Es gibt 123 Antworten in diesem Thema, welches 21.734 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (27. August 2024 um 14:51) ist von Jennagon.

    • Offizieller Beitrag

    Jetzt brach die Hölle los und der Formwandler wurde von Edmund weggedrängt. Von irgendwoher kassierte er einen Schlag gegen den Kopf, was seine alte Wunde an der Augenbraue erneut aufplatzen ließ. Aber das machte er nur an dem warmen Gefühl in seinem Gesicht aus. Er drängte sich in die Freiheit. Zwei Piraten gingen umgehend auf Trevor los, deren Schläge er schaffte, zu parieren. Durch einen Schritt zur Seite, und einem Schlag mit seinem Säbel, trennte Trevor einem der Piraten die Hand mit dem darin befindlichen Messer ab. Der schrie und hielt sich seinen Stumpf, woraufhin Trevor ihm einfach die Beine wegzog. Eilig ergriff er die lose Hand, entfernte das Messer und warf es dem zweiten Angreifer in den Oberschenkel. Schreiend ging dieser ebenfalls zu Boden und verkroch sich gleichauf hinter einer Kiste. Trevor hatte noch die abgetrennte Hand in seiner, als er einen lauten Knall hörte und einen Druck an seiner Schulter spürte. Rauch stieg aus seiner dunklen Jacke empor, während er die Quelle des Lärms fixierte. „Francis …?“, stellte er fest und beobachtete den jungen Mann dabei, wie dieser rasch Schießpulver in die Pistole stopfte. Eigentlich besaß nur der Steuermann oder Kapitän eine solche Waffe, weil sonst Streitigkeiten zu schnell eskalieren konnten. Kurz war Trevor deswegen verwirrt. Allerdings handelte es sich beim Steuermann um Francis‘ Vater. Er musste sie ihm entwendet haben.
    „Schießt du feige auf mich?“, rief Trevor, winkte dem vorlauten Jungen mit der toten Hand und schnitt, ohne hinzusehen, dem Kerl am Boden den Bauch auf, zu dem das abgetrennte Körperteil gehörte. Trevor warf die Hand danach gleichgültig neben den Schreienden.
    „Ich töte dich, du kranker Wichser“, spie Francis aus. „Ich gehöre jetzt zu den Piraten!“
    Jetzt wird er auch noch persönlich …
    Trevor kontrollierte danach seine Kleidung, ignorierte die blutende Stelle – knapp über seinem Schlüsselbein. Er steckte den Finger durch das entstandene Loch in seinem Hemd sowie Jacke und wandte sich dann Francis mit wütendem Blick zu. „Francis? Diese Klamotten waren wirklich teuer …“
    Gepriesen sei Nellis Trank … Keine Schmerzen!
    Der Formwandler betrat die Treppe zum oberen Teil des Hecks und ließ den jungen Matrosen, der sich offen zu den Piraten bekannt hatte, nicht aus den Augen.
    Francis spannte derweil nervös den Lauf der Waffe, zitterte aber wie Espenlaub dabei, sodass es ihm nicht gelingen wollte.
    Ja, fürchte dich vor mir. Das tue ich auch manchmal.
    „Das ist nicht nett!“, meinte Trevor und holte mit dem Säbel aus. „Du hättest besser treffen sollen!“
    Bevor Francis dazu gekommen war, die Waffe erneut auf Trevor zu richten, kullerte der Kopf des jungen Mannes über die Holzdielen. Blut bespritzte Trevors Gesicht und Kleidung, während der leblose Körper widerstandslos zu Boden fiel.
    Anfänger …
    Trevor hob den Kopf am Haarschopf auf und nahm die geladene Waffe an sich. Dann schaute er in die aufgerissenen Augen des Kopfes. „Guck den richtigen Piraten mit zu!“ Der Formwandler ging zurück zu Treppe und steckte Francis´ Kopf auf das obere Ende des Geländers. „Damit du was lernst …“
    Seelenruhig ging Trevor danach wieder die Treppe hinunter, nachdem er Francis´ Kopf noch ein paar Mal getätschelt hatte. Der Pirat, der windend am Boden lag, und versuchte, seine Gedärme an Ort und Stelle zu halten, tat ihm fast leid. So waren Kämpfe nun mal. Entweder hatte man das Glück, sofort tot zu sein, oder mit etwas Pech eben nicht. Trevor erlöste ihn im Vorbeigehen durch einen Schuss in den Kopf und warf dann die Waffe achtlos über die Reling.
    Er hasste es, das klebrige Blut an sich zu spüren. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Irgendwo in sich vernahm er ein höhnisches Lachen, das ihn vom Gegenteil überzeugen wollte. Vor allem, als er in die Gesichter der Piraten sah. Frank stand zusammengekauert neben seinem Kapitän. Der würde seinen Arm nicht mehr so schnell benutzen. Immerhin hatte Trevor ihm sein Schulterblatt gespalten. Ein anderer saß mit dem Messer im Bein in der Ecke und tat sich sichtlich schwer dabei, es aus dem Knochen zu ziehen. Die Meuterer hielten inne, seit Trevor den Schuss abgegeben hatte. Sie betrachteten den Dicken, der tot am Boden lag. Edmund schien besser im Kämpfen zu sein, als es er ihm zugetraut hatte, obwohl der Formwandler davon ausging, dass Edmund noch nie in seinem Leben hatte töten müssen. Das hoffte er sogar für ihn. Daran war nichts Edles. Deshalb tat es Trevor auf seine Weise. Irgendetwas in ihm hielt ihn dazu an, sich am Leben zu halten. Vielleicht war es das Blut der Formwandler. Vielleicht auch nur die Aussicht auf ein anderes Leben.
    Den Piraten war anzusehen, dass sie ihre Situation überschauten. Verletzte, Tote … Ihr Bluthund war von einer "Witzfigur" besiegt worden. Weshalb Trevor ein siegessicheres Grinsen unterdrücken musste. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet und auch nicht damit, dass Trevor noch austeilen konnte. Jeder von ihnen hatte immerhin den Zusammenprall mit der Kiste gesehen.
    „Einigen wir uns auf einen Waffenstillstand“, rief Armod. „Lassen wir die Gruppe in Ruhe ziehen, ohne noch weiteres Blut zu vergießen. Bedenke, du bist verletzt.“
    „Wir haben nicht angefangen“, konterte Trevor und sah, wie Edmund weiter hinten am Schiff ins Beiboot kletterte. „Ihr wisst, was geschieht, wenn man ein verletztes Tier in die Ecke drängt.“
    „Deine letzte Chance, Trevor … Noch kannst du die Seite wechseln“, sprach Armod weiter. „Wir sagen zu fähigen Männern nicht ‚Nein‘.“
    Die aber anscheinend vehement zu euch.
    Trevor schnaubte. „Verreckt einfach auf See!“
    „Du bist kein Pirat!“, meinte Frank abfällig und hielt sich seinen verletzten Arm. „Ein Pirat würde niemals den Bluthund für einen verwöhnten Bengel spielen.“
    Trevor musste über diese Äußerung leise lachen. Denn sie waren auch nichts anderes als Untergebene, die der Geldgier nacheiferten. Weder besser, noch schlechter als Trevor. Sein Kapitän hatte wenigstens Sklavenschiffe überfallen, die Sklaven herausgeholt und ihnen einen neuen Lebenssinn gegeben. Sich gegen die Verarmung der freien Leute gewehrt. Und wenn es ging, die Menschen an Bord unbeschadet gelassen. Ein Pirat mit Prinzipien. Unter seinem Kommando war nie eine Frau zu Schaden gekommen.
    „Dann bin ich eben kein Pirat!“, stieß der Formwandler erbost aus. „Momentan gefällt mir das sogar besser! Ich werde meine Gruppe nicht verraten! Nicht für euch oder jemand anderen!“ Er steckte seinen Säbel weg.
    „Ich lasse ihn nicht ziehen. Er hat meinen Sohn getötet!“, erwiderte der Troy mit Wut verzerrtem Gesicht.
    „Bitte Troy …“, flehte Armod. „Wir haben auch Leute von ihnen getötet! Ein paar von uns müssen übrigbleiben. Gerade du!“
    Trevor sah die toten Körper des Kochs und den von Stiev. Er bedauerte deren Tod. Sie hatten tapfer gekämpft.
    „Aber es war mein Sohn!“, schrie Troy.
    „Tu das nicht“, wandte Trevor ein und wollte an Troy vorbeigehen, der ihm vehement den Weg versperrte.
    Genauso dumm wie sein Kind!
    Troy hielt seinen Säbel vor sich. Gerne hätte Trevor ihm erklärt, dass sein Sohn sich entschieden hatte und mit den Konsequenzen leben oder sterben musste, aber vermutlich wäre er taub für derart Weisheiten gewesen. Welcher Vater wäre das nicht? Es war ein Grund mehr für den Formwandler, keine Söhne zu haben. Kinder, die er ohne Richtung auf die Welt loslassen und dazu verdammen musste, ein Leben im Schatten zu führen. Immer im Kampf mit der eigenen düsteren Seite, die ihnen im Blut lag.
    „Dafür töte ich dich!“, nuschelte Troy und stach halbherzig zu.
    Trevor merkte, wie der Säbel einen Finger breit seine Haut am Bauch durchdrang, mehr nicht.
    Du bist kein Mörder … Nur ein alter Seemann …
    Regungslos blieb er stehen, während Blut an der Klinge entlangfloss. Kurz war er der Meinung gewesen, seinen Namen aus dem Hintergrund zu hören, aber das Nachlassen des Trankes begann, Trevor die Sinne zu vernebeln.
    Dem Steuermann hingegen war der Schreck über Trevors mangelndes Ausweichen oder Schmerzempfinden anzusehen. Anscheinend hatte er noch nie einen Menschen getötet und besaß deshalb eine Art Scham davor, ernsthaft zuzustechen. Etwas, das Trevor nicht mit ihm teilte.
    Wie dein Sohn, verpasst du die Gelegenheit, mich zu töten.
    Danach ergriff Trevor Troys Arm und drehte ihm den Säbel aus der Hand.
    War das alles nötig? Trevor wollte das Schiff nur noch verlassen, bevor es seine Kräfte mit ihm taten. Er spürte bereits, wie Nellis Trank rasch nachließ. Wie ihn seine schmerzenden Knochen einholten; ebenso der Rest seiner Verletzungen. Er wusste, dass er zu stark verletzt war, um die Maskerade eines brutalen Kämpfers noch weiter aufrecht zu erhalten. War sie überhaupt eine Maskerade? Aber all diese Fragen machten ihn wiederum wütend. So wütend, dass er Troys Kopf ergriff und zunächst auf die hölzerne Reling schlug. Warum musste er immer wieder unter Beweis stellen, was er konnte? Dass er mehr war als der lustige und schüchterne Seemann? Pirat? Er wusste zurzeit nicht einmal, wer oder was er war. Wütend und ermüdet von dem Kampf, ließ Trevor seinem Hass freien Lauf und schlug den Kopf des Steuermanns unter einem lauten, tiefen Schrei so lange gegen die Reling, bis er nur noch einen fleischlichen Brei in Händen hielt. „Reicht das jetzt?“, schrie Trevor die Meuterer an. „Oder muss ich weitermachen?“ Sein Brustkorb hob und senkte sich sichtbar.
    Noch ein Zucken und ich mache weiter …
    „Du kannst gehen!“, gestand Armod ihm kleinlaut zu.
    Trevor schaute noch einmal in die Runde. Er versuchte, sich die Gesichter jedes Einzelnen einzuprägen, für den Fall, dass er sie an irgendeinem Hafen noch mal wiedersah. Danach warf er Troy wütend über die Reling, als besäße dieser kein Gewicht und marschierte zum Beiboot. „Viel Spaß ohne Steuermann …“, nuschelte er dabei mehr an sich gerichtet.
    Warum konnte ihm nicht einmal etwas Gutes passieren? Etwas Gutes, das danach nicht im absoluten Chaos endete? Dann kam ihm der Kuss mit Esther in den Sinn, der seine Wut besänftigte. Wäre er gestorben, hätte er zuvor zumindest mal eine Frau geküsst. Und gleich eine Gräfin. Aber wahrscheinlich meuchelte sie ihn dafür im Schlaf. Verdient … musste er zugeben. Wenn Männer andere Männer töteten, war das eine Sache, aber einer Frau einen Kuss stehlen … Fast bereute Trevor, nicht von Francis erschossen worden zu sein. Deswegen fühlte er sich fast schlechter als wegen der Sache mit dem jungen Matrosen. Er konnte nur hoffen, dass Esther den Grund dafür verstanden hatte – und er nicht der erste Mann war, der ihr solch eine … Geste zuteilwerden ließ. Ebenso, dass Edmund verstanden hatte, dass er ihn nicht verraten wollte.
    Sechs Augenpaare starrten ihn an, als er mühsam ins Beiboot stieg. Nelli schien sich aber zu fangen und unterstützte Trevor dabei, einen Platz zu finden. Dabei entging ihm nicht, dass sie aufmunternd seinen Oberarm tätschelte.
    Sie kann vermutlich nichts mehr im Leben erschüttern!
    Sie durchschnitten die letzten Taue, und das Beiboot landete etwas unsanft auf der Meeresoberfläche. Wasser schwappte ins Boot, aber nicht so viel, dass es von Belang gewesen wäre. Trevor sah auf und erkannte, dass Edmund kreidebleich war. Er erkannte den Blick. Das war das Gesicht eines Mannes, der zum ersten Mal getötet hatte. So musste Trevor auch mit sechszehn dreingeblickt haben. Deshalb ergriff er die Ruder, setzte sich den anderen gegenüber und begann, das Boot vom Schiff zu entfernen.
    Sein Blickfeld verschwamm immer mehr. Der Schmerz sorgte für ein Klingeln in seinen Ohren. Dennoch, Trevor ruderte. Er würde es so lange machen, bis er nicht mehr konnte.
    „Junge, geht es?“, wollte Nelli wissen und durchbrach mit ihrer kratzigen Stimme die bedrückende Stille.
    Trevor überkam Übelkeit, aber nickte trotzdem. Er ruderte so lange, bis das Schiff in ausreichend Entfernung war. Dabei spürte er, wie sein Puls schwächer wurde. Seine Rippen beschwerten sich ebenfalls und seine Ruderschläge verloren an Kraft, was auch den anderen auffiel.
    „Sieh nur“, hörte er Esther sagen und sie deutete mit ihrem Zeigefinger unter den Formwandler.
    Nachdem Trevor Esthers Finger gefolgt war, entdeckte er das rot gefärbte Wasser unter sich. Noch immer tropfte Blut von ihm in das Salzwasser. Jetzt wusste er auch, warum die Jacke so sehr an seinem Rücken klebte.
    Ein Durchschuss … Wenigstens etwas …
    Aber nicht nur von da fand das Rot den Weg in das Boot. Trevor hatte das Gefühl, dass es kaum eine Stelle an seinem Körper gab, die nicht tropfte.
    Schwindel … Kribbeln im Gesicht … Trevor schüttelte sich.
    Du Schwächling … Mach weiter!
    Aber es brachte nichts. Seine Hände wurden schwach, sein Körper wollte nicht mehr. Bevor ihn die Schwärze ereilte, merkte er, wie er vornüber ins Beiboot kippte.

  • Etliche Augenblicke vergingen, in denen Esther einfach mit offenem Mund geschockt auf Trevor hinabstarrte. Dann zerrte sie den Formwandler mit Nellis Hilfe auf den Rücken, ließ sich von der Bank gleiten und landete mit den Knien auf dem Boden des Beibootes. Dabei ignorierte sie, dass ihre Kleidung nass und mit dem Blut getränkt wurde. Sacht bettete sie Trevors Kopf auf ihren Oberschenkeln und strich ihm über die Wange. „Trevor“, flüsterte sie.

    Er reagierte nicht.

    „Trevor!“, rief sie lauter.

    „Lebt er noch?“, wollte Edmund hinter ihr wissen. Sie glaubte, die Andeutungen von Sorge in seiner Stimme zu hören, die sie teilte. Das Boot kam ins Straucheln als auch Edmund näher kam. „Ihr bekommt ihn doch wieder hin, oder?“

    Wen er damit meinte, konnte Esther nicht sagen. Aus ihr unerklärlichen Gründen brannten Tränen in ihren Augen. Woher sollte sie wissen, ob er noch lebte? Ihre Hände zitterten und ihre Sicht wurde unscharf.

    Trevors Wunde am Kopf war aufgegangen, bemerkte sie. Aber das erklärte seinen Zustand nicht. Urplötzlich musste sie an die Schüsse denken und daran, wie man auf ihn eingestochen hatte.

    „Er atmet noch“, meinte Nelli plötzlich. „Aber nur sehr schwach.“

    Esther meinte ein erleichtertes Seufzen hinter sich zu hören.

    Kurzerhand griff die Hexe nach dem Dolch, der in Esthers Gürtel steckte, und schnitt die Oberbekleidung des Formwandlers einmal der Länge nach auf.

    Was Esther dann sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie wandte den Blick ab und hielt blinzelnd die Tränen zurück. Erst als Nelli ihre Hand packte und diese auf das Stoffstück presste, das auf Trevors Schlüsselbein lag, zwang Esther sich, wieder hinzusehen.

    „Wir müssen die Blutung stoppen“, meinte Nelli und sah sie eindringlich aber auch verständnisvoll und mitleidig an.

    Esther nickte nur benommen, während Nelli die Wunde an Trevors Bauch mehr schlecht als recht versorgte.

    Mit den Mitteln, die ihnen hier zur Verfügung standen, konnten sie kaum etwas ausrichten.

    Wie von selbst legte sich auch ihre zweite Hand auf die Wunde.

    Halte durch Trevor …

    Eine Welle verschiedenster Gefühle rollte über sie hinweg. Einerseits war es die Fassungslosigkeit über diese feige Meuterei. Dann die Sorge um Trevor und das er den Kampf gegen seine Wunden vielleicht verlor. Und die Wut auf sich selbst, weil sie wieder nicht verhindern konnte, dass er sich verletzte.

    Sie wusste, dass sie sich an seinem Zustand keine Schuld geben sollte. Trevor würde das vermutlich nicht wollen. Außerdem hatte sie gar keine Möglichkeit gehabt, ihn irgendwie zu beschützen.

    Weil du schwach bist, schoss es ihr durch den Kopf. Eine bejammernswerte Magierin, die nicht einmal ihre Freunde beschützen kann …

    Plötzlich reichte Nelli eines der Ruder an Esther vorbei hinüber zu Edmund.

    „Hier“, wies die Hexe an. „Da müsste Ihr wohl jetzt rudern.“

    Esther hörte nicht zu, als die beiden begannen, zu diskutieren.

    Stumm sah sie auf Trevor herab und versuchte, Ordnung in ihr gedankliches Chaos zu bringen, was ihr nur bedingt gelang. Immer wieder quälte sie die Frage, wie es nur zu dieser Situation kommen konnte.

    Es kam ihr so vor, als hätten die Meuterei beinahe auf einen Moment der Schwäche gewartete und dann zugeschlagen.

    Sie haben gewartet, bist du geschwächt warst.

    „Seht Ihr hier jemanden, der sonst noch rudern kann?“, fragte Nelli mit einem säuerlichen Unterton in der Stimme und reichte Edmund auch das zweite Ruder. „Entweder Ihr rudert oder wir können gleich alle schwimmen.“

    Esther sah über ihre Schulter zu dem Händlersohn. Wie er stur auf das Meer starrte, während er ruderte, wirkte er auf eine unbestimmte Weise verbissen, aber erweckte auch den Anschein eines eingesperrten und drangsalierten Tieres. In sich gekehrt, als würde er in diesem Moment jedes einzelne Detail der letzten Momente im Kopf noch einmal durchgehen.

    Sie konnte sich nur vorstellen, wie er sich fühlte. Binnen weniger Augenblicke hatte er beinahe alles verloren.

    Esther öffnete den Mund, um ihm ein paar tröstende Worte zu spenden, aber ihr fiel nichts ein, was dieser Situation hätte gerecht werden können. Selbst sich für seinen Schutz bei ihm zu bedanken, brachte sie nicht über sich.

    Vermutlich würde er darauf ohnehin nicht eingehen. Verständlicherweise, musste sie gestehen. Wer hörte schon gerne aufbauende Worte, wenn man vor dem Nichts stand.

    Plötzlich drehte er sich herum und sie sahen sich an.

    Sie rang mit sich, doch nicht einziges Wort wollte ihre Lippen verlassen. Er musste ihren besorgten Gesichtsausdruck einfach sehen, denn sie schaffte es nicht, diesen zu verbannen.

    „Das wird schon“, sagte er zwischen zwei Ruderschlägen. „Er ist zäh.“

    Esther war sich nicht sicher, ob er die Worte wirklich an sie richtete oder sich damit nur selber Mut machen wollte.

    Zäh war Trevor wirklich.

    Und genau genommen traf das auch auf Edmund zu. Sie hatte in dem Durcheinander auf der Eleftheria gesehen, wie er sich gegen den Piraten behauptet und schließlich getötet hatte.

    Ob er das erste Mal getötet hatte?

    Esther hoffte, dass sie ein solches Bild wie auf der Eleftheria nicht so schnell noch einmal sehen würde. Sicherlich träumte sie die nächsten Nächte davon, wie Trevor dem Steuermann das Gesicht zertrümmert oder Edmund seinen Degen aus dem Körper des Piraten gezogen hatte …

    Edmund und Trevor riskierten ihre Leben für sie und Nelli.

    Bei Edmund würde sie sich bedanken, sobald sie ein wenig zur Ruhe gekommen waren.

    Ihr Blick glitt zu Trevor. Sie hoffte, dass sie in seinem Fall überhaupt noch Gelegenheit dazu bekam.

  • Nelli war nach Außen hin die Ruhe selbst während sie Trevor versorgte, auch wenn sie innerlich vor Sorge schreien wollte. Die Verletzungen waren übel, richtig übel. Und sie hatte bei weitem nicht alles, was sie brauchte, um ihn richtig zu behandeln. Ganz abgesehen davon, dass die Enge der kleinen Nussschale und der schwankende Untergrund es kaum möglich machten, vernünftig zu arbeiten. Wenn sie ehrlich war, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob er es schaffen würde. Doch sie tat alles, was in ihrer Macht stand um ihn am Sterben zu hindern. Den anderen beiden versicherte sie mehrmals, dass der Formwandler überleben würde, dass das alles kein Problem war und er stark war. Doch in Wirklichkeit war sie sich dessen nicht sicher, doch weder Edmund noch Esther sahen aus, als ob sie die Wahrheit verkraften würden. Esther stand unter Schock und man konnte ihr das schlechte Gewissen aus tausend Meilen Entfernung ansehen, doch sie hätte es nicht verhindern können. Das Kind war schon vor Tagen in den Brunnen gefallen.

    Edmund hingegen schien jeden Augenblick des Kampfes mit dem Fetten erneut zu durchleben, jeden wachen Moment seines Daseins. Und dabei war er so mutig und tapfer gewesen. Er hatte das getan um sie zu retten und das würde die alte Heilerin ihm nie vergessen. Aber vermutlich brauchte er jetzt klare Ansagen, genauso wie Esther, die ihr bei der Wundbehandlung von Trevor half. Beide hatten eine Aufgabe von Nelli bekommen, damit sie etwas zu tun hatten, ein absolut sicheres Mittel um Panik in den Griff zu bekommen. So lange die Hände beschäftigt waren, war auch der Geist ruhiger.

    Müde wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und schickte ein Stoßgebet an alle Götter, die sie kannte, damit der junge Formwandler bald wieder erwachte und sie einen Ort fanden, wo sie sich erholen und erst mal sammeln konnten. Ewig würde der Händlersohn auch nicht rudern können und ziellos auf dem Meer zu treiben war auch keine sonderlich angenehme Aussicht. Noch dazu, dass das Wasser um sie herum kein Trinkwasser war und sie früher oder später verdursten würden. Warum hatte sie nicht daran gedacht eine Flasche mitzunehmen? Immerhin hatte sie ihre Tasche doch sonst so gut es ging bestückt. Die Hexe ließ ihren Blick über das Meer gleiten, als ihr in der Entfernung ein blau-grünlicher Schimmer auffiel. Sie rieb sich die Augen und schaute genauer hin. Doch da waren tatsächlich die Schatten der Toten, Geister, die sie auf dem Wasser sah. Da mussten Schiffe auf Grund gelaufen oder angespült worden sein, was nur eines heißen konnte...

    Ich sehe Land!“, rief sie aus und deutete in die Richtung. Edmund kniff seine Augen zusammen und sah sie misstrauisch an.

    Ich sehe da gar nichts. Halluzinierst du, Alte?“, blaffte er sie an und Nelli schloss kurz die Augen um bis zehn zu zählen, damit sie ihn nicht zurück anschnauzte. Denk dran, er hat dich gerettet und für dich getötet...

    Vertraut mir einfach. Lenkt das Boot in diese Richtung und wir finden Land“, erwiderte sie gezwungen ruhig und deutete erneut in die Richtung der Geister. Wenn sie ihm jetzt erzählen würde, warum sie darauf beharrte, dass sie da fündig werden würden, würde er sie vermutlich endgültig aus dieser kleinen Nussschale werfen. Zu ihrer Überraschung widersprach er ihr aber nicht weiter, sondern ruderte tatsächlich ihrem Fingerzeig folgend. Vermutlich war er einfach zu müde um sich weiter mit ihr zu streiten, ein weiterer Umstand, der ihr Sorgen bereitete.

    Die Gestalten auf dem Wasser wurden immer deutlicher, genauso wie die Umrisse geborstener Masten und zerschellter Schiffe.

    Warum genau willst du uns umbringen, Hexe?“, flüsterte Edmund und die Alte glaubte so etwas wie Furcht in seiner Stimme vernehmen zu könne. Nelli verdrehte die Augen. Mit einer hochgezogenen Augenbraue wandte sie sich zu ihm um.

    Wenn ich Euch tot sehen wollte, dann hätte ich einfachere Mittel und Wege. Ich hänge auch an meinem Leben“, brummte sie und starrte wieder gebannt auf die Wasseroberfläche, in der Hoffnung, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

    Als sich endlich die Umrisse einer kleinen Insel aus dem Nebel schälten, atmete sie hörbar erleichtert aus und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. Noch ein paar Tage länger in der brütenden Hitze der unbarmherzig niederbrennenden Sonne und sie wären allesamt wahnsinnig geworden. Langsam keimte auch eine vorsichtige Hoffnung in ihr auf, dass Trevor tatsächlich überleben könnte. Sie liefen mit dem kleinen Beiboot auf dem Strand auf und Nelli kletterte an Land. Mühsam ließen sie sich erst mal alle in den Sand fallen und atmeten tief durch, als könnte es keiner so richtig glauben, dass sie noch lebten. Mit Edmunds Hilfe schaffte sie es, Trevor in den Schatten von ein paar Bäumen zu legen und konnte ihn dann endlich vernünftig versorgen. Esther leistete ihr Hilfe, auch wenn die Alte an ihrem Blick sehen konnte, dass sie gedanklich ganz weit weg war.

    Danke, Kind. Den Rest schaffe ich alleine“, sagte sie schließlich mit einem Lächeln auf den Lippen und deutete mit einem Nicken an, dass Esther sich ruhig entfernen konnte. Edmund konnte sie auch nicht sehen und vermutete, dass etwas Abstand und Ruhe ihnen allen vermutlich gut tun würde.

  • Edmund half dabei Trevor an Land zu zerren. Was nicht so leicht war, denn der Kerl wog mehr als er selbst, leistete keinerlei Zuarbeit und davon abgesehen schmerzten ihm die Arme vom Rudern. Wie lang hatten sie in dem Boot gesessen? Er konnte nicht sagen, ob er nur wenige Minuten, Stunden oder sogar Tage gerudert hatte. Seine Schultern würden es ihm bald sagen.

    Allerdings war er zu erschöpft, um sich ernsthaft darüber zu beschweren, dass er kein Packesel war. Davon abgesehen, lenkte es ihn von seinen Gedanken ab, die Großteils aus Blut, Tod und den letzten Minuten auf dem Schiff und vor allem einem schlechten Gewissen bestanden.
    Als Nelli und Esther den Eindruck erweckten, allein zurecht zu kommen, ließ er sie mit Trevor hinter sich. Er ertrug den Blutgeruch nicht mehr. Und er wollte ihre Vorwürfe nicht hören, die sie ihm sicherlich machen würden, wenn sich die Sache etwas beruhigt hatte. Es war seine Schuld, dass es zu all dem gekommen war!

    Er schlurfte so weit, bis er die anderen nicht mehr sehen konnte. Dann schleppte er sich sicherheitshalber noch einige Meter voran und ließ sich gegen eine der Palmen in den Schatten sinken. Dass er sich dabei die Hose mit Gras und Sand beschmutzte, war ihm herzlich egal.
    Er zog die Beine an und blickte aufs Meer. Es erstreckte sich endlos vor ihm. Von seinem Schiff war nichts mehr zu sehen. Nur blauer Himmel, der sich im Wasser spiegelte, die Sonne, die erbarmungslos auf den Strand schien. Möwen, die über ihm kreischten. All das kam nur oberflächlich bei ihm an. Es kümmerte ihn nicht. Warum auch?
    Das hatte er nun davon! Er hatte die anderen in die ganze Sache hineingezogen. Wegen ihm hockten sie auf einer Insel mitten im Nirgendwo! Wegen ihm würden sie alle sterben! Und Trevor vermutlich vor ihnen allen! Nur weil er diesen Kampf provoziert hatte. Wäre er nicht gewesen, hätte Trevor nicht kämpfen müssen. Er war sowieso schon verletzt gewesen und das hatte er genau gewusst. Dennoch hatte er ihn kämpfen lassen. Ob Trevor es bereute, sich auf seine Seite gestellt zu haben? Ob er überhaupt noch die Gelegenheit dazu bekommen würde? Die Verletzungen waren schlimm und das viele Blut … Nelli konnte ihm sagen, was sie wollte. Er wusste genau, dass es um Trevor nicht gut stand.
    Edmund blickte in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Alles deine Schuld!
    Und Nelli? Die alte Hexe hatte sich sicherlich auch etwas Anderes vorgestellt, als allein auf einer Insel mitten im gefährlichsten Seegebiet der Welt zu sterben! Sie hatte bestimmt Freunde – irgendwo -, die sie nun nie wiedersehen würde. 179 Jahre und dann traf sie auf ihn. Wegen ihm würde sie die 180 Jahre nicht mehr erreichen. Wegen ihm ... Sie hasste ihn sicherlich. Wie sollte es auch anders sein.
    Du bist Schuld!
    Esthers Vater gegenüber hatte er versprochen, auf seine Tochter aufzupassen! Nicht einmal das hatte er geschafft! Nicht nur, dass sie sich in diesem dummen Sturm völlig verausgabt hatte, nun war die Gräfin auch noch wegen eines albernen Aberglaube von Bord geworfen worden. Hätte er eher auf Nelli gehört, hätten sie eher auf den Sturm reagieren können. Esther hätte sich nicht verausgaben müssen. Trevor wäre nicht verletzt worden. Hätte er eher erkannt, dass seine Mannschaft unzufrieden war, und sich Piraten an Bord befanden, hätte er reagieren können. Stiev und der Koch wären nicht gestorben! Von letzterem kannte er ja noch nicht einmal den Namen! Esther wären all diese Eindrücke erspart geblieben!
    Wie konntest du nicht merken, dass Piraten an Bord waren?
    Edmund merkte, wie seine Hände zitterten und vergrub sie in den Hosenbeinen.

    Es ist zu spät! Er konnte nichts mehr machen.
    Er schwor sich, dass er nicht zu den anderen zurückgehen würde. Er wollte nicht dabei sein, wenn Trevor starb. Den Anblick würde er nicht ertragen. Noch mehr Blut, das an seinen Händen klebte. Noch mehr Tod! ... Ein Freund weniger.
    Und sie würden ihn sowieso nicht bei sich haben wollen…

    Warum auch?

