sie mindestens einen Schlag abbekommen hatte. Dennoch nickte Esther.
    Edmund half ihr auf die Beine und wollte sich gerade dem Kerl zuwenden, der es gewagt hatte sie schubsen. Allerdings wurde er noch im selben Moment beiseitegestoßen und prallte gegen die Reling.
    „Jetzt reicht‘s!“, stieß er aus. Das ging ihm langsam tierisch auf die Nerven! Nicht nur, dass niemand seinen Befehlen und Anweisungen folgte, über ihn wurde gelacht und nicht mal bei einer Frau hielten sich die Männer zurück. Davon abgesehen tat ihm der Kopf weh von diesem dämlichen Gesöff der alten Hexe! Er wollte seine Ruhe und keine Schlägerei! Er wollte, dass man auf ihn hörte und sich nicht einbildete, ihn und seine Person missachten zu können!

    Ehe sich der Neuankömmling versah, hatte Edmund ihm die Faust ins Gesicht gerammt. Der Schwachkopf besaß einen erstaunlichen Dickschädel, weshalb ihm sofort die Haut an den Fingerknöcheln platzte.

    Er zog ihn am Bart auf Augenhöhe herab.
    „Genug davon!“, knurrte er ihm ins verwirrte Gesicht. „Ich will, dass das sofort aufhört!“ So langsam kam er sich vor wie eine Schallplatte. Der verdutzte Mann fand sich Augenblicke später auf der anderen Seite der Reling in einem der Beiboote wieder.
    Damit war jedoch das nächste Fass geöffnet worden. Zwar ließen einige der Matrosen um ihn herum nun doch voneinander ab und besannen sich darauf, wo sie sich befanden. Der große Kerl lachte jedoch nur amüsiert auf. Und nun nahm sich Edmund doch die Zeit, ihn genauer zu betrachten. Und bereute es sofort, es nicht eher getan zu haben. So: bevor er in eine Schlägerei geplatzt war.

    Muskeln so breit wie Edmunds ganzer Körperumpfang straften sich, als der Berg den Arm kreisen ließ und an ihn herantrat.
    So aus der Nähe betrachtet ... - Edmund schluckte - ... war es eine ziemlich blöde Idee, sich in die Sache einzumischen. Aber er hatte Esther doch nicht allein lassen können.
    „Diese Sache endet augenblicklich!“, stieß Edmund aus und vermied es, einen Schritt zurückzutreten, oder seine Stimme zittern zu lassen. „Ich werde nicht dulden, dass dieser Kampf auf meinem Schiff weitergeführt wird!“ Er wusste selbst, wie erbärmlich sein Anblick wirken musste, dennoch sah er dem Mann erhobenen Hauptes und finster entgegen. Warum hatte er seinen Degen eigentlich nicht mitgenommen? Und warum standen die anderen nur dumm herum?
    Noch während er sich darüber ärgerte, schwang die Fettbacke bereits die Faust. Edmund duckte sich, und statt ihm wurde ein anderer armer Blödmann von dem Schlag ebenfalls über die Reling geschickt. Ob das Beiboot auch ihn auffing, konnte Edmund nicht überprüfen. Dafür traf ihn das Knie des Kerls derart hart im Gesicht, dass ihm die Tränen kamen und er das Blut schmecken konnte.
    Warum eigentlich immer das Gesicht?

    Kurz darauf traf in ein weiterer Schlag in den Bauch.

    Edmund keuchte und spürte, wie die Medizin den Weg zurück antreten wollte.

    Dann doch lieber ins Gesicht!

    Als der Kerl gerade zum nächsten Tritt ausholte, nutzte Edmund den kurzen Moment, in welchem der Gegner auf einem Bein stand und warf sich mit der Schulter zuerst auf den Kerl. Und prallte gefüllt gegen eine Wand.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

    • Offizieller Beitrag

    Trevor stand da und bekam ein Zucken im Auge. Sein Schädel brummte und er konnte sich an kaum etwas vom vorherigen Abend erinnern. Er hoffte nur, dass er nicht allzu sentimental geworden war. Jetzt stand er auf Deck und schaute der Gruppe Idioten zu, wie sie sich wegen einem Würfelspiel prügelten. Edmund war in der Menge verschwunden. Mut hatte der Händlersohn, das musste Trevor zugeben. Sich einfach ins Getümmel schmeißen … das hätte er nicht von Edmund erwartet. Esther schien ebenfalls irgendwo im Gedränge zu sein, ein Zustand, der für ihn nicht tragbar war, aber … Wenn er mitmischte, konnte es genauso gut sein, dass Edmund und Esther erstrecht verletzt wurden.
    Trevor hörte Edmunds Geschrei, dann sah er den riesigen Kerl direkt vor Edmund stehen. Der Händlersohn hatte sich mit aller Kraft gegen den Dicken geworfen, aber dieser bewegte sich nicht einen Schritt von seinem Platz.
    Edmund … so wird das nichts. Der wiegt das Dreifache von Euch.
    Nun war es genug. Ein Teil hatte aufgehört, zu kämpfen. Das war gut. Mit den restlichen Männern würde Trevor fertig werden. Vor allem, da sie auch mit sich gegenseitig beschäftigt waren und nicht nur ihn im Fokus hatten.
    Gerade, als der Dicke Edmund einen weiteren Schlag verpassen wollte, hielt Trevor den Schlagarm auf, verdrehte ihn und starrte dem Fetten ins Gesicht, der sich schmerzerfüllt zu ihm herumgedreht hatte. „Man sollte nicht die Hand beißen, die einen füttert!“, knurrte Trevor und trat dem Fetten gegen sein Knie.
    Der Seemann brüllte wiederholt schmerzerfüllt auf.
    Danach schlug Trevor ihm mit der freien Faust ein paar Mal ins Gesicht und trat ihm in einer Drehung die Beine weg, sodass der Kerl seitlich zu Boden krachte. „Und so benimmt man sich auch nicht gegenüber Damen!“, maulte Trevor weiter, nahm den Kerl am Kragen hoch und schlug noch weitere Male auf ihn ein, um sicherzugehen, dass er vorerst am Boden blieb.
    Trevor richtete sich auf, während sein Widersacher Blut spuckte. Er sah sich um, entdeckte eine Lücke und zog Esther aus der Mitte der verblieben vier Kerle. Einen von ihnen schnappte sich Trevor an der Schulter und setzte ihn mit einer Kopfnuss außer Gefecht. Den anderen verdrehte er den Arm, schlug ihm in die Rippen und zog demjenigen dann ebenso die Beine weg, sodass dieser sich einmal um sich selbst drehte und jammernd auf dem Boden liegen blieb. Die letzten beiden nahm Trevor am Hals, schlug sie mit aller Kraft mit den Köpfen gegeneinander und ließ sie bewusstlos zu Boden sacken.
    Endlich Ruhe … Abgesehen vom Gejammer!
    Trevor spürte seine aufgeplatzten Knöchel und wie ihm Blut seitlich am Kopf entlang floss. Aber noch spürte er keinen Schmerz. Die Rage verhinderte das. So war es immer, wenn er kämpfte. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals, in seinem Inneren machte sich eine Hitze breit, die erst abflaute, wenn keiner außer er mehr stand. Er hasste dieses Gefühl. Vor allem, weil es erst nachließ, wenn alle am Boden oder tot waren. Formwandler zu sein, konnte amüsant sein, aber das war eher der unlustige Part daran. Trevor mochte diese Seite an sich nicht. Er mochte es nicht, andere zu verletzen, was ihn immer zu einem minderguten Piraten gemacht hatte - oder Formwandler. Er war nicht die Art Krieger, die rein wegen Geld entschied, wer leben durfte oder sterben musste. Er redete sich ein, so etwas wie ein Gewissen zu haben.
    Trevor atmete tief durch, verdrängte die Hitze und wandte sich Esther und Edmund zu, die ebenso schnaubend wie er dastanden und die Lage überblickten.
    „Verärgere niemals Trevor …“, hörte Trevor Edmund flüstern.
    Es war klar, welches Bild der Formwandler von sich gezeichnet hatte. Aber vielleicht hatte es etwas Gutes. Edmund sah so, dass Trevor nicht nur ein netter Handlanger war, der ihm Frühstück brachte. Er konnte auch seinem Schutz dienen, ähnlich wie Esther mit ihren Schilden … nur anders.Blutiger vielleicht. Trevor versuchte, sich einzureden, dass er zumindest einen guten Zweck gekämpft hatte. Dem Schutz anderer. Dem Schutz von Edmund und Esther ... Das war immerhin etwas. Wenn auch nicht genug, um seine Laune zu heben.

    „Wer hat damit angefangen?“, verlangte Edmund dann lauter zu wissen und alle verbliebenen Männer, die noch bei Bewusstsein waren, zeigten auf Stiev.
    „Ich spiele nicht mit gezinkten Würfel!“, wehrte sich der Seemann und zog seine Würfel aus der Hosentasche. „Hier!“, fuhr er fort und zeigte sie Edmund.
    Edmund wog die Würfel in seiner Hand, testete sie. Jeder konnte sehen, dass die Würfel nicht gezinkt waren und Stiev auf ehrliche Weise gewonnen hatte.
    Etwas anderes hätte Trevor von dem Seemann auch nicht erwartet, wenn er ehrlich war. Der ganze Aufstand nur wegen ein paar schlechten Verlierern.
    Selbst Esther schüttelte mit ihrem Kopf und rieb sich die Wange, die immer noch gerötet war.
    Trevor ging auf sie zu, nahm mit einer Hand vorsichtig ihr Kinn und drehte sich behutsam die Gesichtsseite zu. „Es sieht harmlos aus, aber vielleicht solltet Ihr Oma trotzdem nach einer Salbe fragen, bevor es blau wird“, schlug er vor. „Genauso wie Ihr“, sprach Trevor weiter und sah Edmund an. „Eure Wunde ist leicht aufgegangen.“
    „Das solltet ihr beide auch tun“, antwortete Esther.
    „Ihr seht auch nicht taufrisch aus“, erwiderte Edmund fast schnippisch an Trevor gewandt.
    Trevor grinste. Wenn er bedachte, wie viele Hiebe er schon hatte einstecken müssen, wie viele Klingen seine Haut bereits aufgeschnitten hatten, war diese Prügelei harmlos dagegen gewesen. Die Platzwunde an der Braue würde er selbst behandeln. Oma sollte sich um die beiden Herrschaften kümmern und nicht um einen Piraten.
    Trevor wandte sich noch einmal der Meute zu, die sich jammernd am Boden herumrollte.
    Ganze Arbeit, Trevor … Das wird deinen Ruf an Bord sicherlich verbessern. Jetzt hält dich jeder für einen Schläger! Am besten schließt du nachts seine Kabine ab!
    „Jetzt muss ich das Pack auch noch bestrafen“, beschwerte sich Edmund im Hintergrund, und Trevor nickte.
    „Das überlasse ich ganz Euch!“, antwortete er und lächelte Edmund gespielt amüsiert an. „Aber danach werden sie sich wahrscheinlich überlegen, Euren Befehlen nicht nachzukommen.“
    Trevor hatte genug für einen Tag. Er setzte sich in Bewegung, um in sein Zimmer zu gelangen und sich das Blut abzuwaschen, als ihm Nelli auf halben Weg entgegenkam.
    Erschrocken starrte sie Trevor im Vorbeigehen an. „Was ist denn passiert, Bursche?“, wollte sie von ihm wissen.
    „Alles gut, Oma. Den Rest regelt Edmund!“, antwortete Trevor und klopfte der alten Dame zuversichtlich auf den Rücken. „Du solltest dir aber später die beiden ansehen. Sie mussten auch einstecken.“
    „Ja, aber …“, wandte Nelli ein, und Trevor konnte spüren, wie sie ihm nachsah, während er unter Deck ging. Die Bestrafung wollte er nicht mit ansehen. Das hatte er selbst schon alles am eigenen Leib erfahren. Peitschenhiebe wegen Fehlverhalten … oder übermäßiger Gewalt …
    Trevor beließ es dabei, sich die Hände und sein Gesicht zu waschen. Danach legte er sich auf sein Bett und hoffte, dass dieser Tag schnell vorbeigehen würde.

    • Offizieller Beitrag

    Edmund behielt die Würfel nachdenklich in der Hand.
    „Esther, habt Ihr Wünsche, was die Herren als Strafe erhalten sollten?“
    Die Gräfin verschränkte die Arme und wirkte mit ihrer langsam anschwellenden Wange verletzlich aber auch zornig. Sie zögerte. Mit Sicherheit hatte sie bisher noch nichts mit dem Thema zu tun gehabt und wusste nicht, was richtig war.
    „Wie findet Ihr Peitschenhiebe?“, schlug er ihr deshalb vor. „Die übliche Strafe bei Fehlverhalten."
    „Erscheint mir mehr als angemessen!“
    Esther funkelte Stiev an, aber ihr Blick glitt auch zu einem der anderen umstehenden Männer. Dieser grinste hämisch in sich hinein. Zu einem Streit gehörten immer zwei.
    Vielleicht fällt mir dazu noch etwas ein, wenn mein Kopf weniger brummt …
    Edmund nickte nur und reichte Stiev die Würfel.
    „Ihr könnt die Anzahl selbst bestimmen“, meinte er und bedeutete dem Mann zu würfeln.
    Stiev zögerte, ergab sich dann aber in sein Schicksal und ließ die Würfel vor seine Füße fallen.
    „Neun.“
    Stiev senkte den Blick. Immerhin hielten sie nun alle mal die Klappe!
    „Es hätte schlimmer kommen können", kommentierte Edmund. Ihm kam es recht. Sein Körper fühlte sich an, als klemmte er in einem Schraubstock und er wusste nicht mal, ob er den Arm überhaupt noch heben konnte. Er sah zu dem riesigen Kerl, den Trevor scheinbar mit Leichtigkeit zu Boden befördert hatte. Zum ersten Mal kam ihm die Frage auf, wer zum Henker dieser Kerl eigentlich war - außer der Teil mit dem Formwandler.
    Seine Wut war aber mittlerweile verflogen. Zurück blieb der Brummschädel, Blut im Gesicht und an den Händen und der Eisengeschmack im Mund. Und nun musste er auch noch arbeiten. Dabei wollte er einfach nur Ruhe und Schlaf.
    Warum hatte er sich nochmal mitten in die Schlägerei geworfen?
    Er ließ sich von einem der Matrosen die Peitsche bringen.
    In der Zeit wandte er sich an Esther - und wusste wieder, warum er sich eingemischt hatte.
    „Ihr müsst Euch das nicht anschauen“, meinte er und versuchte sich an einem zuversichtlichen Lächeln. Ob das ihm oder ihr galt, wusste er nicht. Aber das würde er auch noch allein hinbekommen. Und eine Dame musste bei einer Bestrafung nun wirklich nicht anwesend sein. „Nehmt lieber Trevors Rat an und lasst die Alte über Eure Wunde schauen.“ Er deutete auf die Hexe, die soeben an Deck trat und sich bestürzt umsah. Na die würde zu tun haben...
    Esther verneinte.
    „Ich bleibe“, meinte sie und strich sich einige verirrte Haarestränen aus dem Gesicht. Ihre Augen schimmerten im Sonnenlicht golden und wirkten doch seltsam kühl, während sie stur stehen bleib. Selbst nach einem Faustschlag wirkte die Magierin noch anmutig und schön. Damit strahlte sie eine Stärke aus, die er von gehobenen Damen normalerweise nicht gewöhnt war. Die meisten kreischten nur oder fielen in Ohnmacht, wenn sie auch nur einen Tropfen Blut irgendwo sahen. Geschweige denn, dass sie es stumm ertrugen, wenn sie selbst etwas abbekommen hatten. Dennoch war er der Meinung, dass sie sich dringend versorgen lassen musste.
    Edmund riss den Blick los. Er wollte protestieren, aber was sollte er sagen? Sie war erwachsen und er zu müde, um sich nun auch noch mit ihr zu streiten.
    Ihm war bewusst, dass er die Strafe selbst umsetzen musste. Der größte Teil der Mannschaft war am Geschehen beteiligt gewesen und es stand ihm daher nicht zu, die Aufgabe abzuschmieren.
    Sein Vater hatte es ihm oft genug eingeschärft und ihn gezwungen währenddessen anwesend zu sein. Dabei hasste er es, andere zu schlagen.
    „Ach und für den Rest: offenbar habt ihr zu viel Energie. Kein Essen für niemanden! Und wehe ich höre heute noch einen Piep, dann kann der Großteil von euch Schwachköpfen meinetwegen bis zum nächsten Hafen rudern!“ Er nahm die Würfel wieder an sich. Das Letzte, was er wollte, war ein erneuter Streit wegen diesen lächerlichen Dingern. „Und wen das trifft, das werden die Würfel entscheiden.“
    Der Matrose mit der Peitsche kam zurück und Edmund nahm sie ihm genervt ab.

    Danach würde er definitiv den restlichen Tag im Bett verbringen. Nachdem er Esther bei der alten Hexe abgesetzt hatte, verstand sich. Dreckige Kleidung und Blut hin oder her, der Schlaf ging vor. Noch eine Kleidergarnitur, die er wegwerfen konnte.
    Und ein schönes, heißes Bad am Abend. Das klang doch super.

