Als Esther erwachte, befiel sie direkt die Erkenntnis, dass dieser Tag der Schlimmste in ihrem Leben werden würde. Umständlich schälte sie sich aus ihrer Decke, die sich erbarmungslos um sie herumgewickelt hatte. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend erhob sie sich und legte die Hand an ihren schmerzenden Kopf. Für einen kurzen Moment verdrehte sich die Welt vor ihren Augen und sie wartete, bis das vorüberging.
Die Hexe und ihre vermaledeite Medizin!
Siedend heiß fiel ihr auf, dass es das einzige war, woran sie sich erinnerte. Lediglich bruchstückhaft hingen noch Fetzen des vergangenen Abends in ihrem Gedächtnis, allerdings so schemenhaft, dass sie das kaum greifen konnte.
Sie stieß die Luft aus und machte sich frisch, in der Hoffnung, dass ihr danach etwas wohler war. Schnell stellte sie fest, dass ihre Korsage unangenehm ihren Magen einengte und sie zog sie nach kurzer Überlegung wieder aus. Auch bei ihren Haaren beließ sie es dabei, sie lediglich lose zusammenzubinden
Nachdem sie ihre Kabine ein wenig in Ordnung gebracht hatte, verließ sie diese und steuerte das Oberdeck an, wo sie schon zahlreiche Stimme hörte. Doch als sie ein neuerlicher Kopfschmerz packte, änderte sie ihren Weg und betrat kurze Zeit später die Kombüse. Sie wusste, dass Nelli und Trevor zunächst für Edmund und sie ein Frühstück zubereiteten, bevor der Smutje die Mannschaft vergiften konnte.
Sie hörte Geschirr klappern und die Alte kicherte auf etwas, das Trevor sagte. Allerdings hatte sie kein Wort verstanden.
Zögerlich trat sie ein und schlang die Arme um den Oberkörper, da ihr plötzlich ein wenig kühl wurde.
Sie lächelte, als Nelli und Trevor sie bemerkten.
Während Nelli voller Tatendrang in einer Schüssel herumrührte, sah Trevor aus wie der leibhaftige Tod. Und offen gestanden, fühlte Esther sich genauso wie Trevor aussah.
„Setzt Euch doch“, sagte der Formwandler und deutete auf einen freien Stuhl, der neben dem Tisch stand.
Sie nahm das Angebot dankbar an und zog sich den Stuhl dichter heran, der nicht nur unbequem, sondern auch ziemlich brüchig aussah. Trotzdem setzte sie sich, woraufhin das Holz protestierend knarrte und die Stille zwischen den Anwesenden wurde damit auf unangenehmste Weise beendete.
Nelli gackerte und auf Trevors Lippen breitete sich ein Grinsen aus, das an Schadenfreude kaum zu übertreffen war. Gerade weil die beiden so belustigt auf die Situation reagierten, musste auch Esther kichern.
Sie legte die Unterarme auf die Tischplatte und beugte sich etwas weiter vor, um in Nellis Schüssel linsen zu können. „Was macht Ihr da?“, wollte sie neugierig wissen. Sie gestand, dass sie die Alte sie auf irgendeine Weise faszinierte. Einerseits wirkte sie so herzlich wie eine Großmutter, andererseits glaubte Esther, dass man sich vor ihr hüten musste.
Wie Trevor zuvor, grinste Nelli. „Die Salbe für unseren kleinen, reichen Händlersohn“, beantwortete sie die Frage und warf eine Handvoll zerstoßene Kräuter in die Schüssel, bevor sie weiterrührte.
„Wo wir beim Thema sind“, ließ Trevor von sich hören und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte an. „Euer und Edmunds Frühstück ist fertig …“
Esther streifte den Teller mit einem Blick und sah dann den Wandler an. „Könnt Ihr Edmund ausrichten, dass ich heute … hier frühstücken werde“, meinte sie und schaute kurz zu Nelli rüber. „Sicherlich schläft er auch noch …“
„Hoffentlich“, schob Nelli dazwischen und stellte kichernd die Schüssel hinter sich ins Regal.
Esther unterdrückte ein Grinsen. Offensichtlich führte ihr gestriges Beisammensein nicht dazu, dass Nelli ein besseres Bild von Edmund erhalten hatte.
Schließlich lenkte sie ihren Blick wieder bittend auf Trevor, der dann nickte. „Öhm … Ja. Natürlich. Ich sag´s ihm.“ Trevor nahm einen der beiden Teller an sich und trollte sich dann. Seine Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten.
„Danke, Trevor“, sagte sie noch schnell und zog sich ihren Teller heran. Bei dem Gedanken ans Essen, drehte sich ihr der Magen um. Appetitlos stocherte sie in den Bratkartoffeln herum.
„Wie es aussieht, braucht Ihr was anderes als Kartoffeln, Mädchen“, sprach die Alte und gackerte voller Herzenslust.
Esther stockte vor Verwunderung. Mädchen? Wann bei allen Silbererzen hatte Nelli angefangen, sie so zu nennen. Offensichtlich bekam jeder von ihnen eine Bezeichnung angedichtet.
Schnaufend schob sie den Teller wieder zurück, sie würde ohnehin keinen Bissen runter kriegen. „Etwas gegen Kopfschmerzen und flauen Magen“, gestand sie. In Trevors Gegenwart war es ihr peinlich gewesen, über ihre miserable Verfassung zu sprechen, aber bei Nelli fiel es überraschenderweise leichter.
„Dachte ich es mir doch!“, rief die Hexe aus. „Euer zierlicher Körper hat meine Medizin offensichtlich nicht so gut vertragen.“ Sie zwinkerte in Esthers Richtung und begann dann, einige Kräuter zusammenzusammeln. Dazu gesellten sich allerhand Fläschchen.