    Von wegen Freund! Sollte Trevor es doch überleben, würde dieser das Wort sicherlich nicht in seinem Zusammenhang in den Mund nehmen.
    Edmund rollte sich zitternd zusammen und presste die Hände auf die Ohren.
    Als er die Augen schloss, schossen die Bilder an den Kampf durch seinen Kopf. Das Geschrei der Männer. Metall, das aufeinanderschlug. Stiev, wie er leblos am Boden lag. Die glasigen Augen des Dicken, die ihn hasserfüllt und anklagend ansahen.
    Würden ihn die anderen auch so ansehen?
    Er versuchte, den Gedanken an den Dicken abzuschütteln, presste die Augen fester zusammen und die Hände noch etwas mehr gegen die Ohren. Das wütende Klagen seiner Gedanken ließ nicht nach. Im Gegenteil, es schien immer lauter zu werden. Trat auf ihn ein, bespuckte und beschimpfte ihn. Er war ein Idiot! Ein Versager! Ein Mörder.

    Er hatte den Dicken umgebracht. Manfred. Der Mann hatte einen Namen gehabt. Ob er eine Familie hatte? Irgendwo? Kinder, die ihren Vater nun niemals wieder sehen würden? Eine Frau, die vergeblich wartete?
    Nein!
    Er hatte ihn nicht umbringen wollen. Der Kerl war in seinen Degen gefallen. Es war ein Unfall gewesen. Er hatte die anderen nicht in diese Situation bringen wollen. Er hatte sie beschützen wollen!
    Nein, du wolltest sie nicht beschützen! Nur dich selbst! Du wolltest deinem Vater etwas beweisen!

    Ja, bewiesen hatte er ganz großartig, dass sein Vater Recht hatte und er zu nichts nütze war. Was hatte er erwartet? Es war von Anfang an klar gewesen, dass er niemals in Samira ankommen würde.
    Er hätte sterben sollen, statt Stiev. Er hätte verletzt werden sollen, statt Trevor. Er sollte allein auf dieser Insel sitzen, nicht mit den anderen. Er hatte es verdient! Die anderen nicht!

    Seine Gedanken bewegten sich noch unzählige Male im Kreis, wurden mit jedem mal schlimmer, als würde er sich in einem Strudel befinden, aus dem er einfach nicht freikam.

    Irgendwann holte ihn der Schlaf und die Erschöpfung der letzten Stunden und Tage ein. Doch auch im Schlaf wurde er die Bilder nicht los. Immer wieder sah er die Augen des Dicken. Immer wieder stieß er ihm den Degen in den Hals. Immer wieder spürte er das Blut auf seiner Haut. Wie es ihm die Hände entlangrann - nass und warm. Und immer wieder hörte er das Röcheln. Und mit jedem Mal wurden die Stimmen der anderen lauter, die ihm die Schuld gaben.

    Als er das erste Mal wach wurde, war die Sonne noch nicht untergegangen. Er fror.

    Das zweite Mal erstreckte sich ein klarer Himmel über ihm. Er schwitzte.

    Das dritte, vierte und fünfte Mal spürte er, wie der Boden unter ihm immer mehr auskühlte.

    Bei jedem Erwachen besah er sich panisch die Hände, sah das getrocknete Blut an den Ärmeln seines Hemdes.

    Bei jedem Erwachen versuchte er sich die Schuld im Meer abzuwaschen. Doch das Blut blieb an seinen Händen kleben.
    Nach dem sechsten Mal weigerte er sich dagegen, die Augen nochmals zu schließen und blieb im nassen Sand direkt am Meer sitzen.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

  • Vielleicht hätte sie sich hinlegen sollen, aber Esther wusste, dass sie keine Ruhe fand. Die Ereignisse lagen noch schwer auf ihr und sie schaffte es nicht, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

    Während sie den Strand entlang ging, tauchten immer wieder die Bilder der Meuterei vor ihrem inneren Auge auf. Sanft rollten die Wellen über den weißen Sand und die Palmen raschelten im Wind. Sie ließ ihren Blick über die exotischen Pflanzen wandern, sah noch einmal kurz über die Schulter zurück zu den Anderen, und verschwand kurz darauf im Wald.

    Nachdem sie einige Schritte gegangen war, setzte sie sich an einen Baum und zog die Knie an. Es dauerte nicht lange, bis ihr wie von selbst die Tränen über die Wangen rannen. So sehr sie diese vorhin noch zurückgehalten hatte, so schnell kehrten sie zurück und das mit aller Macht, als begriff ihr Körper erst in diesem Moment, was geschehen war.

    Ihr Vater hatte es vorausgesehen und sie musste sich eingestehen, dass sie einer solchen Reise nicht gewachsen war. Hätte Edmund einen männlichen Magier anstelle ihrer Person mitgenommen, wäre es nie so weit gekommen.

    Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen, als der leblose Körper des Kochs in ihren Gedanken auftauchte.

    Er starb, weil er sie geschützt hatte.

    Übelkeit stieg in ihr auf und sie presste sich die Hand auf den Mund. Schwer schluckte sie den sauren Kloß hinunter.

    Bilder des zertrümmerten Schädels und des aufgeschlitzten Bauches wurden wieder präsenter, die Geräusche aufeinanderprallenden Waffen lauter.

    Esther stemmte sich in die Höhe, Schwindel übermannte sie und flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus.

    Sie sah Francis abgetrennten Kopf, die Leiche des Steuermanns, die über Bord ging, hörte die zwei Schüsse.

    Alles drehte sich um sie herum. Haltsuchend lehnte sie sich mit einer Hand gegen die Palme und erzitterte als sich ihr Mageninhalt vor ihren Stiefeln ergoss.

    Stiev, der Koch, der Steuermann und die anderen Männer würden vermutlich noch leben, wenn sie nicht gewesen wäre. Oder Nelli …

    Trevor und Edmund hätten niemanden töten müssen.

    Andererseits hätte der Händlersohn nur verraten müssen, was für eine wertvolle Ware er an Bord hatte.

    Sie ließ die Hände sinken und richtete sich vorsichtig auf.

    Hör auf! Niemand trägt die Schuld an dieser Situation.

    Wütend und schniefend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und den sauren Speichel aus den Mundwinkeln. Sie war froh, dass weder Edmund noch Nelli sie so sahen.

    Und es hilft niemanden, wenn du jetzt hier sitzt und heulst!

    Sie atmete einige Male tief durch, zupfte ihren Zauberstab unter ihrem Ärmel hervor.

    Mit der anderen Hand zog sie zögerlich den Dolch aus ihrem Gürtel. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie damit auf jemanden eingestochen hatte. Obwohl sie dafür da war, die Menschen zu beschützen, hatte sie einen der Männer verletzt.

    Sie verdrängte den Gedanken und drehte sich unschlüssig einmal im Kreis. Dann schlug sie unbeholfen eine Kerbe in den Baum, an dem sie gesessen hatte.

    Sie würde Trevor fragen, wie man mit dem Dolch vernünftig umging, sobald er wieder wach war. Oder sie gab ihm dieses Ding einfach zurück, was vermutlich besser war. In ihren Händen hatte diese Waffe keinen Zweck.

    Falls er wieder aufwacht …

    Bevor sie weiter über Trevors Zustand nachdachte, setzte sie sich in Bewegung.

    Sie wusste, dass er überleben würde. Er musste es einfach schaffen …

    Esther verbot es sich, eine andere Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen.

    Schließlich wagte sie sich weiter in den Wald hinein. In regelmäßigen Abständen machte sie Kerben in die Bäume, damit sie später den Weg wieder zurück fand.

    Wonach genau sie suchte, wusste sie nicht, aber es lenkte sie ab und gab ihr das Gefühl, nicht nutzlos in der Ecke zu sitzen, wo sie ohnehin keine Ruhe fand.

    Sie hielt darin inne, die Rinde zu malträtieren und überlegte, ob Edmund seit dem Sturm überhaupt geschlafen hatte, während sie sich in ihrem Zimmer ausgeruht hatte. Sicherlich war er damit beschäftigt gewesen, die Aufräumarbeiten zu überwachen. Sie dachte an das, was Trevor über den Händlersohn gesagt hatte. Das er besorgt um sie war. So kühl und übellaunig wie er immer wirkte, konnte sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Anderseits hatte sie seine zitternde Stimme auf dem Beiboot gehört, als er sich nach Trevors Zustand erkundigte.

    Konnte es sein, dass Edmund den kühlen und berechnenden Händler nur mimte, um nicht schwach zu wirken? War dies eine Fassade? Eine Fassade, die langsam zu bröckeln begann?

    Nachdenklich ließ sie den Dolch sinken und fuhr mit den Fingern über die Kerbe, die sie auf Augenhöhe in den Baum geritzt hatte.

    Hoffentlich nehme ich das später überhaupt noch wahr …

    Sie sah unsicher über ihre Schulter und fragte sich, ob es vielleicht besser wäre, zurück zu den Anderen zu gehen.

    Bevor sie den Gedanken zu Ende spinnen konnte, ging sie weiter.

    Drei Kerben später gab plötzlich der Boden unter ihren Füßen ein wenig nach. Überrascht stockte sie und sah hinab, hockte sich hin und befühlte die Erde.

    Sie war feuchter als vor ein paar Schritten noch.

    Esther hob den Blick und versuchte durch die dichte Blätterwand etwas zu erkennen. Doch sie sah nicht, was sich dahinter verbarg.

    Sie erhob sich und folgte dem immer nasser werdenden Pfad, wobei sie auch hier die Bäume kennzeichnete, obwohl sie immer unruhiger wurde. Aber es brachte nichts, wenn sie losstürmte und den Weg nicht markierte.

    Mit dem Dolch kämpfte sie sich stolpernd durch die Büsche. Blätter peitschten ihr ins Gesicht und je weiter sie kam, desto besser hörte sie das Rauschen.

    Und dann tat sich vor ihr wahrhaftig ein Paradies auf.

    Zu ihren Füßen breitete sich eine Quelle aus, die sie auf vielleicht fünfzig Fuß schätzte. Sie könnte aber auch kleiner oder sogar größer sein. Schätzen war nicht ihre Stärke. Ein schmaler Wasserfall brauste rauschend hinein und verbreitete eine angenehme Kühle.

    Esther steckte den Dolch in den Gürtel und verstaute ihren Stab in der Schnalle. Dann stieg sie vorsichtig die Böschung hinab. Am Ufer fiel sie auf die Knie und tauchte die Hände ins kalte Wasser. Das eingetrocknete Blut – Trevors Blut - löste sich von ihren Fingern und sie schrubbte so lange, bis davon nichts mehr zu sehen war. Zögerlich starrte sie auf das Wasser, dass sie sich in die hohle Hand geschöpft hatte und probierte es schließlich.

    Es ist Süßwasser!

    Erleichterung machte sich in ihr breit. Ohne Wasser hätten sie hier kaum überleben können. Damit war zumindest ein Problem gelöst.

    Nachdem sie das Bild kurz auf sich hatte wirken lassen, erhob sie sich und nahm den gleichen Weg wieder zurück.

    Als sie wieder am Strand ankam, suchte sie sich einige Steine und legte sie auf einen Haufen. Anschließend steckte sie einen Ast hinein. Das würde als Wegweiser dienen, damit sie die Quelle wiederfanden.

    Zu Schade, dass sie nichts hatte, um das Wasser zu transportieren. Sie würde sich besser fühlen, wenn sie Nelli, Edmund und Trevor etwas davon hätte mitbringen können.

    Sie sah in den dunkler werdenden Himmel hinauf. Es erschien ihr ratsam, wieder zurück zu den Anderen zu gehen, bevor die Nacht vollständig hereinbrach.

    Etliche Schritte später entdeckte Esther die Hexe neben Trevor an einer Palme lehnend.

    „Ich habe eine Süßwasserquelle gefunden“, sagte sie leise, woraufhin Nelli sich zu ihr umwandte. Esther sah sich besorgt um und noch bevor die Heilerin etwas erwidern konnte, fragte Esther: „Wo ist Edmund?“

  • Nelli starrte Esther für einen Moment an und musste sich kurz sammeln.

    Irgendwo am Strand schätze ich. Ich gehe es gleich herausfinden. Aber wo finde ich die Quelle? Wasser wäre für uns alle jetzt wichtig.“ Esther beschrieb ihr den Weg und so rappelte sich die alte Frau auf und entgegen Esthers Widerworte, ließ sie sie mit Trevor allein.

    Glaub mir, Liebes. Dein Gesicht wird er sicher lieber sehen als meines, wenn er wach wird.“ Sie tätschelte die Magierin beruhigend auf die Schulter und watschelte langsam den Weg entlang, den Esther ihr gewiesen und durch die Kerben in den Bäumen auch deutlich gemacht hatte. Kurz bevor sie umdrehen wollte, weil sie dachte, eine Abzweigung verpasst zu haben, meinte sie plötzlich ein Rauschen zu hören. Sie folgte dem Geräusch und stand schließlich vor der Quelle.

    Geister der Natur....Danke...“ Erschöpft ließ sie sich von dem Wasser sinken und streckte ihre Hände unter das kühle Nass, sodass dieses über ihre Arme lief und die Reste von Blut abwusch. Mit ihren Händen formte sie eine kleine Schale, in der sie das Wasser auffing um es sich ins Gesicht zu spritzen und sich ein wenig abzukühlen. Zum guter Letzt trank sie gierig ein paar Schlucke und genoss das kühle Gefühl, was ihre Kehle hinab rann.

    Sie kramte in ihrer Tasche und nahm schließlich die zwei leeren Flaschen hervor, in denen irgendwann mal der Schnaps gewesen war. Sie füllt sie bis oben hin und verschloss sie vorsichtig um ja nichts zu verschwenden. Mühsam erhob sie sich und trat den Rückweg an. Eine der Flaschen ließ sie bei Esther und half ihr, Trevor etwas davon einzuflößen. Der seufzte leise, als sie seine Lippen benetzten, was Nelli ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

    Er wird wieder. Bald ist er wieder ganz der Alte“, versicherte sie Esther erneut, ehe sie sich wieder erhob, dieses Mal um das verlorene Schaf zu finden.

    Sie lief zurück an den Strand und ging einfach in die entgegen gesetzte Richtung von ihnen. Weit weg konnte er nicht sein und sich verstecken war auf dieser kleinen Insel auch ziemlich schwierig. Nachdem sie die Insel schon eine ganze Weile umrundet hatte, erkannte sie schließlich eine Gestalt an einer Palme gelehnt. Mit einem Ächzen ließ sie sich neben ihm sinken und hielt ihm die zweite Flasche Wasser hin.

    Hier, trinkt was. Ihr seid halb verdurstet und habt eindeutig zu viel Sonne abbekommen“, begrüße sie ihn und musterte sein Gesicht, was von einem Sonnenbrand gezeichnet war. Edmund musterte die Flasche nur misstrauisch, was Nelli seufzend dazu veranlasste, selbst einen Schluck daraus zu nehmen um zu zeigen, dass sie ihn nicht vergiften wollte.

    Keine Sorge, dass Wasser kommt nicht von mir, die Quelle hat die junge Gräfin gefunden.“ Edmund beobachtete sie dennoch skeptisch und wandte dann den Blick wieder ab um auf das Wasser zu starren. Als stellte die alte Heilerin die Flasche einfach neben ihn und schwieg einen Moment.

    Sie macht sich Sorgen um Euch. Die Gräfin meine ich. Genauso wie ich. Was tut Ihr hier?“, fragte sie schließlich, doch Edmund strafte sie weiter mit Schweigen. Unwillig kniff die Alte ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Gut, wenn er es nicht anders wollte.

    Ihr ward sehr mutig. Und ich danke euch, dass ihr mich verteidigt habt.“ Ah, endlich eine Reaktion. Edmunds Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und er erinnerte Nelli an ein verwundetes Tier. Ihr Herz zog sich vor Mitleid zusammen.

    Geh weg. Lass mich in Ruhe“, krächzte er heiser und wandte ihr nun endgültig den Rücken zu. Die Alte räusperte sich.

    Um was zu tun? Euch hier sterben zu lassen?“, wollte sie wissen und bekam als Antwort ein gebrummtes „Ja.“

    Das werde ich mit Sicherheit nicht. Dir ist bewusst, dass hier so lange sitzen bleibe, bis du mit mir redest. Und wenn es Ewigkeiten dauert. Ich habe eine Menge Zeit. Die Insel bietet nicht wirklich viel Beschäftigung“ forderte sie ihn weiter heraus. So lange er wenigstens irgendwie sprach, war sie zufrieden. Und wenn er sie beleidigte, weil sie ihm nicht den gebührenden Respekt erwies, dann hatte sie es aber immerhin geschafft, ihn aus seinen Gedanken zu reißen.

    Ich will nicht reden“, murmelte Edmund nach einigen Augenblicken des Schweigens. Nelli streckte ihre Beine aus und nickte langsam.

    Gut, dann also nicht reden. Also möchtest du weiter in deinem Gedankenstrudel fest hängen und darin ertrinken. Tut dir das gut? Hast du Spaß?“, triezte sie ihn weiter bis er sich zu ihr umdrehte und sie wütend anfunkelte.

    Ich habe grade nur einen Gedanken und der würde verschwinden, wenn du endlich gehst! Also hau ab!“ fuhr er sie an, doch Nelli wich nicht ein Stück vor ihm zurück, sondern schaute ihn einfach weiter ruhig an.

    Ach ja? Und der wäre?“, fragte sie nach, darum bemüht, ruhig zu bleiben und das Gespräch am Laufen zu halten.

    Du nervst! Du bist immer noch hier, obwohl ich dir gesagt habe, du sollst verschwinden!“ Seine blauen Augen blitzen förmlich vor Wut und Nelli erwiderte seinen Blick.

    Das tun Freunde nun mal! Ich lasse dich hier mit deinem Elend nicht allein!“, fauchte sie ihn an und wusste sofort, dass sie einen schritt zu weit gegangen war. Edmund zuckte zurück, als ob sie ihn geschlagen hätte und zog sich wieder in sich zurück. Innerlich schalt Nelli sich eine Närrin, sie hätte es wissen müssen.

    Ich brauche keine Freunde...“ kam es fast tonlos vom Händlersohn und die alte Hexe warf die Hände in die Luft. Langsam ging auch ihr das an die Nerven und gefühlt war es gerade an ihr, sie alle irgendwie zusammen zu halten. Es fühlte sich an, als würde sie versuchen, drei Brände gleichzeitig zu löschen und dabei war Trevor ihr kleinstes Problem.

    Dumm gelaufen. Du hast aber welche. Ich zähle mindestens drei“, brummte sie schließlich und fuhr sich durch die Haare. Sie kramte aus ihrer Tasche ihr Kopftuch und band das so, dass es ihre grauen Locken aus dem Gesicht hielt.

    Warum?“, ertönte eine leise Stimme neben ihr und ließ sie zu ihm aufschauen.

    Was 'warum'? Wir drei vertrauen dir und auf deine merkwürdige Art bist du sogar ganz nett und fürsorglich. Was auf der Eleftheria passiert ist, ist nicht deine Schuld. Nichts davon. Das ist allein die Schuld von diesen Idioten, die jetzt ohne Steuermann ziellos auf dem Meer rum treiben“ erläuterte sie ausgiebig und ließ ihren Blick auf ihm ruhen. Edmund seufzte schwer genervt auf und funkelte sie dann wieder böse an und Nelli ahnte, dass sie vermutlich schon wieder einen wunden Punkt getroffen hatte.

    Nein, die Frage war: Warum gehst du nicht einfach? Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt.“ Seine Stimme hatte wieder diesen schnippischen Unterton angenommen, der Nelli an ihren guten Absichten zweifeln ließ.

    Völlig richtig, aber mittlerweile solltest du wissen, dass ich nie das tue, was man von mir verlangt.“ Sie schmunzelte leicht und stupste ihn dann mit dem Finger gegen die Brust. „Ich weiß, dass deine harte Schale nur Fassade ist, Junge. Ich weiß, dass dir das alles unglaublich zu schaffen macht. Genau deswegen kann ich dich nicht allein lassen.“ Ihre grünen Augen funkelten nun auch mittlerweile bedrohlich, doch Edmund schien das entweder nicht zu merken oder es war ihm schlicht egal. Unsanft schlug er ihre Hand weg.

    Du weißt gar nichts. Und hör auf mich zu duzen, Hexe!“ Nelli grinste, es war ihm also doch aufgefallen. „Geh schauen, ob sich jemand anderes für dein dummes Geschwätz interessiert.“ Der junge Mann rappelte sich auf und schwankte bedrohlich, was Nelli an seinen Zustand erinnerte. Leise seufzte sie, während Edmund sich an die Palme lehnte.

    Kommt mit zu dem Rest von uns. Esther hat nach Euch gefragt. Ich vermute, sie wird Euch selbst suchen, solltet ihr nicht mit mir kommen“, bat sie schließlich mit deutlich sanfterer Stimme und schaute zu ihm auf.

    Ich will nicht!“, brummte er und fuhr sich dann mit der Hand über das rote Gesicht. „Ich...Lebt Trevor noch?“ Seine Stimme klang ein wenig brüchig und hatte etwas flehendes, das Nelli dazu veranlasste, auf zustehen und ihm die Wasserflasche in die Hand zu drücken.

    Er wird wieder. Sein Herzschlag ist kräftiger und sein Atem gleichmäßiger, wir müssen seinem Körper jetzt einfach ein bisschen Zeit geben“, versprach sie zum wiederholten Mal an diesem Tag.

    Ich...“ Edmund wich ihrem Blick aus und starrte wieder stumpf auf das Meer. So intensiv, dass Nelli sich schon fragte, ob er da etwas erkennen konnte und er doch dem Wahnsinn näher war, als sie gedacht hatte. „Ich wollte das nicht. Wenn Trevor stirbt, ist das meine Schuld. Ich will nicht zurück. Ich will nicht dabei sein!“, brach es letztendlich aus ihm heraus und wieder nahm sein Gesicht den Ausdruck eines verwundeten Tieres an. Nelli seufzte tief und schüttelte leicht den Kopf.

    Das weiß ich. Aber er wird nicht sterben. Das verspreche ich bei meiner Ehre als Hexe.“ versuchte sie ihn zu beruhigen. Immerhin nahm er ihr jetzt mal die Flasche ab und trank einen Schluck.

    Hör auf zu sagen, dass du 'es weißt', Hexe“, maulte er dann wieder und Nelli glaubte erneut, mit einem kleinen Kind zu reden, was ihr wieder ein leichtes Schmunzeln auf die Lippen zauberte.

    Wie ihr wollt. Aber selbst ein Blinder konnte sehen, dass das definitiv nicht Eure Absichten gewesen waren. Das wäre ja auch reichlich dumm.“

    Edmund brummte wieder missgelaunt. „Und ich komme trotzdem nicht mit.“ Die Hexe seufzte schwer und war wirklich langsam am Ende ihrer Nerven. Sie baute sich vor ihm auf.

    Wovor um alles in der Welt habt ihr solche Angst?“, wollte sie mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme wissen.

    Ich hab keine Angst!“, beharrte Edmund, doch der Älteren war nicht entgangen, wie sehr seine Hände zitterten, mit denen er die Wasserflasche noch immer umklammert hielt. Sie zwang sich tief durchzuatmen und schaute zu ihm auf.

    Bitte kommt mit mir. Ich bitte euch aufrichtig darum.“ Für ihre Verhältnisse war das schon fast ein Flehen, doch auch das stieß auf taube Ohren.

    Ich habe dich gebeten zu gehen, was du nicht gemacht hast. Also bleibt meine Antwort weiterhin: Nein! Geh! Hau ab! Lass mich in Ruhe!“ fauchte er und stellte die Flasche in den Sand und wandte sich dem Wasser zu. Nelli beobachtete, wie er sich nieder beugte und seine Hände fast schon manisch wusch. Seufzend gab sie schließlich auf und zuckte mit den Schultern.

    Ganz wir ihr wünscht. Ich will Euch nur helfen. Das kann ich aber nur, wenn Ihr mich lasst. Niemand von uns ist böse auf Euch. Wir machen uns nur Sorgen“, fügte sie in einem letzten Versuch hinzu und hörte ihn nur leise schnauben.

    Ich brauche deine Hilfe nicht. Und deine Sorge erst recht nicht...“ warf er ihr noch an den Kopf, während er seine Hände schrubbte. Nelli schüttelte den Kopf und machte sich schließlich auf den Rückweg. Esthers fragender Blick traf sie und mit einem tiefen, müden Seufzen ließ sie sich im Sand sinken.

    Er ist noch nicht so weit, er braucht noch Zeit. Wir können nur hoffen und warten“, erklärte sie ruhig und rieb sich die Augen. „Und ich brauche jetzt ein bisschen Schlaf. Ruh dich auch aus, Mädchen. Trevor ist morgen auch noch da.“

    • Offizieller Beitrag

    Es sind vier Marineschiffe, Kapitän!
    Vier? Diesmal meinen sie es ernst!
    Wir werden kämpfen! Wir alle!
    Trevor, nimm das Beiboot!
    Was?
    Dein Tod nutzt uns nichts. Flieh auf die Insel, das ist ein Befehl!
    Ich werde nicht feige wegrennen! Ich bleibe bei euch!
    Geh, Junge!
    Ja, geh, Trevor! Gegen so viele Schiffe haben wir keine Chance.
    Aber ihr bleibt auch, warum sollte ausgerechnet ich fliehen?
    Du bist der Jüngste von uns, wir haben gelebt, und … du hast noch nicht einmal die Wärme einer Frau gespürt, verpiss dich jetzt!
    Nein! Ich bleibe und sterbe mit euch!
    Entschuldige, Junge, aber deine Sturheit bringt dir hier nichts …
    Was mei…

    „Ich werde nicht gehen!“, nuschelte Trevor schwach und vermischte Traum mit dem Erwachen. „Ich bleibe bei euch!“ Er erkannte schwach Licht durch seine Lider, die er aber noch geschlossen hielt. Das Wann und Wo holte ihn mit seinen Schmerzen ein. Jede Stelle machte ihm deutlich, was zuletzt geschehen war. Edmund, Esther und Nelli … Die Meuterer und Piraten.
    Ich lebe noch! Wer hätte das gedacht?
    Trotz seiner Schmerzen rang ihm die Erkenntnis, noch am Leben zu sein, ein Schmunzeln ab.
    Plötzlich erklang ein Rascheln neben ihm, und irgendwer tupfte seine Schulter ab.
    „Wie lange liege ich hier schon?“, fragte er schwach.
    Ein erleichtertes Seufzen erklang, und es war nicht das einer alten Frau. „Zwei Tage“, hörte er Esther leise sagen.
    Umgehend rutschte Trevor das Herz in die Magengrube. Ausgerechnet sie saß neben ihm. Er hatte die Vorkommnisse an Bord noch nicht mit ihr klären können. Aber immerhin hatte sie ihn noch nicht erdrosselt. Kümmerte sie sich erneut um seine Wunden? Nachdem er weiteres Tupfen an seiner Schusswunde verspürte, musste es wohl so sein. „Seid ihr alle wohlauf?“, fuhr er kratzig fort.
    „Ja, mach dir darüber keine Gedanken“, antwortete Esther.
    Trevor entging nicht, dass sie ihn mit Du angesprochen hatte. Aber sollte er nachfragen? Was, wenn sie ihn nun einfach als niederes Wesen ansah, nachdem, was er getan hatte? Wenn sie die Achtung vor ihm verloren hatte – wenn sie jemals welche vor ihm gehabt hatte. Er schluckte. Irgendwie fand er die Vorstellung nicht gut, dass sie – oder auch alle anderen – schlecht von ihm dachten.
    Er kniff etwas die Augen zusammen, als sich ein leicht brennendes Gefühl an seiner Schulter ausbreitete. Wie sollte er anfangen, das alles richtig zu stellen, vor allem nach allem, was er zu den Piraten gesagt hatte? Und nicht nur gesagt … Er hatte auch nicht die beste Seite von sich während des Kampfes gezeigt. Für die Augen einer Adligen muss das geradezu barbarisch gewesen sein. Er hielt noch einmal inne und überdachte seine genauen Worte.
    „Wie fühlst du dich, Trevor?“, fragte sie und durchbrach damit das Schweigen.
    Er versuchte, seine Augen zu öffnen, was ihm auch gelang. Er wandte seinen Kopf zu ihr herum, was unnatürlich lange dauerte und mühsam war. „Ein ‚Gut‘ würdet Ihr mir wohl nicht abkaufen“, antwortete er und rang sich zu einem Lächeln durch.
    Sie erwiderte das Lächeln, aber Trevor fiel auf, dass es sie ebenso Mühe kostete.
    „Da hast du recht“, erwiderte sie schließlich.
    Trevor drehte sich herum und betrachtete die aus Blättern bestehende Decke des anscheinend errichteten Unterstands. Er atmete tief durch. „Gräfin …“, begann er, „meine Worte und Taten an Bord … ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen. Ich hoffe, Ihr glaubt mir das.“
    Aus dem Augenwinkel heraus, erkannte Trevor, dass Esther vorsichtig nickte.
    „Du hast getan, was du tun musstest, um uns zu beschützen“, gestand sie ihm zu, woraufhin er ein kurzes Lachen ausstieß, was aber umgehend von einem Stöhnen unterbunden wurde. Seine Knochen und Wunden hielten nichts von Erschütterungen.
    „Für den Schutz danke ich dir“, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort.
    Trevor verkniff sich sein Lächeln und legte stattdessen seine Stirn in Falten. Schutz … Es klang, als ging sie davon aus, dass das alles Mittel zum Zweck gewesen war, aber wenn er lange genug über die Situation nachdachte, war er nur den bequemsten und für ihn angenehmste Weg gegangen. Genauso gut hätte er bei seinem vermeintlichen Seitenwechsel sie als Gefangene zum Beiboot bringen können, das hatte er aber nicht. „Immer wieder …“, entgegnete er ehrlich, bevor sein Schweigen zu lange anhielt.
    Danach wurde es still um die beiden. Trevor merkte, wie sie geradezu mechanisch seine Wunden reinigte. Sie rang den Lappen aus und begann danach, die Wunde an seinem Bauch zu säubern. Ihr Blick wirkte nachdenklich. Aber was sollte er sagen? Sie schien nicht in Stimmung für amüsante Kommentare zu sein.
    „Es tut mir leid, dass du ... wieder verletzt worden bist. Ich wünschte, ich hätte das verhindern können“, flüsterte sie nach einer Weile, und Trevor sah sie an. Sie machte sich Vorwürfe? Esther richtete weiterhin ihren Blick auf seine Wunde.
    Trevor hob schwach seine rechte Hand und ergriff sanft ihren Arm am Handgelenk der Hand, welche die Wunde behandelte. „Daran seid ihr doch nicht schuld“, sprach er. „Ich kenne nicht viele Magier, aber Ihr scheint sehr talentiert zu sein. Trotzdem könnt Ihr nicht jeden und alle schützen. Vor allem nicht mich. Versucht das auch gar nicht. Ich möchte nicht an Eurem Gesichtsausdruck die Schuld tragen.“
    „Das kann ich nicht versprechen“, gestand sie und sah ihn an.
    Er lächelte erneut. „Und ich kann Euch nicht versprechen, mich nicht mehr zu verletzen. Aber ich werde versuchen, Euch weniger Arbeit zu bereiten.“ Dabei fiel ihm etwas ein und ließ vorsichtig wieder ihren Arm los. „Es ist immerhin auch nicht die Aufgabe einer Gräfin, die Wunden eines Nichts zu versorgen, das ich nun mal bin.“
    „Du bist kein Nichts. Jeder hat seinen Wert“, korrigierte sie ihn bestimmt.
    Trevor atmete tief durch, während sie sich wieder seiner Wunde zuwandte. „Das mag sein“, gestand er. „Aber Ihr habt die Meuterer gehört … Ich bin kein Pirat. Kämpfen kann ich, aber … bin ein schlechter Formwandler … Ich küsse die erste Frau im Angesicht des Todes …“
    Halt, was?
    Er riss die Augen auf und starrte sie an. Die Schmerzen mussten ihm vollständig den Verstand vernebelt haben.
    „Die … erste Frau“, gab Esther verwundert von sich.
    Trevor besaß anscheinend noch nicht genug Blut, um rot anzulaufen.
    „Zumindest haben wir eines gemeinsam, denn das war auch mein erster Kuss“, sagte sie weiter, was ihn die Braue anheben ließ.
    Hast du großartig hinbekommen … Du verdienst jede einzelne Verletzung, du Schmalspurromantiker.
    „Kannst du dich dazu durchringen, mich nicht mehr als Gräfin zu bezeichnen. Zumindest solange wir vier unter uns sind? Mit einem einfachen Du?“
    Trevor räusperte sich und nickte. „Das mit Eurem… deinem Kuss tut mir … leid“, entschuldigte er sich unbeholfen. „Das war nicht meine Absicht. Ich habe nur nicht viel nachgedacht.“
    Das ist ohnehin nicht meine Stärke.
    „Ich wiederhole mich: Du hast nur getan, was nötig war, um uns zu schützen. Da gibt es nichts zu entschuldigen.“ Esther schien im Gegensatz zu Trevor rot zu werden.
    Er schmunzelte und holte tief Luft. Dann war es eben so, oder nicht? „Dann weißt du wenigstens beim nächsten Mal, was dahintersteckt“, wandte er ein. „Verraten tue ich dich, Edmund oder Nelli zumindest nicht.“
    „Darüber bin ich sehr froh“, antwortete sie, ging aber auf seine Bemerkung nicht ein, was Trevor so stehen ließ. Dass sie von einem Piraten geküsst worden war, war wohl auch nichts, womit eine Gräfin hausieren ging. Er würde das aber auch nicht tun. Er versuchte, es einfach gut sein zu lassen, nachdem sie es anscheinend ebenso vorhatte, dabei zu belassen.
    „Aber bitte sei beim nächsten Mal vorsichtig, wenn du schon der Meinung bist, dich ins Kreuzfeuer werfen zu müssen ...“, fügte sie an, aber ihre Stimme klang leiser und der Tonfall war verhaltener als zuvor.
    Trevor brummte zustimmend. „Allerdings hat ein Kreuzfeuer an sich, dass Mann nur bedingt heil aus der Sache herauskommt. Aber ja, ich werde vorsichtiger sein.“
    Esther lächelte. Es wirkte als würde sie sich nur unfreiwillig mit dieser Antwort zufriedengeben.
    Der Formwandler versuchte, nachdem Esther anscheinend mit der Wundversorgung fertig war, seinen Rücken leicht durchzustrecken. Der Boden war weich, aber dennoch nicht sehr bequem. Vor allem nicht, wenn man bereits zwei Tage herumlag. Daraufhin entfuhr Trevor ein schmerzerfülltes Stöhnen. Sein Rücken tat weh; die Rippen allerdings auch. Esther ergriff seine Hand und drückte sie aufmunternd, was er mit einem bemühten Lächeln quittierte. So hilflos hatte er sich noch nie gefühlt. Gar ausgeliefert.
    „Ich muss aufstehen!“, erklärte Trevor. Es ging nicht, dass er noch weiter nur herumlag. Seine Beine fühlten sich beinahe taub an.
    „Bist du sicher?“, wollte Esther wissen, und Trevor nickte.
    „Mir tut mein Hintern weh …“, gestand er amüsiert.
    Esther half ihm, sich zunächst aufzusetzen.
    Trevor wartete, bis der erste Schwindel vorbeigegangen war. Davon erwähnte er jedoch nichts. Er wollte nicht, dass man ihn zum weiteren Herumliegen zwang. Esther stützte ihn, während er sich erhob. Außerhalb der Überdachung bemerkte er, dass sie sich unweit des Strandes befanden. Genau an der Baumgrenze zu einer Art Urwald. „Es geht schon!“, versicherte er Esther. Er wollte sie nicht noch mitreisen, wenn er doch wie ein nasser Sack umfiel.
    „Nein, das geht nicht. Du solltest dich wieder hinlegen!“, erwiderte die Magierin besorgt, nachdem Trevor ohne sie hin und her schwankte.
    Er nickte erneut. Vermutlich hatte sie recht. Er sollte kleine Schritte machen. „Hilf mir, mich hinzusetzen.“ Sie half ihm, obwohl seine Rippen leicht rebellierten, aber eine andere Position musste er einnehmen.
    „Geht es wieder?“, fragte sie mit besorgtem Blick.
    „Keine Sorge. Ich kann nur nicht mehr liegen. Stehen ist aber auch noch keine gute Idee. Also bleibe ich sitzen. Ich will immerhin nicht all eure Arbeit zunichtemachen.“
    Esther lachte. „Es wäre besser, wenn du dich noch schonst. Wir ... wollen, dass du wieder vollständig gesund wirst. Wenn du etwas brauchst, zögere nicht, mich zu fragen.“
    „Ich bin das nicht gewohnt …“, sagte Trevor ehrlich. „Diese Fürsorge. Entweder du stirbst oder nicht. Es gab nichts dazwischen.“
    Esther setzte sich neben ihn und sah ihn an. „Mag schon sein, dass für dich bisher nur diese beiden Möglichkeiten gab. Aber jetzt hast du ... Menschen um dich, die sich um dich sorgen.“
    „Stand es denn so schlimm um mich?“, hakte Trevor nach, als plötzlich Nelli aus der Ferne zu ihnen stieß. Nachdem sie Trevor neben Esther entdeckt hatte, strahlte sie über ihr ganzes Gesicht und schien wirklich erleichtert zu sein, den Formwandler bei Bewusstsein zu sehen.
    „Der Bursche weilt wieder unter den Lebenden“, gab sie erfreut von sich und beugte sich umgehend nach ihrer Tasche. Aus dieser förderte sie eine Flasche ihres Weines zu Tage und trank augenblicklich die Hälfte davon in einem Zug.
    Das beantwortet wohl meine Frage …
    Es schien sich bei Trevor um schwere Verletzungen gehandelt zu haben, wenn selbst die Heilerin erleichtert zu trinken begann.
    „Bei der guten Pflege …“, antwortete Trevor und lächelte.
    Nelli bot beiden einen Schluck an, aber weder Esther noch Trevor wollten vom Wein, sodass Nelli die Flasche für später verstaute.
    Trevor schaute sich um und sah dann beide Frauen abwechselnd an. „Wo ist eigentlich Edmund?“, fragte er und vernahm von beiden ein tiefes Seufzen.