  • Schweigend ging Esther hinter Edmund hinterher. Nachdenklich starrte sie auf seinen Rücken. Sein Hemd hing in verrutschter Haltung an seinem Oberkörper herab, die Ärmel noch immer hochgekrempelt. In diesem Aufzug machte er einen ganz anderen Eindruck und Esther konnte nicht behaupten, dass es ihr missfiel. Es hatte sie überrascht, dass er selber die Strafe vollstreckt hatte. Sie hätte darauf gewettet, dass er diese unliebsame Aufgabe weiterreichen wollte. Und während er unter Beobachtung der anderen Matrosen, den jungen Stiev ausgepeitscht hatte, zuckte ihr Blick immer mal zu ihm herüber. Deutlich hatte sie in seinem Gesicht gelesen, dass er auf diese Arbeit liebend gerne verzichten konnte.

    Während der ersten zwei Schläge war sie noch zusammengezuckt. Die restlichen zählte sie leise im Gedanken mit und ertrug das Bild.

    Immer wieder schossen ihr die Worte durch den Kopf, die ihr Vater zu sagen pflegte.

    Sobald jemand die Hand gegen dich erhebt, hat derjenige den Respekt vor die verloren – sieh zu, dass du ihn schnell zurückgewinnst.

    Ihr war zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts besseres eingefallen, als sich die Bestrafung anzugucken. Sie hoffte dadurch, dass die Matrosen bemerkten, dass sie kein jammerndes, kleines Mädchen war – sondern eine Gräfin und Magierin!

    Plötzlich stockte ihr der Atem. Sie griff hinter ihren Rücken und zog ihren Zauberstab aus der Schnalle. Erleichtert stieß sie die Luft zwischen den Zähnen aus. Der Stab war unversehrt. Es glich eine Katastrophe, wenn dieser während des Gerangels zerstört worden wäre.

    Sie verstaute ihre Waffe wieder und folgte Edmund in die Kombüse, in der Nelli bereits allerlei Tiegel, Fläschchen und Schüssel bereit gestellt hatte. Außerdem erspähte Esther auf dem Tisch einen Haufen Stoffe, den die Alte in schmale Stücke zerrissen hatte.

    „Die Gräfin wird zuerst versorgt“, wies er die Heilerin an, die bereits auf sie zugeeilt war.

    Sie sah sich den Fleck auf ihrer Wange an und befühlte die Wunde sacht. „Demjenigen, der Euch das zugefügt hat, gehören die Ohren abgeschnitten!“, schimpfte Nelli.

    Die Führsorge rührte Esther zutiefst, weshalb sie lächelte und zu Edmund aufsah.

    Der schien es allerdings plötzlich sehr eilig zu haben und drängte sich an die Hexe vorbei.

    „Wo wollt Ihr hin?“, fragte Esther den Händlersohn und ergriff sein Handgelenk.

    „Bevorzugterweise ins Bett“, meinte er trocken und sah auf ihre Hände hinab.

    Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sich schwer deuten.

    „Ihr solltet Euch auch erst versorgen lassen“, widersprach sie ihm und zögerlich zog sie ihre Finger zurück. „Ihr blutet nämlich … schon wieder.“

    Er holte tief Luft und warf Nelli einen warnenden Blick zu, die sich daraufhin wieder ihren Töpfen und Salben zuwandte.

    Wieder wollte er sich abwenden. „Ich verzichte.“

    Das war doch wohl …

    Kurzerhand versperrte sie ihm den Weg. „Lasst mich wenigstens die Wunde säubern“, schlug sie vor und packte sich eines der Tücher.

    Nach kurzem Zögern gab sich Edmund geschlagen und setzte sich auf den klapprigen Stuhl, während Esther den Stoff ins kalte Wasser tauchte.

    Misstrauisch aber schweigend beobachtete Nelli diesen Moment.

    Vorsichtig tupfte Esther die aufgeplatzte Stelle in seinem Gesicht sauber. Edmund behielt sie dabei mit seinen blauen Augen genau im Blick. Abermals fiel es ihr schwer, diesen Gesichtsausdruck zu deuten.

    Sie räusperte sich. „Zeigt mir Eure Hand“, bat sie und gleich darauf legte er seine Finger auf die ihre. Ein seltsames Gefühl durchströmte sie, woraufhin sie kurz die Stirn runzelte und ihn mit verengten Augen ansah. Es fühlte sich beinahe an … wie eine magische Präsenz, allerdings nicht so stark und eindeutig wie bei Trevor.

    Sie schob den Gedanken beiseite. „Danke, dass Ihr mir geholfen habt“, sagte sie schließlich und entließ Edmund aus ihrer Behandlung.

    Er erhob sich mit einem selbstsicheren Lächeln auf den Lippen. „Ich habe nur getan, was ich für richtig hielt.“

    Sie nickte. „Das ehrt Euch.“

    Bevor Edmund darauf eingehen konnte, schob sich Nelli dazwischen. „So. Ich würde gerne die Gräfin versorgen, wenn es recht ist!“

    Unsanft bugsierte sie den Händlersohn mit ihrem Stock hinaus und warf die Tür ins Schloss.

    „Wo ist Trevor?“, fragte Esther, während Nelli nun die Wange reinigte.

    „Vermutlich im Bett, Mädchen“, antworte sie. „Der arme Bursche wollte nicht einmal, dass ich seine Wunden versorge.“

    Als die Alte fertig war, erhob Esther sich von Stuhl und stopfte kurzerhand ein sauberes Stoffstück ins Wasser, wrang es aus und bat Nelli, ihr die Heilsalbe zu geben.

    Nachdenklich betrachtete die Heilerin sie.

    „Ich will nicht, dass seine Verletzungen sich entzünden“, erklärte Esther rasch. „Also werde ich schnell nach ihm sehen.“ Bevor sie ging, angelte sie sich noch einige trockene Tücher vom Tisch. Seltsamerweise verlor Nelli kein einziges Wort mehr darüber.

    Mit der Salbe und dem nassen Tuch in den Händen stoppte sie vor Trevors Zimmertür. Sie klopft zaghaft an und legte das Ohr an das Holz. Ob er vielleicht doch schon tief und fest schlief?

    Sie klopfte noch einmal, dieses mal lauter. „Trevor?“

    Kurze Zeit später öffnete sich die Tür und der Formwandler blickte sie reichlich verwirrt an.

    Sein offenes Haar hing ihm lose über die Schulter, sein Hemd trug er nicht.

    Warum trug er fast nie ein Hemd?!

    „Ich … darf ich kurz hereinkommen?“, fragte sie leise.

    Trevor kratzte sich am Hinterkopf, machte aber Platz und ließ sie eintreten. Ohne auf ein Wort ihrerseits zu warten, schnappte er sich sein Hemd und warf es sich über, während sie Tücher und Salbe auf dem kleinen Tisch abstellte. Die Tür lehnte sie lediglich an. Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben.

    „Ich wollte nur sehen, ob es Euch gut geht“, meinte sie. „Und mich für Eure Hilfe bedanken.“

    „Ihr braucht mir nicht zu danken“, sagte er schnell. „Vielmehr tut es mir leid, dass Ihr das … sehen musstet.“

    Sie verstand nicht recht, worauf er hinauswollte. Für sie hat es so ausgesehen, dass er alles tun wollte, um sie und Edmund zu schützen. Allerdings traute sie sich aus irgendeinem Grund nicht, das auszusprechen. Also beließ sie es dabei.

    „Nelli hat gesagt, dass Ihr Eure Wunden nicht versorgt habt“, lenkte sie das Thema um.

    „Ich habe sie gewaschen“, gab er zurück.

    „Ich möchte nicht, dass es sich entzündet. Würdet Ihr …“ Verdammt nochmal! Stottere hier nicht so herum! Sie deutete auf den Tisch. „Ich habe Nellis Salbe dabei und könnte Eure Wunden schnell damit einreiben.“

    Verdutzt schaut er sie nur, weshalb sie nicht wusste, ob das nun Zustimmung war oder sie lieber gehen sollte. „Oder ich lasse die Salbe einfach hier. Aber Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr Eure Wunden damit versorgt. Davon werde ich mich noch persönlich überzeugen.“

    „Nein!“, rief er aus. Die plötzliche Euphorie überraschte sie. „Ich bin nur nicht gewohnt, dass mir jemand helfen will.“ Er machte eine kurze Pause. „Dazu eine Adelige.“

    Sie lachte daraufhin auf und griff nach der Salbe. „Macht Euch nicht lächerlich“, warf sie ein und verstrich ein wenig der Paste über die Platzwunde an seiner Augenbraue. Wie Edmund zuvor verfolgte auch Trevor ihre Bewegungen, aber auf eine ganz andere Weise. Er wirkte vorsichtig und zurückhaltend. Außerdem hätte Edmund nicht ein weiteres Mal geduldet, dass man ihn mit der Paste beschmiert.

    Behutsam verteilte sie die Salbe auch auf Trevors Fingerknöchel und umwickelte seine Hände anschließend mit dem mitgebrachten Stoffbahnen, aber so, dass er die Finger noch bewegen konnte.

    „So“, sprach sie zufrieden und besah sich ihre Arbeit. „Ihr habt es geschafft.“ Sie lächelte ihn an.

    Er lächelte lediglich zurück, weshalb sie sich von ihm verabschiedete.

    „Danke“, sagte er noch, bevor sie mitsamt Schüssel das Zimmer verließ. Flink brachte sie die restliche Salbe zurück zu Nelli, die sie nur angrinste.

    Puh, dachte Esther, ich brauche frische Luft.

    Als sie am Oberdeck ankam, atmete sie tief ein und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen.

    Die anwesenden Matrosen bedachten sie mit merkwürdigen Blicken, doch darauf achtete sie nicht. Sie schlenderte an die Reling und stützte sich mit den Unterarmen darauf ab. Ohne über irgendetwas nachzudenken, schaute sie sich die wogenden Wellen und die Wolken vor dem blauen Himmel an.

    Dann gewahrte sie etwas am Horizont, zu weit weg, um es mit bloßem Auge erkennen zu können.

    Sie kniff die Lider zusammen und lief schließlich zum Steuermann hinüber.

    „Habt Ihr ein Fernrohr?“, fragte sie ohne jegliche Begründung oder gar Begrüßung.

    „Aye“, gab der alte Mann zurück und reichte es ihr.

    Mit hämmerndem Herz linste Esther hindurch. Aber auch so ließ sich kaum erkennen, um was es sich bei dem dunklen Fleck am Horizont handelte. Doch sie erkannte ganz klar Segel und ein Banner wehte am Mast – aber welches?

    „Dieses Schiff dort hinten“, richtete sie das Wort wieder an den Steuermann. „Beobachtet es. Wenn es näher kommt, gebt mir sofort Bescheid!“

    Der Alte knabberte an seiner Pfeife und nickt. „Jawohl, Herrin.“

    Herrin …

  • Nelli war sicherlich vieles, aber eigentlich kein Kind der schlechten Laune. Dieser Tag jedoch forderte alles von ihr. Etliche Verletzungen von dieser vermaledeiten Prügelei, der Wandler, der sich nicht von ihr verarzten lassen wollte, die junge Adlige, die man offensichtlich mit in die Prügelei gezogen hatte, obwohl Nelli gehofft hatte, dass gerade sie das Ganze zu verhindern wusste und dann auch noch der Händlersohn, der tat, als wäre sie der Teufel persönlich. Also ging auch ihr langsam die Geduld und die gute Laune aus. Und so fauchte sie den Smutje an, der fragte, wann er seine Küche wieder bekommen konnte und fluchte in sämtlichen Sprachen und Ausdrücken, die sie ihr langes Leben gelehrt hatte.

    Als sie den letzten Verletzten versorgt und ihre ganzen Kräuter, Tinkturen und Verbände wieder fein säuberlich aufgeräumt hatte, war es draußen bereits dunkel. Müde erklomm sie die Treppen an Deck um heute wenigstens irgendwann mal frische Luft zu schnappen, als ihr die Segel eines anderen Schiffes auffielen, das gar nicht mal so ganz weit entfernt von ihnen war. Sie legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen, ehe sie dem Steuermann mit ihrem Stock auf die Schulter tippte.

    Was für ein Schiff ist das da?“, fragte sie unverhohlen, während der Mann zusammenzuckte, da er sie anscheinend nicht bemerkt hatte.

    Eine Galeone. Ein schwer bewaffnetes Handelsschiff. Wobei die auch als Kriegsschiff eingesetzt werden können...“, begann er zu erzählen und verlor sich für einen Moment in Ausführungen über die Vorzüge einer Galeone gegenüber etwas, was er Karacke nannte und Nelli absolut nichts sagte. Irgendwann wedelte sie abwehrend mit der Hand und schüttelte den Kopf.

    Ja, Ja, ein ganz tolles Schiff, das hab ich verstanden. Aber warum folgt es uns?“

    Der Steuermann stutzte und schaute durch sein Fernrohr.

    Es trägt das Wappen von Silberberg auf der Flagge. Vielleicht hat die Gräfin etwas vergessen und sie wollen es ihr bringen?“

    Innerlich seufzte die Alte tief. Wie konnte sich dieser Mann morgens allein die Schuhe anziehen? Sie wandte sich von ihm ab und stieg die Treppen nach unten zu den Quartieren. Sie klopfte an der Tür der jungen Magierin und wartete eine Weile ehe sie noch mal klopfte, deutlich lauter dieses Mal.

    Schließlich streckte eine offensichtlich verschlafene und mitgenommene Esther den Kopf durch die Tür und sah sie verwundert an.

    Tut mir leid, Euch wecken zu müssen, Mädchen. Aber ich schätze, Ihr habt etwas sehr wichtiges in Silberberg vergessen, weswegen Euer Vater uns jetzt sein schnellstes Kriegsschiff auf den Hals hetzt“, erklärte sie trocken und beobachtete, wie der Grafentochter alles aus dem Gesicht fiel und sie wohl schlagartig wach wurde.

    Wie weit weg sind sie denn noch?“, wollte sie hektisch wissen und Nelli beobachtete, wie sich aufgeregte rote Flecken auf ihrem Hals und dem Gesicht ausbreiteten.

    Ich bin kein Seemann, Kindchen. Ich würde schätzen, morgen früh haben sie uns eingeholt. Könnte aber auch früher sein. Oder später.“

    Die Alte zuckte mit den Schultern und watschelte dann an der offenen Tür vorbei.

    Halt, was habt ihr denn jetzt vor? Wo wollt ihr hin? Wollt ihr Edmund Bescheid sagen?“, erklang die Stimme der Magierin hinter sich und Nelli lachte heiser auf. Sie drehte sich um, wobei der Boden unter ihren Füßen knarrte. Ihre Augen funkelten amüsiert.

    Ich? Oh nein, das dürft Ihr übernehmen. Ich bin sicherlich die Letzte, die er sehen will, wenn er grade wach wird und wenn ich ihm dann noch solche Nachrichten überbringe, kann ich garantiert zurück ans Ufer schwimmen. Und ich will ihn viel zu gerne noch eine Weile auf die Palme bringen. Ich, mein Kind, gehe jetzt schlafen. Ihr regelt das schon. Ich wollte euch lediglich informieren.“

    Ein Grinsen lag auf ihren Lippen. Ihr war vorher schon bewusst gewesen, dass diese Reise alles andere als langweilig werden würden, aber so wie sich die Dinge entwickelten und so, wie ihre Mitreisenden sich verhielten, wurde es immer spannender und vor allem unterhaltsamer. Sie ließ die verblüffte junge Frau zurück und ging weiter in Richtung ihrer Kajüte. Fast vergessen waren die Ärgernisse des Tages. Das Chaos, was sich da anbahnte, war sicher etwas, was sie so nie wieder sehen würde. Ein Wandler, eine Magierin und der Händlersohn allein waren schon eine brisante Mischung. Und das, was auf sie da zukam, würde das sicherlich noch Mal torpedieren. Und sie selbst würde da sein und beobachten. Helfen, wenn es notwendig war und kommentieren, wann immer sie konnte.