Interessiert beobachtete Esther, wie einiges davon in einem Mörser landete. „Darf ich Euch zur Hand gehen?“, fragte sie schließlich und erhob sich.
Nelli musterte sie und stellte ihr dann den Mörser vor die Nase. „Ordentlich zerstoßen, damit sich die Wirkung entfalten kann.“
Esther versuchte ihr Bestes, um die Kräuter wie gewünscht zu zerkleinern. Nach einer gefühlten Ewigkeit schien es der Hexe auszureichen. Sie füllte eine kleine Menge aus dem Mörser in einen Becher und gab eine Flüssigkeit hinzu. Dann vermengte sie alles miteinander, während sie vor sich hinsummte.
Danach hielt sie Esther das Gebräu hin. Der Geruch erinnerte sie ganz wage an etwas anderes und sie rümpfte die Nase, den Brechreiz unterdrückend.
„Nun habt Euch nicht so, Mädchen“, feixte Nelli. „Gestern hattet Ihr euch nicht so zimperlich.“
Esther vermied es, einzuatmen, während sie den Trank runterwürgte. Sie schüttelte sich wie eine nass gewordene Katze und stellte den Becher zurück auf den Tisch. „Das ist ja widerlich!“, spie sie aus und Nelli lachte. Ganz klar lachte die Alte Esther aus!
„Wie peinlich war ich gestern?“, fragte sie die Hexe, nachdem sie Tränen aus ihren Augenwinkeln gewischt hatte.
„Ihr habt gelacht und wart offen“, meinte Nelli und räumte ihre Sachen weg. „Daran ist nichts peinlich.“
Erleichterung machte sich in Esther breit, doch bevor sie ihr Gewissen reinwaschte, wiegte die Heilerin den Kopf. „Naja. Ein bisschen peinlich wart Ihr schon.“
Esther ließ sich auf den Stuhl zurückfallen und verbarg seufzend das Gesicht hinter den Händen.
Sie spürte, wie man ihr gegen die Schulter tippte und zwischen den gespreizten Fingern sah sie, wie Nelli sie mit einem Holzlöffel anstieß. „Und wenn das Leben es gut mich Euch meint, dann wird es noch viele solcher Momente für Euch geben“, gluckste die Hexe.
„Ich verstehe nicht, was Ihr meint“, gab Esther zu und ließ die Hände sinken. Sie bemerkte, dass die Kopfschmerzen allmählich nachließen und auch das ekelhafte Gefühl in ihrer Magengegend verebbte.
In Nellis Augen glitzerte es verräterisch. „Es gibt so viel, dass Ihr noch nicht versteht“, meinte sie und fuchtelte mit dem Löffel vor Esthers Gesicht herum. „Und jetzt ab mit Euch! Ihr werdet an Deck gebraucht.“
Wieder etwas, das Esther nicht verstand, aber diesmal erhob sie sich ohne Worte und bedankte sich bei Nelli. Sie verließ das schützende Unterdeck und blinzelte, als sie ins Freie trat. Der Morgen war zwar frisch, aber die See flach und der Himmel klar. Ihr war schleierhaft, wozu man sie brauchen könnte. Davon abgesehen schien die Mannschaft im Allgemeinen nichts von ihrer Anwesenheit zu halten.
Dann gewahrte sie Bewegungen am anderen Ende des Schiffes. Sie sah, wie zwei Männer sich schuppsten und immer wieder aufeinander losgingen. Vom Weiten hörte es sich an, als stritten sich die Männer. Sie erblickte weder Edmund noch Trevor in der Gruppe, die den Streit auflösen konnten. Auch sonst bemühte sich niemand, dem ein Ende zu setzen.
Edmund hätte vermutlich schon irgendetwas geworfen. Oder besser gesagt: werfen lassen.
Sie näherte sich der Gruppe mit weit ausgreifenden Schritten und packte einen der beiden Streithähne an der Schulter. Im nächsten Moment zog sie ihren Zauberstab und richtete ihn auf den Anderen. Ihr Bannspruch zeigte sofort Wirkung, denn der Mann stockte in seiner Bewegung und glotzte sie ungläubig an. Der hinter ihr stehende Matrose schnaufte und wollte sich an ihr vorbeidrängen.
„Einen Schritt weiter und Ihr seid der Nächste!“, fauchte sie über ihre Schulter, woraufhin er mit hochrotem Kopf innehielt.
„Der Scheißkerl spielt mit gezinkten Würfeln!“, entrüstete dieser sich. Stiev, so glaubte sie, war sein Name.
Ernsthaft?!
„Das ist mir vollkommen gleich!“, rief sie genervt, während der Zauberstab weiter in Richtung des anderen Mannes zeigte. Sie sah allerdings Stiev an. „Regelt das gefälligst wie zivilisierte Menschen!“ Sie war sich zwar sicher, dass das Wort zivilisiert nicht zum Wortschatz der Matrosen gehörte, aber man konnte es ja probieren.
Sie wartete einen Augenblick, bis beide Beteiligten sich zu einem zustimmenden Nicken durchgerungen hatten und gab den Mann schließlich aus ihrem Bann frei. Sie steckte den Zauberstab zurück und wollte der Situation entfliehen. Dann eskalierte es erneut.
Lauthals schimpfend warf sich Stiev auf seinen Kontrahenten und einige Umstehenden traten ihm bei. Esther wurde mitgerissen und bevor sie ihren Stab zücken konnte, geriet sie zwischen das Handgemenge.