  • Esther vermied es, Trevor anzusehen.

    Wie sollte sie dem Wandler auch erklären, dass der Händlersohn sich seit ihrer Strandung verkrochen und sie seitdem nicht ein einziges Mal nach ihm geschaut hatte, sondern an Trevors Seite geblieben war.

    Sie wusste, dass das falsch gewesen war und das schlechte Gewissen nagte an ihr. Doch Nelli hatte ihr mehrmals gesagt, dass Edmund noch Zeit brauchte.

    Aber wie viel? Noch mehr Tage? Wochen oder gar Monate?

    Sie sah in die Richtung, wo Edmund sich seit einer geraumen Weile alleine aufhielt.

    So lange konnten sie nicht warten, denn sie mussten von dieser Insel runter und Edmund wusste das mit Sicherheit genauso gut wie sie selbst.

    Esther hatte Verständnis für ihn, aber jeder trug in der derzeitigen Situation sein Päckchen und nicht nur Edmund.

    Sie schnaufte hörbar und stand auf.

    Er hatte genug Zeit gehabt, um über die Geschehnisse nachzudenken. Jetzt mussten sie nach vorne blicken – sie alle.

    Sie vergewisserte sich schnell bei Nelli und Trevor, dass diese zurechtkamen und ging zu Edmunds … Versteck. Währenddessen überlegte sie sich sorgsam, was sie ihm an den Kopf werfen wollte und wie sie ihn dazu bringen konnte, seinen Hintern hochzukriegen. Sie legte ihren Frust und teilweise auch Wut in ihre Worte.

    Dann entdeckte sie ihn im Schatten einer Palme auf einem Stein hocken, die Beine angezogen und das Kinn auf den Knien gebettet. Mit leerem Blick starrte er auf das Meer hinaus, beinahe teilnahmslos … und ihre Worte verflogen mit dem leichten Strandsand im Wind.

    Vorsichtig näherte sie sich ihm und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. „Edmund?“, fragte sie zögerlich.

    Er ignorierte sie.

    Natürlich ignoriert er dich. Was hast du gedacht? Dass er dich in eine herzliche Umarmung schließt?!

    Sie scharrte mit der Schuhspitze im Sand herum und biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht sollte sie einfach gehen und ihn weiter schmollen lassen. Möglicherweise war es für sie alle besser, wenn er hier weiter in der Sonne verbrannte.

    Sie stieß die Luft zwischen den Zähnen aus. Nein, sie konnte und wollte ihn hier nicht sitzen lassen! Niemand sollte alleine sein, auch Edmund nicht. Gerade er nicht.

    Entschlossen ging sie zu ihm und stellte sich unmittelbar vor ihn. Für einen kurzen Moment verspürte sie üble Lust, ihn mit Nellis Stock auf die Stirn zu schlagen und war froh darüber, dass dieser nicht in greifbarer Nähe war.

    Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Kommt“, forderte sie ihn so wortkarg auf, wie er sie immer abspeiste.

    Er sah gar nicht zu ihr auf. „Nein“, kam es von ihm.

    Sie spürte erneut, wie Frust und Wut sie durchfluten wollten. Das konnte doch nicht wahr sein! Wollte er ewig hier herumsitzen?

    Schön. Sollte ihr recht sein!

    Sie wollte gehen, aber sie blieb.

    „Vielleicht interessiert es Euch, dass Trevor wieder wach ist“, hörte sie sich sagen und ließ den Arm sinken.

    „Wie? Was?“ Verwirrt blickte er ihr schließlich in die Augen. „Wirklich?“

    In diesem Moment wurde Esther bewusst, dass Edmund an Trevors Überleben gezweifelt hatte. Sie nickte zur Bestätigung. „Er ist noch schwach, aber er wird wieder. Aber Ihr nicht, wenn Ihr weiter hier rumsitzt und Löcher in die Luft starrt.“

    Er warf einen kurzen Blick in die Richtung, wo die anderen saßen. „Ich komme trotzdem nicht mit!“

    So langsam verlor sie die Geduld. Wovor auch immer er Angst hatte – diese Angst war unbegründet. Sie vergaß ihren gesellschaftlichen Stand – wobei dieser in den letzten Tagen nicht mehr existent gewesen war, immerhin hatte sie eben noch Trevors Wunden gesäubert – ignorierte die Kluft, die sich noch zwischen Edmund ihr befand und ergriff mit beiden Händen sein rechtes Handgelenk. „Wir gehen nicht zu den Anderen“, erklärte sie ihm. „Aber ich für meinen Teil habe zu lange gesessen und Ihr auch!“

    Ein verwunderte Gesichtsausdruck machte sich auf Edmunds Gesicht breit. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“

    Fassungslos starrte sie ihn an. War das sein verfluchter Ernst? Offenbar schien es ihm egal zu sein, was mit Trevor war und auch ihre derzeitige Lage ging ihm wohl sonst wo vorbei.

    Sie wollte nicht glauben, dass ihn das alles nicht berührte. Oder ging es ihm doch nahe?

    Resigniert ließ sie seinen Arm wieder los und trat einige Schritte zurück. Er folgte ihr mit seinem Blick.

    „Was stimmt nicht mit Euch?“, entfuhr es ihr zu ihrer eigenen Überraschung. „Ihr sitzt hier, siecht vor Euch hin, obwohl wir stattdessen überlegen müssten, wie es weiter geht!“ Wieder verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah ihn abwartend an, rechnete aber kaum mit einer Antwort, mit der man arbeiten konnte.

    „Was mit mir nicht stimmt? Was stimmt mit Euch nicht?“, konterte er. „Ich will nicht reden und dennoch fragt ihr immer wieder nach! Ich versuche ja schon eine Lösung zu finden! Aber wir sitzen nun mal auf einer verfluchten Insel fest!“

    Sie wusste selbst, dass sie festsaßen. Das musste er ihr nicht noch sagen!

    „Ihr wisst aber, dass Ihr nicht alleine nach einer Lösung suchen müsst“, stellte sie fest. „Trevor, Nelli und ich werden Euch helfen. Aber das können wir nicht, wenn Ihr hier auf dem Stein hockt …“ Wie festgetrockneter Vogelmist. Sie ließ den Rest des Satzes unbeendet und besann sich im letzten Moment auf ihre Erziehung.

    „Jaja, Sorgen, Freunde, blabla“ Er winkte ab. „Das hat die Hexe schon versucht.“

    Das hatte gesessen. Tiefer als sie zugeben wollte.

    Sie spürte, wie ein Engegefühl sich um ihren Hals legen wollte. Der letzte Rest Mitleid, den sie bis eben für ihn aufbringen konnte, verflüchtigte sich. „Was seid Ihr eigentlich für ein emotionaler … Klotz?!“ Mittlerweile war es ihr egal, ob er zuhörte oder nicht, was er über sie dachte oder ob die Kluft zwischen ihnen noch größer wurde. Jeder von ihnen hatte eigene Sorgen, aber niemand außer Edmund steckte den Kopf in den Sand. „Ihr wollt nicht, dass man sich Sorgen um Euch macht? Das könnt Ihr aber nicht verhindern. Ihr braucht keine Freunde? Dann findet Euch damit ab, dass Ihr irgendwann alleine dasteht! Ihr wollt nicht reden? Dann lasst zu, dass Euch Eure Schuldgefühle auffressen!“ Sie wusste, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Aber ihre Worte konnte sie nicht mehr länger zurückhalten. Doch kaum, dass sie das ausgesprochen hatte, bereute sie es schon wieder. Fahrig fuhr sie sich über die Stirn. „Es tut mir leid, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“

    Offenbar hast du auch zu lange in der Sonne gesessen! So wirst du ihn jedenfalls nicht dazu bringen, aus seinem Loch gekrochen zu kommen.

    Edmund starrte sie eine ziemlich lange Weile einfach stumm an.

    Hast du super hinbekommen, Esther! Ganz fabelhaft!

    „Ihr habt Recht“, sagte er plötzlich wie aus dem Nichts und sie glaubte fast, sie hätte sich verhört.

    Sie blinzelte verwirrt. „Was … genau meint Ihr?“

    „Mit allem“, stieß er aus und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Ich ... kann nicht mit zurück ... Trevor wurde wegen mir verletzt. Ich dachte, er stirbt. Er ist bestimmt wütend. Ich ... schätze, sowas machen Freunde nicht, das Leben des anderen riskieren. Nelli meint, das mit der Meuterei ist nicht meine Schuld, aber es fühlt sich so an...“ Er stockte und schluckte schwer. „Und Manfred ...“ Wieder schwieg er und Esther wartete geduldig, ob darauf noch etwas folgte. Mit jedem Wort, das er sagte, verflog ihre Wut immer ein Stückchen mehr.

    „Tut ... mir leid. Ich will Euch nicht damit belasten“, meinte er dann, stand auf und wandte sich zum Gehen um.

    „Edmund!“ Esther holte ihn schnell ein, ergriff ihn abermals am Arm und bevor sie sich zurückhalten konnte, legte sie ihm ihre freie Hand auf die Wange. „Nichts davon ist Eure Schuld. Redet Euch das bitte nicht ein. Trevor macht sich ebenso Sorgen um Euch wie Nelli und ich. Und … Manfred hat sein Schicksal gewählt als er sich gegen Euch wandte.“

    Edmund wich ihrer Berührung aus, weshalb sie die Hand schließlich sinken ließ. „Doch! Es ist meine Schuld!“, beharrte er. „Egal was Ihr oder die Hexe behaupten. Ich hätte alles besser im Auge behalten müssen. Das war allein mein Fehler.“

    Innerlich schüttelte sie den Kopf. Wie konnte jemand so stur sein? „Niemand ist ohne Fehler“, sagte sie. „Und wenn, dann trifft mich ebenfalls Schuld. Ich bin dazugekommen, um Euch und die Anderen vor genau solchen Gefahren zu beschützen … und habe versagt.“

    „In der Regel fordern Fehler aber keine Menschenleben.“ Er wich ihrem Blick aus, so als würde er sich in diesem Moment an seinen Kampf erinnern. „Und Ihr habt nicht versagt. Der Sturm hat Euch geschwächt. Das wäre jedem so gegangen. Ihr habt Euer Bestes gegeben.“

    Sie sah betreten auf ihre Hand, die immer noch seinen Arm umklammert hielt. Eigentlich hatte sie bereits loslassen wollen, aber sie fürchtete, dass er wieder davon laufen könnte. Außerdem spürte sie, wie ein seltsames Gefühl von ihr Besitz ergriff. Etwas, das sie kaum benennen konnte. „Da habt ihr recht“, gestand sie. „Und die Last, ein Menschenleben genommen zu haben, kann ich auch nicht mildern. Ich weiß auch nicht, wie es ist, jemanden …“ Sie brach ab, als ihr die richtigen Worte nicht einfallen wollten. „Aber Ihr habt es getan, um uns zu schützen.“ Da fiel ihr ein, dass sie sich für seinen Einsatz noch gar nicht bedankt hatte. „Ich danke Euch, Edmund.“ Seine letzte Bemerkung überging sie. Letztendlich hatte nicht der Sturm sie niedergezwungen, sondern der Magiestein. Aber sie wollte weder Edmund noch die Anderen beunruhigen. Und auch wenn jeder behauptete, dass sie rein gar nichts gegen die Meuterei hätte unternehmen können, so linderte dies keineswegs ihre Schuldgefühle. Bis zu einem gewissen Grad verstand sie Edmunds Gedanken daher und sie spürte, dass ihm die ganze Situation zu schaffen machte. Sie war froh, dass er sich letztendlich geöffnet hatte. Seine Fassade bröckelte weiter …

    „Und ich danke Euch für Eure Hilfe während des Sturms“, sagte er, nachdem sie abermals eine Weile geschwiegen hatten.

    Sie nickte leicht. „Ich habe nur getan, wofür Ihr mich mitgenommen habt“, erklärte sie. „Und ich verspreche, dass ich Euch dabei helfen werde, die Eleftheria zurückzubekommen.“

    „Ich weiß überhaupt nicht, ob ich die Eleftheria zurück will“, erklärte er und schaute auf ihre Hand auf seinem Arm. „Und könntet Ihr mich loslassen? Ich kann auch allein stehen.“

    Esther sah ihn kurz mit verengten Augen an und löste ihren Griff schließlich. Das Gefühl von eben verflog. Sie machte eine Kopfbewegung hinter sich, in die entgegengesetzte Richtung von Trevor und Nelli. „Gehen wir ein Stück?“

    Edmund folgte ihrer Geste mit seinem Blick. „Wozu soll das gut sein?“

    Sie lächelte ehrlich. „Ich weiß es nicht“, gestand sie ihm. „Findet es heraus.“ Damit wandte sie sich ab und sah über die Schulter zu ihm zurück.

    Sie sah, wie Edmund die Arme vor seinem Körper verschränkte und sie musterte. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, seufzte er schwer und folgte ihr schließlich. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er nicht viel von ihrer Idee hielt und es hatte sie überrascht, dass er sich dazu durchrang.

    „Was meintet Ihr damit, dass Ihr nicht wisst, ob Ihr das Schiff zurückhaben wollt?“, fragte sie, nachdem sie einige Schritte schweigend nebeneinander hergelaufen waren.

    Edmund sah sich unruhig um. Er schien mit sich und der Frage zu ringen. „Ich bin offenbar nicht für Verantwortung gemacht.“

    Esther sah ihn prüfend von der Seite an und strich sich einige Haarsträhnen zurück. Seine Antworten auf ihre Fragen erwiesen sich wie immer als wenig aussagekräftig. Aber sollte sie nachbohren? Wollte er lieber in Ruhe gelassen werden? Aber warum hatte er sie begleitet? Sicherlich nicht, um sich anzuschweigen. Oder?

    „Wie meint Ihr das?“, fragte sie schließlich zögerlich.

    „Dass mein Vater Recht hatte. Mehr nicht.“

    Sie spürte, dass er das Thema lieber mied. Offenbar war da einiges im Argen, worüber er nicht sprechen wollte. Esther respektierte das und beschloss, es dabei zu belassen. „Wenn Ihr irgendwann einmal reden wollt“, schob sie vorsichtig hinterher, „ich würde Euch zuhören.“

    Sie sah aus dem Augenwinkel, wie er zustimmend nickte.

    Das muss vorerst reichen.

    Sie hatte mehr erreicht, als sie glaubte. Immerhin war er aufgestanden und ging nun mit ihr am Strand entlang.

    Wenn sie nicht in einer solch misslichen Lage stecken würden und Edmund in besserer Verfassung gewesen wäre, hätte sie an dem Spaziergang sogar Gefallen gefunden. Jetzt aber schien es ihr, als würde sie es nur machen, um auf angenehmere Gedanken zu kommen. Noch immer verfolgten sie die Bilder der Meuterei. Als Trevor erwachte, war ihr eine schwere Last von der Schulter gefallen, aber dennoch sah sie seine Taten nach wie vor klar vor ihrem inneren Auge. Einerseits war er während des Kusses so vorsichtig und zart gewesen und andererseits, als er gekämpft hatte, so brutal und rücksichtlos. Eigentlich hätte sie Angst vor Trevor verspüren müssen, aber das war nicht der Fall gewesen. Vorhin hatte sie gespürt, dass es ihm unangenehm war, mit ihr über die Ereignisse zu sprechen. Sie hoffte nur, dass er …

    Sie schloss kurz die Augen, verschränkte die Arme vor dem Körper und seufzte.

    „Und was bedrückt Euch?“, hörte sie Edmunds Stimme und überrascht sah sie zu ihm auf. Hatte er sie wirklich gehört? Er musterte sie eingehend.

    Wollte sie mit ihm über ihre Gedanken reden?

    Sie zuckte die Schultern. „Nichts“, meinte sie ausweichend. „Ich bin nur noch etwas erschöpft und ein wenig durcheinander.“

    Genauso wie er wollte auch sie nicht direkt mit ihren Gefühlen hausieren gehen.

    Aus Edmunds eingehender Musterung wurde ein skeptischer Blick. „Aha.“

    Augenblicklich fühlte sie sich schlecht. Vorher hatte sie ihn beinahe gezwungen mit ihr zu reden, jetzt war sie es, die ihn auflaufen ließ. Aber was sollte sie auch sagen? Bisher hatte sie mit niemanden gesprochen, selbst mit Nelli nicht. Doch wieso sollte sie ausgerechnet Edmund erzählen, was sie bewegte?

    „Falls Ihr dennoch darüber reden wollt“, meinte er dann zögerlich, „ich renne nicht weg.“

    Sie überlegte und holte bereits Luft, um vor ihm ihre Sorgen auszubreiten.

    Dann nickte sie aber nur knapp. „Danke“, schob sie hinterher, weil sie nicht wusste, ob er ihre Geste gesehen hatte. „Das weiß ich zu schätzen.“

    Chance vertan …

    Eine ganze Weile gingen sie noch schweigend am Strand entlang und die Sonne begann bereits vom Himmel hinabzugleiten.

    Edmund hatte seinen Blick auf den Wald gerichtet und da gewahrte Esther etwas in einiger Entfernung.

    Sie kniff die Augen zusammen. „Edmund!“, rief sie und ergriff ihn am Ärmel, zog und zerrte beinahe daran, so aufgeregt war sie. Mit ihrer freien Hand deutete sie nach vorn, wo sich einige Schritte weit im Wasser ein auf Grund gelaufenes Schiff befand.

    Schnell stellte sie allerdings fest, dass die Begeisterung für ihre Entdeckung eher einseitig war.

    „Ja, toll, noch ein Idiot, der hier gestrandet ist. Klasse!“, maulte Edmund.

    Esther allerdings beschleunigte ihre Schritte und zerrte den Händlersohn einige Meter mit, bevor sie ihn los ließ. „Versteht Ihr nicht?“, rief sie. „Wenn es noch segeltauglich ist, könnten wir damit von der Insel verschwinden!“

    „Ja klar, die sind vermutlich nur versehentlich hier gestrandet. Die warten nur darauf, uns mitzunehmen!“

    Esther warf einen Blick hinter sich, wo Edmund seine Kleidung zurechtrückte, ihr aber weiterhin folgte.

    An der Wasserkante blieb sie stehen und wartete, bis Edmund zu ihr aufgeschlossen war.

    „Meint Ihr, es gibt noch eine Besatzung zu dem Schiff?“, fragte sie zweifelnd. „Wenn ja, dann hätten sie sich doch bestimmt schon aus dem Staub gemacht, oder etwa nicht?“ Sie legte den Kopf schief. Ihr Wissen, was Schiffe betraf, war nicht groß. Aber sie sah, dass die Segel schon bessere Tage erlebt hatten.

    Edmund sah sich kurz um und heftete den Blick dann auf das Schiff.

    „Es liegt hier schon eine ganze Weile. Ich denke nicht, dass tatsächlich noch jemand da ist.“ Er schaute über die Schulter in den Wald. „Das hätten wir sicherlich bereits gemerkt.“

    Esther nickte zustimmend und grinste ihn dann an. „Dann stört es wohl auch niemanden, wenn wir es uns … ausleihen.“ Sie ging ins Wasser und watete auf das Schiff zu.

    „Ähm ... ich halte das für keine gute Idee“, hörte sie Edmund sagen.

    Sie achtete nicht darauf, sondern setzte ihren Weg fort, bis sie etwa bis zur Hüfte im Wasser und genau vor dem Schiff stand. Prüfend legte sie ihre Hände auf das Holz, aber auch hier hatte sie keine Ahnung, ob der Zustand in Ordnung war. Sie watete um den Bug herum und suchte nach einem Weg, um hinaufsteigen zu können.

    „Esther ... wenn das Schiff irgendwie ins Rutschen kommt oder Planken morsch oder kaputt sind, verletzt Ihr Euch vielleicht.“ Seine Stimme klang sowohl genervt als auch besorgt, aber da entdeckte sie bereits die klapprige Leiter aus Seilen und Holzsprossen.

    Entschlossen griff sie danach und setzte den Fuß auf die erste Sprosse, die sie sah.

    Ganz blöde Idee, Esther …

  • Edmund sah Esther mit erhobener Augenbraue nach. Ihm gefiel das nicht. Ein Wrack war doch kein Spielplatz auf dem man herumklettern sollte. Auf der anderen Seite hatten ihre Augen gestrahlt und die Trauer, die bis dato darin gelegen hatte, war mit einem Mal verschwunden. Das wollte er nicht kaputt machen.
    Auch die anderen hatten Sorgen und Probleme. Er war nicht allein. Dieser Gedanke beruhigte ihn mehr als er sollte. Dennoch tat es gut, das zu wissen. Wenngleich es ihn doch nervte, dass von ihm Offenheit verlangt wurde, aber auch niemand anderes bereit war zu reden.
    Edmund sah wie Esther eine Strickleiter empor kletterte, die den Namen nicht einmal verdient hatte. Was sollte sie auf dem Schiff erreichen? So wie das Ding von weiten ansah, lag es bereits seit einigen Monaten am Strand. Wenn nicht noch länger. Die Wahrscheinlichkeit, dass es noch seetauglich war, wurde auch nicht durch den abgeknickten Mast erhöht. Oder diese lächerliche Strickleiter.
    „Jetzt kommt wieder runter!“, rief er deshalb. Doch Esther quälte sich weiter die Leiter hinauf. Sie torkelte dabei hin und her und verhedderte sich zweimal in den Seilen, auf zwei der Sprossen rutschte sie ab, fing sich aber immer wieder. Seltsamerweise hielt die Leiter und ließ Esthers Gestrauchel auch noch elegant wirken.
    Während er Esther bei ihrem Akrobatikakt beobachtete, überlegte er einfach kehrt zu machen und seinen Platz auf dem Stein wieder einzunehmen. Allerdings würde er dann wohl erst recht nicht mehr schlafen. Wenn Esther etwas zustieß. Noch mehr Schuld musste er sich auch nicht aufladen. Nicht, wenn er es verhindern konnte.
    Sein Blick streifte einige Steine, die zu seinen Füßen im Wasser lagen. Er trat einen Schritt zur Seite, als er einen der Steine als Schädel identifizierte.
    Ja, von der Besatzung ist nicht mehr so viel übrig... Das Zittern kehrte zurück. Er verdrängte es, indem er sich in Bewegung setzte.
    „Die Leiter hält!“, rief Esther, als sie oben angekommen war.
    Edmund wehrte sich gegen die Zuversicht, die in ihren Worten mitschwang, streifte sich letztendlich aber doch die Jacke ab und warf sie an den Strand zurück. Dann folgte er der Gräfin. Allerdings weigerte er sich vorerst, dieses fälschlicherweise als Leiter betitelte Etwas ebenfalls zu erklimmen und umrundete stattdessen das Schiff. Der Verdacht, dass ein Sturm das Schiff angeschwemmt hatte, verstärkte sich, als er einmal um das Schiff herumgestapft war und dennoch nur bis zum Bauch im lauwarmen Wasser stand. Das Schiff hatte sich zwischen zwei größeren Steinen verkeilt, lag ansonsten aber auf Kies.
    Das Schiff war nicht sonderlich groß, die Besatzung musste dementsprechend klein gewesen sein. Was hatte ein Einmaster in diesem Seegebiet verloren? Vielleicht ein Handelsschiff? Warum ein so kleines? Für den Aufwand der Reise erschien das nicht ganz passend.
    Das Schiff hatte leichte Schräglage, aber das letzte Drittel lag dennoch unter dem Wasser, weshalb er den kompletten Kiel nicht erkennen konnte. Das, was er sah, wirkte auf den ersten Blick aber intakt. Risse könnte er zwar lediglich bei genauerer Betrachtung identifizieren (wobei er sich dabei nicht einmal sicher war, so weit reichte sein Wissen um Schiff auch nicht – Vielleicht konnte Trevor drüber schauen, wenn es ihm wieder gut ging?), aber immerhin etwas am Schiff, das nicht völlig abgekämpft aussah. Jedenfalls schien nicht der Kiel, sondern das große Loch in der Seitenwand für das Sinken verantwortlich zu sein.
    Zurück bei der Leiter begutachtete Edmund diese kritisch. Aber sie hatte Esther getragen, oder? Dann vielleicht auch eine zweite Person!
    Außerdem bist du eh schon nass!
    Das hektisch zusammengeschusterte Provisorium, das vom Wetter bereits benachteiligt war, hielt es sein Gewicht tatsächlich, als er hinaufkletterte.
    Edmund blieb an der Reling stehen. Er unterdrückte den Drang zurückzuspringen, als sich die Bilder an den Kampf in seinem Kopf gruben. An der Meuterei war das Schiff nicht schuld gewesen, sondern die Menschen, die es segelten!
    Es gibt keinen Grund für Panik!
    Die Planken knarrten leicht unter Esthers Schritten, hielten aber stand und bei genauerem Hinsehen, waren diese zwar mit Schlick überzogen und es stank nach Algen, aber sie waren nicht so morsch, wie erwartet. Was man von dem traurigen Rest des Masts nicht sagen konnte.
    „Jetzt steht dort nicht so herum, schauen wir uns um.“ Esther begutachtete einige Schutthaufen, dann öffnete sie die Tür zum Unterdeck. Die Scharniere quietschten und es wirkte fast, als würde Esther die Tür aus den Angeln reißen. Kein vertrauenswürdiger Anblick.
    „Esther, ich finde …“ … und da ist sie weg. Er warf genervt die Arme in die Luft und fuhr sich durch die Haare. Was war falsch mit ihr? Dieses Schiff konnte jeder Zeit kippen oder sie brach irgendwo durch den Boden!
    Er trat von einem Fuß auf den anderen, dann folgte er ihr erneut schlitternd über das Deck. Es war eigentlich nicht seine Art, den Frauen nachzurennen. Und dennoch tat er es! Warum? Er versuchte sich einzureden, dass er nicht allein sein wollte – wenn er auch eigentlich seine Ruhe wollte. Aber daran hatten sich die anderen nicht gehalten. Eine miese kleine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte ihm jedoch zu, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
    Er wollte nicht, dass sie sich irgendwo das Genick brach! Er hatte ihr gesagt, dass es gefährlich war. Sie wollte nicht hören. Es war nicht seine Schuld!
    Aber die gibst du dir, wenn sie sich verletzt!
    Hinter der Tür lag ein schmaler Gang, mit nichts weiter als einer Tür am Ende, wohl die Kapitänskajüte, und einer schmalen Treppe in den Rumpf des Schiffs. Er musste zugeben, dass das Schiff unter Deck nicht mehr derart angegriffen wirkte und beinahe fahrtauglich. Deutlich in Mitleidenschaft gezogen und alt, aber noch nicht am Ende.
    Der Boden war stabil und noch immer massiv.
    „Esther?“, rief er und hörte ihre Antwort aus der Kajüte.
    Edmund nickte seufzend. Da er nicht genauso überführsorglich nerven wollte wie die anderen es bei ihm getan hatten, entschloss er, dass Esther auch allein zurechtkommen würde. Der Boden trug ihn, also sollte er auch Esther ohne Probleme tragen können.
    Er sah zur Treppe, die in den untersten Lagerraum führte. Probehalber prüfte er, ob die Stufen auch hier das Gewicht hielten, dann blickte er nach unten. Der Raum war bis auf wenige Kisten leer. Offenbar war die Besatzung wirklich von Bord gegangen und hatte dabei mitgenommen, was sie tragen konnten. Es roch jedoch nach abgestandener Luft, Medizin und … Verwesung. Er rümpfte die Nase und hielt sie sich letztendlich zu. Vermutlich rochen auch die Toten der Meuterei bald genauso …
    Edmund drängt die Gänsehaut zurück und zwang sich nach unten zu gehen. Er durfte nur nicht daran denken, was der Geruch bedeutete. Sicher waren es nur Ratten, die verendet waren. Er konnte sich schlecht auf ewig von so etwas abhalten lassen.
    Durch das große Loch in der Seitenwand kamen die Abendsonne und die Gischt. Ließ sich so ein Schaden reparieren? Er hatte keine Ahnung. Er wusste ja scheinbar nicht einmal, wie man die Besatzung eines Schiffs anleitete, woher sollte er dann wissen, wie man ein Schiff baute? Dafür gab es andere Menschen!
    Er umrundete eine einzelne Kiste und kehrte noch im Lauf gleich wieder um.
    Keine Ratten…, stellte er atemlos fest. Mit einem Mal war das Zittern zurück.
    Keine Ratten, nur leere Augenhöhlen, blanke Schädel und Kleidung, die in Fetzen von den Körpern hing. Menschen. Tot. Vergessen.
    Auf die Knie gestützt, rang er den Drang nieder, das Wenige zu würgen, das er die letzten Tage gegessen hatte. Und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Nicht so leicht, wenn sich die Lunge anfühlte, als würde sie von einer Faust zertrümmert. Die Panik der letzten Tage kehrte zurück, ließ ihn den Geruch stärker wahrnehmen, als er nach all der Zeit noch war. Von Stiev und dem Koch wäre sicherlich bald auch nicht mehr übrig, als ein paar Knochen. Und von all den anderen, die gestorben waren? Der Steuermann? Sein Sohn? Von niemandem würde eine Identität bleiben. Aus den aufgerissenen, hasserfüllten Augen des Dicken würden auch nur noch leere Löcher werden. Ohne Namen und ohne Leben. Vermutlich nicht einmal eine Bestattung!
    Seine Schuld. Er war seine Schuld! Alles!
    Und wenn sie auf der Insel starben? Genauso wie die Besatzung? Auch von ihnen würde nichts anderes zurück bleiben als ein Häufchen Knochen. Irgendwo mitten auf dem Meer. Auf einer Insel. Zurückgelassen und vergessen.
    „Edmund?“, hörte er Esthers Stimme von oben nach ihm rufen.
    Durch ihre Stimme aus seinen Überlegungen gerissen, sah er auf. Er hatte nicht gemerkt, dass er in die Hocke gegangen war und sich die Hände auf die Ohren presste. Ebenso wie an dem ersten Abend auf der Insel. Nur, dass er nun noch erschrocken feststellen durfte, dass sein Gesicht nass war. Eilig wischte er die Tränen weg.
    Du bist wirklich erbärmlich!
    Er hörte, wie Esther die Stufen heruntertrat und erhob sich eilig. Schob die Gedanken weg und die zitternden Hände in die Hosentaschen.
    „Ah hier seid Ihr. Habt Ihr etwas gefunden?“, wollte Esther wissen. Er schüttelte den Kopf, schob die Beklemmung beiseite. Und setzte ein falsches Lächeln auf.
    „Nein. Nichts.“ Es war vermutlich besser, wenn sie nichts davon wusste. Auch nicht von den Toten!
    Esther glaubte ihm nicht, das war ihrem Stirnrunzeln und dem besorgten Blick zu entnehmen. Die Frage „Ist alles in Ordnung?“ wäre überhaupt nicht mehr notwendig gewesen. Sie stellte sie dennoch. Überflüssigerweise.
    Nein, ist es nicht.
    „Alles gut“, meinte er, schluckte die Panik hinunter und drückte sich an Esther vorbei.
    Doch sehr zu seinem Missfallen verstellte sie ihm den Weg.
    „Hört auf, mir und vor allem Euch etwas vorzumachen!“, herrschte sie ihn an. Ob sie wirklich lauter wurde, oder er nur den Eindruck hatte, wusste er nicht. Nur, dass die Nervosität zurückkehrte. Das Zucken, das Zittern und die Atemlosigkeit.
    „Nicht hier“, er hasste sich selbst dafür, wie brüchig seine Stimme klang. Aber er wollte dort weg! Raus! Er ertrug die Gedanken, den Geruch und den Anblick nicht.
    Esther sah sich um und nickte dann verständnisvoll. „In Ordnung.