    • Offizieller Beitrag

    Trevor lag wach auf seinem Bett und hatten die Hände hinter seinem Kopf verschränkt. Esther hatte in verarztet. Das war ein seltsames Gefühl gewesen. Nicht, weil er von einer hübschen Frau versorgt worden war, sondern … weil er in der Gruppe eine Art Fürsorge zu spüren bekam, die er so noch nie kennengelernt hatte. Auf den anderen Schiffen ging man lediglich sicher, dass die einzelnen Kerle noch lebten. Das war es aber.
    Trevor wusste nicht, wie lange er bereits wach im Bett gelegen hatte, aber plötzlich vernahm er ein leises Klopfen. Es benötigte aber ein zweites Klopfen, bis er sich sicher war, dass er sich nicht verhört hatte. Er richtete sich auf und ging zu seiner Tür, und nachdem er sie geöffnet hatte, entdeckte er erneut Esther davor. Fragend hob er eine Braue.
    „Ich bräuchte zu etwas Eure Meinung …“, meinte die Magierin und sag ihn hilfesuchend an.
    Sie hatte ihm geholfen, nun konnte er anscheinend helfen. Eine Hand wusch die andere.
    Minuten später fand sich Trevor am hinteren Teil des Oberdecks wieder und starrte durch ein Fernrohr. „Das ist Euer Vater?“, wollte Trevor wissen, und Esther nickte.
    „Er folgt uns sicherlich nicht mit einer Kriegsgaleone, weil er denkt, Ihr wärt freiwillig mit uns gekommen …“, mutmaßte der Wandler.
    Esther druckste herum, aber fand dann die Worte, die Trevor bereits vorausgeahnt hatte. Sie erzählte ihm die Wahrheit und, dass sie Angst hatte, wie das Zusammentreffen der beiden, Edmund und ihrem Vater, ablaufen würde.
    Trevor gab Esther das Fernrohr. Er war ihr gleich gefolgt und hatte sich sein Hemd nicht angezogen. Oma schien dieser Umstand irgendwie zum Lächeln zu bringen und der Wandler wollte der alten Frau den Gefallen tun, noch etwas in ihrem Leben zum Grinsen zu haben. Warum auch immer das so war …
    „Ein Zusammentreffen auf hoher See wäre nicht gut“, stellte Trevor fest. „Sie könnten uns jederzeit versenken.“
    Trevor sah Esther mitleidig an. Da hatte sich die junge Frau in etwas reinmanövriert … Edmund würde sicherlich aus der Haut fahren, wenn er mitbekäme, dass sein Schiff eventuell bald unter Beschuss stand.
    „Wir sollten das Zusammentreffen hinauszögern!“, sagte er Esther. „Ein Hafen ist sicherer. Da werden sich die beiden wohl kaum gegenseitig umbringen.“
    Esther nickte nachdenklich. Sie schien sich unwohl zu fühlen, woran Trevor aber leider nichts ändern konnte. Zumindest nicht endgültig. „Wir werden mehr Knoten machen, um ihnen davonzufahren“, erwiderte er und versuchte, zuversichtlich zu klingen. „Edmund muss es vorerst nicht erfahren, aber Ihr solltet ihm reinen Wein einschenken, bevor wir den Hafen erreicht haben.“
    Wieder nickte Esther, und Trevor erwiderte das und nahm es als Einverständnis.
    Daraufhin pfiff Trevor auf zwei Fingern, sodass die Mannschaft ihm zuhörte. Er nahm eine Kurnanpassung vor und ließ die Segel auf halben Wind stellen, sodass das Schiff sich etwas mehr beeilte. Die Galeone von Esthers Vater schien schwer beladen zu sein, sodass das kleinere und leichtere Schiff von Edmund zumindest einen Vorteil versprach. Vermutlich musste der Wandler später Edmund erklären, warum er so gehandelt hatte, aber das hatte Zeit. Vielleicht bekam es der reiche Händlersohn auch gar nicht mit. Er würde es ihm nicht verraten ...

  • Als Edmund frisch gewaschen und neu eingekleidet wieder aufs Deck trat, begann die Sonne bereits wieder unterzugehen. Die ganze Aufregung des Tages war irgendwo zwischen den wenigen Stunden Schlaf und einem schönen Bad verloren gegangen. Zurück blieb ein angenehmes Gefühl und eine wohlige Stimmung.
    Edmund ließ den Blick schweifen und hob die Augenbrauen, als er die aufgeblähten Segel bemerkte. Sie bewegten sich deutlich schneller über die See, als noch am Morgen. Doch der Himmel war wolkenlos und er sah keinen Grund für die Eile.
    „Wieso haben wir es so eilig?“, rief er zu dem Steuermann hinüber. Dieser schien aus seinen Gedanken und seiner Pfeife aufzuschrecken.
    „Wie meinen, Herr?“
    „Warum wir so schnell fahren!“
    , knurrte Edmund zurück. War der Kerl doof? Er hätte sich vielleicht doch noch nach einem anderen Steuermann umsehen sollen. Dann wäre er auch diesen nutzlose - alte Weiber anschleppenden - Sohn los.
    „Euer Diener, Trevor, gab die Anweisung.“
    Edmund hob erneut die Augenbraue und begann mit dem Fuß unruhig auf die Planken zu klopfen. Hatte er am Morgen noch gedacht, dass er sich auf den Kerl verlassen konnte, fiel er ihm nun in den Rücken. Was bildete sich dieser Trevor eigentlich ein? Was glaubte er, wer er war? Deshalb vertraute seinem Vater niemanden, nur sich selbst. Er würde sich wohl auch wieder mehr an dessen Anweisungen halten müssen. Vermutlich war er zu nett gewesen, hatte diesem Diener zu freie Hand gelassen. Oder wie kam dieser nutzlose Bastard sonst auf die Idee, schon wieder über seinen Kopf hinweg zu entscheiden? Ob sich dieser dumme Formwandler auch in etwas verwandeln konnte, dass bis an Land schwimmen konnte, wenn er ihn über Bord werfen ließ?
    „Edmund, kann ich mit Euch sprechen?“
    Edmund wandte sich von den Segeln ab und blickte in Esthers strahlende Augen, die jedoch recht verschreckt dreinblickten. Dennoch vertrieben sie den Zorn auf Trevor schnell und machten wieder dem wohligen Gefühl Platz.
    Bitte sag mir nicht, dass es schon wieder eine Prügelei gab…
    Oder es lag einfach nur an der gehörigen Schwellung, welche sie mit sich herumtrug.
    „Gerne“, er nickte, „Geht es Eurem Gesicht besser?“
    „Ja, es geht mir gut, danke der Nachfrage. Aber darum geht es nicht ..."
    Während sie sprach, strich sie sich verlegen über die Wange. Edmund folgte ihrer Bewegung und erinnerte sich daran, dass Esther ihm vor wenigen Stunden noch die Wunde in seinem eigenen Gesicht gereinigt hatte. Ihre zarten Finger auf seiner Haut hatten ein angenehmes unbekanntes, aber warmes und schönes Gefühl hinterlassen. Das war das erste Mal in den letzten Stunden, Tagen und Wochen gewesen, dass er diese Reise nicht bereut hatte. Dann hatte die Hexe ihn aus dem Raum geworfen. Aus einem Raum auf seinem eigenen Schiff! Aber vielleicht konnte er Esther ja davon überzeugen, es zu wiederholen und etwas mehr Zeit mit ihm zu verbringen.
    „Ihr macht nicht den Anschein, als würde es Euch gut gehen.“ Erschien sie ihm noch blasser als zuvor? „Was bekümmert Euch?“
    „Mein Vater folgt uns“
    , begann Esther zögerlich. „Ich muss Euch gestehen, dass ich ihm keine Nachricht über mein Verschwinden hinterlassen habe.“

    Edmund blickte Esther eine Weile stumm an und er spürte, wie sein Auge zu zucken begann. Dieses komische warme Gefühl von eben war mit einem Mal weg! Wer brauchte auch schon Gefühle! Nutzloser Mist!
    „Warum habt Ihr Eurem Vater keine Nachricht hinterlassen?“, fragte er schließlich und bemühte sich um einen ruhigen Ton, auch, wenn er ihr am liebsten ins Gesicht gebrüllt hätte. Was war an einer Nachricht so schwer?!
    „Ich habe nicht daran gedacht“, murmelte Esther und senkte den Kopf.
    „Nicht daran gedacht?“, zischte Edmund. „Nicht daran gedacht! Natürlich!“ Er wandte sich genervt ab und rieb sich die Nasenwurzel. Esthers Blick glitt zum Heck und weshalb er sich diesem näherte. Deshalb waren sie so schnell unterwegs? „Jetzt sagt Ihr mir gleich noch, dass Ihr Euch wundert, dass er uns folgt? Wenn sein einziges Kind ohne etwas zu sagen, sang und klanglos mit irgendwelchen Fremden über Nacht verschwindet?!“ Ein kleiner schwarzer Punkt war in der aufkommenden Dunkelheit am Horizont zu erkennen. Mit dem bloßen Auge konnte es auch ein Fliegenschiss sein. Ein Fliegenschiss wäre ihm aber lieber gewesen.
    Er hörte, wie Esther ihm zögerlich folgte.
    „Es ist eine Galeone“, murmelte sie.
    Ein Kriegsschiff? Das machte diese sinnlose Reise doch gleich noch spannender. Das hatte ihm immerhin noch gefehlt.
    „Und was machen wir jetzt? Fliehen?“ Eine Flucht würde es wohl kaum besser machen. „Trevor wusste vor mir davon, habe ich Recht? Lasst mich raten, auch die alte Hexe wusste es bereits?“ Edmund verschränkte die Arme. War er nicht derjenige, der alles zuerst erfahren sollte? Und dann wurden Befehle ohne ihn erteilt, die es für den Grafen wahrscheinlich nur noch schlimmer aussehen ließen.
    „Nelli habe ich davon nichts erzählt! Ich dachte, wir könnten sie zumindest bis Scalimar abhängen. Dort spreche ich dann mit meinem Vater.“
    Edmund warf die Arme in die Luft und gestikulierte über die See, die sich weit hinter ihnen erstreckte. Dort folgte ihnen offenbar ein stinkwütender Graf. Und vermutlich nicht, um ein nettes Schwätzchen zu halten.
    Die Eleftheria hatte einer Galeone nur wenig entgegen zu setzen. Wenn der Graf also auf die Idee kam, erst zu schießen und dann zu schauen, ob seine Tochter an Bord war, würden sie im Hafen nicht mal die nötige Luft holen können, um ein Gespräch zu führen. Davon abgesehen, dass er auch keine Lust hatte, sich vor diesem Kerl zu rechtfertigen, für etwas, für das er nichts konnte! Oder … ?
    „Ich habe Euch im Wissen mitgenommen, dass Euer Vater diese Reise nicht erlaubt hat, ja. Aber ich ging davon aus, dass Ihr den Anstand besitzt, Euren Vater zumindest zu informieren“, gab er sauer zurück. Eigentlich hatte er nicht so gereizt klingen wollen, aber der Anblick des Fliegenschisses nervte ihn gewaltig. „Habt Ihr mal daran gedacht, wie es ihm nach Eurem Verschwinden geht?“
    Esther zog den Kopf ein, schwieg aber betreten, während ihr Blick erst zu ihren Füßen und dann über das Meer glitt.
    Edmund rieb sich die Schläfen. Sie hatte nicht daran gedacht! Klar, warum auch? An ihn dachte schließlich auch keiner! Warum dann also an den eigenen Vater?
    Diese ganze Verantwortungssache ging ihm auf die Nerven. Er war für sowas nicht gemacht. Verantwortung übernehmen, so ein Blödsinn!
    Aber es war sicherlich durchaus unfair Esther allein die Schuld zuzuschreiben und sie anzuschreien. Er trug selbst auch einen Teil dazu bei, oder? Er hätte Esther fragen und darauf bestehen sollen, ob sie eine Nachricht hinterlassen hatte. Oder er hätte sie gar nicht erst mitnehmen dürfen. Er hatte gewusst, dass sie nicht mit Erlaubnis ging. Auf der anderen Seite war es ja wohl an Esther gewesen, ihn zu informieren und offen zu reden! Stattdessen war sie ihm die erste Zeit aus dem Weg gegangen und hatte ihn mehrfach belogen.

    Blieb zu hoffen, dass Esthers Vater nicht wie sein eigener war und mehr Verständnis für unbedachtes Handeln erübrigen konnte. Oder er stürzte sich ins Meer und entging diesem Zorn einfach. Beiden Vätern ...
    „Was soll‘s“, seufzte er. Nun war es sowieso nicht mehr zu ändern. Er sah zu den Segeln auf, die ergiebig den Wind einfingen und sie schneller als geplant über das Meer trugen. Scalimar rückte somit deutlich schneller näher und eventuell entkamen sie so lang genug dem Grafen aus Silberberg. Der wäre dann sicherlich noch ein gutes Stück wütender als er es wohl sowieso schon war. Aber dann war Edmund hoffentlich nicht mehr an Bord. So wie es die letzten Tage gelaufen war, würde sowieso niemand auf ihn hören. Und auf Trevor als Unterstützung in seinem Rücken würde er sich nicht mehr verlassen.

    Warum stand er überhaupt noch auf? Zuhause hätte er diese Probleme nicht gehabt. Keine Verantwortung, keine nervige Mannschaft, keine Mitreisenden, die ihm auf der Nase herumtanzten und keine Galeone in seinem Nacken.

    Ich bin nun mal nicht mehr Vater.

    Dieser hätte wohl spätestens in diesem Moment mit aller notwendigen Härte durchgegriffen.

    „Ihr macht doch sowieso alle, was ihr wollt.“ Er winkte ab und ließ Esther stehen. Kaum aufgestanden, war seine Laune bereits wieder im Keller und dabei hatte er kurz geglaubt, der Tag könnte vielleicht noch besser werden und die Reise angenehm. Aber es blieb dabei: Jeder hinterging ihn. Niemand nahm ihn ernst. Und daran war er selbst Schuld.

    „Falls mich jemand suchen sollte“, was vermutlich nicht der Fall sein würde, bisher hatten die anderen super über seinen Kopf hinweg entschieden und alles nur noch schlimmer gemacht – wohlbemerkt hauptsächlich für ihn, „ich bin am Bug.“ Sollten sie sich doch selbst etwas überlegen, um den Vater zu besänftigen. Schließlich machten sie ja sonst auch alles ohne ihn!
    Tatsächlich fragte er sich in diesem Moment der Schwäche, ob die Medizin der alten Hexe auch gegen verlogene Mitreisende half. Die Alte hatte ihn immerhin bisher am wenigsten hintergangen. Allerdings wäre er dann gezwungen zu ihr zu gehen und diese Schwäche zu zeigen.

    Oder zwei bis drei Flaschen Wein … und danach den Schnaps.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

  • Esther seufzte und blätterte auf die nächste Seite in ihrem Buch. Ihre Laune könnte nicht schlimmer sein. Sie war nicht einmal zwei Wochen mit den anderen unterwegs, da hatte sie schon das Gefühl, ihnen eher im Weg zu stehen als eine Hilfe zu sein.

    Seit ihrem Geständnis ging Edmund ihr aus dem Weg und Esther tat es ihm gleich. Doch jedes Mal, wenn sie ihn kurz sah, keimte das schlechte Gewissen in ihr auf. Sie wusste, dass eine Entschuldigung das Mindeste gewesen wäre, doch davon wollte Edmund sicherlich nichts hören. Es schien ihr, als würde er sie nur noch auf der Eleftheria dulden, weil er sie nicht über Bord werfen konnte – oder wollte?

    Das Schiff ihres Vaters folgte ihnen erwartungsgemäß weiterhin. Noch immer war es bisher nur als kleiner Fleck am Horizont zu sehen. Offenbar hatte der Graf es nicht sonderlich eilig, sie einzuholen.

    Warum auch? Das nächste Ziel hieß Scalimar und da sie zwingend ihre Vorräte auffüllen mussten, konnte ihr Vater sie einfach dort abfangen.

    Bei dem Gedanken, ihm unter die Augen zu treten, lief es ihr kalt den Rücken runter. Aber sie glaubte, dass er sich besänftigen ließe. Der Graf war bekannt für seine Gutherzigkeit und sein Verständnis. Sie hoffte, dass dies auch in diesem Fall überwiegen würde.

    Schlimmer würde es werden, Edmund zu überzeugen, eine Magierin an Bord zu benötigen.

    Nachdenklich legte sie das Buch beiseite und griff nach den drei Magiesteinen, die vor ihr auf dem Tisch lagen.

    Und dieser Ärger nur wegen den verfluchten Dingern, die du nicht einmal benutzen kannst!

    Genervt verstaue sie die Steine wieder in ihrer Gürteltasche. Ihre Nachfrage bei Nelli, ob diese etwas über die Anwendung wusste, blieb dahingehend leider erfolglos.

    Irgendwann geht dir ein Licht auf, hatte die Alte nur zu ihr gesagt.

    Ihre Hoffnung bestand nun darin, in Scalimar jemanden zu finden, der ihr diese Verstärker in ihren Zauberstab einarbeiten konnte.

    Falls Edmund die Steine nicht zurückforderte …


    Zwei Tage später liefen sie im Hafen von Scalimar ein.

    Ein beschauliches Fleckchen, fand Esther, wenn auch deutlich kleiner als Silberbergs Anlieger. Die Stege bestanden aus Holz und lediglich Fischerboote fanden hier ihren Platz.

    Voller Neugier beobachteten die Menschen die Ankunft der Eleftheria, als hätten sie schon seit längerer Zeit kein Handelsschiff mehr gesehen.

    Fast schleichend steuerten sie eine längliche Anlegestelle an und gleich darauf machten die Männer sich daran, die Eleftheria sicher anlegen zu lassen.

    Und als nächstes würde ein Kriegsschiff auftauchen …

    Als sie das Oberdeck betrat, bedachte die Mannschaft sie mit Blicken, die sie die letzten Tage schon über sich ergehen lassen musste.

    Du hast ihnen ja auch eine verdammte Galeone auf den Hals gehetzt!

    Gedanklich wehrte sie sich gegen die Schuldgefühle, weil sie wusste, dass jeder Magier an ihrer Stelle ebenso gehandelt hätte. Aber wenn sie die Männer so ansah, tat es ihr einfach leid. Sie hatte nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen an Bord in eine gefährliche Situation gebracht – vor allem Edmund. Es lag nun an ihr, das wieder richtig zu stellen.

    Sie entdeckte Edmund auf dem obersten Deck am Steuerstand stehend. Er beobachtete das Treiben auf seinem Schiff sorgsam, schien aber gleichzeitig durch sie hindurchzublicken.

    Schlagartig wurde ihr Mund trocken und wie von selbst ging sie auf die Planke zu, anstatt den Weg zum Steuerstand anzutreten.

    Was tust du? Du wolltest dich entschuldigen!

    Offenbar hatte Edmund seinen Männern Landgang gewährt, denn nachdem die meisten mit ihrer Arbeit fertig waren, verließen sie guter Laune das Schiff und zerstreuten sich in alle Richtungen. Trevor und Nelli konnte sie nirgends sehen.

    Unschlüssig schlenderte sie über das nasse Holz und beobachtete, wie die Fischersfrauen die Netze reparierten und Fische säuberten, während die Männer die Boote reinigten. Von irgendwoher drang ihr der Duft von Rauch in die Nase.

    Sie trat an einen älteren Herrn heran, der gerade seine geräucherte Ware zum Trocknen nach draußen hing. „Verzeiht“, begann sie vorsichtig, woraufhin der Alte sich verwundert zu ihr herumdrehte und sie musterte. „Könnt Ihr mir sagen, ob ich hier jemanden finde, der sich mit Magie auskennt?“

    Der alte Mann lachte rau. „Meines Wissens lebt der einzige Magier im nächsten Umkreis in Silberberg.“

    Sie hob die Augenbraue und brachte ein Lächeln zustande. „Ich weiß, aber das war auch nicht meine Frage.“ Es schien ihr besser, wenn die Scalimarer nicht wussten, dass sie die besagte Magierin ist.

    Der Fischer runzelte die Stirn. „Nein. In Scalimar leben weder Magiekundige noch Gelehrte. Nur Fischer, Bauern und einfache Leute.“

    Wie sie schon erwartete hatte. Sie bedankte sich schnell bei ihm und machte sich auf den Weg. Auf die Aussage einer einzelnen Person würde sie sich nicht verlassen und so begann sie, zahlreiche Leute zu befragen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde und es jemanden gab, der ihr helfen konnte – auch wenn es sich möglicherweise um eine zwielichtige Person handeln könnte.

    Etliche Stunden später fand sie sich am Rande der Kaikante wieder, den Sonnenuntergang beobachtend, und keinen Schritt weiter.

    Das war wenig aufschlussreich, dachte sie. Was für eine ernüchternde Reise …

    • Offizieller Beitrag

    Trevor schlängelte sich durch die Straßen des kleinen Ortes und wusste eigentlich gar nicht so genau, wonach er suchte. Die Schiffsmannschaft hatte sich direkt in die nächste Taverne begeben, sodass dieser Ort für Trevor schon mal nicht geeignet erschien. Er hatte ihnen bei der letzten Würfelrunde schon ordentlich die Taschen geleert – jetzt wollten sie sie sicherlich eine Revenge.
    Die Straßen waren schlecht gepflastert. Schlamm und Undefinierbares klebte an den Sohlen der schwarzen Stiefel, die Edmund ihm gekauft hatte. Trevor war nicht entgangen, dass der Händlersohn wütend auf ihn war. Damit hatte der Wandler gerechnet. Immerhin hatte er der Crew Befehle ohne dessen Zustimmung gegeben. Allerdings war das Trevors Art gewesen, sich bei Esther zu bedanken, daher musste der Formwandler wohl damit vorerst leben. Er würde sicherlich bei Edmund nicht direkt angekrochen kommen. Trevor besaß auch seinen Stolz. Zudem wäre Edmund auch nichts anderes übriggeblieben, als zunächst einen sicheren Hafen aufzusuchen. Trevor hatte ihn nur nicht mit dieser Kleinigkeit belästigt.
    „Na, Schnucki, wie wäre es?“, hörte Trevor plötzlich neben sich eine tiefe Frauenstimme raunen. Als er sich ihr zuwandte, entdeckte er eine Dirne in schmutziger Kleidung, locker doppelt so alt wie er, die ihn angrinste. Sie presste demonstrativ ihren Ausschnitt zusammen, wobei ihm die vielen roten Pusteln und offenen Stellen nicht verborgen blieben.
    „Nein? Danke?“, stotterte Trevor und lief verunsichert weiter.
    „Arschloch!“, schimpfte sie ihm nach, was den Formwandler noch mehr verunsicherte.
    Warum war er ein Arschloch, wenn er ihre Dienste dankend ablehnte? Gut, vielleicht hatte sein Gesichtsausdruck seine Abneigung gegen die Dame geäußert, aber … dafür wollte er seinen Gewinn nun wirklich nicht ausgeben.
    „Vor allem für so eine Schabracke!“, flüsterte Trevors innere Stimme, die er umgehend wieder zum Schweigen bringen wollte. „Ist doch so! Leugne die Tatsachen nicht!“
    Ich glaube, Edmund färbt ab …
    Auf der Flucht vor seinen eigenen Gedanken, die er nicht mochte, bog Trevor mehrmals ab und verlor irgendwann die Hauptstraße des Ortes aus den Augen. Auch konnte er wegen der vielen hohen Häuser und engen Seitengassen nicht den Hafen ausmachen. Immer mehr Unrat und Schlamm beherrschten die Gassen, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass er weit von der Hauptstraße abgekommen war. Da half wohl nur nach dem Weg fragen – oder auf ein Haus zu klettern. Trevor entschloss sich, zuerst jemanden zu fragen, bevor er noch für einen Einbrecher gehalten wurde. Allerdings entdeckte er zunächst keine andere Person in seinem Umfeld.
    Plötzlich entdeckte er ein kleines Häuschen. Es schien eine Art Ramschladen zu sein, denn viele Dinge, die draußen standen, wirkten kaputt oder unvollständig. Als lebe der Laden von dem, was andere wegwarfen.
    Trevor schaute sich um und trat durch die Tür. „Hallo?“, rief er aus. „Ist hier …“
    „Kundschaft!“, stellte eine männliche Stimme fest. „Willkommen, willkommen …“
    Ein Mann, etwa so alt wie der Steuermann des Schiffes, lotste Trevor hinein und nahm das Vergrößerungsglas von seiner Nase. „Wie kann ich Euch helfen, werter Herr?“
    „Ich suche die …“
    „Die wahrgewordene Weisheit von Konrad Fletcher?“
    „Nein, die Hauptstraße …“
    Etwas enttäuscht blickte der Herr drein, seufzte kurz und widmete sich dann wieder einem Säbel in seiner Hand.
    „Könnt Ihr mir helfen?“, wollte Trevor wissen.
    „Nicht, ohne, dass Ihr etwas gekauft habt.“
    Nun seufzte Trevor. „In Ordnung“, ließ er sich breitschlagen. „Was ist das Günstigste in diesem … Laden?“
    „Das Auge von Zyredon“, antwortete der Verkäufer nach kurzem Überlegen.
    Was ist das für ein Laden, der Augen verkauft? Eine Metzgerei?
    „Igitt …“, wandte Trevor lauter ein, als er beabsichtigt hatte.
    „Nicht so ein Auge …“, erklärte der Verkäufer. „Es handelt sich um einen Stein, der einst von einem Zepter gestohlen wurde. Einem Zepter, das dem Besitzer dazu anhielt, immer die Wahrheit sagen zu müssen. Demnach muss jeder die Wahrheit sagen, seinen wahren Gedanken aussprechen, der den Stein in Händen hält.“
    Trevor blinzelte ungläubig. „Und sowas besitzt Ihr? Hier?“
    Der Verkäufer zuckte mit seinen Schultern. „Durch die gefährliche See vor Sarima wird hier viel angespült …“
    Bei allen Weltmeeren, auf sowas falle ich doch nicht rein …
    „Ihr könnt diesen Laden aber auch als Souvenirladen betrachten, falls Ihr Mitbringsel für Eure Lieben braucht. Denn das ist er eigentlich auch.“ Der Verkäufer zwinkerte.
    „Ich habe keine Lieben“, antwortete Trevor recht monoton.
    „Freunde?“
    Der Wandler erhob seine ausgestreckte Hand und ließ sie von einer Seite zur nächsten wanken.
    „Das ist … fast traurig, und zudem schlecht für das Geschäft.“
    „Was Ihr nicht sagt“, stieß Trevor seufzend aus. „Aber gut, dann nehme ich den Stein. Den kann ich Gräfin Esther schenken … Sie mag … Steine … irgendwie.“
    „Oh, einer Gräfin …“, gab der Verkäufer grinsend von sich. „Sicherlich eine hübsche, junge Frau.“
    „So sagt man …“, erwiderte Trevor abwesend und ging der Unterhaltung damit aus dem Weg, dass er sich etwas umsah.
    Der Verkäufer holte etwas unter seinem Verkaufstisch hervor und wickelte einen schwarz-weiß marmorierten Stein in Faustgröße darin ein. „Bitte, und achtsam damit umgehen … Das macht dann einen Silberschilling.“
    Recht günstig für den Stein von Zytterfon …
    „Das Auge von Zyredon“, wiederholte der Verkäufer korrekt, was Trevor aufhorchen ließ.
    Hat der Kerl etwa … Niemals!
    Der Formwandler nahm das Bündel an sich, wobei seine Hand nur kurz die Hand des Verkäufers streifte. „Ihr seid ein … Bellator“, flüsterte dieser und sah zu Trevor auf.
    „Man hat mich schon Vieles genannt, aber das nicht …“, antwortete Trevor verunsichert.
    „Ein Krieger!“, erklärte der Verkäufer, was Trevor dementierte. Er wusste, dass der Verkäufer irgendwie … sehr entfernt recht hatte, aber das war nicht das, wofür sich Trevor hielt … oder halten wollte.
    „Ihr solltet den nehmen!“, sprach der Verkäufer und legte den Säbel, den er vorher begutachtet hatte, vor sich auf den Thresen. „Er gehörte Frank dem Schrecklichen.“
    „Frank dem Schrecklichen? Wegen seinem Vornamen, oder wie?“
    „Nein“, widersprach der Verkäufer und lehnte sich näher an Trevor heran. „Er kann verstärken, was in Euch steckt. Das Potenzial Eurer Leistungen, wenn Ihr es zulasst.“
    „Nein, danke! Ich gehe nicht mit noch mehr Ra… Souvenirs hier heraus. Ich will doch nur wissen, wo die Hauptstraße ist.“
    „Vielleicht seid Ihr aus einem guten Grund auf meinen Laden gestoßen, nicht jedem gelingt das.“
    Ja, weil man vorher im Schlamm versinkt …
    „Ich gebe Ihn Euch zum halben Preis. Für fünfzig Kupferschilling gehört er Euch, sogar samt Scheide.“
    Ist doch ohnehin alles nur Blödsinn.
    „Aber dann will ich wissen, wo die Hauptstraße ist!“
    „Natürlich …“
    Trevor steckte den Stein in seine Hosentasche und holte den passenden Betrag aus der anderen. Bereitwillig übergab der Verkäufer ihm dafür den Säbel mit Messinggriff in einer mit Steinen besetzten Scheide. Trevor band sich den Säbel um und spürte wie erwartet nichts von einer Potenzialsteigerung. Ganz im Gegenteil, er fühlte sich um sein Geld erleichtert, aber mehr auch nicht. Jetzt wusste er allmählich, wie sich Edmund auf dem Markt gefühlt haben musste.
    „Aber …“, lenkte der Verkäufer ein und grinste erneut schelmisch. „Jetzt habt Ihr Geschenke für Euch und die Gräfin. Gibt es nicht noch andere, die etwas verdient hätten?“
    So eine verlauste Kakerlake …
    Aber leider musste Trevor dem Verkäufer recht geben … erneut. Das gefiel ihm gar nicht. Aber noch weniger würde es ihm gefallen, wenn er Esther ein offensichtliches Geschenk machte und irgendwelche Personen – Edmund – das in den falschen Hals bekamen. Vor allem, da Trevor bei ihm gerade ohnehin nicht hoch im Kurs stand. Hinzukam, dass vielleicht auch Esther diese Geste falsch verstehen konnte. Als eine Art Zugeständnis, Umwerben oder Ähnliches, das Trevor die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Damit würde vermutlich er lächerlich dastehen.
    „I… Ich … Ich … bräuchte dann noch etwas für einen … Seefahrer? Und für eine alte Dame.“ Trevor hasste es, dass dieser Mann ihm das nun eingeredet hatte.
    „Seefahrer?“, wiederholte der Verkäufer und seine Augen begannen zu leuchten. „Da habe ich einen glücksbringenden Kompass.“
    Was auch sonst …
    Der Verkäufer ging zu einer Vitrine und holte den Kompass heraus und überlegte. „Für die alte Dame sollte der Gehstock aus Immerim passend sein. Man sagt ihm nach, zu verjüngen, was alt ist. Was wohl bedeutet, dass derjenige, der ihn in Händen hält, nicht mehr so von seinen alten Knochen geplagt wird.“
    „Sehr gut. Das war es dann. Glücksbringender Kompass und verjüngender Gehstock, wunderbar … Genau, was ich brauche … “
    Nicht!
    Trevor wollte die Unterhaltung nur noch beenden. Es war natürlich klar, dass für all das nur noch so viel Geld übrigblieb, dass Trevor sich irgendwo noch ein Bier genehmigen konnte.
    „Der Gehstock hängt draußen. Folgt mir!“
    Trevor folgte voll beladen dem Verkäufer. „Und wo ist jetzt die Hauptstraße?“, wiederholte er seine Frage.
    „Ah … da ist er“, ignorierte der Verkäufer seine Frage und nahm einen Stock unter dem Vordach herunter, der einen bernsteinfarbenen Griff besaß. „Bitte.“
    Der Verkäufer überreichte Trevor den Stock, den dieser sich unter den Arm klemmte und begann, innerlich zu weinen.
    „Ich will doch nur wissen, wo …“
    Nachdem Trevor sich dem Laden wieder zugewandt hatte, war der Laden verschwunden. Also nicht wirklich. Das Haus stand noch, fiel aber geradezu in sich zusammen und war leer. „Was bei allen …“
    Trevor stellten sich die Nackenhaare auf. Hatte Omas Gebräu noch Nachwirkungen? Was passierte hier? Ein Pferdewiehern holte Trevor aus dem Schreckmoment und er erkannte, dass er nur ein paar Schritte von der Hauptstraße entfernt in einer Seitengasse stand.
    Bei einem Blick an sich herunter, erkannte Trevor jedoch, dass er all das Gekaufte noch besaß. Eilig verließ er den Ort und schwor sich, niemanden davon zu erzählen. Das war alles verrückt. Wirklich verrückt. Vielleicht hatte er den Atem der Dirne zu tief eingeatmet und dadurch Halluzinationen bekommen. Oder ein Blumentopf war ihm unbemerkt auf den Schädel gefallen. Vielleicht hatte er dadurch Müll gesammelt … Vielleicht war das aber auch ein magischer Laden gewesen. Oder Trevor wurde wahnsinnig. Es gab zu viele Möglichkeiten.
    Trevor wusste, was zu tun war. Gegen seine vorherige Überzeugung betrat er die Taverne. Es war Zeit für Bier! Viel Bier! Auch, wenn er sich das nicht mehr leisten konnte. Der Rest hatte ihn nochmal zwei Silberschilling gekostet, weswegen er wieder genauso blank war wie immer. Das hielt ihn aber nicht davon ab.
    In der Taverne saß die Mannschaft des Schiffes in einer Ecke, die Trevor allerdings mied. Gerade wollte er sich an den Thresen begeben, da entdeckte er Edmund alleine an einem Tisch sitzen. Nachdenklich drehte der Händlersohn seinen Wein. Edmund war gut. Er war real. Er war sauer auf Trevor, aber er war real. Trevor bestellte sich ein starkes Bier und setzte sich dann ungefragt an Edmunds Tisch.
    „Dumme Situation, was?“, sagte Trevor etwas zu euphorisch und lachte nicht weniger künstlich. Ihm saß der Schreck wegen des Ladens immer noch in den Knochen.
    „Was willst du? Hast du das Schiff ohne meine Erlaubnis wieder auslaufen lassen?“, wollte Edmund wissen.
    Trevor biss sich auf die Unterlippe. Nach seiner vorherigen Erfahrung wollte er keinen Streit. Ganz im Gegenteil. „Es tut mir leid“, antwortete Trevor daher beschwichtigend. „Aber Ihr kennt meinen Kodex doch, oder nicht?! Die Gräfin hat mir geholfen, und ich tat etwas für sie. Auch, wenn ich damit Eure … Befehlskette übergangen habe. Zudem wollte ich Euch Zeit verschaffen.“
    Edmund winkte ab und trank etwas von seinem Wein. Anscheinend waren Trevors Worte nicht ausreichend gewesen, dessen Laune zu heben.
    „Hier …“, sprach Trevor weiter und schob den Kompass über den Tisch. „I… Ich bin auf einen Souvenirladen gestoßen und habe etwas für Euch gekauft. Angeblich … und nur angeblich, soll dieser Kompass Glück bringen. Für Eure weiteren Reisen vielleicht hilfreich.“
    Skeptisch musterte Edmund erst den Kompass, dann Trevor, bevor der Händlersohn lauthals zu lachen anfing. „Welch ein Blödsinn …“, stieß er aus.
    „Ja, das habe ich auch gedacht“, stimmte Trevor ihm mit verschwitzter Stirn zu. „Aber ein Kompass ist auch an sich hilfreich. Oder nicht?“ Trevors Lachen klang dabei vermutlich äußerst verunsichert. Immerhin wusste er gerade nicht, ob er seinen Verstand verlor.
    Edmund nahm den Kompass an sich und betrachtete ihn etwas genauer, bevor er ihn dennoch einsteckte.
    Trevor konnte nicht sagen, was er dachte. Vermutlich hielt Edmund ihn für einen Idioten. Aber das war in Ordnung. Dafür hielt sich Trevor selbst.
    „Ich hoffe, du hast nicht dein ganzes Geld dafür ausgegeben.“
    Trevor lachte. „Nein. Nicht nur für den Kompass.“ Trevor gestand, für was der Rest draufgegangen war und exte sein Bier. „Jetzt bin ich pleite, aber damit kann ich leben.“
    „Die Alte freut sich wahrscheinlich über alles, solange es von dir kommt“, gab Edmund von sich und trank gesitteter von seinem Wein.
    „Würde sie auch nicht, wenn sie alles wissen würde …“, antwortete Trevor nachdenklich und drehte seinen leeren Becher um sich selbst.
    Edmund lehnte sich zurück, beobachtete Trevor eine Weile, was diesem nicht entging und bestellte für beide nach, was Trevor mit einem Lächeln quittierte.
    „Ich fürchte, die Hexe weiß mehr, als sie zugibt.“
    „Möglich“ wandte Trevor ein. „Aber nicht nur sie tut das. Mir ist klar, dass Ihr mehr seid als ein reicher Sohn. Das hat man bei der Schlägerei gesehen.“ Trevor lächelte. „Ihr habt nicht nur mit Eurem Handschuh geworfen. Das respektiere ich. Genauso wie Eure Befehle. Das habe ich Euch zugesagt.“
    „Das lag am Schnaps der Alten“, erklärte Edmund.
    Eine junge Frau kam an den Tisch und brachte beiden die Getränke. Sie lächelte Trevor an, warf aber Edmund einen abfälligen Blick zu, der Bände sprach.
    Er hat doch nicht … Doch, hat er! Dieser … Naja, warum nicht?!
    Trevor ahnte aber irgendwie, dass Edmund sein ungesittetes Verhalten an Bord irgendwie erklären wollte. Dass er gekämpft und nicht nur danebengestanden hatte.
    „Bei mir nicht …“, gab Trevor zu.
    „Du hast einen ordentlichen Schlag." Edmund zuckte mit den Schultern. "Durchaus praktisch.“
    „Schlag … ja“, stimmte Trevor erneut zu. „Ich helfe gerne.“
    Trevor versuchte, das Thema umzulenken. Er mochte nicht nur deswegen geschätzt werden. Ihm entging zudem nicht, wie die Schankmagd Edmund seinen Wein hinstellte … hinwarf geradezu. „Ihr seid dafür in anderen Themen … besser, wenn auch deswegen nicht … beliebter. Genauso wie ich.“
    „Es ist der Moment danach, der nicht für Beliebtheit sorgt.“ Edmund sah der Magd nach, "aber, da ich nicht vorhabe, nochmal einen Fuß in den Schlamm dieses Ortes zu setzen ...“
    Trevor lachte. „Ich auch nicht! Und ich werde es mir sicherlich nicht als nächstes mit dieser Magd verscherzen. Das ist nicht mein Stil. Zudem erscheint sie mir als Ehefrau ungeeignet, wenn sie mit … jedem ins Bett geht.“ Sein anhaltendes Lachen sollte Edmund zeigen, dass er dabei den Fehler nicht bei ihm suchte.
    „Ich fürchte, eine Ehefrau solltest du dir auch nicht in einer so billigen Taverne am dreckigsten Fleck der Welt suchen.“
    „Nein, sollte ich nicht. Das ist mir auch klar. Aber als Pirat sieht man wenig andere Orte.“
    „Pirat also“, bemerkte Edmund den Hinweis und betrachtete Trevor argwöhnisch. Wirkte aber dennoch wenig überrascht.
    Trevor nickte und trank an seinem Bier. „Laut meinem ehemaligen Kapitän etwas, das mir nicht lag, wenn wir schon ehrlich sind. Er meinte immer, ich sei zu weich. Zu gewissenhaft. Damit hatte er wohl recht …“ Anders konnte sich Trevor seine derzeitige Situation nicht erklären. Er nahm nicht nur, sondern versuchte, auch etwas zurückzugeben. Auch wegen dem Kodex, aber auch, weil er es nicht anders wollte. Dieser Alkohol … er lockerte seine Zunge, aber vielleicht war es besser, wenn zumindest Edmund einiges wusste. Vielleicht verstand er so, dass er Trevor vertrauen konnte – so wie er es bei ihm tat. Auch, wenn Trevor den Grund dafür nicht kannte. Es war einfach so.
    „Das mit dem Weich stimmt wohl. Vater hätte dich dafür verurteilt …“, antwortete Edmund und bestellte eine ganze Flasche Wein.
    Trevor lächelte. „Was habt Ihr vor?“
    „Ich bin nicht mein Vater“, gab Edmund zu. „Das hast du mir die letzten zwei Wochen gezeigt.“
    Trevor hielt Edmund den Becher hin. „Das sind wir beide nicht.“
    Edmund zögerte, aber stieß schlussendlich an. Das betrachtete Trevor etwas als Vergebung.
    „Du bist jedenfalls ein guter Kerl“, murmelte Edmund in sein Glas.
    „Und genau das solltet Ihr niemals denken“, antwortete Trevor und betrachtete ihn eindringlich, grinste aber zum Schluss, um sein Zugeständnis zu überspielen. „Zumindest nicht immer.“
    Edmund und Trevor tranken noch mehr als eine Flasche in der Taverne. Dabei bemitleideten sie sich selbst oder gegenseitig, bis die beide volltrunken Arm in Arm die Taverne verließen. Trevor fiel dabei ein, dass er noch zwei Geschenke vergeben musste. Edmund bestand darauf, ihm dabei zu helfen. Vor allem, da Trevor sich offensichtlich gegenüber der Frauenwelt sehr schwertat.