    Sie folgte ihm die schmalen Stufen hinauf, durch den winzigen Flur und auf das Deck. Die untergehende Sonne blendete ihn. Der Wind blies ihm die salzige Luft entgegen. Er vertrieb einen Teil der düsteren Gedanken, nahm aber nicht alles mit.
    An der Reling atmete er einige Male tief durch, bis sich das Zittern in seinen Händen beruhigte. Die Mannschaft war das Problem! Nicht das Schiff! Ein Schiff bereitete ihm keine Panik!
    Du bist echt das schwächste Glied der Gruppe. Stell dich nicht so an. Als hätten die anderen keine Sorgen. Du hattest die Gedanken heute schon mal verdrängt!
    „Also, was beschäftigt Euch?“
    Wollte er wirklich darüber reden? Mit ihr? Aber was verstand sie schon davon? Er verstand es ja selbst nicht.
    Um Zeit zu gewinnen, zupfte er an den dreckigen Ärmeln seines Hemdes herum. Durch das viele Waschen waren seine Hände ganz rau, die dunklen Flecken aus dem weißen Stoff waren aber dennoch nicht verschwunden. Er wusste, es war Blut. Manfreds Blut.
    Er spürte wie sich sein Puls erneut beschleunigte.
    Nein. Nur Dreck! Nichts weiter! Kein Blut! Nur Dreck! Wem wollte er das eigentlich einreden?
    Er sah zum Horizont und holte Luft.
    „Ich hatte noch nicht sehr viel Kontakt mit dem Tod“, plapperte er zu seiner eigenen Überraschung schon wieder drauf los. „Und nun klebt das Blut dieses dummen Piraten an meinen Händen“, und vor allem den Ärmeln, „Was ist, wenn er Familie hatte? Und Stiev und der Koch sind gestorben, weil sie sich auf meine Seite gestellt haben“, wie es auch beinahe Trevor ergangen wäre, „ich habe den Piraten umgebracht, aber auch die anderen gehen auf mein Konto. Ich weiß, dass Stiev eine Frau hatte …“ Wie erklärt man einer Angehörigen, dass ihr Partner gestorben ist? Er ratterte die Worte runter, um nicht wieder den Mut zu verlieren. Was tat er da eigentlich? Eine Gräfin mit seinen Problemen belasten! Sie hatte ihn schon mal so weit gebracht, einen Teil auszusprechen! Dabei wollte er das nicht! Und als hätte die nicht ihre eigenen! Sie war schließlich bei allem dabei gewesen! Nichts, was eine junge Frau sehen sollte! Warum erzählte er ihr das alles dann? Warum ihr? Warum nicht irgendwem anderes? Dem Stein, auf dem er gesessen hatte? Einer Palme, an der er gelehnt hatte? Irgendjemand, der ihm keine Antwort geben oder weitere doofe Fragen stellen konnte! Warum ausgerechnet einer Adligen, die damit genauso viel Kontakt hatte, wie er? Die man mit so etwas nicht belasten sollte! Der Anstand sollte es ihm normalerweise verbieten. Doch den hatte er offenbar auf der Eleftheria zurückgelassen. Andernfalls hätte er nicht gerudert, sich nicht auf einem Stein zusammengerollt wie ein kleines Mädchen, wäre nicht auf irgendein Wrack geklettert und würde in diesem Moment nicht hier stehen. „Naja, nicht so wichtig.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und rang sich wieder zu einem Lächeln durch. „Ich denke, Ihr habt Recht. Das Schiff könnte man vielleicht wieder in Ordnung bringen.“, lenkte er das Thema auf etwas Anderes. Er hatte keine Ahnung, ob das Schiff wieder zur See fahren und auch noch die Stürme in diesem Seegebiet überstehen konnte. Oder ob sie überhaupt in der Lage waren, zu viert ein Schiff zu reparieren. Nelli wirkte nicht als wäre sie körperlich dazu in der Lage, und er zweifelte, dass Esther mehr Ahnung vom Bau hatte, als er. Trevor war – wenn auch am Leben – immer noch verletzt und konnte wohl kaum helfen.
    Esther legte zögerlich ihre Hand auf seine. Er erschrak und wollte sie erst zurückziehen, ließ es dann aber. War das richtig? Wenn immer noch Blut an den Händen war, dann kam sie nun auch damit in Berührung.
    Sehr unwahrscheinlich.
    Wobei das nach dem vielen Waschen nicht der Fall sein sollte. Und ihre Hand war angenehm warm.
    „Es tut mir leid, dass Ihr gezwungen wart, jemanden zu töten. Das sagte ich bereits und ich wiederhole es gerne nochmal.“ Sie lächelte schwach. „Ich ... verstehe, wie Ihr Euch fühlt."
    Edmund runzelte die Stirn. Woher wusste sie, wie er sich fühlte? Hatte sie auch schon mal getötet? Das konnte er sich nicht vorstellen.
    Seine Hand begann wieder zu zittern, weshalb er versuchte, sie zu entziehen, doch Esther gab nicht nach und schloss ihre Finger energisch um seine Hand. Ganz als fürchtete sie, dass er abhauen würde, wenn sie ihn losließ. Kein abwegiger Gedanke. Wenn er vom Schiff verschwand und zurück zum Strand kam, musste er nicht antworten. Denn er wusste nicht, was er sagen sollte.
    Also schluckte er und sah Esther schweigend eine ganze Weile in die Augen. Darin lagen noch immer gut erkennbar ihre eigene Angst und ihre eigene Sorge. Angst vor ihm? Aber dann wäre sie nicht hier, oder? Wusste sie deshalb wie er sich fühlte?
    „Ihr habt auch Angst“, stellte er fest. Natürlich nicht nur, um von seinen eigenen Problemen abzulenken. Sondern um ebenfalls Anteilnahme zu zeigen!
    Esther wich seinem Blick aus und nickte.
    „Ich habe noch nie jemanden ... sterben sehen."
    Edmund nickte. Es überraschte ihn nicht. War es das, was Esther nicht hatte sagen wollen, als er sie gefragt hatte? Vermutlich nicht. Vermutlich steckte mehr dahinter.
    „Das Gefühl und der Gedanke erdrückt einen“, murmelte er, „Man fühlt sich plötzlich so verletzlich, weil alles so schnell enden kann. Man fragt sich, ob man alles richtig gemacht hat, ob man es hätte verhindern können.“
    Esther verkrampfte ihre Hand und drückte etwas fester zu. Sie hatte ihm schließlich gesagt, dass sie sich selbst die Schuld an der Meuterei gab. Blödsinn! Sie hatte schließlich nicht gemeutert und konnte wohl kaum etwas dafür, dass um sie herum alle dumm waren wie trockenes Brot!
    „Ja. Die Gedanken gehen mir auch ständig durch den Kopf. Ich weiß, dass ich nichts hätte tun können, um die Meuterei zu verhindern ... aber dadurch fühle ich mich noch schlechter. Ich war so ... hilflos ...“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    Ein wenig überfordert starrte Edmund Esther an. Was sollte er machen? Er hatte sie nicht zum Weinen bringen wollen. Warum weinte sie nun plötzlich? Das hatte sie zuvor nicht getan! Normalerweise weinten Frauen erst, wenn er das Zimmer verließ. Und dann konnte er die Tür zuschlagen. Tatsächlich musste er nun aufpassen, nicht ebenfalls zu heulen. Was war los? Diese saublöde Insel!
    Nun hatte er mit seinem Gerede Esther wieder an die Bilder der Meuterei erinnert!
    Schwachkopf!
    Als sich bei Esther die erste Träne löste, folgte er einem Impuls und wischte diese sanft mit der freien Hand von ihrer Wange. Danach zuckte er jedoch zurück und nahm die Hand wieder weg.
    „Es war nicht Eure Aufgabe für die Moral der Mannschaft zu sorgen, sondern meine. Die Schuld daran dürft Ihr Euch nicht aufhalsen." Die gehörte allein ihm! „Und ich finde, Ihr wart sehr tapfer."
    Zumindest tapferer als ich. Sie hat den Kopf nicht in den Sand gesteckt, sondern weitergemacht.
    Esther sah ihn verwirrt und überrascht an, weshalb sich Edmund nicht sicher war, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Schien wohl ab und an vorzukommen.
    „Ich bin eine Schutzmagierin, Edmund. Meine Aufgabe wäre es gewesen, Euch, Trevor und Nelli zu beschützen. Und nicht, mich in einem Beiboot zu verkriechen." Sie schniefte und blinzelte die Tränen weg, die immer mehr wurden. „Die Moral wurde wegen eines Aberglaubens zerschlagen und nicht Euretwegen."
    Im ersten Moment wünschte sich Edmund weg, als immer mehr Tränen über Esthers Wangen liefen. Dann verfluchte er sich, dass seine Jacke am Strand lag. Dort war sicherlich noch ein Taschentuch, das er ihr hätte anbieten können. So stand er da und wusste nicht, ob er es schlimmer oder besser machte, wenn er mit dem Hemdärmel über ihr Gesicht wischte.
    Hör auf zu heulen, ich habe keine Taschentücher dabei!
    Als Ausgleich dazu, streichelte er mit dem Daumen zögerlich über ihren Handrücken. Irgendwie ging von der Berührung ein tröstlich angenehmes Gefühl aus.
    „Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass dieser Aberglaube um sich schlägt. Ich habe das nicht ernst genommen“, versuchte er es dann nochmal. Hör auf über dich zu reden, Edmund! „Und außerdem habt Ihr uns beschützt!“, fügte er dann mit einem unsicheren Lächeln hinzu und fuhr ihr nun doch mit dem Ärmel leicht über die Wange. Sollte er sich nochmal für die Hilfe bei dem Sturm bedanken? Aber sich bei jemandem bedanken, gehörte nicht zu seinen Stärken. Und er glaubte auch nicht, dass das irgendwas brachte. Hatte es beim ersten Mal offenbar auch nicht. „Aber ich kann mir vorstellen, dass es egal ist, was ich Euch sage, die Schuld werdet Ihr Euch dennoch geben." Machst du immerhin auch so. Sie schniefte. „Ähm ... aber vielleicht hilft es Euch zu wissen, dass auch Euch niemand außer Ihr Euch selbst die Schuld gibt."
    Esther schniefte weiter. „Ich glaube schon. Und hilft es Euch zu wissen, dass Euch niemand die Schuld gibt?“
    „Ein wenig“
    , gab er mit mehr Zuversicht von sich, als er eigentlich verspürte.
    Auf Esthers Lippen bildete sich ein zaghaftes Lächeln, was Edmund erleichtert zur Kenntnis nahm. Sie blickte zu Boden und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Entschuldigt. Ich wollte Euch nicht mit meinen Gedanken belästigen.“
    Von Ihren Gedanken fühlte er sich deutlich weniger belästigt, als von der ständigen Fragerei und Bohrerei. Oder von seinen eigenen Gedanken!
    „Das ist in Ordnung“, meinte er schlicht. „Ich schätze, ich fühle mich dadurch auch besser.“
    Es tat seltsam gut, dass er nicht der einzige war, der mit den Gedanken nur schwer von den Ereignissen auf der Eleftheria wegkam. Und nur schwer darüber sprechen konnte.
    Allerdings fragte er sich, ob es angemessen war nachzufragen, ob sie aufhören konnte, seine Hand zu zerquetschen. Irgendwie wurde ihm erst in diesem Moment klar, dass sie wie zwei Bescheuerte Händchenhielten. Stattdessen schwieg er.
    Esther sah auf das Meer hinaus, räuspert sich und löste sich zu seiner Befreiung schließlich aus dem Griff. Es fühlte sich dennoch seltsam leer an, weshalb er seine Hand kurzerhand zurück in die Tasche steckte.
    „Ich bin erleichtert, dass es Euch etwas bessergeht.“ Sie lächelte sanft, was Edmund nicken ließ. Und ich bin erleichtert, dass Ihr nicht mehr weint! „Wollen wir zurück zu den Anderen, bevor es komplett dunkel wird?“
    Edmund zögerte. Er wusste nicht, ob er zu den anderen zurückwollte. Jetzt schon. Vielleicht morgen?
    „Einverstanden“, seufzte er schließlich. Wenn er ehrlich war, war er froh, dass er von dem Schiff vorerst herunterkam. Vielleicht würden sie sich das Ding nochmal genauer anschauen, aktuell schaffte er das noch nicht. Zumindest von Innen.
    Zurück am Strand fischte er seine Jacke aus dem Sand und klopfte den Dreck ab. Mittlerweile hatte das aber auch keinen Zweck mehr. Zu gern hätte er sich beschwert, aber einen Sinn hätte es auch nicht gemacht. Denn ändern ließ es sich nicht.
    Die Sonne war mittlerweile untergegangen und ein kühler Nachthimmel wölbte sich über der Insel. So warm es am Tag war, so kalt wurde es in der Nacht. Die nasse Kleidung trug außerdem nicht zu einer gemütlichen Atmosphäre bei.
    Hinter ihm kam Esther an Land gestapft. Ihre Robe klebte ihr klatschnass am Körper. Was war passiert? War sie gefallen?
    Sie wrang den Stoff aus und holte dann zu ihm auf. Eigentlich hatte er sich die Jacke selbst überziehen wollen, doch Esther schlang sich bereits die Arme um den Körper. Mit den nassen Sachen war es noch ein gutes Stück kälter, das merkte er an seinen eigenen Kleidern.
    Kommentarlos legte er ihr die Jacke über die Schultern. Besser als nichts. Außerdem hatte sie ihm geholfen. Hauptsache die Hexe bestand später nicht auf das gleiche. Mit Jacken sah es auf der Insel recht knapp aus.
    „Danke“, meinte Esther mit einem Lächeln.
    Edmund nickte schlicht und machte sich auf den Rückweg.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

  • Nelli kümmerte sich um Trevor und half ihm, sich langsam aufzusetzen und sich zu bewegen. Geduldig erklärte sie ihm seine Verletzungen, was passiert war und wie sie hierher gekommen waren. Sie war dankbar, den jungen Formwandler wieder unter den Lebenden zu wissen und hatte jetzt wieder Hoffnung, dass sie diese Insel lebend verlassen würden. Edmund wäre sicher komplett unter gegangen, wenn Trevor gestorben wäre und auch Esther hätte extrem darunter gelitten. Und auch sie selbst hatte schlecht geschlafen vor Sorgen um ihren neu gewonnen Freund. Denn als das sah sie die drei jungen Leute – ja auch Edmund! Sie waren zu einer Gemeinschaft zusammen gewachsen und jeder war auf seine Weise ein Stützpfeiler. Fiel einer, würden alle fallen. Das hatte sie gerade nur zu gut zu spüren bekommen. Irgendwie hatte es sich angefühlt, als hätte sie drei sehr wertvolle, aber auch sehr zerbrechliche Vasen transportiert, von denen jede schon einen Riss hatte. Nur eine falsche Bewegung und sie wären endgültig kaputt gegangen. Es hatte mehr an ihrer inneren Ruhe und ihrer Kraft gekratzt, als sie zugeben wollte. Vielleicht war sie doch langsam zu alt für diese Reisen und sollte sich wirklich mal einen ruhigen Ort suchen um dort zu bleiben oder zu ihrem Zirkel zurück kehren.

    Die alte Heilerin hoffte einfach, dass Esther Edmund ein bisschen Verstand einreden konnte, ansonsten würde er vermutlich doch noch ihren Gehstock zu spüren bekommen. Sie war bei dem letzten Gespräch mit dem Händlersohn schon so kurz davor gewesen und verspürte noch immer große Lust, ihm so ein bisschen Manieren beizubringen und ihm das Selbstmitleid aus zu prügeln. Sie hatten alle unter der Situation gelitten, nur jeder ging anders damit um.

    Nur weil Nelli selbst gefasst wirkte und es definitiv nicht das erste Mal war, dass sie Menschen hatte sterben sehen, hieß es nicht, dass es ihr nicht an die Substanz gegangen war oder es sie völlig kalt gelassen hatte. Sie hatte sich schon aufgespießt von dem Degen des Dicken gesehen, hatte geglaubt, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Nur weil es regelmäßig passiert, war es trotzdem auch nach 179 Jahren nicht angenehm, wenn einem das Missfallen einer kompletten Gruppe Menschen entgegen schwappte. Völlig egal ob es eine Dorfgemeinschaft oder die Besatzung eines Schiffes war. Es tat jedes Mal weh, wenn sie bedachte, dass sie diese Leute versorgt und ihre Beschwerden gelindert hatte. Und dennoch kam es immer wieder zu solchen oder zumindest ähnlichen Situationen. Sie hatte lediglich gelernt, dass sie rein gar nichts gegen die Dummheit der betreffenden Gruppe machen konnte. Sie musste solche Geschehnisse nur aushalten und überleben.

    Ihr Blick glitt zu dem verletzten Piraten, der hinaus aufs Meer starrte und völlig in Gedanken versunken schien und seufzte leise. Sie würden alle Zeit brauchen, um das, was passiert war, zu verarbeiten. Doch sie hatten nicht endlos viel davon, wenn sie nicht irgendwann verhungern wollten. So endlos viel gab die Insel nicht her, als das sie es hier Monate aushalten würden. Und sie für ihren Teil wollte nicht ausprobieren, wie die Drei sich in so einer Situationen verhalten würden. Vermutlich würden dann alle endgültig zusammen brechen. Das zarte Gebilde, was ihre Freundschaft war, war schon durch zu viele Feuer gegangen und sollte vielleicht erst mal ein bisschen Ruhe bekommen um anständig wachsen zu können. Doch aktuell waren sie davon noch weit entfernt.

    Nelli schaute den Strand entlang und versuchte die Umrisse von Esther auszumachen, die nun schon eine ganze Weile weg war. Hatte Edmund sie ertränkt um endgültig seine Ruhe zu haben oder hatte sie sich verlaufen? So langsam begann die Hexe sich Sorgen zu machen.

  • Eine ganze Weile gingen Edmund und sie schweigend nebeneinander her. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen und Esther hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich so weit von den Anderen entfernt hatten.

    Sie warf einen Seitenblick auf Edmund, der seine Hände weiterhin in seinen Taschen vergrub. Er schien mit den Gedanken weit entfernt zu sein.

    Sie wollte etwas sagen, aber ihr fiel nichts ein, worüber sie hätten sprechen können. Es war alles gesagt worden … obwohl …

    „Was hat die Eleftheria eigentlich geladen“, fragte sie und durchbrach damit die Stille. „Es muss ziemlich wertvoll sein, wenn Armod sich darum so reißt.“

    Sie wusste, dass es sie rein gar nichts anging, was Edmund transportierte, aber vielleicht verriet er es dennoch. Wenn nicht, dann war es für sie auch in Ordnung.

    Edmund wandte den Kopf zu ihr um und musterte sie. Ein fragender Ausdruck glitt über seine Züge. Im fahlen Licht der Sterne wirkte sein Gesicht beinahe noch ebenmäßiger als am Tag. Zu perfekt hatte Nelli gesagt.

    Er schien ernsthaft darüber nachzudenken, ob er antwortete oder nicht. „Vater hat mir eingeschärft, niemanden davon zu erzählen“, meinte er schließlich und zuckte die Schultern. „Aber der ist eh nicht hier.“

    Sie runzelte ob der Bemerkung bezüglich seines Vaters die Stirn. Offenbar schien es gewisse Reibungspunkte zwischen Edmund uns seinem Vater zu geben. Doch bevor sie entscheiden konnte, ob sie ihn darauf ansprach, redete Edmund bereits weiter.

    „Die Ladung bestand über die Kisten im Lagerraum hinaus aus einem magischen Fernrohr. Vater hat mit irgendeinem Kerl in Samira einen Handel abgeschlossen.“

    Esther stockte kurz im Schritt. Ein Windzug erfasste die Jacke. Eilig griff sie danach und zog sie etwas enger um ihre Schultern. Ein magisches Fernrohr? Das konnte doch nicht wirklich das sein, woran sie gerade dachte?

    „Was für ein Fernrohr?“ Sie schaffte es nicht, die Panik aus ihrer Stimme zu verbannen, weshalb Edmund sie wieder verwundert ansah.

    „Angeblich kann man damit Magie über sehr große Distanzen erkennen und aufspüren“, erklärte er unsicher und sah nach vorn. „Auch kleine Mengen, die in magischen Wesen stecken … Formwandler oder Nymphen zum Beispiel. Damit ist es nicht notwendig, dass ein Magier bezahlt werden muss, um Formwandler aufzuspüren.“

    Das Fernrohr von Chresvol …

    Esther sah in den Sternenhimmel hinauf. Kaum zu glauben, dass ein solches Relikt in Edmunds Hände gekommen war. Oder vielmehr in den Besitz der Familie von Stein. Sie fragte sich unweigerlich, wie das passiert sein könnte und nahm sich vor, Edmund bei Gelegenheit danach zu fragen.

    „Wenn das stimmt und Ihr wirklich dieses Fernrohr besitzt … müssen wir es wiederholen“, sagte sie drängend. „Es gehört zu den mächtigsten Artefakten des Magiertums und darf auf keinen Fall in die falschen Hände geraten. Und Armod scheint mir genauso jemand zu sein.“

    Daraufhin sah Edmund sie an, als hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt. Natürlich. Er wusste selber, dass Armod ein Kerl war, der vermutlich seine eigene Mutter verkauft hatte.

    „Wohin genau sollte ihr das Fernrohr bringen?“, wollte sie wissen. Das Reiseziel kannte sie – Samira. Aber mit keiner Silbe hatte Edmund verraten, an wen das gute Stück gehen sollte.

    „Nach Samira“, lautete Edmunds schlichte Antwort und sie rollte die Augen.

    Mit erhobener Augenbraue sah sie Edmund an. „Ich wollte eher wissen, mit wem Eurer Vater den Handel eingegangen ist.“

    Wieder schien er zu überlegen, ob er die Information preisgeben wollte … oder durfte? „Ich versuche nur zu helfen“, setzte sie deshalb nach.

    „Mit einem Magier“, eröffnete er schließlich, machte aber nicht den Eindruck, als würde er mehr verraten wollen.

    Zunächst genügte ihr diese Information. Zwar ging es sie nichts an, an wen Edmunds Vater das Fernrohr verkaufte, aber sie würde sich besser fühlen, wenn ein solches Artefakt nicht in irgendwelche Hände geriete.

    Sie kannte die Magier aus Samira nicht und hoffte daher, dass der Handelspartner das Fernrohr sicher verwahren würde.

    Vorausgesetzt, sie bekamen es, bevor die Piraten es auf der Eleftheria entdeckten.

    „Wenn Armod beschließt, das Fernrohr von Chresvol an jemanden zu verkaufen, der … Böses … im Sinn hat …“, begann sie, sprach aber nicht weiter, weil sie bemerkte, dass sie die korrekte Bezeichnung des Gegenstandes benutzt und damit mehr preisgegeben hatte, als sie eigentlich wollte.

    Glücklicherweise schien Edmund dieser Umstand nicht zu verwirren. „Dann haben wir ein Problem … ich weiß“, setzte er ihren Satz fort. „Deshalb durfte auch keiner davon wissen. Hoffen wir, dass Armod so dumm ist, wie ich glaube …“

    „Das hoffe ich auch“, warf Esther zustimmend ein.

    „Dann dürfte er das Ding nicht einmal finden.“

    Forschend sah sie den Händlersohn an. Wo er das Fernrohr wohl versteckt hielt? Sie ahnte allerdings, dass Armod und seine verbliebenden Männer ihre Mühe haben werden, diesen Gegenstand zu finden. Was auch gut so war! Solange sie nicht wussten, dass das Fernrohr sich auf der Eleftheria befand, konnte nichts passieren und Esther zweifelte daran, dass Armod das Artefakt überhaupt als solches erkannte.

    Sie selbst wusste, dass das Fernrohr von Chresvol eines von mehreren magisch berührten Artefakten war. Brachte man alle Relikte zusammen, so hieß es, konnte man wahrhaftige Allmacht erreichen – selbst als Nichtmagier. Außerdem erzählte man sich hinter hervorgehaltener Hand, dass sich die Macht nur demjenigen zeigt, der sie zu führen verstand. An alle Gegenstände konnte Esther sich nicht erinnern – da war irgendetwas mit einer Hand oder doch ein Fuß? Auch, wie viele sie insgesamt zählten, wusste sie nicht genau. Da gingen die Meinungen der ihr bekannten Chroniken ebenfalls weit auseinander. Auch über den Verbleib der Relikte wusste man nichts, außer, dass sie über alle Kontinente verstreut waren – so sagte man jedenfalls. Deshalb fiel es ihr so schwer zu glauben, das eine Händlerfamilie an das Fernrohr von Chresvol geraten sein könnte.

    Aber sie beschloss, Edmund zu vertrauen und ihm dabei zu helfen, das Artefakt an einen geeigneten Ort zu bringen. Dass es sich bei dem Käufer um einen Magier handelte, schien ihr zumindest ein gutes Zeichen zu sein.

    Sie runzelte die Stirn, als ihr etwas an Edmunds Worten auffiel. Er hatte Wert darauf gelegt, dass niemand von dem Fernrohr wusste. „Wir sollten die anderen einweihen“, schlug sie vor. Sie fand, dass Trevor und Nelli ein Recht darauf hatten, zu wissen, womit sie es zu tun hatten – immerhin war jeder von ihnen auf eine andere Art und Weise durch die Magie berührt worden.

    Edmund schien das anders zu sehen. „Nein! Sie dürfen es nicht wissen!“

    Esther spürte, wie sich ihr Stirnrunzeln vertiefte. „Warum nicht?“

    „Weil …“ Edmund druckste herum und legte den Kopf in den Nacken, bevor er sie schließlich ansah. „Ich überlege es mir.“

    „Von mir erfährt niemand etwas“, versicherte sie ihm, auch wenn sie die Entscheidung nicht gänzlich nachvollziehen konnte.

    Er nickte daraufhin nur knapp.

    Sie glaubte, in seinen Augen so etwas wie Erleichterung zu erkennen. Sicher war sie sich aber nicht.

    Während er nach vorne sah, musterte sie ihn mit einem Seitenblick.

    Edmund zeigte, seit sie ihn auf dem Stein entdeckt hatte, so viele Gefühle wie in ihrer gesamten gemeinsamen Reise zusammen – oder besser gesagt, nicht gezeigt hatte.

    Es schien ihr fast unwirklich, dass Edmund zu so etwas wie Trauer oder gar Mitgefühl imstande war. Aber er hatte es bewiesen.

    Schnell wandte sie ihren Blick wieder ab. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie ihn anstarrte.

    Gerade als die Stille erneut über sie hereinbrechen wollte, gewahrte sie zwei schattenhafte Gestalten unter den Palmen sitzen.

    Esther beschleunigte ihre Schritte. Nicht, weil sie von Edmund weg wollte, sondern weil ihr langsam die Beine schmerzten. Sowohl vom Laufen als auch wegen der nassen Kleidung. Sie fror entsetzlich, aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Die Jacke half nur bedingt dagegen, aber sie war froh, dass Edmund sie ihr überlassen hatte.

    Sie sah kurz über Schulter. Edmund folgte ihr etwas gelassener oder war es eher Unsicherheit, die er nur überspielen wollte?

    Wenigstens lief er nicht zum Stein zurück.

    Sie gesellte sich zu den Anderen, setzte sich neben Trevor in den Sand und bemerkte, wie Edmund aufschloss und die Beteiligten von oben herab ansah.