  • Wenn es etwas gab, was Nelli hasste, dann war es Langeweile. Bisher hatte diese Reise damit nicht geglänzt, doch nun, wo sie auf dem Deck stand und das Treiben im Hafen beobachtete, machte sich dieses komische, träge Gefühl in ihrer Brust breit. Die Sonne verschwand langsam hinter den Hügeln. Ihr Blick glitt über das Deck, dass nahezu menschenleer war. Die meisten Matrosen waren in der Taverne und selbst Trevor und Edmund waren verschwunden. Esther hatte sie ebenfalls schon seit Stunden nicht gesehen, möglicherweise war sie ebenfalls an Land. Kurz überlegte die alte Frau, ob sie nicht ebenfalls ihre Füße auf festen Grund setzen sollte, als ihr zwei laute, schwankende Gestalten am Hafenkai auffielen. Sie kniff ihre Augen zusammen und versuchte zu erkennen, wer das war. War das etwa...der reiche Händlersohn? Ein Grinsen trat auf ihre runzeligen Lippen. Betrunken war der Knabe tatsächlich gar nicht ganz so übel, wie sie hatte fest stellen dürfen. Und der andere an seiner Seite konnte dann nur der junge Wandler sein. Anscheinend hatten die beiden beschlossen, das Kriegsbeil zu begraben, was hauptsächlich aus Edmunds gekränktem Stolz und seiner Unfähigkeit eine Mannschaft zu führen beruhte. Vermutlich hätte er es auch gerne, wenn die Mannschaft ihn fragen würde, ob sie auf Toilette gehen durften.

    Die beiden Betrunkenen wankten auf die Eleftheria und drehten sich suchend im Kreis um sich selbst, wobei Trevor sich in einem Seile auf dem Boden verhedderte und beide zu Boden riss. Lachend und lallend blieben sie dort liegen.

    Der Himmel...so voller Schterne...Wir sin' alle Schterne...“, brachte Edmund schwerfällig hervor und streckte seine Hände nach dem dunklen Himmelszelt aus. Leise lachend kam Nelli auf die beiden zu.

    Ihr habt einen schönen Abend?“, fragte sie scheinheilig nach und schaute nach unten.

    Da is' ja die...hicks...Hexe...“ Edmunds Aussage ließ Nellis Augenbrauen nach oben schnellen. Gut, vielleicht war der reiche Schnösel doch auch im betrunkenen Zustand einfach ein arroganter Fatzke, wie immer.

    Isch hab ein G'schenk füüür disch...“ Trevor rappelte sich auf und hielt ihr einen eleganten Stock mit einem schön gearbeiteten Griff entgegen. Sein Blick lag erwartungsvoll auf ihr, als sie ihn schließlich entgegennahm und ihre knorrigen Finger um seinen Griff schloss. Nach einer Weile schlich sich ein enttäuschter Ausdruck auf sein Gesicht.

    Siehse...hab g'sagt, da passiet nischts...“, ließ Edmund verlauten und grinste seinen Trinkkumpan triumphierend an.

    Was genau sollte der Stock denn bewirken?“, fragte Nelli neugierig und legte interessiert den Kopf schief.

    Der Verkäufer hat G'sagt, der mach' disch jünger...“, erklärte der Wandler und zog einen beeindruckenden Schmollmund, den Nelli das letzte Mal so bei einer Hafenhure gesehen hatte, die einen Freier hatte für sich gewinnen wollen. Ihr Blick glitt zu Mond. Es war sowieso mal wieder Zeit für einen Lebenstrank, warum sich also nicht einen Spaß erlauben?

    Die Alte tätschelte Trevor auf die Schulter.

    Vielleicht braucht der Stock einfach eine Weile, Bursche.“ Sie lächelte ihn aufmunternd an und freute sich schon jetzt auf die Gesichter der beiden am nächsten Morgen.

    Nur aus Interesse: Was für Geschenke hast du denn noch gekauft?“ Sie guckte ihn unschuldig an und er begann ihr freimütig die Geschichte von dem Laden zu erzählen, der danach wieder im Nichts verschwunden war. Für Nelli hörte sich das alles nach Kobold-Unfug an, aber manchmal hatten diese kleinen Quälgeister auch wirklich das Glück, an irgendwelche magischen Gegenstände zu finden, auch wenn das eher Zufall war. Wer weiß, was dieser Wahrheitsstein und der Kompass dann tatsächlich bewirkten. Falls der Stein sich als echt herausstellte, sollte sie sich davon fern halten. Das konnte sonst unangenehme Konsequenzen haben, sollte sie mit dieser Art von Magie in Kontakt geraten.

    Sie beschloss den beiden zu folgen, als sie die Treppe zu den Unterkünften nach unten stolperten um auch der Magierin ihr Geschenk zu überreichen. Peternella grinste. Das konnte auf jeden Fall sehr unterhaltsam werden.

    In etwas Abstand blieb sie stehen und beobachtete, wie die beiden an der Tür klopften und eine sichtlich irritierte Esther öffnete.

    Schöne Gra...Graw...Gräfin...wir ham da ein G'schenk für disch...“

  • Esther sah zuerst den Stein in Trevors Hand und dann im Wechsel Edmund, Nelli und den Formwandler an.

    Was passierte hier gerade?

    „Dassis das Auge … von … Zydder … fon“, stammelte Trevor und streckte ihr seine Hand entgegen, mit dem er den Stein festhielt. Wegen des Schwungs drohte der Gegenstand ihm zu entgleiten, doch irgendwie schaffte der Formwandler es, ihn in der Hand zu behalten.

    Edmund gackerte und stolperte einen Schritt zur Seite. Dabei stieß er gegen Trevor, der daraufhin ebenfalls ins Wanken kam. Nur mit Mühe hielten sich die Männer auf den Beinen und der Geruch von Bier schlug ihr entgegen.

    „Ähm … Danke“, brachte sie hervor und nahm Trevor das Geschenk ab. Tatsächlich rührte sie diese Geste, auch wenn sie nicht wusste, was Trevor damit sagen wollte. Was sollte das sein? Das Auge von Zydderfon? „Seid ihr betrunken?“, fragte sie trocken.

    Trevor schlug die Hand vor den Mund und kicherte, während er sich bei Edmund abstützte.

    Esther blinzelte, als dieser Moment dafür sorgte, dass sie sich an etwas anderes erinnerte. Sie streifte den Händlersohn mit ihrem Blick und ihr fiel ein, dass sie sich vor einigen Tagen genauso von Edmund hatte stützen lassen. Und er hatte sie in ihr Zimmer gebracht und dafür gesorgt, dass sie auch in ihrem Bett ankam. Zugedeckt hatte er sie auch.

    Sie unterdrückte den Drang, sich die Hand gegen ihre eigene Stirn zu schlagen und verfluchte wieder einmal Nellis Gesöff.

    „Entschuldigt“, erklang eine Stimme und Esther erspähte den Steuermann, der nervös in der Tür stand. „Hier ist ein Herr, der Euch sprechen möchte, Gräfin. Er sagt, er sei Graf Leonhard Melchior von Silberberg.“

    Esther spürte, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich.

    Edmund holte tief Luft. „Isch regl … dasch schon!“, eröffnete er und befreite sich von Trevor.

    Schnell versperrte Esther ihn den Weg, woraufhin er sie angrinste und nach einer ihrer Haarsträhnen griff. Bestimmt schob Esther ihn hinüber zu Nelli „Könntet Ihr den beiden etwas geben, damit sie … etwas mehr bei der Sache sind?“

    Nelli wiegte den Kopf. „Kann ich schon“, meinte sie und in ihren Augen blitzte es schelmisch auf. „Der Kater wird ihnen aber bleiben.“

    Esther war es gleich, ob die Männer am Morgen mit Kopfschmerzen erwachten. Wenn Edmund ihrem Vater so unter die Augen trat, könnte der Händlersohn sich auch gleich selbst ersäufen.

    Sie strich sich die Haarsträhne zurück hinters Ohr, warf den Stein auf ihre Pritsche und trat hinaus auf das Oberdeck. Der Steuermann trollte sich schnell, als er ihren entschlossenen Blick sah.

    Draußen erwartete sie ihr Vater, flankiert von vier Männern, und zu ihrer Verwunderung bedachte er sie mit einem besorgten Gesichtsausdruck. Er kam ihr auf halbem Weg entgegen und obwohl die Sonne mittlerweile fast untergegangen war und die vereinzelten Öllampen kaum Licht spendeten, sah ihr Vater sofort die Verletzung an ihrer Wange.

    „Hat dieser Mistkerl dir das angetan?“, fragte er leise und berührte sie sanft an der Stelle.

    Sie schloss kurz die Augen und schüttelte dann den Kopf. „Ich … ich …“, begann sie stotternd. „Edmund hat mich nicht geraubt, Vater“, gestand sie dann. Am besten ging sie wie bei Edmund vor – die Wahrheit herausziehen wie einen Splitter. Dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus und sie erzählte, warum sie mitgegangen war und wie ihre Reise bisher verlaufen war. Den Teil mit Nellis Medizin sparte sie lieber aus. Auch das Besäufnis der Männer am heutigen Tag behielt sie für sich.

    Während sie sprach, bildete sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen des Grafen. Eine Weile schwiegen sie, bis ihr Vater ihre Hände nahm und seufzte. „Esther“, meinte er, was hast du dir dabei gedacht?“

    Nichts vermutlich, dachte sie.

    „Hast du eigentlich eine Ahnung, was geschehen wäre, wenn du nicht rausgekommen wärst?“, fragte der Graf und musterte sie kritisch. „Du weißt, dass ich deine Magie immer unterstütze, aber es gibt einen Grund, warum ich nicht wollte, dass du mitreist. Der Seeweg nach Sarima ist … gefährlich und nicht einmal Magier können die Seeleute beschützen.“

    Esther starrte ihren Vater an. „Du … du bist schon einmal dorthin gereist?“

    Er nickte. „Ich habe dabei drei meiner Schiffe samt Mannschaft verloren.“

    Sie schwieg betroffen. Seine Sorge rührte sie, aber dennoch wollte sie, dass er aufhörte, sie ständig beschützen zu müssen. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, ergriff er wieder das Wort.

    „Wo ist der Hänfling?“, wollte ihr Vater wissen. „Ich will mit ihm reden.“

    Esther fluchte im Stillen und sah hinter sich. Sie hoffte, dass Nelli zumindest Edmund hingekriegt hatte.

    Erleichtert atmete sie auf, als der Händlersohn in diesem Moment das Oberdeck betrat. Sein Gang zeigte nichts mehr von der vorigen Trunkenheit, der Blick verriet allerdings offenkundige Verwirrtheit.

    „Edmund Wendel Vinzenz von Stein!“ Die dunkle Stimme des Grafen hallte über das Deck, woraufhin Edmund leicht zusammen zuckte.

    „Graf … Leonhard Melchior von Silberberg“, brachte der Händlersohn hervor und überwand die letzten Schritte, bis er neben Esther stand. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Trevor in der Tür auftauchte und zu ihnen rüber linste.

    „Für die Mitreise meiner Tochter waren fünf Kisten mit Waffen vereinbart“, meinte der Graf und blickte Edmund finster an. „In meinem Anwesen befand sie lediglich eine Kiste.“

    Esther hob die Augenbrauen. Was hatte er vor?

    Auch Edmund schien überrumpelt zu sein. Konnte es sein, dass ihm doch noch etwas von dem Alkohol in den Knochen steckte?

    „Offensichtlich … sind die … falschen Kisten abgeladen worden“, sagte Edmund dann. „Ich werde veranlassen, dass Euch die Ware übergeben wird.“

    „Meine Männer werden Euren zur Hand gehen, falls es Euch genehm ist.“

    Edmund nickte. „Natürlich.“

    Esther sah sofort, dass ihr Vater die Lüge erkannte. Aber aus irgendeinem Grund schien er es dabei belassen zu wollen. Er streckte Edmund die Hand entgegen, woraufhin dieser einschlug.

    „Wegen der Größe meines Schiffes, kann es hier nicht anlegen“, erklärte Leonhard. „Wir werden die Umlagerung der Kisten also morgen über ein Beiboot erledigen.“

    Die Männer verabschiedeten sich voneinander.

    Leonhard legte ihr einen Arm um ihren Oberkörper und schob sie sanft in Richtung Bug von den anderen weg. „Und jetzt zu dir“, sprach er leise. „Komm lebendig zurück.“

    Sie kämpfte mit den Tränen. „Warum hast du deine Meinung geändert?“

    „Ich hoffe, dass die Reise dich etwas … reifer werden lässt.“

    Eine Weile sahen sie einander stumm an, bevor sie sich in eine kurze Umarmung schlossen. Dann verließ der Graf mit seinen Männern die Eleftheria. Vermutlich kehrten sie über Nacht in eines der Gasthäuser ein, um nicht zurück zu ihrem Schiff rudern zu müssen.

    Als Esther ihren Vater nicht mehr sehen konnte, wandte sie sich zu den Männern um. Mittlerweile hatte Nelli sich dazu gesellt und untersuchte etwas an Trevors Hals.

    „Was ist los?“, fragte Esther die Heilerin, doch etwas in Edmunds Gesicht ließ sie im Schritt stocken.

    Bevor sie sich besinnen konnte, ergriff sie das Kinn des Händlersohns und drehte sein Gesicht dem Licht der Öllampe entgegen. „Was zum …“, keuchte sie und strich mit dem Daumen über die fingernagelgroße Beule, die sich auf Edmunds Wange gebildet hatte. Auch auf der Stirn, die Schläfe hinab bis zum Hals zeigten sich zahlreiche dieser Gebilde. Mal etwas größer, mal kleiner.

    „Hm“, ließ Nelli von sich hören. „Schätze, der Trank hat sich mit dem Alkohol nicht vertragen.“

    Esther schluckte trocken. Offenbar war da etwas gewaltig schief gegangen.

    • Offizieller Beitrag

    Edmund wischte harsch Esthers Hand beiseite.
    Das er ähnlich aussehen musste wie Trevor, verrieten ein leichter Juckreiz und Esthers besorgtes Gesicht. Allerdings konnte er nicht derart gelassen reagieren wie Trevor. Warum juckte ihn das nicht?
    „Du!“, Edmund gestikulierte will in die Richtung der alten Frau, „was hast du getan?“
    Bis zu diesem Zeitpunkt wäre er beinahe bereit gewesen, diesen Abend als … annehmbar zu bezeichnen. Auch, wenn ihm die ganze Situation peinlich war – was er sich niemals würde anmerken lassen (deshalb gab man dem Körper Zeit sich auszunüchtern, damit er Zeit hatte, die Scham von Gesagtem und Getanem zu verarbeiten und Gifte zu verarbeiten). Doch der Abend hatte doch irgendwie Spaß gemacht. Bis zu diesem Punkt. DAS in diesem Augenblick, an Deck des Schiffes, mit Pusteln im Gesicht, das machte keinen Spaß mehr!
    Wie hatte es eigentlich dazu kommen können, dass er sich mit seinem Diener in irgendeiner billigen Taverne betrank? Allein deshalb hatte er den Trank der Alten überhaupt getrunken. Offenbar war er nicht mehr bei Verstand. Er fühlte sich aber auch in diesem Moment noch träge.
    Selbst Schuld …
    Leider holte ihn diesmal kein wohliger Gedächtnisverlust ein.

    Von wegen glückbringender Kompass.
    „Wie ich sagte“, meinte die Hexe mit einer Gelassenheit, die Edmund nur noch weiter auf die Palme brachte, „ich fürchte, mein Trank hat sich nicht mit dem Alkohol vertragen.“ Sie wiederholte ihre Worte langsam, als wäre er geistig nicht auf der Höhe. Was in Anbetracht der Menge an Alkohol und ihrem Gift vielleicht nicht so abwegig war, aber er dennoch als Frechheit und persönliche Beleidigung betrachtete!
    „Ach was! Das hast du mit Absicht gemacht, du alte Hexe!“, blaffte er zurück. Er trat noch einen Schritt an Nelli heran.
    „Nana.“ Nelli winkte grinsend ab. „In Anbetracht der Situation, hätte es schlimmer kommen können. Es musste schnell gehen.“ Sie zuckte die Schultern. So gleichgültig, als ginge sie all das nichts an. Dabei war in ihren Augen und ihrem Grinsen zu entnehmen, dass sie sehr wohl ihren Gefallen daran fand.
    Kurz mit der Überlegung beschäftigt, sie doch frühzeitig von ihrem leidigen Dasein zu erlösen, massierte er sich die Schläfen.
    „Ihr macht mich alle fertig!“, stöhnte er. Immerhin waren sie ab morgen – hoffentlich – den Grafen von Silberberg los. Es sei denn, die verehrte Adlige packte noch irgendwelche unangenehmen Überraschungen aus.
    Trevor war dagegen immerhin nützlich, Esther brauchte er auch als Magierin. Aber warum genau schleppte er eigentlich die Alte mit, und fütterte sie durch und ließ sich von ihr verarschen? Sie war ja nicht mal besonders ansehnlich!
    Und dennoch … irgendwie waren ihm das blöde Grinsen und die Kommentare der Alten ans … ihre Heilfähigkeiten waren nützlich! Irgendwie! Solang sie sich nicht gegen ihn richteten. Punkt. Mehr nicht!
    Er war tief gesunken.
    Es musste am Alkohol liegen, der noch immer in seinem Blut steckte, dass er sich dieser Drei nicht endlich entledigte. So musste es sein. Er war noch immer benommen!
    „Hexe, mach gefälligst, dass es verschwindet! Das wirst du ja wohl ohne Nebenwirkungen schaffen, oder?“ Er deutete auf sein Gesicht und auf das von Trevor. Wie konnte der nur so gelassen reagieren?
    „Natürlich.“ Das fröhliche Grinsen in ihrem Gesicht breitete ihm eine Gänsehaut. „Wenn Ihr mich ganz lieb und nett darum bittet?“
    Damit nahm sie ihm etwas den Wind aus den Segeln. Was meinte sie mit „nett bitten"? Der Befehl war unmissverständlich gewesen und davon abgesehen: „Es ist doch nicht meine Schuld, dass du dein Handwerk nicht beherrschst!“
    Die Augen der Alten verengten sich.
    „Und es ist nicht meine Schuld, dass Ihr alles durcheinander getrunken habt und Euer Körper anscheinend nicht mit dem Trank umgehen kann." Sie zuckte mit den Schultern. „Aber Ihr könnt gerne so bleiben. Die Wirkung müsste in ungefähr drei Tagen abgeklungen sein. Mehr oder weniger." Damit drehte sich die Alte um und watschelte Richtung Unterdeck.
    Drei Tage?!

    Das war doch wohl das Letzte! Wie konnte die Alte einfach gehen?! Sollte er etwa auf Knien hinter ihr herkriechen? So was würde er sich nicht bieten lassen! Niemals. Unter keinen Umständen!
    Er stapfte ebenfalls davon. Sollte die Alte doch an ihrem Gift ersticken.

    Eine gute Stunde später – nach einem wagemutigen Blick in den Spiegel – sah diese Entscheidung jedoch etwas anders aus. Erhobenen Hauptes kroch er zur Zimmertür der Hexe und klopfte. Sich selbst und diese alte Schachtel und ihr komisches Gebräu innerlich verfluchend.
    Es dauerte, bis sich die Tür öffnete. Sofort als er das runzlige Gesicht im Halbdunkel erblickte, bereute er seine Entscheidung. Für eine Flucht war es jedoch zu spät. Er zögerte, verkniff es sich aber von einem Fuß auf den andern zutreten. Es hätte seinem pickeligen Aussehen noch den Rest gegeben.

    Als er nichts sagte, hob Nelli nur fragend die Augenbrauen an.
    „Angebot“, grummelte er widerwillig, bemühte sich aber um eine einigermaßen freundliche Mimik. „Ich bitte dich hiermit, diese Pusteln zu beseitigen.“ Ein scheußliches Gefühl diese Hexe um etwas zu bitten. Er stand schließlich weit über dieser ... Hexe. „Und im Ausgleich dafür, dass du deine Experimente nicht mehr an mir auslässt - und mir tatsächlich hilfst und es nicht schlimmer machst, um etwas zum Lachen zu haben - biete ich an, zukünftig das Kochen zu übernehmen. Zumindest für uns Vier.“ Schlimm genug, dass er hier stand wie ein Volltrottel und sich zu diesem Blödsinn hatte überreden lassen - von sich selbst. Er war nicht derjenige, der hier irgendwem irgendwas schuldig war. Aber zum einen war es das einzige, was ihm in der Schnelle einfiel und zum anderen war er damit nicht mehr der Laune und der Willkür der Alten ausgesetzt, wenn sie und Trevor sich wieder um das Frühstück kümmern würden.

    Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Könnt Ihr denn kochen?"
    Was sollte das denn bedeuten? Wollte sie ihn erneut beleidigen?
    „Natürlich!“, stieß er genervt aus. „Was ist jetzt? Das Angebot mache ich nicht zweimal...“ Es war nicht seine Aufgabe, ihr irgendwelche Angebote zu machen. Seiner Gutwilligkeit war es zu verdanken, dass er es tat. Sollte sie es annehmen, oder verrecken.
    Nelli blieb sichtlich skeptisch.
    „Na gut.“
    Edmund musterte sie und reichte ihr schließlich die Hand. Die Alte schlug ein und öffnete ihm die Tür zum Eintreten.
    „Und wehe jemand erfährt hiervon“, setzte er nach. Auch, wenn ihm klar war, dass Fragen unvermeidlich sein würden.
    Dankbar, dass sie es unkommentiert ließ, folgte er ihr. Mit dem dummen Grinsen konnte er leben. Sollte sie doch dumm grinsen, bis sie platzte.

  • Nelli trat zur Seite und ließ Edmund ein. Mit einem leichten Nicken bedeutete sie ihm, auf dem Bett Platz zu nehmen. Als er das misstrauisch musterte, verdrehte sie die Augen.

    Keine Sorgen, dort warten keine Flöhe oder Läuse auf Euch“, brummte sie und ging zu dem kleinen Tisch, auf dem sie ein paar Kräuter aufgereiht hatte, während andere an einer Schnur hingen, die sie quer durch die kleine Kajüte gespannt hatte. Ein würziger, aber nicht unangenehmer Geruch hing in der Luft.

    Die Alte stellte den Stock beiseite und sammelte Kräuter zusammen, die sie in einen Mörser beförderte. Mit einem kurzen Blick zu Edmund fügte sie noch etwas Lavendel hinzu, damit der herbe Geruch nicht seine empfindliche Nase beleidigte. Mit einem kleinen wenig Flüssigkeit verarbeitete sie das alles zu einer Salbe und setzt sich dann zu ihm.

    Und jetzt bitte still halten.“ Vorsichtig tupfte sie von den Kräutern etwas auf die Pusteln und drückte ihm die Schale mit dem Rest in die Hand, leicht beeindruckt davon, dass er nicht zurück gezuckt war.

    Sollte morgen früh noch Flecken im Gesicht und am Hals sein, dann noch mal was von der Salbe drauf machen“, erklärte sie und schob ihn schon fast auf der Tür. „Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt, ich brauche meinen Schönheitsschlaf.“ Ein breites Grinsen lag auf ihren Lippen und sie wünschte dem verdutzten Edmund noch eine gute Nacht, ehe sie ihm die Tür vor der Nase zu machte.

    Mit einem motivierten Schwung, den man der alten Frau gar nicht zugetraut hätte, machte sie sich an die Arbeit, den Trank für sich selber herzustellen. Bewusst braute sie ihn ein bisschen stärker, auch wenn sie wusste, dass diese Wirkung nur einen Tag anhalten würde. Schließlich schluckte sie die dunkelrote Brühe runter und verzog angewidert das Gesicht. Der Geschmack wurde auch nach 178 Jahren – nein, seit heute waren es 179 Jahre – nicht besser, es gab einfach Dinge, an die konnte man sich nie gewöhnen. Mit einem brennenden Gefühl im Magen, was sich langsam über ihren ganzen Körper ausbreitete, legte sie sich ins Bett und wartete auf die Erneuerung.

    Der nächste Morgen brach gewohnt früh für sie heran und Nelli erinnerte sich daran, dass der Händlersohn versprochen hatte, sich um das Essen zu kümmern. Sofort lag ein zufriedenes Schmunzeln auf ihren Lippen. Ob er wohl daran gedacht hatte, dass er nun jeden Tag vor ihnen allen aufstehen und in die Küche gehen musste? Sie streckte sich und freute sich über die jugendliche Gelenkigkeit ihres Körpers, keine Schmerzen in ihren Gliedern und vor allem auf die dummen Gesichter der anderen. Sie musterte sich nach dem waschen und anziehen in dem kleinen, angelaufenen Spiegel, der an der Wand hing und blickte in ihr eigenes, deutlich jüngeres Gesicht. Oh ja, vor 154 Jahren hatte sie definitiv nichts anbrennen lassen. Ihre vollen Lippen lächelten sie selbst im Spiegel an und sie strich sich eine Strähne ihres langen, dunklen Haares zurück. Voller Elan öffnete sie die Tür und machte sich auf dem weg in die Küche, wo tatsächlich Edmund schon beim Vorbereiten des Frühstücks war.

    Guten Morgen, Jungchen“, flötete sie und selbst ihre Stimme hatte jeden kratzigen, rauen Unterton verloren. Sie schmunzelte, als der junge Mann sich umdrehte und sie einen Moment lang fassungslos anstarrte, ehe er verlegen und eifrig sein Hemd in die Hose stopfte.

    Wer...Wo...Wie...“, stotterte er und ließ seinen Blick unverhohlen über sie wandern, ohne einen Moment des Erkennens.

    Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte sie scheinheilig und deutete dann schließlich auf die Pfanne, aus der schwarzer Rauch aufstieg. „Euch brennt da etwas an...“

    Kurz war Edmunds Blick völlig verständnislos, ehe er sich umdrehte und schnell das Rührei vom Feier zog und leise dabei fluchte, was Nelli ein leises Kichern entlockte.

    • Offizieller Beitrag

    Trevor stand am nächsten Morgen auf und streckte alle Glieder von sich. Die Sache mit dem Graf war nochmal gut ausgegangen. Und bei einem Blick in die Waschschüssel, merkte er, dass auch die Pusteln nur noch ein paar rötliche Stellen in seinem Gesicht darstellten.
    Fast alles wieder beim Alten!
    Wobei Trevor bei der Erinnerung an den vergangenen Tag leise lachen musste. Edmund und er hatten wirklich gut einen hinter der Binde gehabt. Aber einmal mehr merkte Trevor, dass Edmund beinahe eine Art Freund geworden war. Zumindest für ihn. Selten – eigentlich noch nie – hatte er einen Gleichaltrigen um sich herumgehabt, mit dem er so ausgelassen feiern konnte. Auch wenn das Edmund danach sicherlich anders sah. Aber wer hätte damit rechnen können, dass der Graf so schnell im Hafen auftauchte?
    Trevor warf sich sein Arbeitshemd lediglich über und verließ sein kleines Zimmer. Immerhin musste er das Essen für die Vier auf den Tisch stellen. Und er war schon später dran als normal.
    Trevor lief über das Deck und atmete tief die morgendliche Luft ein. Es war bereits schwül genug, um nur durch den Gedanken an Arbeit ins Schwitzen zu geraten. Das würde ein anstrengender Tag werden. Die meisten Seeleute machten bereits das Schiff bereit zum Auslaufen, und Trevor würde sich ihnen später anschließen.
    Zuerst musste er sich der Kombüse zuwenden, aber je näher Trevor dieser kam, desto mehr nahm er bereits den Geruch von Essen wahr. Das war seltsam. Hatte sich der Smutje vorgemogelt, nur weil Trevor etwas länger geschlafen hatte? Er öffnete die Tür und fand dahinter Edmund vor, der Teller auf den Tisch stellte. Und er war nicht allein. Eine Brünette saß bereits am Tisch. Lud er bereits seine Eroberungen zum Frühstück ein? Und woher nach der Händlersohn die Zeit, diese Frauen so schnell kennenzulernen? Und warum kochte Edmund?
    Verwirrt schaute Trevor zwischen beiden hin und her, während er noch in der Tür stand. Und ihm war, als würde Edmund ihm einen hilfesuchenden Blick zuwerfen. „Störe ich?“, wollte Trevor deshalb wissen.
    „Setz dich, Jungchen!“, antwortete die Blondine, und Trevor klappte metaphorisch der Kinnladen nach unten. Da war auch so ein Klingeln in seinen Ohren …

    War das etwa ...