  • Am Lager angekommen, fiel Edmund hinter Esther zurück. Irgendwie fühlte es sich seltsam an, nach zwei Tagen einsamen Herumsitzen und Löcher in die Luft starren, wieder zu den anderen zurückzukommen.
    Zum einen wollte er noch immer nicht reden, zum anderen aber doch. Und sei es nur, um die Bilder in seinem Kopf endlich verdrängen zu können. Allein bei dem Gedanken nicht mehr allein herumzusitzen und die anderen um sich herum zu haben, wurde ihm wärmer. Und das obwohl seine Kleidung völlig durchweicht und sein Körper dementsprechend ausgekühlt war! Wahrscheinlich wurde er krank und bekam eine von diesen Erkältungen! Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Nur weil er mit Esther auf dieses dumme Wrack geklettert war!
    Er warf einen Blick über die Schulter. Vielleicht sollte er doch wieder zu seinem Stein gehen. Er verwarf den Gedanken noch während er ihn hatte. Irgendwie vermisste er die anderen ja doch ein wenig. Aber nur ein wenig!
    Genervt seufzte er. Da musste er wohl durch.
    Er folgte Esther, ließ sich aber deutlich mehr Zeit als sie.


    Schon von weitem sah er, dass Trevor noch immer schwächlich wirkte und seine Gesichtsfarbe war alles andere als gesund, aber er atmete, war bei Bewusstsein und nicht tot. Der bleiche Anblick hätte ihn in jedem anderen Fall beunruhigt, nun war er einfach froh. Er versuchte es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
    Esther setzte sich neben Trevor, während er etwas unschlüssig stehenblieb.
    „Ach schau an, wer sich da wieder zu uns traut“, schnorchelte Nelli mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
    Ja, mach es noch schwerer, Alte!
    Er ignorierte sie und wandte sich stattdessen an Trevor, betrachtete ihn nochmals von oben bis unten.
    „Du lebst also noch“, stellte er geistreich fest.
    Er konnte gar nicht in Worte fassen, wie froh er darüber war. Also ließ er es bleiben. Den Dicken umgebracht zu haben, damit konnte er leben. Vielleicht. Irgendwann. Aber eventuell Trevor in den Tod geschickt zu haben, hätte er sich niemals verziehen.
    „Offensichtlich“, lachte Trevor, ließ es aber sofort wieder bleiben. Er verzog schmerzvoll das Gesicht. „Oder so ähnlich.“
    Edmund kämpfte den Drang nieder, noch einen Schritt nach vorn zu machen, um ihn irgendwie zu stützen. Konnte er überhaupt irgendwas machen? Er kannte sich mit der Heilung von Wunden nicht aus. Nur, wie man sie bekam.
    Mit Erschrecken musste er feststellen, dass sie froh sein konnten, Nelli zu haben. Ohne sie wäre Trevor sicherlich gestorben. Was wäre gewesen, wenn sie nicht mit von Bord gegangen wäre oder wenn der Dicke sie erwischt hätte?
    Edmund schallte sich innerlich selbst. Dafür wäre ihm ein Gespräch mit der Alten erspart geblieben!
    Sie hat sich auch nur Sorgen gemacht …
    Das hatte sie vielleicht.

    Edmund musterte Trevor eine Weile, ehe er sich einen Ruck gab.
    „Du hast dich auf meine“, er blickte zu Nelli und Esther, „auf unsere Seite gestellt. Das hättest du nicht machen müssen. Dann wärst du vielleicht jetzt nicht so schwer verletzt.“ Warum war das nur so entsetzlich schwer? War es bereits zu spät, um zum Stein zurückgehen und sich vor dem Gespräch zu verstecken? „Ich … danke dir dafür.“ Die letzten Worte nuschelte er nur noch weg, in der Hoffnung, dass sie keiner mehr hörte. Es fühlte sich befreiend an.
    Er wollte noch hinzufügen, dass Trevor nie wieder für ihn kämpfen sollte, aber irgendwas sagte ihm, dass dich der Kerl immer wieder in einen Kampf werfen würde, wenn es sein musste. Egal für wen. Also behielt er es für sich.
    Trevor nickte und lächelte.
    „In den nächsten Tagen aber bitte keine Meuterer oder Idioten mit Schusswaffen. Ich brauche noch etwas, bis ich wieder geradeaus laufen kann“, brachte er amüsiert hervor. Edmund war sich nicht sicher, ob Trevor nur einen Witz machen, oder ihm einen Seitenhieb verpassen wollte.
    „Ich … werde es versuchen...“, murmelte er deshalb lediglich. Und verschränkte schützend die Arme vor dem Körper.
    „Hat er sich gerade bedankt?“, hörte er Nelli zu Esther flüstern.
    „Ja“, hauchte diese zurück.
    „Du musst mir unbedingt sagen, was du gemacht hast.“
    Edmund warf den beiden Frauen einen wütenden Blick zu. Noch ein Wort und er würde seine Jacke zurückfordern!
    Sie hat sich auch Sorgen gemacht!

    Mag sein, aber das ist mir egal!

    Ist es nicht ...
    Edmund biss sich auf die Innenseite der Wange. Das war eindeutig keine gute Woche für sein Ego.
    „Im Übrigen, danke für deine Sorge Nelli“, murrte er schließlich, ohne die Hexe anzuschauen. Egal, wie sehr ihn die Alte genervt hatte. Sie war hier, hockte auf der Insel und sie hatte ihre Zeit investiert, ihm zu helfen. Aber das hatte er nicht gewollt, oder? Er hatte ihr nicht gesagt, dass er ihre Gesellschaft wollte. Im Gegenteil: Er hatte mehr als deutlich gemacht, dass er allein sein wollte. „Aber niemand braucht die Sorge einer Hexe!", setzte er deshalb nach.

    Nelli nickte langsam, dann schlug sie ihn mit dem Stock genau auf den Kopf.
    „Was soll das denn?", blaffte Edmund zurück. Die Schläge mit ihrem Stock schmerzten nicht, aber angenehm war ja wohl auch etwas anderes! Vor allem, wenn man die letzten Stunden in der Sonne verbracht hatte!
    „Ich habe mein Bestes gegeben, du sturer Esel. Aber da muss natürlich erst das junge Gemüse kommen, ehe der feine Herr zu sprechen beginnt!“
    „Ich hab mich doch eben bedankt, du Hexe!“
    Die Alte musste ja nicht wissen, dass er bereits nach dem Gespräch mit ihr kurz davor gewesen war, zu der Gruppe zurück zu kommen. Lediglich dass Trevor noch nicht wieder wach gewesen war, hatte ihn daran gehindert. Außerdem hatte sie ihm das Gespräch doch ans Ohr gebastelt!
    „Pah! Bedankt nennt der das!“ Nelli schlug nochmal mit dem Stock nach ihm, diesmal lag jedoch ein leichtes Grinsen auf ihren Lippen. „Trevor bekommt eine Bekundung über seine Leistungen, und ich?“
    Was wollte sie denn bitte noch hören? Reichte ein „Danke für deine Sorge“ nicht aus?
    Danke, dass du mir auf die Nerven gegangen bist?
    Danke, dass ich wegen dir einen Menschen töten durfte?

    Danke, dass ich wegen dir vermutlich bald Angst vor Stöcken habe?
    „Wie würdest du es denn nennen, du alte Schachtel?!“ Edmund hielt sich die Stelle, an der Nelli ihn mit dem Stock getroffen hatte.
    „Ich bin mir nicht sicher. Eine Beleidigung? Die Aussage eines bockigen Kindes?“
    Bockiges Kind? Er war doch kein Kind mehr!
    „Na hör mal …“
    „…ich bin trotzdem froh, dass du wieder der Alte bist“
    , nahm ihm Nelli den Wind aus den Segeln und ließ ihren Stock sinken.
    Der Alte? Was meinte sie denn nun damit? Und warum war die Hexe wieder dazu übergegangen, ihn zu duzen? Erlaubt hatte er es ihr sicherlich nicht. Daran würde er sich erinnern. Oder doch nicht?

    Während er nachgrübelte und ehe eine neue Diskussion begann, mischte sich Esther ein.
    „Wir haben übrigens ein Wrack gefunden.“
    Edmund beließ es bei einem bösen Blick in Nellis Richtung. Vorerst. Vielleicht sollte sie ihn auch einfach weiterhin duzen dürfen. Auf der Insel machte das sowieso keinen Unterschied mehr. Außerdem flüsterte ihm sein Gewissen ein, dass es so richtig war.
    „Ein Wrack?“, fragte Trevor.
    Edmund nickte. „Es wirkt noch … intakt.“
    „Vielleicht können wir es anrichten und kommen damit von der Insel runter?“, warf Esther ein. Ihre Augen leuchteten wieder ebenso wie zuvor, als sie das Wrack entdeckt hatte. „Besser als ein Ruderboot.“
    Trevor hob skeptisch die Augenbrauen und wog nachdenklich den Kopf. Er wirkte in etwa so zuversichtlich wie Edmund sich im ersten Moment gefühlt hatte, als er die Nussschale das erste Mal gesehen hatte.
    „Ist der Kiel noch in Ordnung?“, wollte er wissen und sah zwischen Esther und Edmund hin und her. Esther neigte fragend den Kopf. Edmund nickte.
    „Der scheint auf den ersten Blick unbeschädigt. Das Schiff ist höchstwahrscheinlich gegen eine Untiefe gestoßen. Ein Loch im Rumpf.“
    „Ist es morsch?“

    Edmund schüttelte den Kopf. Und ließ sich auf den Boden fallen. Zum einen weil es an Stühlen mangelte, zum anderen weil er nicht wollte, dass irgendwer sein Zittern bemerkte. Mit der Erinnerung an das Schiff war auch das Bild der Toten zurückgekehrt.
    „Können wir ein Schiff denn reparieren?“, fragte Esther.
    „Ich denke, wir haben genug Zeit, es herausfinden", entgegnete Nelli.
    „Ich würde es mir gerne ansehen.“
    „Du solltest dich noch etwas ausruhen"
    , meinte Esther zu Trevor. Seit wann duzten die sich? „Es dauert eine Weile dahin zu laufen.“
    „Und ich trag dich bestimmt nicht“, knurrte Edmund. Es war schon schwer genug gewesen, Trevor aus dem Boot zu hieven.

    „Das könntest du wohl sowieso nicht“, lachte Nelli, was Edmund dazu veranlasste die Wangen aufzublasen. Frechheit! Er wollte doch nur, dass Trevor die Verletzungen kurierte!



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    - Toni Morrison -

    • Offizieller Beitrag

    Trevor saß herum. Das war seine Aufgabe. Nelli sorgte für ausreichend Wasser, Esther und Edmund nahmen sich vor, das kleine Handelsschiff zu reparieren. Und Trevor schaute in die Wolken … Sie wollten sich zusammen zum Schiff begeben, damit er es sich anschauen konnte. Zumindest in dieser Sache konnte er helfen. Er war begeistert. Mühsam hob Trevor seinen Arm, dessen Schulter angeschossen worden war und verzog schmerzhaft das Gesicht.
    Das wird wohl noch dauern!
    „So ein Scheiß!“, fluchte er laut, sodass sich alle zu ihm herumdrehten. Mürbe winkte er ab. Sicherlich konnte sich jeder vorstellen, warum er unter spontan auftretenden Flüchen litt. „Dieser verfickte Francis. Wenn er nicht bereits tot wäre, würde ich ihn nochmal töten …“, murmelte er, „… langsam und grausam! Oh ja, ich würde mir Zeit lassen …“
    „Wenn es dir noch nicht gut genug geht, können wir auch noch einen Tag warten, um zu dem Schiff zu gehen“, wandte Esther ein und bedachte ihn mit einem musternden Blick.
    „Bloß nicht!“, erwiderte Trevor. „Noch eine Stunde länger hier im Sand und ich fange an, mich selbst zu verbuddeln! Für immer!“
    Der Formwandler erhob sich. Esther und Edmund halfen ihm dabei. „Es wäre hilfreicher, wenn du nicht so viel wiegen würdest“, gestand Edmund, und Trevor schaute ihn mit erhobener Braue an. „Es wäre nur hilfreicher …“, erklärte sich der Händlersohn.
    War klar, dass sich Edmund beschwerte. Ihm war es vermutlich lieber, Trevor erholte sich schnell, anstatt gebrechlich zu wirken. Esther ertrug wie immer alles ohne zu murren. Zumindest Trevors Gewicht.
    Nachdem Trevor auf seinen Beinen stand, konnte er zumindest alleine laufen. Natürlich war er langsamer als der Rest, sogar als Nelli, aber zumindest brauchte er dabei keine Hilfe mehr. Allerdings konnte er dem Rest nicht helfen, das Lager zum Schiff zu verlegen. Das empfanden alle als sinnvoller.
    Nach einiger Zeit rückte die festsitzende Nussschale in Sichtweite. Trevor erkannte gleich, dass einiges zu machen war. Und dabei waren die Reparaturen nicht mal das Schwierigste an der Sache. Das Schiff saß fest. Um es wiederherstellen zu können, mussten sie es aus dem Wasser bekommen, was er gleich den anderen mitteilte.
    „So weit waren wir auch schon!“, merkte Edmund an.
    „Gut, dann … fangen wir mal an!“, erwiderte Trevor. „Wie wollen wir das anstellen?“
    Edmund wollte etwas sagen, schloss aber seinen Mund wieder.
    Esther schaute verwirrt. Vermutlich hatte sie ebenfalls keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollten.
    „Dazu bräuchten wir Holz … viel Holz“, erkannte Nelli richtig, und Trevor stimmte zu.
    „Die Palmen bieten sich an, aber ohne Axt wird das schwer“, fügte Trevor hinzu. „Habt ihr auf den Schiff Werkzeug gefunden?“
    Esther und Edmund tauschten Blicke aus. „So genau haben wir uns noch nicht umgesehen“, erklärte Esther kleinlaut.
    Trevor nickte verstehend, wobei er sich fragte, was sie sonst auf dem Schiff gemacht hatten.
    „Zudem ist das Schiff nicht vollkommen … unbewohnt“, meinte Edmund.
    Trevor schaute den Händlersohn fragend an, aber am Blick des jungen Mannes erkannte der Formwandler, dass eventuell noch Teile der Mannschaft vorhanden waren. Edmund wurde ähnlich bleich wie nach dem Tod des Dicken. Wahrscheinlich hatte er wenig Lust, weiteren Leichen zu begegnen.
    „Ich kümmere mich um … die Bewohner“, antwortete Trevor. Für ihn war das nichts Schlimmes. Auf See hatten sie genug Tote bestattet oder beiseitegeschafft. Der Vorteil bei den Überresten dieser Personen war sicherlich, dass sie nicht mehr so stanken wie kürzlich Verstorbene.
    Trevor näherte sich dem Schiff. Als einziger Aufstieg hing eine alte Strickleiter von der Seite.
    Großartig … Ob die mich noch trägt?
    „Kommst du da überhaupt hoch?“, wollte Esther von ihm wissen.
    Ihre Sorge in allen Ehren, aber Trevor kam sich neben ihr vollkommen nutzlos vor. Ein Zustand, den er nicht mochte. Jeder andere Mann hätte vermutlich die Fürsorge einer jungen Frau genossen, aber Trevor gefiel das gar nicht. Unweigerlich kam ihm dabei der Moment in den Sinn, als er erwacht war. Esther hatte seine Wunden versorgt. Nun, wo er wieder auf den Beinen stand, war ihm das zunehmend unangenehm geworden. Er wollte nicht mehr wie ein verletztes Tier umsorgt werden. Sie musste ihn für einen Schwächling halten. „Aye, das schaffe ich schon“, erwiderte er deshalb. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich einhändig irgendwo hinaufklettern muss.“
    Trevor ging auf die Strickleiter zu. Er nahm zwei Steine zur Hand und fixierte das untere Ende der Leiter unter ihnen, sodass die Leiter nicht wahllos von einer Seite zur anderen schwanken konnte und stieg hinauf. Die Holzleisten ächzten unter seinem Gewicht, aber sie hielten. Danach schaute er sich um. Ein kleines Fass voller Nägel stand unter Deck.
    Zumindest etwas …
    Er begann, die sterblichen Überreste in einem Jutebeutel zu sammeln. Die Möwen hatten Teile der Mannschaft auf dem ganzen Schiff versteilt, sodass Trevor unmöglich sagen konnte, was zu welcher Leiche gehörte. Er ging jeden Raum ab, während der Rest das Schiff ebenfalls nach nützlichem Kram durchsuchte. Sie fanden Kleidung, die Esther und Nelli waschen wollten. Edmund fand zwei Hämmer, ein paar Holzlatten und Leinöl.
    Trevor begrub die Überreste der Besatzung am Rand des Urwaldes, nachdem er auch den Schädel aus dem Wasser gefischt hatte. Sein Blick fiel danach auf die drei anderen, die sich unterhaltend auf dem Schiff bewegten. Mit seiner Äußerung, dass er der Mann für das Grobe war, hatte er wohl unweigerlich Recht behalten. Nur, ob ihm das wirklich gefiel, konnte er nicht sagen. Neben dem Rest musste er wie ein Barbar wirken. Kämpfen, töten, Leichen beseitigen … War das seine Rolle in dieser kleinen Gruppe? Noch immer hatte er den Geruch von Blut in der Nase; spürte es in seinen Händen. Er verdrängte den Gedanken, dass ihm seine Überlegenheit im Kampf zunehmend gefiel. „Es ist nicht wichtig, wie du kämpfst, sondern für was“, hörte er eine Stimme flüstern, die gefühlt nicht aus seinem Kopf stammte. Er drehte sich um, aber entdeckte nichts, als den dunkler werdenden Urwald hinter sich. Beim zweiten Blick erkannte er einen kleinen Trampelpfad. Verwildert, aber schlicht weniger bewachsen als der restliche Urwald. Trevor warf noch einmal einen Blick zurück zu den anderen und folgte dann dem schmalen Weg ins Innere. Er stieß mitten im Urwald plötzlich auf eine Lichtung. Sie war nicht sehr groß. Vielleicht sechs Schritte in jede Richtung. Staub tanzte glänzend in der Luft, und abgesehen vom Gesang der Vögel, durchbrach nichts die Stille. Vorsichtig betrat Trevor die Lichtung. Es herrschte eine seltsame Stimmung, die er nicht benennen konnte. Als würde er beobachtet.
    Dir hängt dieser Händler noch nach …
    Plötzlich sah er ein Funkeln; das Aufblitzen von etwas Metallischem im Gestrüpp.
    Als er nach dem glänzenden Gegenstand griff, erkannte er tatsächlich eine Axt.
    „Es geht doch!“, rief er freudig, bemerkte aber, dass niemand bei ihm war, um den Fund mit ihm zu feiern. Was auch gut war, denn an der Axt hingen die knochigen Überreste einer Hand.
    Erst jetzt entdeckte er auch die anderen Toten, die wild verstreut herumlagen. Ein Schuh ragte aus einem Gebüsch, der zu einem Mann gehörte, der an einer Palme lehnte. Kletterpflanzen hatten seinen Schädel durchwachsen und ihn förmlich mit der Umgebung vereint. Es schien sich um den Rest der Mannschaft zu handeln, die wahrscheinlich auch versucht hatten, das Schiff zu reparieren.
    Neben einer Säge, waren auch zwei Schaufeln vorhanden. Aber die Leichen sich selbst überlassen? Den anderen Teil hatte er auch im Sand beerdigt, aber …
    Trevor stieß mit einer der Schaufeln in den Boden. Der Untergrund war zu steinig, um Gräber ausheben zu können.
    Dann anders …
    Er schaffte ein paar Steine heran, merkte aber schnell, dass er es allein nicht schaffte, genügend Steine heranzutragen. Er spürte, wie die Bewegungen an seinen Wunden rissen. Mal abgesehen von seinen Rippen, die mit dem Bücken nicht gänzlich einverstanden waren. Er lief zurück zum Strand, wo er Nelli dabei beobachtete, wie sie mittlerweile ihren Mittagsschlaf hielt. Beinahe hatte er ein schlechtes Gewissen, sie zu wecken, aber vermutlich war es auch nicht gut, die alte Dame so sehr der Sonne auszusetzen. Vorsichtig stieß er sie an, woraufhin sie die Augen öffnete und ihn anblinzelte. „Hast du einen Moment Zeit, mir zu helfen?“, fragte er und lächelte sie an.
    „Worum geht es?“, hakte Nelli nach und blinzelte erneut gegen die Sonne.
    Trevor machte mit einer Kopfbewegung deutlich, dass es um etwas ging, das sich im Urwald befand. Er wollte die Toten nicht direkt herausposaunen, sodass Esther und Edmund etwas mitbekamen. Die beiden hatten immer noch mit den Geschehnissen zutun, dass weitere Tote vermutlich die Gemüter nicht weiter erfreuten. „Das zeige ich dir.“ Er schaute dann auf das Schiff. „Wir sind gleich wieder da“, rief er den anderen beiden zu. Esther nickte verstehend, während Edmund ein „Ja, ja“, von sich gab.
    Trevor und Nelli machten sich auf den Weg. Er half der Hexe etwas durch das Unterholz. Die beiden nahmen sich wirklich nichts, obwohl Trevor nicht einmal ein Drittel so alt war. Dennoch machten ihm seine Verletzungen zu, und Nelli das Alter.
    Nach einiger Zeit kamen sie an der kleinen Lichtung an, und Trevor bleibt stehen. „Ich würde sie gerne bestatten, bevor ich … ihre Leichen fleddere“, gab er zu. „Ich meine, sie können die Werkzeuge nicht mehr gebrauchen, aber … ich fühle mich nicht wohl dabei, sie hier so liegen zu lassen und einfach nur den Rest einzustecken. Alleine … schaffe ich das jedoch noch nicht.“
    Nelli schmunzelte. „Kein Problem. Was soll ich tun?“
    Trevor dachte nach. „Es wäre das Beste, wenn wir sie nebeneinander auf die Lichtung legen und dann ein steinernes Hügelgrab machen. Der Boden ist zu felsig, um ein Erdgrab zu schaufeln. Steine liegen jedoch genug herum.“
    Nelli nickte. "Gut, dann sammeln wir zusammen Steine." Sie ging los, und wenig später hörte Trevor, wie sie leise vor sich hin murmelte.
    „Alles in Ordnung, Oma?“, wollte Trevor wissen.
    Nelli schaute auf und winkte beruhigend ab. "Jaja, alles in Ordnung, Bursche. Die Toten sind nur ein bisschen aufgekratzt.“
    Trevor schaute auf und wandte sich Nelli zu. „Aufgekratzt?“, hakte er nach. „Will jemand nicht von dir auf die Lichtung gezogen werden?“ Skepsis machte sich in ihm breit, ob sie nicht doch zu lange in der Sonne gesessen hatte.
    Ihr Lachen klang ein bisschen kratzig. Es schien, als ob er einen Witz gemacht hatte, den nur sie verstand. "Nein, das nicht. Aber sie erzählen mir ihre Geschichte. Anscheinend ist schon lange niemand mehr hier gewesen", erwiderte sie amüsiert.
    Sie hat eindeutig zu lange in der Sonne gesessen oder …
    „Du … kannst mit Toten sprechen?“, fragte Trevor. Angesichts ihres Alters klang das nicht mal vollkommen verrückt. Sie war immerhin eine Hexe. Und er hatte sie nicht als Person kennengelernt, die Blödsinn erzählte. Trevor ließ einen Stein vorsichtig auf die Gebeine eines Toten nieder und wartete auf ihre Antwort.
    Nelli sammelte ihrerseits einige Steine unter leisem Ächzen zusammen. "Oh ja, hatte ich das noch nie erzählt?", fragte sie und bettete einen Stein auf dem Bauch einer der Leichen.
    „Das wüsste ich ansonsten sicherlich“, antwortete Trevor überrascht und griff nach einem neuen Stein. „U… und was erzählen sie?“
    "Oh... gut, dann weißt du es jetzt." Ein Schmunzeln legte sich wieder auf ihre runzeligen Lippen. "Ihr Schiff ist durch einen Sturm vom Kurs abgekommen und dann auf Grund gelaufen. Sie lagen schon länger hier und sind dankbar, endlich zur Ruhe kommen zu dürfen."
    „Aye …“, erwiderte Trevor und schaute sich um. Ein kalter Schauder lief ihm am Rücken hinunter. Sie wurden beobachtet? Und die Geister erzählten Geschichten? Und warum zum Klabautermann gab es Geister? „Und sie haben nichts dagegen, dass wir ihre Sachen danach nehmen?“ Er ging lieber sicher, bevor einer der Geister am Ende noch mit dem Schiff mitfuhr. Trevor konnte sich vorstellen, dass Esther mit solch einem Wissen kein Auge zubekommen würde. Und Edmund würde das sicherlich nicht dulden, da er nicht sehen könnte, wenn der Geist hinter seinem Rücken Grimassen schnitt.
    Nelli schaute sich nach links um und schüttelte dann den Kopf. „Sie sagen, ihnen nützen die ja sowieso nichts mehr", entgegnete sie.
    „Dann … Danke?“ Trevor besaß nicht den Schimmer einer Ahnung, wie man sich gegenüber Geistern benehmen sollte. Spielte es überhaupt eine Rolle? Sie waren tot und konnten ihm nichts tun. Oder doch? Naja, der Grundgedanke war, dass er ihre Geister nicht hatte erzürnen wollen, wenn er sie bestahl, aber … er hätte doch nie gedacht, dass diese Geister tatsächlich existierten. Das sagte man doch immer nur so. Aber jetzt machten Nellis häufig vorkommenden Selbstgespräche sogar Sinn. Vermutlich waren sie immer von irgendwelchen Geistern umgeben, ohne es zu merken – abgesehen von Nelli. „Siehst du viele Geister?“, wollte er deswegen wissen.
    Nachdenklich legte die Hexe den Kopf schief. „Ja, ich denke, dass kann man so sagen. Einige Menschen sind von Geistern umgeben und auch in Städten gibt es davon recht viele“, erklärte sie mit einem Tonfall der Selbstverständlichkeit.
    Trevor lächelte verhalten. Er wusste nicht, ob er näher auf das Thema eingehen sollte oder nicht. Einerseits war er neugierig, andererseits war es etwas, dass man vielleicht gar nicht so genau wissen wollte. Allerdings musste der Formwandler zugeben, dass seine Neugier siegte. „Stört dich das nicht?“, bohrte er weiter. „Man hat immerhin das Gefühl, nie alleine zu sein.“
    Nelli zuckte erneut mit den Schultern. „Ich bin es gewohnt. Ich kann Geister schon mein ganzes Leben lang sehen. Manche sind ruhiger, andere aufdringlicher. Einige kann ich auch bewusst beschwören, wenn ich mich genug konzentriere“, antwortete die Alte.
    Trevor nickte. Vermutlich gewöhnte man sich an alles. Ob ihn auch Geister verfolgten? Vermutlich nicht. Ansonsten hätte er schon irgendetwas an Nellis Verhalten gemerkt. Oder nicht?
    Zunächst konzentrierte er sich aber darauf, die Toten anständig unter die Erde – oder Steine – zu bringen, egal, ob er dabei von ihren Geistern beobachtet wurde. Er versuchte lediglich, ihre Überreste nicht aus Versehen zu zertrümmern. Nachdem sie fertig waren, gönnten sich Nelli und Trevor eine Pause im Schatten einiger Palmen. „Wenn uns Geister verfolgen würden, würdest du uns das aber sagen, oder nicht?“, brach schlussendlich doch die Frage aus ihm heraus. Immerhin wollte er nicht, dass seine tote Mannschaft ihm auf Tritt und Schritt folgte.
    Sie hielt ihm eine Flasche Quellwasser hin und streckte ihre Beine aus. „Würdest du wirklich wissen wollen, Junge?", fragte sie dann schließlich vorsichtig.
    Trevor trank etwas aus der Flasche. „Ich weiß nicht …“, gestand er. „Würdest du das nicht wissen wollen? Vor allem, wenn man viele Menschen im Laufe der Zeit verloren hat?“ Er seufzte und fuhr sich mürbe über sein Gesicht. Im Grunde lag seine gesamte Vergangenheit in Scherben. Alles, was er mal gewesen war, war mit seiner Mannschaft gestorben. Ebenso seine Mutter und deren Verwandten. Natürlich hatte er in Nelli, Edmund und Esther neue Freunde gefunden, aber wer wusste, wie lang diese Verbindung anhielt. Vielleicht, bis sie alle wieder auf Zivilisation trafen. Edmund und Esther besaßen immerhin ein Zuhause. Bei Nelli war er sich nicht sicher, ob sie einen Ort so nennen würde, den sie kannte. Er allerdings war nichts ohne die anderen. Oder besser gesagt, er war noch nichts. Seit seinem Erwachen, das musste er gestehen, hatte er keine Ahnung, was er mit sich anfangen sollte. Der Rest der Piraten würde schon dafür sorgen, dass er an keinem Schiff mehr anheuern konnte – geschweige, ihn noch als Piraten sahen. Keine leichte Situation. Und dann vielleicht noch von Geistern aus der Vergangenheit verfolgt werden – das fehlte ihm noch.
    „Ich sehe auch die Geister der Menschen, die ich verloren habe. Am Anfang war es mehr schmerzlich, doch irgendwann hatte es etwas Tröstliches, dass sie nie ganz von meiner Seite weichen. Sie wachen über uns", führte sie dann weiter aus und trank dann selbst einen Schluck Wasser.
    Trevor begann zu lachen und verwies auf seine Verletzungen, obwohl er wusste, dass er allein für diese verantwortlich war. „Tröstlich zu wissen, dass vielleicht einige Geister mit den Augen rollen, wenn sie mich sehen.“
    „Das nicht. Eher besorgt“, verriet sie.
    Das ließ Trevor aufhorchen. „Besorgt?“, wollte er wissen. Diese Frage kam schneller über seine Lippen, als er über sie nachgedacht hatte.
    Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Wir waren alle besorgt", versuchte sie, offensichtlich das Thema abzuwiegeln.
    Sollte es Trevor dabei belassen? Vielleicht wollte er auch nur etwas hören, das nicht der Fall war. Und er wollte auch Nelli nicht dazu bringen, Geister zu rufen. Er wollte nicht wie ein Kind wirken, das nach seiner Mutter rief. Er hatte noch nie aufgegeben. Weder, als seine Mutter morgens tot im Bett lag, noch als die Piraten ihn vom Handelsschiff verschleppt hatten. Das war nicht sein Stil – wenn er überhaupt einen besaß. Selbst in der Kiste hatte er nach dem letzten verfügbaren Strohhalm gegriffen, der sich nun als Freund herausgestellt hatte. Deswegen lächelte er und sah Nelli an. „Du versuchst hoffentlich nicht, mich zu schützen“, erwiderte er und richtete sich mühselig auf. Noch mehr Fürsorge und Schutz ertrug er nicht. Er war ein erwachsener Mann, kein Kind.
    Die Alte legte den Kopf schief, ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen. „Ich versuche, alle irgendwie zu schützen. Auf meine Art.“
    Trevor sammelte die Werkzeuge ein und machte durch eine Kopfbewegung deutlich, dass sie zurückkehren sollten. „Dann hoffe ich, dass wir nur zu viert auf dem Schiff fahren.“
    Sein Grinsen machte hoffentlich deutlich, dass es mehr ein Scherz sein sollte, aber sollten sie Geister umgeben, sollten sie besser auf der Insel bleiben.
    Sie kehrten zurück und zeigten dem Rest ihre Beute. Trevor machte sich daran, die Axt etwas zu schleifen. Allerdings standen sie dann vor einem anderen Problem. Wer sollte die Palmen fällen? Wie sollten sie diese zum Strand transportieren? Esther erklärte sich bereit, das Schiff durch einen Schild vor weiteren Beschädigungen zu schützen, wenn sie es bewegten, aber so weit mussten sie erst einmal kommen. Ihre Idee war aber dennoch sehr gut.
    Edmund sah Nelli erwartungsvoll an. „Kannst du nicht irgendetwas … brauen, damit wie hier nicht die nächsten zehn Jahre verbringen?“

  • Nelli verzog das Gesicht.

    Wie genau stellst du dir das denn vor? Die meisten meiner Kräuter sind noch auf der Eleftheria und die, die ich hier habe, sind von der Überfahrt völlig durchnässt. Der Dschungel hier bietet auch nicht sonderlich viel“, erwiderte sie auf Edmunds Frage hin und zog die Augenbrauen nach oben.