    „Oma?“, erwiderte Trevor und bemerkte augenblicklich ein Taubheitsgefühl in seinem Gesicht.
    Bekam er gerade einen Schlaganfall?
    „Danke für den Gehstock …“, säuselte Nelli mit lasziv verstellter Stimme.
    Definitiv bekomme ich gerade einen Schlaganfall …
    „G… G… Gerne!“, meinte Trevor und sah Edmund nun hilfesuchend an.
    „Setz dich!“, forderte Edmund Trevor ebenfalls auf und räusperte sich.
    „Welche Art Traum ist das?“, fragte sich der Wandler in Gedanken. „Und wenn das ein Traum ist … Warum ist Oma darin jung? Habe ich bei der Schlägerei doch einen Schlag gegen den Kopf bekommen? Langsam drehe ich durch … Der Laden, der Krempel und … jetzt das.“
    Trevor konnte nur hoffen, dass niemand sein nervös zuckendes Auge bemerkte. Konnte das wirklich an dem Gehstock liegen? Aber Edmund und er hatten damit im betrunkenen Zustand herumgealbert und damit herumgefuchtelt, als sei es ein Schwert. Müssten dann nicht beide Säuglinge sein? Mindestens?
    „Wie …“, setzte Trevor an.
    „Ist doch egal“, unterbrach Nelli ihn und lehnte sich auf ihre Hand, während sie Trevor anlächelte. „Ich bin ganz froh, mal der Gicht zu entgehen … Ich fühle mich wie neu geboren.“
    Edmund servierte das Essen und setzte sich ebenfalls. „Zumindest kann man die Hexe beim Essen ansehen …“, nuschelte er und gähnte.
    „Sagt der reiche Sohn mit den Pickeln zuvor im Gesicht“, konterte Nelli gelassen.
    Edmund schnaubte.
    Trevor saß immer noch wie eine Salzsäule am Tisch, schaute kurz auf sein Essen und dann wieder in die Runde. „Ich finde das sehr verwirrend“, gab er zu.
    Edmund nickte. „Nicht nur du … Ich koche!“

    Ja, genau, Edmund, DAS ist hier das Seltsame!
    „Jetzt seid nicht so, ihr beiden. Freut euch doch. Ich hätte Lust zu feiern, zu trinken und zu tanzen, solange ich meine Füße nicht mehr aus unmittelbarer Nähe sehen kann.“
    Trevor riss seine Augen auf und nickte verstehend. Allerdings war ihm nach dem Vortag eher nach einem Kopfschütteln zumute, aber das behielt er lieber für sich.
    Nelli überblickte derweil, was Edmund alles gekocht hatte. Es roch alles sehr gut, was Trevor doch etwas überraschte. Kochkünste waren nicht das gewesen, was er Edmund primär zugesprochen hätte … Jetzt fehlte nur noch Esther.
    „Bursche, du könntest aber schon etwas mehr Respekt an den Tag legen, wenn der erhabene Herr kocht und zwei junge Frauen alsbald am Tisch sitzen“, bemerkte Nelli und wandte sich Trevor zu.
    Fragend betrachtete er beide abwechselnd. „Respekt?“, hakte Trevor nach.
    „Ja“, antwortete Nelli. „Selbst Edmund hat seine Kleidung gerichtet, als ich die Kombüse betreten habe.“
    „Das hatte mit dem Betreten gar nichts zu tun“, mischte sich Edmund ein. „Ich achte immer auf mein Äußeres!“
    Nelli lehnte sich zu Trevor hinüber und begann, sein Hemd zuzuknöpfen.
    Trevor fühlte sich wie ein kleiner Junge, der gemaßregelt wurde. Aber er traute sich auch nicht, sich zu beschweren. Zudem hatte Trevor alle Hände … Augen damit zu tun, Nelli nicht in den üppigen Ausschnitt zu starren, der wie auf dem Präsentierteller auf den Tisch ruhte, während sie ihre Hände nach seinen Knöpfen ausstreckte.
    Da war auch schon wieder dieses Lähmungsgefühl …
    Das war falsch, alles ganz falsch! Nelli war eine süße, alte Dame. Eine Oma eben. Keine vollbusige Brünette. Und das dachte ein Formwandler! Deswegen sah er Edmund flehend an und formte nur ein tonloses „Hilfe“.
    Edmund grinste jedoch hämisch, deutete mit dem Finger auf ihn und lachte stumm.
    Zu allem Überfluss ging dann noch die Tür auf und Esther trat ein. Während sie die Runde betrachtete, erkannte Trevor sofort, dass die Magierin mehr als nur eine Frage mit ihrem Blick stellte.

  • Bei dem Anblick, der sich ihr in der Kombüse bot, zog sie die Augenbrauen hoch. Esther schossen direkt mehrere Fragen durch den Kopf.

    Zuallererst verwirrte sie, dass Edmund in der Küche war und dazu auch noch die Hälfte seiner Kleidungsstücke fehlte. Dann fiel ihr Blick auf die junge, brünette Frau, die quer über den Tisch langte und an Trevors Hemd herumfummelte.

    „Stell dich nicht so an, Bursche!“, fuhr die Brünette den Wandler an.

    Warte – Bursche?

    Sie betrachtete die Situation noch einen Moment fragend, bevor sie die Tür hinter sich schloss, woraufhin alle kurz zu ihr aufsahen.

    „Ah! Kommt rein, Mädchen“, säuselte die junge Frau und deutete auf Edmund. „Er hat für uns gekocht.“

    Edmund? Gekocht?

    Dann beschlich sie ein komisches Gefühl, als die Stimme der Frau in ihrem Kopf nachhallte. „Nelli?“, fragte sie ungläubig und erntete von der vermeintlich jungen Frau einen aufreizenden Augenaufschlag.

    Kopfschüttelnd und grinsend setzte Esther sich auf einen freien Stuhl. Dabei musterte sie Edmund und sah schließlich Nelli an. Zu gern würde sie erfahren, wie Edmund dazu kam, selber den Kochlöffel in die Hand zu nehmen. „Lohnt es sich zu fragen?“, wollte sie daher wissen.

    „Nein!“, riefen beide Männer wie aus einem Mund.

    Esther warf Nelli einen Blick zu. Das amüsierte Funkeln in den Augen der Heilerin war kaum zu übersehen. Edmund und Trevor stocherten verlegen im Essen herum.

    Bis auf einige kurze Bemerkungen, aßen sie schweigend und Esther wartete geduldig, bis alle fertig waren

    Obwohl sie wusste, was sie zu tun hatte, zögerte sie.

    „Edmund“, begann sie schließlich, woraufhin der Angesprochene den Kopf in ihre Richtung drehte. „Ich würde gerne mit Euch sprechen“, meinte sie und blickte in die Runde. „Allein.“

    Er nickte und deutete mit dem Kinn in Richtung Tür.

    Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend folgte Esther dem Händlersohn bis zu seiner Kabine. Er stieß die Tür auf und ließ sie zuerst eintreten, führte sie zu einer Sitzgruppe und zog einen Sessel zurück. „Setzt Euch.“

    Dankbar, aber zögerlich nahm sie Platz. Während er sich ebenfalls setzte, bereitete sie sich ihre Worte vor.

    „Also“, ergriff er das Wort. „Was gibt es?“

    Sie knetete fahrig ihre Finger. Warum es ihr in Edmunds Gegenwart so schwer fiel, ihre Gedanken in Worte zu fassen, wusste sie nicht. Sie erkannte nur, dass sie sich jedes Mal unbehaglich fühlte.

    Schließlich legte sie die Hände in den Schoß. „Ich … möchte mich bei Euch entschuldigen.“, brachte sie hervor. „Mein Verhalten war nicht in Ordnung und ich hätte Euch gegenüber aufrichtig sein müssen. Ich versichere, dass so etwas nicht mehr passieren wird.“

    Edmund sah sie einen Moment eindringlich an und trommelte mit dem Zeigefinger auf der Stuhllehne herum. „Warum habt Ihr nicht von Anfang an gesagt, was los ist?“

    Wieder ließ sie sich Zeit mit ihrer Antwort. Warum musste es auch so verdammt schwer sein, sich für etwas zu rechtfertigen! „Ich hatte Sorge, wie Ihr darauf reagiert.“

    Er sah sie forschend an. „Ihr habt alle in Gefahr gebracht, ist Euch das klar?“

    Innerlich rollte sie mit den Augen. Als ob sie das selbst nicht wüsste! Was wollte er denn noch hören? Sie hatte sich bereits entschuldigt und klargemacht, dass sie niemanden mehr gefährden würde!

    Gerade als die Stille zwischen ihnen unangenehm wurde, nickte sie leicht. „Das ist mir bewusst“, gestand sie schließlich und hoffte, dass Edmund die Sache auf sich beruhen lassen würde. „Ihr habt mein Wort darauf, dass dergleichen nicht mehr passieren wird. Ich bin hier, um für die Sicherheit dieses Schiffes zu sorgen und dieser Aufgabe werde ich von nun an nachgehen.“ Ihr Wort dürfte zwar im Moment nicht viel Gewicht bei Edmund haben, aber sie wollte nur eine Möglichkeit bekommen, zu beweisen, dass sie auch mehr konnte, als die Eleftheria ins Verderben zu stürzen.

    Edmund lächelte, was für Esther ein wenig zu aufgesetzt wirkte, und seufzte. „Ich verlasse mich auf Euch.“

    Erleichtert atmete Esther aus. Das reichte ihr zunächst, denn viel mehr hatte sie sich nicht erhofft. Dafür, dass er ihr – erneut – Vertrauen entgegenbringen wollte, sollte sie sich eigentlich bedanken. Nach kurzer Zeit erhob sie sich. „Das könnt Ihr“, sagte sie mit fester Stimme.

    Mit klopfendem Herzen verließ sie die Kabine und betrat das Oberdeck.

    Es war drückend heiß, weshalb bereits zu früher Stunde die meisten Matrosen ohne ihre Oberbekleidung arbeiteten.

    Was wollen die machen, wenn es noch heißer wird? Nackt arbeiten?

    Sie trat an die Reling heran und beobachtete, wie einige Männer Kisten von Bord schafften und in das Beiboot ihres Vaters verbrachten.

    Dann bin ich gerade rechtzeitig gekommen, dachte sie.

    „Ich hatte mich schon gefragt, ob du nie aufstehen willst“, hörte sie die Stimme ihres Vaters hinter sich und sie drehte sich zu ihm um. Sie sah noch, wie ein Matrose ins Unterdeck verschwand. Vielleicht, um Edmund zu holen.

    Der Graf gesellte sich an ihre Seite und eine Weile schwiegen sie sich an.

    Sie spürte genau das gleiche Gefühl wie damals, als sie zur Gilde aufgebrochen war und der Grafschaft Silberberg damit für einen längere Zeit den Rücken gekehrt hatte.

    „Sei vorsichtig, Esther“, meinte ihr Vater plötzlich aus dem Nichts. „Und halte dich von dem jungen von Stein fern.“

    Beinahe hätte sie sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt. „Wie bitte?“ Wie sollte sie sich von jemanden fernhalten, mit dem sie zusammen auf einem Schiff eingepfercht war und den sie insgeheim schützen musste?

    Der Graf warf ihr einen Seitenblick zu. „Ich bin mit seinem Vater bereits einige Geschäfte eingegangen. Und weil ich mich vorher über alle meine Geschäftspartner erkundige, weiß ich, dass die Familie von Stein Nymphenblut in sich trägt.“

    Fühlte sie sich deshalb immer wie benommen in Edmunds Gegenwart? Verstehend nickte sie ihrem Vater zu.

    Als hätte er gehört, dass man über ihn spricht, betrat in diesem Moment Edmund das Oberdeck. Er wirkte noch ein wenig mitgenommen, aber immerhin war er nun gewohnt gekleidet, auch die Haare hatte er in Ordnung gebracht.

    „Guten Morgen Graf Leonhard“, grüßte der Händlersohn, als er zu ihnen aufgeschlossen war. „Ich hoffe, mit der Umlagerung lief es gut?“

    Ihr Vater nickte schnell. „Alles bestens“, antwortete er. „Ich bin nur noch einmal an Bord gekommen, um mich von meiner Tochter zu verabschieden und euch allen eine gute Reise zu wünschen.“ Der Graf und Edmund reichten sich, wie am Vorabend, die Hände.

    Bevor Edmund sich versah, zog ihr Vater den Händlersohn dichter an sich heran. „Sollte meiner Tochter etwas passieren, mache ich Euch persönlich dafür verantwortlich“, murmelte Leonhard, doch der drohende Unterton in seiner Stimme konnte nicht überhört werden.

    Edmunds Blick war schwer zu deuten und Esther tat so, als hätte sie die Worte ihres Vaters nicht gehört.

    Leonhard löste den Händedruck, legte den Arm um sie und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

    Sie wollte noch etwas sagen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Also beließ es dabei, ihrem Vater hinterherzuschauen, während er die Eleftheria verließ und in sein Beiboot stieg.

    „Klarmachen zum Ablegen!“, hörte sie den Steuermann rufen.

    Als Esther sich umwandte, war Edmund bereits verschwunden. Sie selbst blieb an der Reling stehen und sah den Männern bei ihrem Tun zu, genoss die Sonne und die frische Luft.

    Bald schon verließen sie Scalimars Hafen und während die Galeone ihres Vaters gen Silberberg segelte, nahmen sie Kurs auf Sarima.

  • Nelli genoss es endlich wieder mal jung zu sein. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie das eigentlich nicht öfter bisher gemacht hatte. Das bisschen Schmerz in der Nacht hatte sie mit einem Tuch zwischen den Zähnen aushalten können, also würde sie auch die Müdigkeit morgen überleben. Beschwingt stieg sie die Treppen nach oben, nachdem sie die Küche mit Trevor zusammen aufgeräumt hatte. Der Händlersohn hatte tatsächlich überraschend gut gekocht. Das hatte sie definitiv nicht erwartet und war schon fast ein bisschen beeindruckt von ihm. Natürlich würde sie ihm das nie sagen.

    Ihr waren auch die betretenen und gleichzeitig neugierigen Blicke der beiden jungen Männer nicht entgangen, die peinlich berührt über ihren Körper gewandert waren. Und sie müsste lügen, wenn sie behaupten würde, dass sie es nicht ausgekostet hatte. Lange schon hatte sie niemand mehr auf diese Art angesehen und es hatte ein wenig ihrem Ego geschmeichelt. Oh ja, sie hatte in all den Jahren nichts verlernt. Sie würde diesen Tag in voll Zügen genießen.

    Nellis Blick glitt über das Deck und mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen beobachtete sie die ganzen jungen Männer, die ob der Hitze oberkörperfrei arbeiteten. Einer von ihnen würde heute noch zu ihrem Opfer werden, so viel stand fest. Wer weiß, wann sie wieder mal so einen knackigen Hintern haben würde und sie mit ihren Brüsten nicht den Boden würde wischen können. Einer der jungen Männer blieb erstaunt stehen und musterte sie unverhohlen, woraufhin sie ihm kokett zu zwinkerte. Amüsiert stellte sie fest, dass dieser rot anlief und schnell machte, dass er weiter arbeitete, aber nicht ohne ihre Rückansicht zu bewundern. Kichernd stellte sie sich zu Esther an die Reling.

    Wie schön es ist, mal wieder so jung zu sein. Und dann auch noch bei dieser Aussicht.“ Sie grinste und lehnte sich mit dem Rücken an das hölzerne Geländer.

    Ohja, die weiten des Meeres und die Sonne, die es so zum Glitzern bringt...“, begann die Magierin, was dazu führte, dass Nelli in schallendes Gelächter ausbrach. Esther schaute sie irritiert an.

    Doch nicht das Meer, Mädchen. Die Sonne auf dem Meer wirst du noch oft genug zu sehen bekommen. Ich rede von diesen entzückend gut gebauten Matrosen“, erwiderte sie schmunzelnd und beobachtete, wie das hübsche Gesicht der jungen Adligen die Farbe einer reifen Erdbeere annahm, was sie wieder kichern ließ. Schließlich tätschelte sie ihr sacht den Oberarm.

    Keine Sorge, Kindchen. Das wirst du noch früh genug zu schätzen lernen.“ Die Heilerin zwinkerte ihr zu und hatte sichtlich ihren Spaß daran, die Matrosen mit ihrer bloßen Anwesenheit aus dem Konzept zu bringen. Der Vormittag verging im Fluge und schon gegen Mittag hatte sie den ersten, der sie mehr oder weniger charmant umgarnte, aber von ihr abgewiesen wurde. Sie liebte es mit den Männern dahingehend zu spielen und sie zu verwirren. Aber aus dem Alter, in dem sie sich solchen Ausschweifungen hingab, war sie definitiv schon lange raus. Also beließ sie es bei kleineren Neckereien und Anspielungen. Mehr brauchte es nicht um die Hexe den restlichen Tag bei bester Laune sein zu lassen.

    Vermutlich würde Edmund es auch nicht gut heißen, dass sie die Matrosen am späteren Nachmittag zum feiern und Spielen verführte. Die Würfel waren auf ihrer Seite, doch wer würde einer offensichtlich jungen und hübschen Frau schon unterstellen, dass sie schummelte? Der Rum floss ordentlich und sie bemerkte, wie der ein oder andere Spielpartner allein deswegen unaufmerksam wurde.

    Es war schon spät am Abend, als sie Trevor am Decke bemerkte und ihn zu sich winkte. Sein noch immer verwirrter aber auch irgendwie besorgter Blick lag auf ihr.

    Om...Nelli, ist alles in Ordnung? Du warst nicht beim Essen“, stellte er fest und gesellte sich zu ihr. Seine Fürsorge ließ sie schmunzeln und sie legte verspielt den Kopf schief.

    Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass ich morgen wieder die Alte bin, Bursche?“, wollte sie stattdessen wissen und lehnte sich ein bisschen an. Ihr entging sein erleichtertes Aufatmen nicht und es dauerte einen Moment ehe er zaghafte nickte.

    Ich denke, das macht es einfacher.“ Nelli grinste und nickte in Richtung der Würfel.

    Was meinst du, bekommen wir den kleinen Schnösel und die Adlige überredet mit uns zu spielen? Wir könnten sicher gut Geld an ihnen verdienen. Vor allem, wenn ich noch meinen Schnaps dazu beisteuere.“ Sie zwinkerte dem jungen Wandler zu, der in Gelächter ausbrach.

    Du bist ein schlechter Einfluss...“, brummte er amüsiert und schien kurz zu überlegen.

    Gut, aber nur eine Runde. Nochmal verkrafte ich das nicht.“, gab er schließlich nach und Nelli klatschte begeistert in die Hände.

    "Ach komm schon, Söhnchen. Wir sind nur einmal jung!"

  • Als Trevor und Nelli vor seiner Tür gestanden hatten, hatte er sich geweigert. Er hatte „Nein" gesagt und ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen und sich anschließend ins Bett gelegt. Dessen war sich Edmund sicher.
    Entsprechend verwirrt, saß er an einem Tisch in dem kleinen Salon des Schiffes. Wie war er hierher gelangt? Schlafwandelte er neuerdings?
    „Ich denke, die Regeln haben alle verstanden?“ Edmund schreckte aus seinen Gedanken, als sich Nelli über den Tisch beugte und das Gläschen vor ihm füllte. „Und der Verlierer jeder Runde darf uns ein kleines schmutziges Geheimnis verraten.“ Dabei lachte sie, als hätte sie einen Witz gemacht. Allerdings erschloss sich Edmund die Pointe nicht.
    Edmund richtete seinen Blick auf das Glas. Es roch wie der Schnaps, der ihm letztens schon einmal den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Wenn er das trank, konnte er für nichts mehr garantieren und er hatte keine Lust darauf, sein Leben vor diesen … Leuten auszubreiten. Sah er aus wie ein Tagebuch? Er interessierte sich doch auch nicht für das Leben der anderen! Oder?

    Vielleicht ein ganz kleines bisschen.
    Aber es blieb bescheuert!
    Davon abgesehen, dass er den Regeln nicht einmal zugehört hatte. Würfelspiele waren für Menschen seines Standes kein Zeitvertreib. Vor allem nicht solche sinnlosen!
    Die er nicht verstand!
    Weil er nicht zugehört hatte!
    Weil es viel dringendere Fragen zu klären gab.
    Die ihm noch einfallen würden!
    Edmund stand kurzerhand auf, um zu gehen. Bei dem Blödsinn wollte er nicht mitmachen. Und diesmal würde er auch in seinem Bett ankommen. Was auch immer beim ersten Versuch schiefgelaufen war.
    Nelli beugte sich noch weiter vor und zog ihn zurück.
    „Jetzt macht nicht so ein Gesicht. Das wird lustig.“
    Die - nicht mehr ganz so alte – alte Hexe zwinkerte. Und genauso wie sie es schon den ganzen Tag gemacht hatte, jedem, der es sehen oder auch nicht sehen wollte, das tiefe Dekolleté vor die Augen halten, tat sie es auch jetzt.
    Ach ja, so war er hierhergekommen …
    Scheiße.
    Edmund zwang sich nicht hinzusehen. Was leichter gesagt war, als getan.
    Denn ja, die Hexe sah gut aus, sehr gut sogar. Mit den dunklen Haaren und den Kurven. Und diesem lächerlichen Ausschnitt! Konnte sie sich nicht irgendwas umbinden?
    Aber hatte denn jeder vergessen, dass sie eigentlich alt, runzlig und furchtbar hässlich war? Wie sie ihren alten Körper die letzten Tage mit dem Krückstock über das Deck geschleppt hatte? Wer wollte da schon wissen, wie es unter der Kleidung aussah und ob sie dort ebenso verjüngt war!
    Edmund schüttelte den Kopf, um das Bild aus seinem Kopf zu verjagen. Das war der Stoff aus dem Albträume gemacht wurden!
    „Ich fürchte, wir haben eine unterschiedliche Auffassung von „lustig“!“, grummelte er und begutachtete interessiert die spannenden Holzmusterungen des Tisches.
    „Das glaube ich sofort“, gab die Hexe trocken von sich. „Offensichtlich habt Ihr gar keinen Humor.“ Lag da etwas Provokantes in ihrer Stimme?
    Als ob ich darauf reinfallen würde.
    „Natürlich habe ich Humor!“
    Mist!
    „Dann beweist es!“ Nelli drückte ihm sein Glas in die Hand und grinste ihn selbstgefällig an. Diese blöde alte Schabracke.
    Hilfesuchend sah er zu Trevor. Doch der zuckte nur grinsend die Schultern. Toller Diener, völlig unbrauchbar.
    Auch Esther schien sich ihrem Schicksal ergeben zu haben und nippte lächelnd an dem Glas.
    Einmal mehr hatte sich alles und jeder gegen ihn verschworen.
    Edmund blieb noch einen Moment stehen, tippelte nachdenklich mit dem Fuß auf den Boden. Dann setzte er sich missmutig.
    „Das ist dumm", kommentierte er die ganze Sache und exte den Schnaps. Hoffentlich wurde das nicht zur Gewohnheit. Jeden Abend seine Zeit mit diesen Leuten zu vergeuden, darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Da hockte er lieber allein in seinem Zimmer, lauschte der Stille und langweilte sich zu Tode.
    Wenn ich so darüber nachdenke...
    Er legte die Würfel auf den Tisch, die er noch von Stiev hatte.

    Die erste Runde war schnell vorbei. Er verlor. Was vermutlich daran lag, dass er beim Erklären der Regeln nicht zugehört hatte. Aber zugeben konnte er das auch nicht.
    Edmund lehnte sich genervt zurück und blickte in zwei nachdenkliche Gesichter und ein dreckiges Grinsen. Er sollte schon aufstehen und gehen, stattdessen blieb er sitzen, als hätte man seinen Hintern an den Stuhl getackert. Was eventuell auch stimmte? Er verzichtete darauf, es tatsächlich zu überprüfen.
    „Okay, ich fang an.“ Die Hexe klatschte freudestrahlend in die Hände. „Ihr habt keine Ahnung, wie das Spiel funktioniert und habt bei der Erklärung der Regeln nicht zugehört, stimmt’s?“ Nelli reckte sich erneut vor, während Edmund beleidigt die Wangen aufblies. Nun konnte sie auch noch Gedanken lesen, oder was?
    Grimmig starrte er zurück. Oder besser knapp an ihr vorbei. An die Wand.
    Von wegen, keine Ahnung, wie das Spiel funktionierte! Von wegen nicht zugehört! Sie hatte doch keine Ahnung!

    Warum sollte er zugeben, dass er nicht zugehört hatte?
    Er konnte keinen Fehler zugeben!

    Weil es keinen gab!
    Niemals!
    Auf gar keinen Fall!
    „Ja“, nuschelte er entgegen seiner inneren Überzeugung. Wo kam das immer her?!
    Das schallende Gelächter der Alten ließ er schweigend über sich ergehen, während Trevor so gnädig war, über das Versäumnis hinwegzusehen und ihm die Regeln nochmal zu erklären. Und Nelli sichtlich Spaß dabei hatte, sich erneut quer über den Tisch zu beugen und die Gläser neu zu füllen. Was stimmte nicht mit ihr?

    „Nun verstanden?“, fragte Trevor.
    „Ich bin ja nicht doof!“
    , ranzte Edmund, knallte Trevor den Würfelbecher hin und leerte sein Glas, um es dann wegzuschieben. „Und du, zieh dir endlich was Vernünftiges an!“, blaffte er Nelli an und warf ihr seine Jacke zu. So konnte sich doch kein Mensch konzentrieren.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

    • Offizieller Beitrag

    Trevor musste sich das Lachen verkneifen, als sich Nelli die Jacke von Edmund lediglich um die Hüfte band. Die plötzliche Jugend von Nelli schien nicht nur den Formwandler zu irritieren. Allerdings hatte Trevor beschlossen, es einfach hinzunehmen. Ihre Aussprache war die gleiche geblieben, weshalb es ihm nicht schwerfiel, weiterhin die alte Dame in ihr zu sehen, die sie nun mal war. Eigentlich … irgendwo … Und Aussehen war nicht alles, auch wenn sich Trevor der Meinung von Edmund ein klein wenig anschließen musste. Etwas mehr Stoff hätte nicht geschadet. Aber auch nur, weil .... Anstand und sowas. Eine Frau musste immerhin nicht gänzlich ihre Reize zur Schau stellen. Das war irritierend. Es lenkte ab ...

    Konzentrier dich jetzt bitte auf das Spiel ...

    Trevor sah den Würfelbecher samt Inhalt an. Eigentlich fand er solche Spiele nicht besonders gut, da er schlecht darin war, zu lügen. Allerdings wollte er Nelli den Gefallen tun und mitspielen. Vielleicht wurde es ganz lustig.
    Oder ich mache mich lächerlich … Ganz sicher sogar.
    Trevor leerte wie Edmund seinen Becher Alkohol und nahm die Würfel an sich. Er schüttelte den Becher, während Esther Alkohol nachschenkte. Sie schien auch ihre Zweifel über das Spiel loswerden zu wollen. Aber was sollte eine Gräfin schon Peinliches zu erzählen haben? Dass sie mal den Unterricht verschlafen hatte? Trevor konnte sich nicht vorstellen, dass sie auf ungeheuerliche Geschichten stoßen würden. Das sah bei den anderen Drei vermutlich anders aus.
    Genug geschüttelt, besser werden deine Zahlen dadurch nicht werden.
    Trevor schmulte unter den Becher und sah dann auf. „Ein Einerpasch“, log er.
    Warum lüg ich jetzt schon? Ich hatte doch auch einfach Einunddreißig sagen können?
    Sechs Augenpaare musterten ihn.
    „Ich bin mir unsicher …“, meinte Esther.
    „Der lügt!“, gab Edmund sicher von sich. „Dem steht doch jetzt schon der Schweiß auf der Stirn.“
    „Bei dem Hundeblick wäre ich ja beinahe versucht, ihm zu glauben“, fügte Nelli hinzu, „aber Edmund hat recht.“
    Ganz toll gemacht, Trevor … ganz toll.
    „Seid ihr euch alle sicher?“, verlangte der Formwandler zu wissen und grinste. Vielleicht verunsicherte es die anderen, wenn er breit grinste.
    „Ja!“, kam wie aus einem Mund von allen.
    Trevor sackte in sich zusammen und gab seinen Wurf preis. „Dann hab ich wohl direkt verloren … Also her mit eurer Frage.“

  • Esther zögerte. Sollte sie die erste Frage an Trevor stellen. Unsicher blickte sie sich um. Niemand schien das Wort ergreifen zu wollen. Sie sah den Wandler nachdenklich an.

    Gab es etwas, was sie über ihn wissen wollte? Tatsächlich schossen ihr direkt einige Fragen durch den Kopf, die sie aber sofort wieder verwarf, weil sie entweder absolut banal oder einfach unverschämt waren. Sie wusste, dass sie für diese Runde einen Zwischenweg finden musste, ohne Trevor irgendwie in Verlegenheit zu bringen. Genau aus diesem Grund hatte sie solche gesellschaftliche Treffen bisher gemieden. Außerdem ziemte es sich für eine Gräfin nicht, an so etwas wie Glückspiele überhaupt zu denken. Dennoch fand sie Gefallen daran.

    Sie zwang sich, ihre Gedanken wieder auf das Wesentliche zu lenken.

    Abermals glitt ihr Blick zu Trevor. Es war seltsam, denn immer wenn sie ihn ansah, schossen ihr die Bilder der Schlägerei durch den Kopf.

    Sie holte Luft. „Wenn niemand anderes eine Frage stellen möchte…“, sagte sie zaghaft. „Wo habt Ihr gelernt, so zu kämpfen, wie neulich auf dem Deck?“

    Für den Anfang schien es ihr eine gute Frage zu sein. Es war für jeden offensichtlich gewesen, dass er anders kämpfte als die restlichen Besatzungsmitglieder.

    Trevor lächelte dünn und spielte kurz mit den Würfeln, bevor er diese an Esther weiterreichte. „Mir wurde es von Silberaugen Johnny beigebracht. Meinem Kapitän. Von Anfang an drückte er mir eine Waffe in die Hand und lehrte mich, wie ich mich mit oder ohne verteidigen kann. Oder angreifen. Mit sechzehn musste ich dann beim Entern mitmachen. Und entweder man überlebt oder nicht.“

    Silberaugen Johnny … Entern. Das alles klang merkwürdig in ihren Ohren. Unentschlossen warf sie die Würfel in den Becher und setzt zum Wurf an. Dann hielt sie allerdings inne und wandte sich erneut an Trevor. „Warum seid Ihr nicht mehr bei Eurem Kapitän?“ Obwohl sie wusste, dass eine zweite Frage laut der Spielregeln nicht gestattet war, versuchte sie es trotzdem. Überraschenderweise begehrten weder Nelli noch Edmund auf, sondern sahen Trevor erwartungsvoll an.

    Der Formwandler schien unsicher, ob er auf die Frage reagieren wollte. Er tat es trotzdem. "Weil er tot ist. Wir wurden von vier Schiffen der Marine eingekreist. Sie nahmen ihn gefangen und ließen ihn hängen."

    Esther sah ihn eine Weile stumm an. In ihrem Kopf rotierte es. Warum sollte man einen Seefahrer …

    Wieder haderte sie mit sich. Sie biss sich auf die Unterlippe und gab sich schließlich einen Ruck. „Seid Ihr ein Pirat?“

    "Das war oder bin ich ... irgendwie." Er lächelte verlegen und obwohl Esther spürte, dass sie die Grenze erreichte, war ihre Neugier endgültig geweckt.

    „Wenn Euer Schiff von der Marine entdeckt worden ist und Ihr Pirat seid … warum lebt Ihr noch?“, wollte sie wissen. Um herauszufinden, ob irgendjemand Einwände gegen ihre Fragerei erhob, blickte sie in die Runde. Doch es herrschte allgemeines Schweigen. Edmund spielte mit seinem Glas und Nelli schien die Tischplatte interessanter zu finden, als das Gespräch.

    Ob sie nur aus Respekt den Mund hielten und sie deshalb nicht auf den Regelverstoß hinwiesen?

    "Mein Kapitän zog mir eins über und warf mich über Bord. Da wir uns in Küstennähe befanden, wachte ich irgendwann am Strand auf ... Alleine." Trevors Stimme klang leiser als zuvor.

    Ob es ihm unangenehm war, darüber zu sprechen? Viele Fragen gingen ihr noch durch den Kopf. Was hatte Trevor nach seiner Strandung gemacht? Wie war er an Edmund geraten? Standen er und Silberaugen Johnny sich nahe?

    Sie sollte jetzt einfach würfeln, damit das Spiel weitergehen konnte. „Was habt Ihr dann gemacht?“, hörte sie sich zu ihrer Überraschung fragen. „Nachdem Ihr am Strand aufgewacht seit?“

    "Auf einem anderen Schiff angeheuert. Aber als sie ein Reiseschiff mit einem Handelsschiff verwechselt haben, habe ich sie wohl verärgert. Sie wollten im Nachhinein eine junge Frau dort als Geisel mitnehmen. Ich nahm ihren Platz ein und endete in einer Kiste." Er lachte kurz auf.

    Verdutzt stellte sie den Würfelbecher auf den Tisch und ergriff stattdessen ihr Trinkglas, leerte es und füllte es direkt wieder auf. Ihr Vater hätte sie bei der Menge mittlerweile maßgenommen, aber da er nicht hier war …

    „Wie seid Ihr aus der Kiste wieder rausgekommen?“

    Die Antwort kam dieses Mal ohne Lachen und ohne Zögern. „Edmund hat mich freigekauft“, antwortete Trevor. „Daher stehe ich in seinen Diensten.“

    Verwundert ging ihr Blick hinüber zu dem Händlersohn. Der reagierte allerdings nicht darauf, sondern kippte nun selbst seinen Schnaps hinunter. Esther tat es ihm gleich und sie spürte bereits, wie ihr der Alkohol zu Kopf stieg. Sie sollte aufpassen, dass so etwas nicht zur Gewohnheit wurde – noch einmal von Edmund ins Zimmer gebracht zu werden, wollte sie nicht. Zumindest nicht in nächster Zeit.

    Bisher hatte sie keine Runde verloren. Sie war gut darin, den Menschen etwas vorzumachen. So etwas hatte sie als Gräfin früh lernen müssen – immer schön lächeln, Haltung bewahren und noch mehr lächeln.

    Sie schüttelte die Würfel und sah noch einmal Trevor vor ihrem Wurf an. „Tut mir leid mit Eurem Kapitän. Er hat Euch gerettet und das macht ihn zu einem guten Mann“, sagte sie und spähte unter den Becher.

    "Nicht alle Piraten sind ohne Ehrgefühl und ... Danke." Da war es wieder – dieses Lächeln.

    Dem konnte sie nur zustimmen. Trevor schien ihr nicht wie jemand ohne Ehrgefühl zu sein. Immerhin hatte er sie während der Schlägerei beschützt und ihr geholfen, obwohl er damit Edmund hintergangen hatte.

    Innerlich stöhnte sie auf. Eigentlich sollte es nicht notwendig sein, dass sie von jemanden gerettet werden musste. Genau aus diesem Grund war sie doch Magierin geworden – um Menschen zu beschützen.

    Es störte sie noch immer, dass sie nicht hatte verhindern können, dass die Besatzung aufeinander losgegangen war.

    Ob sie Trevor fragen sollte, wie sie sich in einer solchen Situation wehren konnte? Ob er es ihr beibringen konnte?

    Mach dich nicht lächerlich – du hast deine Magie!

    Während die anderen würfelten, trank sie ihr Glas erneut aus.

    Die Spielrunde endete ohne einen Verlierer.

    Und irgendwann, als sie genug von dem Alkohol getrunken hatte, flog sie auf.

    Sie seufzte und eröffnete den anderen ihrer tatsächliche Würfelzahl, nachdem Edmund ihre Lüge enttarnt hatte.

    „Ihr habt Euch gut gehalten, Mädchen“, säuselte Nelli. „Aber jede Glückssträhne endet irgendwann.“