    Ich bin eine Hexe, aber Wunder wirken kann ich...“, begann sie und brach dann plötzlich ab. Ihr fiel eine Methode ein, wie sie Trevors Heilung wirklich beschleunigen konnte, doch das war ein Pfad, der nicht ungefährlich war und einiges von ihr abverlangen würde. Sie schaute zwischen dem Schiff und ihren drei Begleitern hin und her, ehe sie schließlich seufzte. Wenn sie nicht wollte, dass sie hier noch hundert Jahre fest saßen, dann blieb ihr wohl keine andere Wahl. Esther konnte nur bedingt helfen, Edmund war schwere, körperliche Arbeit sicher nicht gewohnt (und sein Gejammer konnte sie nun wirklich nicht Ewigkeiten ertragen), während Trevor nur körperlich nicht in der Lage dazu war. Sie fuhr sich über die Stirn und nickte schließlich ergeben.

    Ich schaue, was ich machen kann. Dafür muss ich aber allein sein, wehe einer von euch folgt mir. Das kann üble Folgen haben“, warnte Nelli die Drei, während sie ihren knorrigen Zeigefinger erhoben hielt und sie ernst anschaute. Die Blicke, die ihr entgegen kamen, waren alles zwischen irritiert, besorgt und verständnisvoll.

    Bevor sie es sich anders überlegen konnte, wandte sie sich um und ging tiefer in den Dschungel der Insel hinein, bis sie auf eine kleine Lichtung kam. Sie kramte in ihrer Tasche und zog ein Tuch, mit dem sie Trevors Blut abgewischt hatte heraus, zusammen mit einer kleinen Tasche, in der sie Utensilien zum Feuermachen hatte. Sie grub etwas Erde aus und begann mit der Erde ein Pentagramm auf das Gras zu zeichnen, in dessen Mitte, die ein kleines Feuer entzündete. Mit ihrem Stock zeichnete sie in paar Runen in die freien Stellen, während sie begann leise die Beschwörungsformeln zu murmeln.

    Na'chogtan! Elegtirim-cera...Trevor ran cotglotaran...“, wisperte sie und schloss die Augen, während die Geister nach und nach von ihr Besitz ergriffen. Erst war ihre Stimme noch etwas zittrig, selbst für sie war das gefährlich. In all ihren Jahren hatte sie diese Art von Magie nur sehr selten genutzt. Sie warf das Tuch in das Feuer und wiegte ihren Körper im Takt einer Musik, die nur sie hören konnte. Immer wieder wiederholte sie die Beschwörungen während ihre Bewegungen immer wilder und unkontrollierter wurden. Mit einem scharfen Stein, mit dem sie die letzten Tage Beeren von den Büschen geschnitten hatte, schnitt sie sich nun über ihre Handfläche, sodass ihr Blut auch in das Feuer tropfte. Mit einer Geschmeidigkeit, die man ihrem alten Körper nicht zugetraut hätte, tanzte sie um das Feuer herum und stieß mal leiser und lauter kaum verständliche Wörter hervor. Sie merkte kaum, dass sie immer schwächer wurde, während sie ihre Lebensenergie gegen Trevors Gesundheit eintauschte. Gegen das Opfer von ein paar Lebensjahren würde der junge Formwandler zu Kräften kommen und seine Wunden würden bis zum Aufgehen der Sonne am nächsten Morgen verheilt sein.

    Die alte Hexe verlor das Gefühl für Zeit, in ihr brannten nur die Geister, die ihren Körper in Besitz genommen hatten. Die Energie, die nun durch sie floss, war nicht von dieser Welt. Sie hoffte nur, dass die anderen sich an ihre Mahnung halten würden. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würden, wenn sie sie so sehen würden. Diese Art von Magie war wild und ungezügelt. Die Gefahr, dass jemand anderes dadurch zu schaden kommen würde, war nur schwer einzuschätzen und damit viel zu groß. Wenn sie sich selbst dieser aussetzte und bereit war, dieses Opfer zu bringen, war das eine Sache, doch nie würde sie wollen, dass einer der anderen verletzt oder gar getötet wurde.

    Irgendwann erlosch die Flamme des Feuers von allein, als ob jemand eine Kerze auspusten würde. Schwer atmend kam Nelli wieder zu sich und sank auf die Knie. Die Welt um sie herum nahm sie nur verschwommen wahr und ihr Körper zitterte ob der Anstrengung. Kurz schloss sie die Augen und legte den Kopf in den Nacken, während sie versuchte ihre Atmung und ihren Herzschlag zu beruhigen. Sie schaute zum Himmel und wunderte sich, wann denn die Sonne unter- und die Sterne aufgegangen waren. Der Wald um sie herum war außergewöhnlich still, als wollte die Natur ihr einen Moment der absoluten Ruhe schenken. Ohne groß drüber nachzudenken, sackte sie zur Seite, ihr Kopf sank in das weiche Gras und sie schloss erneut die Augen um sich einer erholenden Ohnmacht hinzugeben. Ganz am Rande ihres Bewusstseins nahm sie noch eine Stimme wahr, die ihren Namen rief.

  • Während Nelli weißt Gott was anstellte, entschied Esther, dass sie Rumsitzen für sie nicht in Frage kam. Auch die Männer nutzten die Zeit für Sinnvolles und erleichterten das Schiff um ihre nunmehr nutzlose Fracht.

    Esther schnappte sich einen Bündel Kleidung und trat den Weg zur Quelle an.

    Zwar hatte sie keine Ahnung, ob sie ihnen passen würde, aber es war allemal besser als die dreckige und teils blutbeschmierte Kleidung, die sie alle im Moment trugen.

    Mehr stolpernd als wirklich gehend erreichte sie die Quelle. Wie auch schon die letzten Tage ließ sie der purer Anblick dieses Ortes entspannter werden.

    Sie warf den Stapel Wäsche auf den Boden neben einem großen Felsen und erleichterte sich um ihren Gürtel samt Tasche. Dabei fiel der Dolch mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde.

    Den habe ich ganz vergessen …

    Sie hob ihn auf, legte ihn auf den Stein und sah sich um.

    Dann machte sie sich daran, einige Schlingpflanzen von den Baumstämmen zu reißen. Ein schwieriges Unterfangen, wie sich schnell herausstellte. Die Pflanzen hingen so fest, sodass sie mit aller Kraft daran ziehen musste. Nach einiger Zeit hackte sie sogar mit dem Dolch darauf herum und dachte kurzzeitig darüber nach, einen der Männer zu holen.

    Trevor schafft das bestimmt trotz gebrochener Rippe und Schusswunde!

    Aber sie schaffte es schließlich aus eigener Kraft, genug zusammenzugetragen. Nachdem sie die Blätter entfernt hatte, verknotete sie die Enden jeweils an Ästen fest, sodass sie später die gewaschene Wäsche zum Trocknen rüber legen konnte.

    Völlig außer Atem entledigte sie sich ihrer Korsage, warf sie zu ihrem Gürtel und dem Dolch und besah sich ihre schmerzenden Hände. Sie waren dreckig und einige rote Stellen zeichneten sich ab. Außerdem war ihr Verband an der Rechten verrutscht, weshalb sie ihn schließlich löste. Die Verletzung durch den geborstenen Magiestein war bisher gut verheilt. Aber es ließ sich erkennen, dass kleine Narben blieben.

    Ein Schandfleck, der ihren Wert in den Augen der Angehörigen ihrer Gesellschaftsschicht minderte. Energisch ballte sie die Hand zu einer Faust.

    Finde dich mit diesem Makel ab! Es gibt Schlimmeres!

    Sie krempelte sich die Ärmel hoch und machte sich daran, die Wäsche nacheinander zu waschen. Während sie leise ein Lied vor sich hin summte, fragte sie sich, ob sie das überhaupt richtig machte. Das war für sie immerhin das erste Mal, dass sie ihre Kleidung alleine reinigte und es war anstrengender als gedacht. Bereits nach drei Teilen stand ihr ob der Hitze abermals der Schweiß auf der Stirn und ihre ohnehin schmerzenden Finger fühlten sich taub an. Hartnäckig wusch sie weiter bis zum letzten Stück. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie gebraucht hatte. Keuchend rang sie eine Hose aus, die von der Länge her Trevor passen müsste, und hängte sie über ihre provisorische Wäscheleine.

    Mit schief gelegtem Kopf besah sie sich ihre Arbeit und stellte fest, das ihr Plan aufgegangen war.

    Die aufgehängte Wäsche stellte gleichzeitig einen Schichtschutz für sie während des Badens dar, der sie zumindest aus einer Richtung vor neugierigen Blicken bewahrte. Sie wusste zwar, dass sie sich bei den Anderen in dieser Hinsicht keine Gedanken machen musste – Trevor und Edmund besaßen genug Anstand, während sie aus erster Hand wusste, dass Nelli von ihrem Körper bereits nahezu alles gesehen hatte – aber Vorsicht war besser als Nachsicht.

    Ohne zu wissen, worauf sie eigentlich wartete, ließ sie ihren Blick durch die Umgebung gleiten. Dann schälte sie sich aus ihrer restlichen Kleidung. Nacheinander landete alles auf dem Boden.

    Vorsichtig streckte sie den Zeh ins Wasser. Es war recht kühl, weshalb sie einige Anläufe brauchte, um schlussendlich bis zur Hüfte in der Quelle zu stehen. Dann ging sie mit einem Ruck in die Hocke und holte tief Luft.

    Bei den Silbererzen! Das ist kalt!

    Aber es tat auch gut, den Dreck der letzten Tage abzuwaschen.

    Sie stieß sich vom Boden ab und einige Schwimmzüge später tauchte sie mit dem Kopf unter und genoss das Gefühl, den Sand aus den Haaren zu spülen.

    Einige Zeit verbrachte sie im Wasser, schwamm umher und ließ sowohl ihren Körper als auch ihre Gedanken zur Ruhe kommen. Es war, als würde in diesem Moment eine Last von ihr abfallen, zusammen mit dem Schmutz der letzten Tage, und sie um einiges leichter werden lassen.

    Mit einem besseren Gefühl im Gemüt, stieg sie aus dem Wasser, rang die Haare aus und rieb ihren Körper mit einem Stoffstück trocken, welches sie dann ebenfalls über die Leine legte.

    Sehnsüchtig blickte sie auf ihre Robe hinab, entschied sich aber schnell dagegen, sie wieder anzuziehen. Einerseits war sie bereits an viel Stellen dreckig und roch vermutlich genauso schrecklich wie sie aussah, anderseits schien es ihr in Anbetracht der geplanten Reparatur besser, auf Funktionalität umzusteigen.

    Ihre Robe war nicht nur zu dick für körperliche Arbeit, sondern auch viel zu unpraktisch.

    Fröstelnd pflückte sie sich ein Hemd von der Leine und zog es sich über. Sie stellte zufrieden fest, dass es passte. Ob es mal einem Schiffsjungen gehört hatte?

    Schnell verwarf sie den Gedanken, schlüpfte in eine dunkle Hose und steckte das Hemd hinein. Erstaunlicherweise schien ihr diese ebenfalls wie an den Leib geschneidert. Die Kleidung war noch ziemlich klamm, aber sie war sich sicher, dass es bei der Wärme schnell trocknen würde.

    Sie seufzte, als sie sich in ihre eigenen Stiefel quälte. Vermutlich machte sie in diesem Aufzug keinen sonderlich gräflichen Eindruck und sie konnte womöglich froh sein, wenn die Anderen nicht hinter vorgehaltener Hand über sie lachten. Aber was soll´s - für falschen Stolz war in ihrer aller Lage kein Platz.

    Sie stand auf und zog ihre Korsage über. Während ihrer Zeit in der Gilde hatte sie schnell gelernt, wie man dieses Kleidungsstück selber schnürte.

    Dann legte sie den Gürtel mitsamt Zauberstab wieder an. Zum Schluss verband sie ihre Hand wieder sorgsam, sodass Nelli nichts zu meckern hatte.

    Probeweise schloss und öffnete sie die Hand einige Male. Es schmerzte nicht mehr und sie war sich sicher, dass sie den Verband bald weglassen konnte. Aber dahingehend würde sie Nelli einmal um eine Meinung fragen.

    Dann hob sie nachdenklich Francis Dolch vom Boden auf und war für einen Moment versucht, ihn einfach ins Wasser zu werfen. Dann steckte sie ihn ebenfalls in ihren Gürtel. Sie hatte sich vorgenommen, die Waffe Trevor zu geben und das würde sie auch tun.

    Das Haar musste sie notgedrungener Maßen zunächst trocknen lassen, bevor sie es zusammen binden konnte.

    Sie seufzte und sammelte ihre Kleidungsstücke ein. Vermutlich sah sie nunmehr selber aus wie eine Deckshelferin und sie kannte nicht einmal Deckshelferinnern. Gab es so etwas überhaupt?

    Mein Vater würde mich lynchen …

    Sie musste zugeben, dass es mehr als ungewohnt war, in einfacher Kleidung zu stecken. Zwar konnte sie den gewaltigen Ballkleidern noch nie sonderlich viel abgewinnen, das hieß aber nicht, dass sie nicht auf ihr Äußeres achtete.

    Sie warf einen letzten Blick auf die restliche Wäsche, die sie zum Trocknen einfach hier lassen würde. So konnte sich außerdem jeder das nehmen, was er wollte. Dann trat sie den Rückweg an und wenig später erreichte sie das Lager. Hoffentlich waren die Anderen dezent genug um sich nicht anmerken zu lassen, wie sie sich über sie lustig machten.

    Sie versuchte, sich so leise wie möglich zu nähern. Warum genau sie das machte, wusste sie nicht – sich zu verstecken machte keinen Sinn.

    Augenblick drehten Edmund und Trevor, die bisher in einem Gespräch miteinander vertieft waren, die Köpfe herum. Während der Händlersohn sie mit erhobener Braue von Kopf bis Fuß musterte, wirkte der Formwandler auf eine gewisse Weise amüsiert.

    Sie stockte ob der Blicke ihrer männlichen Begleiter kurz im Schritt und sah an sich hinunter. „Stimmt … etwas nicht?“, fragte sie zögerlich.

    Trevor fasste sich zuerst. „Keine Sorge“, meinte er schnell. „Ich habe bereits Frauen in Hosen gesehen. Der Unterschied ist nur … Du würdest vermutlich selbst der Kleidung eines Bettlers Anmut verleihen.“

    Sie blinzelte, besah sich abermals ihre Gestalt und spürte, wie ihr Gesicht erhitzte.

    In feiner Gesellschaft hätte sie nichts weiter tun müssen, als zu Lächeln und sich für das Kompliment höflich zu bedanken. Andererseits hätte es in ihren Kreisen nicht einmal wie ein Kompliment gewirkt, sondern eher wie eine Herabsetzung ihrer Person. Allerdings war Trevor niemand aus ihrem Stand. Er konnte gar nicht wissen, wie die Männer in ihrer Gesellschaftsschicht Frauen Komplimente machten. Und der Unterschied war auch, dass Trevors Worte echt waren und nicht nur eine Farce. So hoffte sie es zumindest.

    Ehrlich lächelnd sah sie ihn an. „Danke Trevor, dass ist lieb von dir“, meinte sie. Auf keinen Fall wollte sie dem Wandler das Gefühl vermitteln, etwas Falsches gesagt zu haben. Denn das hatte er nicht. Seine Worte nahmen ihr ein wenig das Unwohlsein. Sie legte ihre alte Kleidung auf ihrem Lager an. „Ich dachte, es wäre vielleicht besser, funktionale Kleidung anzuziehen statt der Robe … in Anbetracht der geplanten Reparatur des Schiffes“, setzte sie nach, richtete sich auf und sah die Männer an.

    „Ein Kleid eignet sich nur bedingt dafür“, stimmte Trevor zu. „Der Saum könnte irgendwo hängen bleiben und du dadurch stürzen. Die Hose macht durchaus mehr Sinn.“

    „Ihr wollt bei der Reparatur helfen?“, warf Edmund ein. Noch immer blickte er sie mit erhobener Augenbraue an.

    Trevor warf dem Händlersohn einen Blick zu. „Wenn wir auf der Insel nicht alt und grau werden wollen, sollten wir alle anpacken“, trat er Esther bei. „Und schlechter mit Werkzeug umgehen als du ist kaum möglich“, fügte er murmelnd hinzu.

    Esther sah zu Edmund und bemühte sich, ihn nicht anzugrinsen. Was wohl in ihrer Abwesenheit geschehen war, was Trevors letzte Aussage bekräftigte?

    Edmund verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper. „Oh entschuldige bitte, dass auf einer einsamen Insel ein Wrack zu reparieren nicht zum Privatunterricht gehörte und du deshalb mit einer Unkenntnis gestraft bist!“

    Esthers aufkeimendes Lächeln erstarb und besorgt glitt ihr Blick zu Trevor hinüber.

    Wieder wollte sie etwas sagen, aber der Formwandler kam ihr zuvor.

    „Es geht nicht um Unwissenheit, sondern darum, dass wir unser Bestmögliches versuchen“, meinte er. „Egal, ob Frau oder Mann … wir wollen alle von der Insel herunter.“

    Esther entschied, dass diese Unterhaltung in eine falsche Richtung ging. Sie wandte sich an den Händlersohn. „Um Eure Frage zu beantworten, Edmund“, sagte sie schnell und lächelte ihn versöhnlich an. Sie wollte keine weitere Diskussion vom Zaun brechen, so etwas konnten sie in ihrer derzeitigen Lage beim besten Willen nicht gebrauchen. „Ja. Ich werde bei der Reparatur helfen.“ Letzteres sagte sie nur, um ihren Standpunkt noch einmal klarzustellen.

    Edmund zuckte lediglich die Schultern. „Hab nichts dagegen“, erklärte er, nicht aber, ohne Trevor böse anzufunkeln.

    Der Formwandler grinste lediglich.

    Esther war froh, an einer Auseinandersetzung vorbeigeschlittert zu sein

    Sie ließ ihren Blick über das Lager gleiten. „Wo ist Nelli? Ist sie noch nicht wieder hier?“, wollte sie von den Männern wissen, woraufhin diese einen schnellen Blick tauschten.

    „Ist sie nicht bei Euch?“, fragte Edmund. Sie meinte, einen Hauch Besorgnis in seiner Stimme zu hören.

    Sie beantwortete seine Frage mit einem Kopfschütteln und sah in den Himmel hinauf. Es war bereits merklich dunkler geworden. Obwohl Esther fest davon überzeugt war, dass die Hexe wusste, was sie tat, so konnte sie eine gewisse Unruhe in ihrem Inneren spüren.

    • Offizieller Beitrag

    Trevor und Edmund suchten den Strand zunächst nach Nelli ab. Esther schaute in der Umgebung des Schiffes und des Lagers. Am Ende trafen sich alle am Lagerfeuer, aber von Nelli fehlte weiterhin jede Spur.

    „Wo könnte sie nur hin sein?“, fragte Esther laut in die Runde.

    „Hatte sie nicht gesagt, wir sollten ihr nicht folgen?“, fügte Edmund an. „Dann wird sie vermutlich nicht in der Nähe des Lagers sein.“

    „Dem stimme ich zu“, erwiderte Trevor. „Sie ging den Strand entlang. Vielleicht ist dann in den Dschungel gelaufen.“

    „Wie sollen wir sie da nur finden?“, wollte Esther wissen. „Es ist ja nicht so, dass der winzig wäre.“

    „Edmund und ich werden suchen gehen. Du, Esther, solltest im Lager bleiben, falls wir sie verpassen.“, beschloss Trevor und sah Edmund abwartend an. Dieser nickte einverstanden.

    „In Ordnung …“, antwortete die Magierin. „Ich könnte sie auch …“

    Urplötzlich verspürte Trevor ein Ziehen in der Brust. Er krümmte sich vor Schmerzen nach vorne, was Esther in ihrem Satz unterbrach.

    „Stimmt was nicht?“, hakte Edmund nach.

    „Weiß nicht!“, brummte Trevor zwischen zusammengebissene Zähne empor. „Es fühlt sich an …“ Ein stechender Schmerz brachte den Formwandler auf die Knie. Es knirschte und knackte in seinem Brustkorb, sodass ihm kurzerhand ein lauter Schrei entglitt.

    Die anderen beiden standen erschrocken herum und wussten nicht, was sie tun sollten.

    Trevor wusste das auch nicht. Aber so schnell, wie der Schmerz gekommen war, war er auch vorbei. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als er seine Brust abtastete. „Ich glaube, meine Rippen sind … wieder da, wo sie hingehören.“

    „Nelli?“, entfuhr es Edmund besorgt. Immerhin wollte sie dem Formwandler bei seinen Verletzungen helfen. Aber mit so einer Magie hatte wohl niemand gerechnet.

    „Es gibt Zauber, die einem Magier oder Magierin Energie entziehen und auf jemand anderen übertragen. Vielleicht hat das Nelli gewirkt, um Trevor zu helfen. Und wenn sie einen solchen Zauber genutzt hat, ist sie auf jeden Fall jetzt sehr geschwächt..“

    „Und liegt vielleicht irgendwo im Dschungel …“, nuschelte Edmund mit beinah bleichem Gesicht. „So hatte ich das nicht gemeint, als ich sie bat, zu helfen.“

    „Ich auch nicht“, gab Trevor stöhnend zu und erhob sich wieder. „Das wäre auch so geheilt.“

    Dass hier jeder übertreiben muss!“, krakeelte Edmund. „Jeder hier geht mit seinem Leben um, als hätte er neun davon … wie eine Katze …“

    „Ich könnte versuchen, mit einem privaten Gegenstand, Nelli aufzuspüren“, schlug Esther vor. „Dann sucht ihr nicht ins Blaue.“

    „Das wäre eine gute Idee, wenn wir die Zeit hätten, Esther, wir sollten aber gleich losgehen. Du kannst aber für den Zauber alles vorbereiten, falls wir nicht fündig werden“, erwiderte Trevor.

    Esther nickte und schaute sich nach Sachen von Nelli um, während Edmund und Trevor umgehend in die Richtung liefen, in der Nelli verschwunden war.

    Umgehend fingen die beiden Männer an, Nellis Namen zu rufen. Sie folgten noch einmal dem Weg, in den die Hexe verschwunden war.

    „Hier …“, stieß Edmund nach kurzer Zeit aus und verwies auf plattgetretenes Gestrüpp neben sich.

    Die Männer tauschten Blicke und folgten sofort dem Pfad. Sie riefen weiter nach Nelli, während sie in der Dunkelheit herumstolperten. Nur der Mond erhellte den Dschungel etwas, sodass sie nicht jede Wurzel mitnahmen.

    Nach ein paar Schritten blieb Trevor stehen und bemerkte ein Jucken an der Schulter, woraufhin er seine Schusswunde betrachtete. Sichtlich verschmälerte sich die Verletzung, was wohl bedeutete, dass nicht nur seine Brüche ungewöhnlich schnell verheilten. „Wir sollten uns beeilen …“, sprach er an Edmund gewandt, der mit erhobener Augenbraue ebenfalls Trevors Schulter betrachtete.

    „Erinnere mich daran, Nelli nie wieder um eine schnelle Heilung zu bitten“, nuschelte Edmund und lief weiter.

    „Keine Sorge, ich werde diese Art Hilfe auch nicht mehr annehmen“, antwortete Trevor und folgte dem Händlersohn.

    Sie riefen weiter. Esther hörte sie sicherlich bis zum Lager, so laut, wie die beiden schrien. Und irgendwann rochen sie Rauch. Als sei ein Lagerfeuer gerade erloschen. Beide liefen in alle Richtungen, um herauszufinden, aus welcher Richtung der Geruch kam und einigten sich schnell auf den Norden. Sie beschleunigten noch einmal ihre Schritte, stolperten und riefen erneut den Namen der Hexe, ehe sie auf einer kleinen Lichtung landeten. Der Schein des Mondes erhellten den daliegenden Körper, der sich nicht regte.

    „Ist sie tot?“, brach es aus Edmund heraus, und Trevor ging an ihm vorbei, um nach der Alten zu sehen.

    „Sie atmet!“, stellte der Formwandler gleichauf fest, und die Erleichterung in Edmunds Gesicht war nicht zu übersehen. Aber auch Trevor amtete erleichtert aus. „Sie scheint … ohnmächtig zu sein.“ Trevor rüttelte leicht an Nellis Schulter, aber sie erwachte nicht.

    „Dann bringen wir sie schnell ins Lager“, sagte Edmund. „Soll ich sie tragen?“

    Trevor musterte Edmund. Dazu fähig war er sicherlich, auch wenn es ihm schwerer als Trevor fallen würde. War er schon fit genug, Nelli zu tragen? Er beschloss, lieber kein Risiko einzugehen und nickte. „Ich helfe dir!“

    Trevor hob Nelli hoch, sodass Edmund sie Huckepack tragen konnte. Dann ging der Formwandler vor, um Äste und Gehölz aus dem Weg zu schaffen, damit Edmund nicht hinfiel. Es dauerte eine Weile, bis sie aus dem Dschungel herauskamen. Edmund konnte das Gewicht von Nelli ohne große Probleme tragen, aber der unwegsame Pfad erschwerte das Vorankommen. Zwischendrin hörte Trevor den Händlersohn immer wieder fluchen, wenn dieser mit einem Fuß an einer Pflanze hängen blieb oder ihm ein Ast im Dunklen durch das Gesicht peitschte.

    Trevor trat große Äste oder legte Steine beiseite, sodass Edmund einigermaßen sicheren Fußes vorankam.

    „Die Alte amtet mir in den Nacken ... Das ist zwar gut, dass sie noch atmet, aber es ist schon warm genug ...", beschwerte sich Edmund.

    Trevor lachte. „Daran, dass dir Frauen in den Nacken atmen, müsstest du doch gewohnt sein. Nur scheinen sie ihn dir danach meist auch brechen zu wollen.“

    Edmund antwortete mit einem tonloses Lachen.

    Und nein, Trevor hatte Laune der Schankmagd nicht vergessen, der er begegnet war.

    Sei nur still. Dir atmen lediglich behaarte Riesen ins Gesicht, bevor die nächste Schlägerei beginnt.

    „Da vorne ist der Ausgang“, lenkte Trevor vom Thema ab und schob noch ein paar Äste zur Seite, um Edmund den Weg zum Strand freizuhalten.

    Es dauerte nicht lange, bis Esther sie entdeckte. Sie fragte umgehend, wie es Nelli ging, aber dazu konnten die beiden auch nicht viel sagen. Sie legten die Hexe auf ein paar Decken nahe am Feuer. Nellis Atmung war regelmäßig, das beruhigte alle. Trotzdem wirkte sie im wenigen Licht des Feuers ausgelaugt, ihre Haut war fahl und sie war nicht wach zu bekommen. Vermutlich mussten sie warten, bis Nelli etwas zu Kräften gekommen war. Esther holte Wasser und etwas Obst, das sie Nelli verabreichen wollte, sobald sie erwachte. Die drei setzten sich um das Feuer und schwiegen sich an. Keiner schien zu wissen, was er sagen sollte. Trevor erstrecht nicht, da Nelli sich nur in diesem Zustand befand, weil sie ihm helfen wollte. Einerseits war er dafür dankbar, andererseits war ihm die Art der Hilfe etwas zu viel. Und er sah auch an Edmunds Gesicht, dass dieser nicht gewollt hatte, dass Nelli zu diesem Mittel greift, um den Formwandler fit zu bekommen.

  • Stunden später hockte Edmund im Schneidersitz neben dem Feuer, das langsam herunterbrannte.
    Nachts kamen die Erinnerungen an die Geschehnisse auf der Eleftheria blutig zurück, auch, wenn er sie tagsüber mittlerweile gut verdrängen konnte. Es hinderte ihn am Schlafen. Das, und der Hunger.
    Hiernach werde ich nie wieder eine Kokosnuss auch nur anschauen …
    Die anderen schliefen vergleichsweise ruhig, Nelli wirkte sogar beinahe tot. Zweimal schon war er aufgestanden, um ihren Puls zu fühlen. Aber die Hexe lebte noch. Was hatte sie nur dazu gebracht, derart überzureagieren? DAS hatte er sicherlich nicht gemeint, als er gefragt hatte, ob sie Trevor helfen konnte. Wer rechnete denn auch damit, dass diese Bekloppte ihre eigene Gesundheit aufopferte … ? Was hatte sie sich dabei gedacht? Nun machten sie sich keine Sorgen mehr um Trevor, sondern um sie! Dadurch hatte sich doch nichts geändert!
    Edmund schüttelte genervt den Kopf, dann wandte er sich wieder an das Logbuch, das er in seinem Schoß ausgebreitet hatte. Trevor und er hatten es am Nachmittag in dem Durcheinander auf Deck gefunden. Das kleine Büchlein war angefressen und vom Wetter in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber vielleicht konnten sie dem Buch entnehmen, was der Mannschaft zuletzt zugestoßen war und wo genau sie sich befanden. Bisher hatte Edmund jedoch lediglich eine Seekarte zwischen den Seiten hervorgefischt. Der Schein von Feuer und Mond reichten nicht aus, das schreckliche Gekrakel, das der Verfasser wohl fälschlicherweise für Schrift gehalten hatte, entziffern zu können. Aber die Seekarte war zweifellos sehr viel älter als das Schiff. Offenbar hatte der frühere Kapitän daran gehangen.
    Nach einiger Zeit gab es Edmund auf und legte das Logbuch vorerst beiseite. Ihm würden noch genug Tage bleiben, das Buch genauer anzuschauen.

    Die anderen schliefen weiterhin und ein erneuter prüfender Blick verriet, dass auch die Alte immer noch lebte. Die halbe Nacht herumzusitzen, war langweilig. Aber irgendwer musste doch aufpassen, dass sich die Drei nicht auch noch ins Feuer warfen, um damit vielleicht die Pocken auf der Welt zu heilen! Oder wer konnte schon sagen, was ihnen Neues in den Kopf schoss!
    Edmund fischte Stiev’s Würfel aus der Hosentasche und rollte sie in der Hand hin und her. Diese dummen Dinger schleppte er nun seit der Prügelei mit sich herum. Er hatte nicht einmal mehr gewusst, dass er sie bei sich trug. Erst als sie ihn beim Schlafen ständig in die Seite gepiekt hatten, waren sie ihm eingefallen. Was sollte er damit anfangen? Er hätte besser das Fernrohr mitnehmen sollen oder irgendwas Anderes, das ihnen nun hilfreich war. Ordentliche Decken, Kleidung, Nahrung oder gleich ein ganzes Schiff.
    Idiot, schimpfte Edmund in seinen Gedanken und wusste nicht, ob er damit sich oder Stiev meinte.
    Edmund unterdrückte ein Gähnen. Er war langsam zu müde, um sich noch darüber zu beschweren, dass er Sand an Stellen hatte, an die definitiv kein Sand gehörte. Oder über Idioten, die ständig ihr Leben hinblätterten, als hätten sie einen Handel mit den Göttern persönlich abgeschlossen! Sein Blick glitt zu den anderen. Idioten! Alles Idioten!
    Edmund erhob sich vom Lager, nahm nach kurzer Überlegung seinen Degen an sich und entfernte sich leise. Er brauchte etwas Bewegung und Ruhe. Allmählich schlief ihm der Hintern ein.

    Ein schmaler heller Streifen am Horizont kündigte den neuen Tag an und beleuchtete gerade genug, damit er nicht über seine Füße stolperte.
    Trevor hatte die Stelle, an der er die sterblichen Überreste der Mannschaft vom Schiff vergraben hatte, mit einem Steinhaufen markiert, damit sie bei der Arbeit am Strand nicht versehentlich über das frische Grab fielen. Warum er dabei gerade ihn gemustert hatte, war Edmund nicht recht klar.
    Ein mulmiges Gefühl überkam ihn, als er an der Stelle vorbeilief. Irgendwie erinnerte es an das Werk eines verwirrten Gärtners mit einem seltsamen Sinn für Ästhetik.
    Notiz an mich: Trevor nie als Gärtner einstellen. Vorausgesetzt der Formwandler lebte überhaupt lang genug, und brachte sich nicht vorher um.
    Edmund zögerte und blieb schließlich stehen. Der Griff um seinen Degen wurde fester, während er mit den Fingern über die Würfel in seiner Hosentasche strich. Er fasste einen Entschluss. Er musste damit abschließen, oder?
    Auf dem Weg sammelte Edmund Steine und Äste zusammen. Dann ließ er sich unweit des Grabes in den Sand fallen.
    Einen der Stöcke steckte er in den Boden. Er kam sich dumm dabei vor. Noch konnte er abbrechen und so tun, als hätte er nichts gemacht. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass er nach wie vor allein war.
    Edmund sog die noch kühle Luft ein und schichtete die wenigen Steine um den Ast. Dann hockte er eine Weile davor und zog die Würfel wieder aus seiner Tasche. Musste man etwas sagen? Bei seinem Großvater hatten sie es getan. Oder besser gesagt, seine Mutter hatte das. Aber er wusste über Stiev nicht genug, um etwas über ihn sagen zu können, und in Anbetracht dessen, dass das Grab leer war und nicht mal ein richtiges Grab, sondern nur ein Stock mit Steinen, machte es noch weniger Sinn. Die Symbolik eines Grabes diente doch lediglich dazu, dass sich die Hinterbliebenen besser fühlten. Bei seinem Großvater war es ihm herzlich egal gewesen. Der Kerl war eine ähnlich … herausstechende Persönlichkeit gewesen, wie sein Vater. Danach gab es für ihn eine Person weniger, der er es nicht recht machen konnte.
    Zögerlich legte er die Würfel auf den obersten Stein.
    „Im Übrigen, deine Würfel sind gezinkt, Schwachkopf. Vielleicht interessiert es dich ja noch, dass ich es wusste.“
    Prima! Jetzt unterhalte ich mich tatsächlich mit einem Stein.
    Schweigend blieb er sitzen.
    Er hatte gewusst, dass Stiev‘s Würfel gezinkt waren und er damit im Spiel betrogen hatte. Die eine Seite war schwerer, was auffiel, wenn man sie lange genug in den Händen hielt. Warum hatte er es verschwiegen? Weil er nicht wollte, dass die Strafe härter ausfiel als nur ein paar Schläge? Egal, wie oft er sich das einreden wollte, es klappte nicht. Im Grunde hatte er den Kerl mit den dummen Randbemerkungen nicht für eine unnütze Keilerei und ein verlorenes Ego bloßstellen wollen. Der Mann hatte schon lange zu der Mannschaft seines Vaters gehört und die restliche Besatzung hatte ihn respektiert. Wenn er nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre, hätte er vielleicht bemerkt, dass sich niemals jemand aus der bestehenden Mannschaft gegen Stiev gewandt hätte.
    Edmund erhob sich und schob mit dem Fuß den Sand an die Steine.
    „Vielleicht kannst du die Würfel ja noch gebrauchen“, murmelte er. Dann schichtete er einen zweiten Haufen auf und klemmte den anderen Ast dazwischen. Der Koch hatte ihnen auch geholfen und war dafür gestorben. Zum Glück aber schleppte Edmund von dem Kerl nicht auch noch irgendwelchen Plunder mit sich herum. Nur ein Name wäre nett gewesen.
    „Tja.“ Er erhob sich und betrachtete dann den hellen Streifen am Himmel. Das Wrack zeichnete sich als dunkle Silhouette ab und die Wellen schoben sich an den Strand. „Es gibt sicherlich schlimmere Orte für ein Grab, oder was meint ihr?“
    Er war sich sicher, dass Stiev seinen Spaß daran hätte, wenn er die Chance bekäme, dabei zuzuschauen, wie Trevor ihm erklärte,

    wie man ein Schiff reparierte. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln.

    Dann glitt sein Blick zum Degen. Seine Mutter hatte ihm diesen vor der Abreise geschenkt. Nun löste allein die Klinge Brechreiz in ihm aus - oder besser gesagt das Blut, das für ihn auch nach dem Abwaschen immer noch daran klebte. Und das wohl auch immer tun würde. Kurzerhand rammte er den Degen in den Boden zwischen den beiden aufgeschichteten Steinhaufen.
    Entschuldige Mutter, aber so nützt er mir nichts mehr. Sollten sie von der Insel herunterkommen, würde er sich einen neuen besorgen. Vielleicht. Der passt jetzt auf die beiden auf.


    Edmund konnte nicht behaupten, dass er sich nun besser fühlte, aber er hatte dennoch den Eindruck als wäre ein Teil der Last abgefallen.
    Er holte tief Luft. Dann knurrte sein Magen und erinnerte ihn daran, dass er seit Tagen nichts Vernünftiges gegessen hatte.
    Um den Hunger und die trüben Gedanken zu vergessen, entledigte er sich den Großteil seiner Kleidung und entschloss sich eine Runde im Meer zu schwimmen.
    Mit der Wäsche in der Hand, blieb er unschlüssig stehen. Etwas in ihm weigerte sich, die Kleidung der verstorbenen Mannschaft anzuziehen, auch wenn Esther diese gewaschen hatte. Seine eigene musste daher noch halten. Deshalb faltete er alles ordentlich zusammen und stapelte es im Sand. Den Kompass von Trevor legte er oben auf. Warum schleppte er DAS Ding eigentlich mit sich herum? Er hätte lieber einen anderen Kompass einstecken sollen. Den seines Vaters zum Beispiel. Der war deutlich hochwertiger. Nun schipperte der auf der Eleftheria irgendwo über das Meer. Und seltsamerweise kümmerte Edmund dieser Umstand gar nicht. Soll doch irgendein Trottel damit glücklich werden.
    Der Gedanke beschäftigte ihn noch genauso lange, bis er bis zur Hüfte im Wasser stand und zu schwimmen begann. Die Gedanken verschwanden im Meer. Und wenn es nach Edmund ging, konnten sie dort auch bleiben.
    Den Gefallen werden sie mir wohl nicht tun.


    Die Sterne verschwanden und machten der Hitze des Tages Platz. Diese unerträgliche Hitze, in der man ihn zwang mitten in der Sonne an einem Schiff herumzuarbeiten – und zu schwitzen. Normalerweise gab es Leute für sowas! Sah er aus wie ein Schiffsbauer? Nein! Und dennoch hatte er sich irgendwelche dummen Sprüche von Trevor anhören müssen! Nur weil er keine Ahnung hatte, wie genau man einen Hammer richtig anwandte. Oder wie herum man ihn hielt! Das war doch völlig egal! Und weil er es seltsam fand, dass Esther freiwillig(!) helfen wollte. Davon einmal abgesehen, dass in seiner Welt Frauen keine Hosen trugen! Durfte man sich da nicht wundern? Und das Schlimmste an der Sache war, dass er nun helfen musste, um nicht doof dazustehen.
    Edmund tat einige lange Züge, dann tauchte er unter.
    Nein, das eigentlich schlimme war, dass er nicht mal die Zeit bekommen hatte, Esther zu sagen, dass ihr diese saublöden Hosen von einem saublöden und vor allem sehr toten Seemann gut standen. Stattdessen hatte die Hexe ihr Leben für den Formwandler gegeben! Scheinbar litt jeder von ihnen an Selbstmordgedanken!

    Eine gute Armlänger unter ihm erstreckten sich Felsen mit Korallen, die im wenigen Licht noch nicht recht zu erkennen waren. Vermutlich gab es weiter draußen auf dem Meer noch mehr davon. Und ein Riff bedeutete Fische. Und Fisch wäre definitiv etwas Anderes als Obst. Allein bei dem Gedanken knurrte sein Magen erneut. Nur wie sollte er an die rankommen? Brauchte man dafür nicht Angel und Netz? Und jemanden, der wusste, wie man solche Dinge benutzte? Ehe er sie wieder falschherum hielt ...
    Es würde zumindest nicht schaden, nachzuschauen, ob er recht hatte.
    Edmund wollte auftauchen, da stach ihm ein gräulicher Schatten ins Auge, der zu seiner Linken durchs Wasser strich und sich zu seinem Leidwesen als Hai von etwa zwei Metern Länge entpuppte. Der Hai umkreiste ihn großräumig, als wusste er nicht so recht, was er mit ihm anfangen sollte.
    Mit einem Mal fühlte sich Edmund noch schutzloser als er es auf der Insel sowieso schon tat. So offen im Meer treibend … Panik stieg in ihm auf. Und die innerliche Ruhe von eben war weggeblasen. Warum passierte ihm das immer? Konnte es nicht einmal jemanden anderen treffen?
    Der Hai war zwar in etwa genauso groß wie er, womit Edmund nicht in das bevorzugte Beuteschema des Viehs gehörte. Allerdings hatte der Hai die schärferen Argumente. Weshalb er langsam und gepflegt den Rückzug antrat. Ob ein Haibiss schmerzte?
    „Verschwinde!“, zischte Edmund.
    Das Vieh verschwand – oh Wunder – nicht. Es kamen sogar noch zwei weitere dazu! Hatten die Viecher nichts Besseres zu tun?

    Der Strand rückte näher und als Edmund den Boden unter seinen Füßen spürte, sprang er auf die Beine. Schritt für Schritt wich er weiter zurück. Die Haie zogen in knapper Entfernung Kreise, als würden sie auf etwas warten.
    „Tja, freiwillig komme ich nicht zurück! Und jetzt haut endlich a-!“ Seine weiteren Worte vergingen in einem unmännlichen Quietschen, als ihn etwas Glitschiges am Bein streifte. Erschrocken fuhr er herum und machte einen Satz zurück, was ihn allerdings rücklings ins Wasser platschen ließ. Er schluckte Wasser und ruderte mit den Armen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Dass er dabei mit dem Kopf nicht einmal unter Wasser war, bemerkte er erst, als sein Hirn wieder zu arbeiten begann.

    Als nichts passierte, holte er prustend Luft. Er sah sich nach den Haien um, doch entgegen seiner Erwartung waren sie weit und breit nicht mehr zu sehen. Entweder hatten sie die Lust und das Interesse an ihm verloren, oder sie waren über sein wildes Herumgepaddel erschrocken. Oder sie hatten seinen Worten doch Folge geleistet! Daran konnte man sich doch gewöhnen!

    Etwas, wovon sich ein armlanger Fisch nicht beeindrucken ließ. Der zog einen engen Kreis um ihn. Was war nur los mit dem Viehzeug dieser Insel? Normalerweise suchten nur Menschen seine Nähe.
    Edmund versuchte sich zu beruhigen und streifte sich die Haare aus dem Gesicht. Ein Blick zum Strand verriet, dass diese Peinlichkeit niemand mitbekommen hatte. Dann wandte er sich an den Fisch. Er würde doch nicht so einfach sein?
    Sein knurrender Magen nahm Edmund die Entscheidung ab und bevor er sich auf seinen Stand zurückbesinnen konnte, warf er sich auf den Fisch. Zu seiner eigenen Überraschung erwischte er ihn sogar. Das Vieh war jedoch schlüpfrig und stärker, als es aussah, weshalb Edmund der Länge nach im Wasser landete und ihm der Fisch entglitt. Blind hechtete er hinter ihm eher und bekam ihn wieder zu packen. Beinahe kam es ihm vor, als würde ihm der Fisch freiwillig in die Arme schwimmen. Gut für Edmund, schlecht für den Fisch. Er klammerte sich an das zappelnde Tier, wurde durchgeschüttelt und zweimal unter Wasser gezogen.
    Fisch fühlte sich wirklich widerlich an! Und sowas konnte man essen? Er haderte mit sich und war bereits im Begriff seinen Händen nicht länger dieses glitschige, schleimige, schuppige Etwas zuzumuten. Schließlich siegte aber der Hunger.

    Kaum, dass Edmund wieder wusste, wo oben und unten war, bugsierte er das windende Vieh in Richtung Strand. Dort angekommen, warf er es erschöpft in den Sand und stützte sich auf den Beinen ab. Das Wasser tropfte vor ihm auf den Boden, während der Fisch seine letzten Bewegungen machte.
    Die anderen dürfen hiervon nie erfahren! Dann musste er sich allerdings ein Lachen verkneifen. Wenn sein Vater das gesehen hätte, dürfte er sich nun eine Standpauke anhören, wie kindisch dieses Verhalten gewesen war. Und diverse andere Sachen …
    Tatsächlich wurde ihm in diesem Moment erst bewusst, dass sein Vater meilenweit entfernt war und ihn weder für das verlorene Schiff, noch für die toten Matrosen oder die gestohlene Ladung bestrafen konnte.
    Vielleicht ist nicht alles schlecht daran…
    Edmund krallte sich den Fisch und warf sich Hemd und Hose über. Am Ende würde er tagsüber sowieso weder Weste noch Stiefel benötigen, was das schäbige Gefühl jedoch nicht minderte. Nur mit Hemd und Hose kam er sich nackt vor. Wie hatte es Esther geschafft, in dem Aufzug auch noch gut auszusehen? Und sich darin wohlzufühlen? In Stoffen, die nicht ihrem Stand entsprachen! Ihn kratzte der bloße Gedanke.
    Seufzend schleppte er den Rest der Kleidung samt Essen zurück zum Lager.
    Der Seewind trieb ihm die Haare ins Gesicht und kitzelten an seiner Nase, als er einen letzten Blick zurück aufs Meer warf. Die Haie waren weg.
    Merkwürdig… Er würde die anderen darüber informieren müssen, nicht, dass einer von ihnen noch von einem der Tiere angegriffen wurde. Noch einen Verletzten und/oder bewusstlosen Mitgestrandeten, um den er sich Sorgen machen musste, konnte er nicht gebrauchen. Von der Insel wegschwimmen geht jedenfalls nicht.

    Am Lagerfeuer angekommen, hantierte Trevor bereits damit, das Feuer wieder zum Brennen zu bringen, indem er Holz nachlegte. Bereits jetzt verzichtete der Kerl offenbar auf Oberbekleidung. Und trug seine Narben damit zur Schau als wären es Trophäen! Was war los mit ihm? Das sollte der Kerl mal in der Gegenwart seines Vaters oder der Oberschicht generell versuchen. Das war nichts, womit man angab.
    Wobei die entsetzten Gesichter wären sicherlich lustig.
    Edmund wandte den Blick ab. Und es gab deutlich schlimmere Anblicke. Und es tat gut Trevor wieder fit zu sehen.
    Esther faltete gerade eine Decke und legte sie Nelli unter den Kopf. Bei ihr hätte er sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn sie auf Korsage und Oberbekleidung verzichtet hätte. Obwohl die Hosen im Grunde perfekt waren. Sie formten deutlich mehr, ließen aber auch genug Raum für eigene Interpretationen.
    Die Hexe war noch nicht erwacht. Was auch immer die Alte für eine Hexerei gewirkt hatte, es würde sie wohl noch etwas aus dem Rennen nehmen. Und bei ihr war er froh, dass sie auf keine Kleidungsstücke verzichtete!  

    Und du solltest definitiv weniger Zeit in der Sonne verbringen …
    Edmund balancierte seine Kleidung bis zu seinem Lager, dann ließ er die Wäsche fallen und legte den Fisch in eine Schale. Schnell strich er sich die Haare wieder zurück und fingerte das Haarband aus seiner Hosentasche. Dann fiel ihm ein, dass er nun Fischgeruch in den Haaren hatte! Er verzog das Gesicht. Also doch noch ein Bad in der Quelle?
    „Ich habe Fisch mitgebracht“, verkündete er dann nicht wenig stolz auf sich. „Ich würde Frühstück machen.“ Damit konnte er auch gleich die Sorge überspielen. Von den anderen musste schließlich keiner wissen, dass er die halbe Nacht nur herumgesessen, anstatt geschlafen hatte.
    „Besser als weiteres Obst“, gab Trevor von sich und betrachtete den Fisch.
    „Ihr habt geangelt?“, fragte Esther freudig. Wie erwartet hatten auch die beiden genug von Bananen und Kokosnüssen. Das Zeug kam einem irgendwann aus den Ohren heraus! Und war keine vollwertige Mahlzeit! Maximal ein Dessert oder die Vorspeise!
    „Also eigentlich war ich nur schwimmen.“ Er hatte vom Angeln keine Ahnung, und wusste lediglich, dass Leute mit zu viel Langeweile Fäden an Stöcke banden und damit auf Fische einprügelte. Oder so ähnlich.
    „Und wie kamt Ihr an den Fisch?“
    Edmund hielt in seinem Tun inne.
    „Der ist mir … zugeschwommen“, drückte er herum, dann zuckte er eilig die Schultern. Er konnte wohl kaum zugeben, wie es wirklich gewesen war. „Ich werde mal Wasser zum Kochen holen.“ Suchend sah er sich im Lager um. Irgendwo hatten sie doch auch einen Eimer abgestellt. Man musste einen Fisch doch putzen und ausnehmen, oder? Wie genau ging das eigentlich? Sein Blick blieb an dem Gesuchten hängen. Egal, es konnte doch nicht so schwer sein! Es war nur ein Fisch! „Im Übrigen gibt es im Wasser Haie, also passt auf, wenn ihr schwimmen geht.“ Er griff nach dem Eimer. „Sie scheinen sich aber nicht allzu weit an den Strand zu trauen.“

    Ob das Bad, sein Triumph über die Flucht vor den Haien, sein Fang oder doch die kleine Beerdigung Schuld waren, Edmund musste zugeben, dass sich seine Laune tatsächlich gebessert hatte. Zumindest hatte er nicht mehr das Gefühl, jeden Moment an den letzten Tagen zu ersticken.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

  • Esther sah Edmund kurz hinterher. Der Händlersohn schien ungewöhnlich guter Laune zu sein. Sie beschloss, diesen Umstand beruhigt hinzunehmen, denn es war ein Zeichen dafür, dass es bergauf ging. Hoffte sie zumindest.

    Sie vergewisserte sich noch, ob bei Nelli alles in Ordnung war. Die Hexe schlief noch immer und Esther wusste, dass das nach einem schweren und so dunklen Zauber normal war. Immerhin hatte sie selber am eigenen Leib erfahren, wie es war, sich zu verausgaben.

    Sie erhob sich vollständig und wandte sich dem Formwandler zu. Unsicherheit machte sich in ihr breit, aber es half nichts. Es konnte nur gut sein, wenn sie den Dolch endlich los wurde.

    „Trevor?“, fragte sie und machte eine Kopfbewegung nach rechts, sobald sich der Wandler zu ihr herumgedreht hatte. „Auf ein Wort?“

    Trevor schien für einen Moment verwirrt zu sein, verstand dann aber und nickte. Nebeneinander entfernten sie sich ein kleines Stück von Nelli.

    Einerseits wusste Esther, dass es unlogisch war, sich von der Hexe zu entfernen, andererseits fühlte sie sich etwas entspannter.

    Sie blieb stehen, wandte sich Trevor zu und zog Francis Dolch aus ihrem Gürtel. Nachdenklich drehte sie ihn zwischen den Fingern und hielt ihn dem Wandler hin. „Ich wollte dir den wiedergeben“, erklärte sie und sah ihn an. Dass er sein Hemd nicht trug, störte sie mittlerweile nicht mehr. Während der Zeit auf der Eleftheria hatte sie sich an einen solchen Anblick gewöhnt und wenn sie ehrlich sein sollte, so war Trevor keinesfalls unansehnlich. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Wesentliche. „Ich denke, in deinen Händen ist er nützlicher als in meinen.“

    Er zögerte nicht und nahm ihr die Waffe ab, woraufhin Esther nichts anderes als Erleichterung verspürte.

    Einerseits, weil sie mit solchen Waffen nichts zu schaffen haben wollte und andererseits, weil sie ohne ihn vielleicht die Geschehnisse der Meuterei endgültig vergessen konnte – wenigstens die unangenehmen Erinnerungen davon. Sie nutzte den kurzen Moment, indem Trevor den Dolch untersuchte, und musterte den Wandler. Angesichts seiner puren Anwesenheit würde sie den Kuss keineswegs vergessen können. Aber wollte sie das überhaupt? Einfach bei Seite schieben, was zwischen ihnen geschehen war?

    Jede andere Adelige hätte ihn bereits gelyncht, gar gemeuchelt.

    Trevor hatte einen Teil ihrer Ehrbarkeit gestohlen, aber sie spürte nicht das Verlangen, ihm deshalb überhaupt einen Vorwurf zu machen.

    Doch sie wusste, dass ihr Ansehen und das ihres Vaters in Mitleidenschaft gezogen werden konnte, sollte dieses Ereignis die Eleftheria verlassen. Allerdings schätze sie die verbliebene Mannschaft nicht so ein, dass sie den Wert dessen erkannten und es deshalb keinesfalls verbreiteten.

    Sie hatte zu ihm gesagt, dass sie wusste, dass er es nur getan hatte, um ihr während der Meuterei zu helfen. Allerdings gab es tief in ihrem Inneren immer noch dieses sanfte Kribbeln, was sie nicht zuzuordnen wusste.

    Ist das ein Gefühl, das man bekommt, wenn man geküsst wird?

    Ihre letzte Erinnerung an ein solches Ereignis war keine besonders Schöne und hatte mit abgetrennten Fingern geendet.

    Dies stand im starken Kontrast zu dem, was sie mit Trevor erfahren hatte. Und das verwirrte sie zutiefst und rief ihr einmal mehr ins Gedächtnis, wie unbeholfen sie bei solcherlei Dingen war.

    „Das ist wohl wahr …“, riss Trevors Stimme sie plötzlich aus den Gedanken. Er lachte kurz auf, allerdings bemerkte Esther sofort, dass es betrübt klang.

    Sie setzte dazu an, etwas zu sagen. Aber ihr fiel auf die Schnelle nichts ein, was sie hätte erwidern können, weshalb sie es zunächst bei einem zaghaften Lächeln beließ. „Die Klinge könnte etwas stumpf sein“, meinte sie dann und versuchte damit, ihre eigene Unsicherheit zu überspielen.

    „Ein Dolch ist auch keine Hiebwaffe, sondern eine Stichwaffe“, erklärte er murmelnd. Es wirkte, als würde er vielmehr mit sich selbst sprechen als mit ihr.

    Sie wischte sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich gebe zu, das mein Wissen dahingehend einige Lücken aufweist.“ Sie hatte eigentlich überhaupt keine Ahnung, wovon Trevor sprach, aber das musste sie nicht unbedingt offen zugeben. „Übrigens – die Klinge habe ich noch nicht gereinigt“, schob sie hinterher.

    Trevor sah sie lächelnd an. „Mach dir keine Gedanken. Ich säubere den Dolch. Du hattest genug fremdes Blut an dir kleben ...“

    Sie zog fragend die Augenbrauen zusammen. „Du meinst … es ist noch Blut an der Klinge?“ Fast hatte sie vergessen, dass sie damit einen der Männer verletzt hatte – oder verdrängte sie diesen Gedanken absichtlich?

    Trevor nickte. „Blut wird geradezu bräunlich, wenn es trocknet.“ Er hielt ihr den Dolch hin und zeigte auf die Rinne.

    Esther folgte seiner Deutung mit ihrem Blick und es schien ihr als würden ihre Mühlen ausgesprochen langsam mahlen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis ihre Gedanken alle Hacken geschlagen hatten.

    „Bei den Göttern!“, entfuhr es ihr, als sich die letzten Fetzen in ihrem Kopf zusammengesetzt hatten. „Mit dem Blut kann ich die Eleftheria möglicherweise finden!“

    Der Formwandler sah sie überrascht an. „Wegen … dem Blut?“

    Wieder dauerte es, bis Esther begriff, dass jetzt Trevor derjenige war, der keine Ahnung hatte. Sie winkte ab. „Nicht direkt.“ Sie holte kurz Luft. „Ich bin nicht nur Schutzmagierin sondern auch Aufspürerin. Erinnerst du dich an das, was ich gesagt habe, als wir Nelli gesucht haben? Ich kann mithilfe von Gegenständen, die dazugehörigen Personen finden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die betreffende Person noch lebt und den Gegenstand für eine Weile bei sich gehabt haben muss. Den Dolch habe ich direkt gedanklich verworfen, weil Francis tot ist. Aber der Kerl, zu dem das Blut gehört … der lebt und befindet sich hoffentlich noch auf dem Schiff …“

    „Das ist ziemlich praktisch“, sagte der Formwandler. „Dann sollten wir uns mit den Reparaturen beeilen, bevor die Eleftheria zu weit weg zum Aufholen ist.“

    Sie nickte schnell und sah Trevor eindringlich an. „Tu mir bitte den Gefallen und wisch das Blut vorsichtig mit einem Tuch ab und gib es mir dann. Ich werde den Zauber erst wirken, wenn es sinnvoll ist.“

    Trevor nickte ebenfalls. „Aye.“

    Eigentlich war die Unterhaltung damit beendet, aber Esther befiel das dringende Bedürfnis, noch etwas zu sagen. Aber was? Sie beließ es schließlich dabei.

    „Danke“, raunte sie, schlang die Arme um den Oberkörper und wandte sich langsam ab. „Ich gehe wieder hinüber zu Nelli.“

    „Gern geschehen!“, rief er noch schnell. „Aber danke ... für was genau?“

    Sie stoppte im Schritt und richtete den Blick aufs Meer. Ja. Für was eigentlich? Dafür, dass er fast ihretwegen gestorben wäre? Dafür, dass er an ihrer Seite gestanden hatte, als die Mehrheit sie los werden wollte. Dafür, dass er einfach da war …

    Schließlich zuckte sie die Schultern und sah ihn über die Schulter hinweg an. „Such dir etwas aus“, meinte sie dann. „Da gibt es einiges, wofür ich mich bedanken müsste …“

    Der Formwandler sah sie zunächst skeptisch an und grinste schließlich. „Dann ebenfalls ein ´Danke´.

    Esther kam nicht mehr dazu, etwas darauf zu erwidern, denn Trevor wandte sich bereits ab und ging zum Schiff.

    Erst war sie versucht, ihn zu fragen, ob er Hilfe brauchte, aber sie wollte auch Nelli nicht alleine lassen und Edmund kehrte mit Sicherheit auch bald zurück.

    Einen kurzen Moment stand sie recht ratlos am Strand herum und blickte auf die wogenden Wellen hinaus. Dann griff sie an ihren Gürtel, zog den Zauberstab heraus und streckte ihn nach vorn.

    Ohne große Probleme errichtete sie einen Schild aus Wasser. Probeweise zwängte sie den Schild in alle erdenklichen Formen, breitete ihn aus, engte ihn ein, und ließ ihn schließlich fallen.

    Das Gleiche wiederholte sie mit einem Gemisch aus Sand, Steinen und Muscheln.

    Es war ihr wichtig, zu wissen, dass sie weiterhin in der Lage war, stabile Schilde zu errichten. Zwar hatte sie nicht damit gerechnet, irgendetwas an Kraft eingebüßt zu haben, aber wenn die Gedanken zu sehr umherflogen, litt auch die Konzentration.

    Ihr Blick glitt zum Schiff hinüber. Und eines wusste sie bereits jetzt – um dieses Ding zu stützen würde sie ihre gesamte Konzentration brauchen und einen starken Energieschild.

    Sie erwog den Gedanken, die Magiesteine zu holen und den Umgang damit zu üben. Dann schossen ihr die Bilder des Sturms wieder in den Kopf und sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Es war niemanden geholfen, wenn sie sich auch noch selbst verletzte, weil sie sich und ihre Kräfte überschätzte. Nein, es musste auch ohne magische Verstärker gehen und das würde es auch!

  • Auf dem Rückweg von der Quelle hielt Edmund nach Kräutern Ausschau, mit denen der Fisch nicht zu fad schmecken würde. Viel Auswahl gab es auf der Insel dafür nicht. Zwar kannte er sich etwas mit dem Gestrüpp aus, aber die meisten Kräuter, die seine Mutter beim Kochen verwendet hatte, waren getrocknet und keiner von ihnen hatte sie vorher aus der Erde rupfen müssen. Dennoch sammelte er ein paar zusammen, deren Aussehen er glaubte zu erkennen. Beinahe bedauerte er es, dass Nelli bewusstlos war und ihm daher nicht sagen konnte, was davon genießbar war und was man lieber meiden sollte, wenn man nicht vorhatte, sich selbst umzubringen. Auf der anderen Seite konnte er auf ihre Belehrungen auch gut verzichten.
    Sein Weg führte vorerst zum Wrack. Dort hatten sie die auf dem Schiff gefundenen Sachen deponiert und auch, wenn er nicht wusste, wie man einen Fisch ausnahm, ein Messer war sicherlich erstmal ein guter Anfang. Er meinte irgendwo in dem Durcheinander eines gesehen zu haben.
    Er stellte den Eimer ab und begann in dem Chaos zu suchen – was ihn nebenbei wahnsinnig machte, konnte man das nicht aufräumen?
    In der ersten Kiste wurde er nicht fündig und in der zweiten fand er lediglich ein verrostetes Messer.
    Das Knirschen von Sand ließ ihn innehalten.
    „Brauchst du Hilfe?“
    Edmund wandte sich um. Trevor kam auf ihn zu, bewaffnet mit einem Tuch und einem Dolch.
    „Ähm …“, machte Edmund geistreich, zögerte dann aber, „hast du eine Idee, was man gegen Rost machen kann?“ Er zeigte Trevor das Messer.
    „Ein neues Messer besorgen!“ Trevor lachte. „Ansonsten Essig und Öl.“
    Edmund spürte wie sein Auge zu zucken begann. Wollte der Kerl ihn zum Narren, oder was?
    „Leider mangelt es mir auf der Insel ein wenig an Möglichkeiten“, stieß er durch die zusammengepressten Zähne hervor.
    Trevor lächelte nachgiebig und reichte ihm den Dolch, von dem Edmund meinte, dass diesen bisher Esther bei sich getragen hatte.
    „Ich habe ihn eben gereinigt. Versuch es mal damit.“
    Edmund hob die Augenbraue. Das klang selbst für ihn nach keiner guten Idee.
    „Und ich schau mal, was ich mit dem Messer machen kann, vielleicht finde ich in den spärlichen Vorräten eine Drahtbürste.“
    Sie tauschten Dolch gegen Messer.
    „Was hast du damit eigentlich vor?“
    Edmund wog den Dolch in den Händen.
    „Einen Fisch ausnehmen.“
    Trevor runzelte die Stirn und wollte scheinbar etwas sagen, schwieg dann aber breit grinsend. Besser war es. Irgendwelche Klugscheißerkommentare konnte er wirklich nicht gebrauchen. Ehe es sich Trevor anders überlegen konnte, packte Edmund den Eimer und machte sich mit Dolch und Wasser wieder auf den Weg zum Lager. Sie würden schon sehen!

    Als Edmund zum Lager zurückkam, schlief Nelli noch immer. Esther stand am Strand etwas vom Lager entfernt und hantierte mit ihrem Zauberstab herum. Eine Weile beobachtete er sie stirnrunzelnd. Langsam war er sich sicher, dass sie alle zu viel Zeit in der Sonne verbrachten.

    Etwas unschlüssig hockte er sich vor den Fisch, reinigte ihn mit dem Wasser und brachte den Rest davon in einem verbeulten Topf zum Köcheln. Vielleicht ließ sich daraus noch etwas machen. Davon abgesehen, vertraute er der Quelle auch nicht.

    Dann wusste er aber nicht, wie er weiter verfahren sollte. Zwar hatte ihm seine Mutter einiges beigebracht, einen Fisch auszunehmen hatte aber nie dazu gehört. Zum einen, weil der Fisch meist schon ausgenommen war und zum anderen weil seine Mutter nicht wollte, dass er sich mit dem Blut beschmutzte. Aber so weit er wusste, musste man den Fisch ausnehmen.
    Nachdenklich drehte er den Fisch einige Male hin und her. Hinter ihm brannte sich langsam die Sonne in seinen Rücken und machte ihm klar, dass er sich nicht mehr ewig Zeit lassen konnte, wenn er nicht wollte, dass der Fisch vorher zu laufen begann. Tatsächlich überlegte er einen Moment, ob Bananen und Kokosnüsse nicht doch die bessere Alternative waren.
    „Du musst hinten anfangen“, erklang Nellis Stimme hinter ihm und erschreckte ihn derart, dass er beinahe Fisch und Dolch von sich geworfen hätte.
    Die Luft einziehend wandte er sich um. Die Alte hatte leicht den Kopf auf ihrem Lager gedreht und betrachtete ihn müde.
    „Das weiß ich selbst!“, zischte er zurück, ließ dann aber den Dolch sinken. „Du bist wach.“ Es erleichterte ihn ungemein, dass die Alte ihre dumme Aktion im Wald überstanden und dabei nicht den letzten muffigen Atem ausgehaucht hatte.
    „Mhm, offensichtlich. Klingt so, als würde dich das wundern...“
    Natürlich wunderte ihn das! Immerhin hatte Nelli ihre eigene Gesundheit für Trevor geopfert! Er hatte angenommen, dass sie starb!
    „Ich habe eher gedacht, dass wir dich auch begraben müssen.“
    „Da hast du dich wohl zu früh gefreut.“

    Edmund unterdrückte ein Seufzen. Das Letzte worüber er sich gefreut hätte, wäre gewesen, die Alte zu begraben. Er hatte schließlich nicht gewollt, dass sie ihr Leben für das von Trevor gab. Aber Nelli musste auch nicht wissen, dass er froh war, dass sie noch lebte.
    „Mach sowas nochmal und ich sorge eigenhändig dafür, dass du in einem finsteren Erdloch verschwindest, Hexe.“
    Nelli startete einen Versuch, sich aufzurichten, lehnte sich aber schwer seufzend zurück.
    „Was willst du eigentlich von mir? War es jetzt wieder falsch, dass ich geholfen habe?“
    Edmund wollte sie anbrüllen, dass sie dumm gehandelt hatte, dass es völliger Schwachsinn gewesen war und dass sie sich alle Sorgen um sie gemacht hatten. Und er das nicht gemeint hatte, als er fragte, ob sie etwas wüsste, um Trevor zu helfen. Stattdessen schwieg er und starrte die Alte nur sauer an. Nelli lag noch immer auf ihrem Lager, eine zerpflückte Decke als Stütze unter ihrem Kopf. Sie wirkte schwach und als konnte sie sich nur mit Mühe überhaupt wachhalten. Seine Standpauke würde er also auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
    „Wenn du das nächste Mal vorhast, irgendwo bewusstlos im Wald herumzuliegen, dann gib vorher Bescheid.“ Er legte den Dolch beiseite, um die Arme verschränke zu können. „Das gibt uns die Möglichkeit dich selbst bewusstlos zu schlagen. Das hätte den beiden anderen die Sorgen erspart.“
    Nelli biss die Zähne zusammen und stemmte sich auf ihrem Lager in einem weiteren Versuch hoch. Edmund wäre beinahe aufgestanden und hätte ihr geholfen. Stattdessen beobachtete er Nelli skeptisch bei ihren Versuchen. War das eine gute Idee? Sollte sie nicht doch lieber weiterschlafen? Andererseits war sie die Heilerin und wusste es wohl am besten.
    Gerade als er doch aufstand, um das sture Weib zumindest zu stützen, hatte sie es allein geschafft, weshalb er sich ein wenig blödsinnig vorkam, wie er nun mitten im Lager stand. Um davon abzulenken streckte er die Glieder, als wäre dies sein Plan gewesen und tauchte einen der gefundenen Becher ins Trinkwasser, um diesen Nelli zu reichen. Wenn sie mit Trinken beschäftigt war, konnte sie ihm nicht auf die Nerven gehen.
    „Danke.“ Nelli schaute ihn ruhig an und nickte ihm leicht zu, ohne auf seine Worte einzugehen.
    Edmund hob die Augenbraue. „Für was bedankst du dich denn, Hexe?!“
    „Das ihr mich gerettet und euch um mich gekümmert habt.“
    Edmund stieß ein Zischen aus.
    „Die anderen haben sich um dich gekümmert.“
    „Aber weder Esther noch Trevor werden mich aus dem Wald getragen haben.“

    Edmund verzog den Mund. Als würde er ihr das auch noch auf die Nase binden! Sollte sie glauben, was sie wollte.
    Knurrend wandte er sich ab und wieder an den Fisch.
    Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie Nelli selbstgefällig vor sich hingrinste.
    „Du bist schon merkwürdig. Ich tue das, was du sagst und es ist nicht richtig. Ich bedanke mich und es ist nicht richtig.“
    Dann halt doch die Klappe! Ich werde dir garantiert nicht sagen, dass ich mir Sorgen um dich gemacht habe!
    Er versuchte Nelli zu ignorieren und drehte stattdessen den Fisch noch zweimal hin und her und setzte den Dolch erneut an.
    „Die Klinge nach außen, und am After anfangen.“
    „Ich sagte doch, ich weiß das selbst!“,
    keifte Edmund zurück. Hätte die Hexe nicht ohnmächtig bleiben können, bis er mit dem Fisch fertig war? Oder einfach bis sie das Schiff repariert hatten? Es war ja nicht so, als konnte die Hexe dabei helfen. „Trink lieber, der Tag wird warm!“
    Er rümpfte die Nase, drehte dann aber den Dolch und setzte ihn am After an.
    „Nur flach schneiden, die Klinge immer nach außen, und nur die Haut durchtrennen.“
    Edmund hielt in der Bewegung inne und sah Nelli über die Schulter finster an. Diese lächelte unschuldig, schwach aber unschuldig. Der Schalk klebte ihr dennoch in den müden Augen.
    „Glaubst du, es ist ratsam mich zu reizen, während ich ein Messer in der Hand habe, Alte?!“
    Zurück beim Fisch, folgte er dennoch der Anweisung und rümpfte angeekelt die Nase.
    Denk einfach daran, dass du keine Kokosnüsse essen musst, wenn du das jetzt machst!
    „Soll ich dir das abnehmen?“
    „Nein.“
    „Gut"
    , Nelli grinste selbstgefällig, „dann pass auf, dass du die Gallenblase nicht erwischst.“ Edmund spürte, wie sein Auge erneut zu zucken begann. Wollten ihn die Leute heute alle für blöd verkaufen?
    Er war aber zu sehr mit dem Ekel beschäftigt, um sich über die Worte der Hexe zu beschweren. Stumm und widerwillig folgte er ihren Anweisungen, verfluchte innerlich alles. Er war froh, dass die Hexe in seinem Rücken saß und das Gesicht nicht sehen konnte, dass er zweifelsfrei zog. Der Fisch war von außen schon schleimig, eklig und widerlich gewesen. Aber von Innen …
    „Und jetzt mit den Fingern die Innereien herausziehen.“
    Gerade wollte Edmund sich umdrehen und die Hexe fragen, ob sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Als würde er dieses … Zeug wirklich mit den Händen anfassen. Allerdings trat im selben Moment Esther wieder an das Lager heran.
    „Nelli, du bist wieder wach“, meinte die Magierin sichtlich erleichtert. „Das freut mich.“ Sie ging sachte lächelnd neben ihr in die Hocke. „Wie geht es dir?“
    „Unkraut vergeht nicht.“
    Die Alte lächelte und nickte dann in Edmunds Richtung. „Außerdem werde ich gut unterhalten. So etwas verpasst man nur ungern.“
    Beide Frauen blickten nun in seine Richtung, weshalb Edmund verschlossen zurückstarrte. Warum grinste nun auch noch Esther? Hatten die beiden nichts Besseres zu tun?!
    „Halt die Klappe“, zischte er und wandte sich zurück an den Fisch. Warum hatte Esther ausgerechnet in diesem Moment zurückkommen müssen? Sich vor Nelli lächerlich zu machen, war das Eine. Aber vor Esther war keine Option! Fehlte nur noch, dass auch Trevor vom Wrack zurückkam und sich über ihn lustig machte!
    In seinem Rücken kicherte Nelli.
    „Der feine Herr versucht einen Fisch auszunehmen und ich bin gespannt, ob er die Innereien mit seinen zarten Fingerchen auch berühren kann, ohne ohnmächtig zu werden.“
    Dass Esthers Grinsen durch die Worte noch breiter wurde und sie sich nun genau neben ihn stellte, machte die Situation nicht besser.
    Edmund biss sich auf die Zunge, um die Beleidigungen für sich zu behalten.
    „Ich bin zuversichtlich, dass er es schafft“, sprach Esther, das Grinsen aber immer noch im Gesicht, was ihre Aussage für ihn nur unglaubwürdiger machte.
    Denen würde er es schon zeigen!
    Er unterdrückte das Wimmern, das ihm schon auf der Zunge lag und kam dann Nellis Erklärung nach, wie genau er das eklige Zeug anfassen musste, um es dem Vieh aus dem Rachen und Bauch zu ziehen. Hätten die beiden Frauen nicht neben ihm gehockt, er hätte das Vieh mit spitzen Fingern zurück ins Meer geworfen und sich die nächste Kokosnuss gegriffen. Nun konnte er sich die Blöße nicht geben.
    Es war blutig, glibbrig und zu gern hätte er alles vor Nellis Füße geworfen. Stattdessen biss er die Zähne zusammen. Die Erinnerung an das Gefühl würde er nie wieder aus dem Kopf bekommen! Wie konnte etwas so eklig sein?
    Mit einem Schmatzen lösten sich die Organe vom restlichen Fisch und eilig warf Edmund die Innereien in den leeren Eimer. Angewidert wischte er dann seine Hände an der Hose ab.
    Ihm entfuhr ein Fluch, als er merkte, dass es sich nicht gehörte, den Schleim von Fischinnereien an die Hose zu schmieren … und er nun den Schleim von Fischinnereien an den Hosen spazieren trug!
    Nelli stieß ein Geräusch aus, das Anerkennung hätte sein können, in Edmunds Ohren aber eher nach Belustigung klang.
    „Er hat es geschafft.“
    Genervt sah er die alte Frau an.
    „Anstatt dich über mich lustig zu machen“, er deutete auf das Tuch, in dem er die Kräuter gesammelt hatte, „sag mir lieber, was man davon nutzen kann und was nicht. Auf der Insel gibt es nicht viel." Dann war die Alte zumindest zu irgendwas gut! Und er konnte Esther ignorieren! Ihre Reaktion auf diese Lächerlichkeit wollte er gar nicht sehen.
    „Mich über dich lustig machen? Nichts liegt mir ferner“, schmunzelte sie und angelte nach dem Tuch. Mit zwischen den runzeligen Lippen geklemmter Zunge begann sie zu sortieren. „Das hier hat keine sonderliche Heilwirkung, schmeckt aber im Essen. Das hier hilft gegen Durchfall. Das hier ist gut, um Schmerzen zu stillen. Das ist Unkraut. Das hier giftig.“ Sie legte die einzelnen Pflanzen vor sich aus, so dass Edmund sie gut sehen konnte.
    Edmund beäugte die Gewächse und versuchte sich das Aussehen und Nellis Gesagtes zu merken. Aber am Ende sah alles davon recht ähnlich aus. Davon abgesehen: Waren nicht alle Kräuter Unkraut?
    „Und was davon passt zu Fisch?“, fragte er genervt.
    „Das da.“ Sie deutete mit ihrem knorrigen Zeigefinger auf das erste Kraut. „Du musst schon zuhören.“
    Ich habe zugehört, du alte Vettel!
    Beleidigt rümpfte er die Nase. „Gut, dann also das erste“, er griff danach. „Und du schluckst am besten das letzte.“ Stumm wandte er sich anschließend wieder an den Fisch, den er mit dem Dolch teilte und auf Stöcken über das Feuer hing. Er wurde gerade fertig, als Trevor vom Wrack zurückkehrte.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

    • Offizieller Beitrag

    Zwei Tage waren vergangen, seit Nelli Trevor geheilt hatte. Die alte Dame erholte sich rasch, aber der Formwandler kam nicht umhin, sich mehrfach zu bedanken und sie zu bitten, das nicht mehr zu tun. Nelli quittierte allerdings jeglichen Einwand mit einem zaghaften Lächeln.
    „Du hast dein Leben noch vor dir“, hatte sie gesagt. „Pass aber etwas besser darauf auf!“
    Trevor konnte nur nicken. Dann war diese Zusage zumindest nicht gänzlich gelogen. Wenn er in die Runde sah, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich immer wieder ins Kreuzfeuer zu werfen. Jeder besaß seine Talente, und seines war eben …
    Er atmete durch und starrte auf die Zeichnung, die Edmund und er angefertigt hatten. Zu ihrem Glück war noch etwas Tinte in einem Tintenfass an Bord der Nussschale verblieben, sodass sie das Notwendigste hatten aufschreiben können, was ihre Konstruktion anging. Das Schiff musste auf ein Gestell, damit sie auch den Rumpf reparieren konnten. Dazu benötigten sie eine Menge Holz. Holz, das es zu schlagen galt.
    Trevor fuhr sich über die Stirn. Das würde etwas dauern und es war bereits Nachmittag. Die Hitze trieb allen den Schweiß auf die Stirn, weshalb sie einfacheren Arbeiten nachgingen.
    Er setzte sich neben Nelli und schärfte zunächst die Axt, die er zum Schlagen der Bäume benötigte. Er beträufelte den gefundenen Schleifstein mit etwas Wasser und begann, die Schneide der Axt darüber zu reiben.
    „Ich glaube, ich bin fit genug, mit dem Nähen der Segel anzufangen“, erklärte Nelli.
    Trevor schmunzelte. „Du kannst dir Zeit lassen“, erwiderte er. „Zuerst brauchen wir mal einen Mast!“
    Die Alte gluckste. „Was erledigt ist, ist erledigt.“
    Aus der Ferne sah man erneut Esther an ihren Schilden üben, während Edmund am Fischen Gefallen gefunden zu haben schien. Und er wurde immer besser. Dafür hatte Trevor ihm das Messer zum Ausnehmen ebenfalls geschliffen und so vom Rost befreit.
    „Erinnerst du dich noch an unsere Unterhaltung?“, wollte Nelli plötzlich wissen. „Über die mit den Geistern?“
    Trevor stoppte und sah Nelli an. „Aye …“, antwortete er zögerlich.
    Sie richtete sich etwas auf, trank etwas und sah ihn dann eindringlich an. „Ich war da nicht ganz ehrlich zu dir, Junge. Dich verfolgt ein Geist. Naja, vielmehr will er Klarheit schaffen“, fuhr sie fort.
    Trevor schluckte trocken. Es gab nicht viele, die ihn vermutlich verfolgen würden. Eigentlich fiel ihm nur einer ein. „Ist es Johnny?“
    Nelli war es nun, die nickte.
    „Und was will er?“
    „Zu Lebzeiten hat er verpasst, dir einiges zu sagen. Er würde das gerne nachholen wollen.“
    Trevor runzelte die Stirn. Was sollte das sein? Eine Entschuldigung, dass sie ihn einfach über Bord geworfen hatten? Sollte er sich für seine Rettung vielleicht bedanken? Was wollten Tote von einem? Nicht, dass Trevor sich nicht gerne von ihm verabschiedet hätte, aber …
    „Ich könnte ihn mit dir sprechen lassen, wenn du das möchtest.“
    „Nicht, wenn es dich schwächt. Du hast genug für mich getan“, erwiderte Trevor bestimmt. „Ich wüsste nicht, was so wichtig sein sollte, dass ich es jetzt erfahren muss.“
    „Da gibt es anscheinend einiges“, antwortete Nelli und ließ ein schiefes Lächeln folgen. Wenn sie so schaute, wusste Trevor nicht, ob er es überhaupt erfahren wollte. Er schaute zu den anderen, die ihrer Arbeit nachgingen. Wenn man es so bezeichnen konnte. „Aye“, wandte er dann ein. „Ich will schließlich nicht, dass dich Johnny vehement nervt.“
    Ein leises Lachen folgte von der Hexe. „Er kann ziemlich penetrant sein, das stimmt wohl.“
    Trevor nickte. „Dann … lass ihn schnell erzählen, was er zu erzählen hat, bevor Edmund und Esther zurückkommen.“
    Nelli atmete tief durch und richtete sich etwas auf. Sie schien sich zu konzentrieren. Ihre Atmung wurde ruhiger und sie schloss ihre Augen.
    Trevor bemerkte, wie sein Herz etwas schneller schlug. Er wusste nicht, ob er es gut fand, dass Tote doch nie ganz fort waren. Eigentlich sollte er sich freuen, dass er noch einmal mit Johnny reden konnte, aber aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Eine Vorahnung machte sich in ihm breit, die er sich nicht einmal gedanklich eingestehen wollte.
    „Trevor?“, erklang es plötzlich von Nelli. Die Tonlage war so anders, dass der Formwandler sofort wusste, dass nicht Nelli zu ihm sprach. „Kannst du mich verstehen?“
    „Aye …“, antwortete Trevor zögerlich und starrte Nelli an. „Johnny?“
    Der Geist in Nellis Körper lachte und nickte. „Äußerst interessant … Ich stecke im Körper der alten Vettel!“
    Trevor zog seine Brauen zusammen. „Als das würde ich Nelli nicht bezeichnen …“
    „Schon gut, schon gut, ich sollte dankbar sein.“
    Der Formwandler schwieg zunächst, aber dann überwand er sich, zu fragen, was so wichtig sei, dass Johnny Nelli verfolgte.
    „Eigentlich hätte sie dir das auch alles erzählen können“, meinte Johnny, „aber sie wollte nicht. Deshalb … muss ich das wohl selbst tun …“
    Trevor zog die Brauen hoch. „Solltest du dann nicht anfangen, zu reden?“, fragte er.
    Johnny atmete tief durch. „Junge, ich hätte dir vielleicht früher sagen sollen, dass ich dich nicht aus reinem Zufall vor sechszehn Jahren gefunden habe.“
    Trevor hörte zu, bemerkte aber den Knoten, der sich in seinem Bauchraum bildete.
    Johnny stockte kurz. „Ich war ein Formwandler auf der Suche nach seinem einzigen Sohn …“
    Keine Reaktion. Trevor starrte seinen ehemaligen Kapitän nur an. Es war, als hätte er es immer gewusst, was Johnny ihm damit sagen wollte. Trevor war kein Kind mehr, dass umgehend freudestrahlend oder schockiert aufsprang. Vielmehr musste er zugeben, dass sich Wut in seinem Inneren breitmachte. Er drückte sie hinunter, wie eine leere Flasche unter Wasser, aber an seinen zitternden Händen erkannte er, dass sich dieses Gefühl nicht gänzlich ersticken ließ.
    „Hast du dazu nichts zu sagen?“, wollte Johnny wissen.
    Trevor schüttelte nur langsam seinen Kopf. „Fahre fort …“, entgegnete er dann.
    Noch einmal atmete Johnny tief durch. „Ich wollte dich nicht wie einen normalen Formwandler großziehen. Ich hatte irgendwann erkannt, dass unser Leben leer ist. Wir ziehen jedes Jahr los, in dem wir entweder Söhne zeugen oder sie einsammeln. Dann verfrachten wir sie auf eine Insel, auf der wir sie zu Kriegern erziehen. Nur für was? Um uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen? Um jeden Tag auf das Neue zu beweisen, wer der Stärkere ist? Ich wollte das irgendwann nicht mehr. Eigentlich von Anfang an nicht.“
    Er rechtfertigt sich … Das heißt, das war noch nicht alles.
    Trevor ballte seine Hände zu Fäuste. Damit versuchte er auch, seine zitternden Hände zu verbergen. Ein Kloß steckte ihm im Hals. Er fühlte sich unwohl, konnte aber noch nicht sagen, woran es lag. Vielleicht daran, dass das Gespräch nicht wie ein wohlwollendes Wiedersehen klang, sondern mehr nach einer Belehrung.
    „Aber wenn ich dich sehe, dann weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte dich zu einem guten Menschen erziehen. Einem besseren Menschen als ich war. Aber deine Natur ist eine völlig andere als meine.“
    „Meine Natur?“, wiederholte Trevor mit gebrochener Stimme.
    „Ich konnte fast zwanzig Jahre mein Formwandlerdasein verstecken. Ich lebte nur als Pirat. Nicht stärker oder besser als meine Crew. Du kannst das nicht.“
    „Woher willst du wissen, was ich kann oder nicht kann?“
    „Ich habe es am Bord des Schiffes dieses … peinlichen Händlersohnes gesehen. Du kannst nicht aus deiner eigenen Haut, egal, wie häufig du deine Form wandelst.“
    „Er ist nicht peinlich …“
    , war alles, was Trevor antwortete.
    „Du bist unberechenbar! Du bist mein Sohn, aber auch der Sohn deiner Mutter. Sie war nicht irgendwer, sondern die Tochter eines Formwandlers. Das heißt, du bist durch und durch ein Krieger. Nicht nur einseitig, wie in den meisten Fällen.“
    „Was?“, unterbrach Trevor Johnnys Ausführungen. „Sie war … was?“
    „Sie sagte es mir, nachdem wir einige Zeit zusammengelebt hatten. Am Anfang dachte ich, es sei der Fang für mich, aber … auch wenn Frauen sich nicht wandeln können, sie geben die Talente eines Formwandlers weiter, auch wenn sich diese Nachkommen ebenfalls nicht wandeln können. Sie sind hitzköpfiger und geschickt im Umgang mit Waffen. Es liegt ihnen ebenso im Blut wie uns.“
    „Großartig …“
    „Hinzukommt, dass Formwandler noch andere Talente haben. Sie sind stärker als Menschen. Etwas, das ich nicht bereit war, dir zu sagen …“
    „Und warum? Weil ich … unberechenbar bin? Weil ich nicht so bin wie du?“
    „Trevor … ich konnte es nicht nach der Sache mit der Crew von Dexter dem Pickligen!“

    Kapitän Dexter. Eine der unliebsameren Erinnerungen in Trevors Leben. Dennoch bereute er nichts und verzog wütend sein Gesicht. „Sie hatten es verdient!“, erwiderte der junge Formwandler.
    „Hatten sie nicht, und das weißt du!“, konterte Johnny.
    „Sie haben drei unserer Leute getötet …“
    „Auf Landgang!“
    „Was spielt das für eine Rolle?“
    , wurde Trevor laut.
    „Wir Piraten unterliegen Regeln. Dinge, die auf Landgang geschehen, bleiben an Land! Du hattest kein Recht Richter und Henker zu spielen. Ich hätte dich dafür ersäufen müssen.“
    „Dann ist ja gut, dass mich dabei niemand gesehen hat, richtig? Nicht, dass du deinen eigenen Sohn hättest hinrichten lassen müssen.“

    Trevors Wut wuchs. Er war damals achtzehn gewesen. Weit entfernt von dem Mann, der er heute war. Oder?
    „Wut! Genau das ist es bei dir. Deine Stärke tritt zutage, wenn du wütend bist. Oder glaubst du, für einen normalen Menschen wäre es leicht, einfach einen Kopf auf einer Reling zu zerquetschen? So leicht, wie es dir fällt?“
    Trevors Kieferknochen bebten. Was wollte Johnny ihm sagen? Dass er ein Mörder war? Ein Wahnsinniger? Ja, er hatte sich nachts auf die Rosalie geschlichen und drei von Dexters Männern am Großmast erhängt, aber nur jene, die seine Freunde getötet hatten. Das war nicht grausam in Trevors Augen gewesen, sondern Gerechtigkeit. Johnny hatte gar nichts tun wollen. Wollte Johnny ihm damit zu verstehen geben, dass Trevor ein schlechter Mensch war? Wenn er sich überhaupt als solches bezeichnen durfte.
    Und jetzt reist du mit einer adligen Magierin, einem verwöhnten Wassermann und einer alten Frau durchs Land. Du solltest sie loswerden, bevor sie dich verkaufen …“
    „Das würden sie nicht tun!“
    , widersprach Trevor vehement. „Sie sind … Freunde.“
    „Freunde, solange ihr alle in einem Boot sitzt. Was glaubst du, passiert, sobald sie Land sehen? Glaubst du, sie werden keine Angst vor dir haben, wenn sie dich erstmal richtig kennen? Wenn sie erkennen, zu was du fähig bist? Wie du sein kannst?“
    „Das haben sie bereits gesehen, wenn es nach deiner Äußerung geht.“
    „Aye, und du hast das Gefühl, die Magierin fühlt sich allein mit dir wohl? Ich finde nicht, dass das danach aussieht. Vor allem, da auch der Kuss erzwungen und ohne ihre Erlaubnis geschehen ist. Wenn das in ihren Kreisen herauskommen würde, würde diese junge Frau vollständig ihr Ansehen verlieren.“
    „Das war nicht das, woran ich in diesem Moment gedacht habe. Sondern, daran …“
    „Dass es für dich die Gelegenheit war? Du denkst nicht nach!“
    „Ihr Leben zu retten!“
    , schimpfte Trevor laut. Natürlich war er nicht unglücklich über den Umstand, eine junge Frau geküsst zu haben, die vor allem nicht an einem Hafen herumlungerte, aber dennoch … In dem Moment, als es geschehen war, hatte er nur im Sinn, ihr Leben zu bewahren. Etwas unkonventionell, das musste er zugeben, aber da kamen ihm die Regeln der Piraten zugute. Nicht wie sonst. Und er war sich sehr wohl darüber bewusst, dass er weit unter ihrem Niveau war. Es war nicht so, dass er sich irgendetwas zwischen den beiden ausmalte. Und selbst wenn, ging es Johnny nichts an!
    Johnny stöhnte. „So sollte das alles gar nicht laufen …“, nuschelte er. „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass du hilfreich sein kannst, wenn es darum geht, das Schiff zu reparieren. Dass du deine Stärke finden musst. Dass du sie vor allem kontrollieren musst.“
    „Aye, stattdessen bezeichnest du mich als Mörder und Vollidioten. Gute Entwicklung.“

    „Du bist eben teils noch ein Kind, das in einem viel zu starken Körper steckt! Du denkst immerhin auch, dass diese Leute deine Freunde sind. Freunde … wie in einem Kinderbuch. So läuft es im Leben aber nicht!“
    Mittlerweile drehten sich in der Ferne bereits Edmund und Esther zu den beiden um.
    Trevor wollte sich gar nicht ausmalen, was die beiden dachten. Wenn sie ihn nicht vorher schon für bescheuert gehalten haben, dann sicherlich ab jetzt.
    „Sagt der Mann, der tot ist!“, spie Trevor zwischen zusammengebissenen Zähnen empor und schaute Johnny wieder an. „Deine Methode lief nicht so gut.“
    „Was erlaubst du dir …“, erwiderte Johnny. „Ich habe dein Leben gerettet und mehrfach verschont, obwohl ich anders hätte handeln müssen!“
    „Du bist mein Vater! Ich würde meinen Kindern das nicht vorhalten, sondern jederzeit tun.“
    „Oh natürlich. Du wirst ein großartiger Vater! Das ist auch alles so furchtbar einfach“
    , frotzelte Johnny abfällig. „Vor allem in der Welt, in der wir leben.“
    Trevor stand auf und fuhr sich durch sein Haar. Besser wurde die Unterhaltung nicht. „Für einen schlechten Vater hältst du mich also auch. Sehr gut.“
    „So meinte ich das nicht“, erwiderte Johnny. „Aber du denkst immer noch, dass du leben kannst, wie sie …“ Johnny zeigte auf Edmund und Esther in der Ferne. „Mit einem netten Haus, einer Familie, Geld und Ansehen … Ich weiß, ich wollte dir eine Art Familie vermitteln, das habe ich vielleicht auch zu sehr, denn ich habe gleichzeitig dafür gesorgt, dass du vergisst, was du bist. So ein Leben ist für Formwandler nicht vorgesehen. Schon lange nicht mehr.“
    „Und wenn ich es ändern kann?“
    „Noch mehr Träume!“

    Trevor atmete tief durch. „War es das dann? Du hältst mich für einen unberechenbaren Mörder, der aber gleichzeitig so naiv ist, zu hoffen, dass ich anders leben kann, als ständig auf der Flucht zu sein? Aye, und eine adlige Frau habe ich auch … befleckt? Sagt man das so? Weil ich unter jedermanns Niveau bin. Selbst unter dem Niveau meiner noch ungeborenen Kinder“, zählte Trevor lautstark zusammen. „Dann ist es wohl besser, wenn sie mich verkaufen!“
    „Das klingt so jetzt alles ziemlich hart …“, gab Johnny stotternd zu. „Und ganz so meine ich es nicht. Du musst dennoch lernen, mit deiner Art umzugehen.“
    „Mit meiner Art, natürlich … und meiner Stärke und solchem Zeug auch. Am besten, ich ändere meinen vollständigen Charakter. Meine Art …“ Trevor musste sich nach den Worten seines Vaters zusammenreißen. Als solchen Vollversager hatte er sich nicht einmal betrachtet. Hatte er überhaupt mal etwas richtig gemacht? Irgendwann? „Es ist nicht so, dass ich aus reiner Mordlust töte. Ich tue es, wenn mir keine Wahl bleibt.“
    „Und dann machst du daraus dein persönliches Kunstwerk. Dein Katz- und Mausspiel, weil du es kannst. Weil du weißt, dass du vielen überlegen bist. Und das ist die Arroganz der Formwandler.“
    Trevor biss sich auf die Unterlippe.
    Arrogant bin ich jetzt auch noch.
    Noch einmal sah Trevor zu Edmund und Esther. Die beiden standen mittlerweile beieinander und sahen zu Trevor. Auch schienen sie sich zu unterhalten. Das würde später ein seltsames Gespräch werden, den Streit mit „Nelli“ zu erklären. Wenn sie nicht die Hälfte mitgehört hatten. Was einen Gedanken in seinen Kopf pflanzte.
    Daraufhin wandte sich Trevor vollständig von Johnny ab.
    „Was machst du? Wo willst du hin?“, fragte Johnny.
    „Weg von dir!“, antwortete der Formwandler, aber nicht, ohne sich noch einmal zu ihm herumzudrehen. „Ich will, dass du dich für immer verpisst. Auch aus Nellis Nähe!“
    „Was?“, fragte Johnny erneut und klang überaus erstaunt.
    „Du liegst falsch! Mit allem!“, konterte Trevor mit beinah bedrohlich ruhiger Stimme. Und er wusste selbst nicht, vorher diese kam. Vielleicht davon, dass er Edmund und Esther beobachtet hatte. „Bin ich gut darin, zu töten? Ja, bin ich! Aber deswegen sind wir auf dieser Insel. Naja, Edmund und der Rest haben sich auch gut geschlagen … aber trotzdem … Ich habe ein Gewissen, es entspricht nur nicht deinen Vorstellungen, weil ich niemals ein Pirat war. Wie du sagst, ich komme nicht aus meiner Haut heraus. Ich war nie ein Pirat, zu dem du mich machen wolltest. Ich bin ein Formwandler! Und jene haben früher für andere gekämpft … und das tue ich wieder. Und ich tue es auf meine Art, damit andere es sich zweimal überlegen, mich herauszufordern oder Menschen, die mir nahestehen, zu bedrohen. Ich war bereit, zu sterben, aber sie haben es nicht zugelassen! Hätten sie das getan, wenn sie mich so sehr fürchten? Und was den Kuss angeht … Wenn irgendeiner der überlebenden Piraten auch nur auf die Idee käme, irgendetwas zu erzählen, was bei der Meuterei geschehen ist, weiß ich, dass ich Zungen zum Schweigen bringen könnte. Denn aye, das kann ich wirklich, wirklich gut. Das alles hat vielleicht nicht dir geholfen, aber ich kenne ein paar Personen, denen es das hat und weiterhin wird!“
    Über Trevors Körper glitt ein musternder Blick. „Du bist wie dein Großvater … nicht nur optisch“, kam flüsternd von Johnny. „Er würde dich vermutlich vergöttern. Aber ich kann dir sagen, dass man so nicht unter Menschen leben kann.“
    „Als Pirat aber auch nicht. Und wer weiß, ob ich das jemals werde …“, erwiderte Trevor mit fiesem Grinsen und lief Richtung Dschungel. Er musste erstmal alles verarbeiten. Zudem wollte er zunächst nicht dabei sein, wenn sich Edmund und Esther trauten, zu Nelli zu gehen.
    Trevor wollte die nächsten Stunden nichts erklären müssen. Vielleicht war Nelli so nett, das zu übernehmen, sodass er die Gelegenheit besaß, seinen Verstand zu klären. Jetzt bereute er es fast, dass sie keinen Rum hatten, mit dem er sich in den Urwald setzen konnte. Vermutlich wäre das auch nicht wirklich hilfreich gewesen. Wie auch immer … Er brauchte einen Moment, um sich selbst von dem zu überzeugen, was er Johnny, seinem Vater, gesagt hatte. Dazu brauchte es Ruhe!
    „Trevor …“, erklang es hinter ihm. „Hör nicht auf ihn! Hätte ich gewusst, was dieses nutzlose Stück Abschaum zu sagen hatte …“
    „Alles gut, Oma“, erwiderte Trevor beschwichtigend, der wusste, dass Nelli nichts für die Äußerungen seines Vaters konnte. „Mir geht es gut!“