Es gibt 144 Antworten in diesem Thema, welches 13.791 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (7. Februar 2024 um 19:35) ist von Kirisha.

  • Ich bin so in den traurigen Erinnerungen gefangen, dass ich nicht daran denke, wie sich mein Sprechen anhört.

    „Mein Bruder Herbert starb an der Grenze“, flüstere ich.
    „Das tut mir leid.“

    Ich weiß, dass sie versteht, was ich nicht gesagt habe, obwohl sie lediglich mitfühlend nickt.

    „Es ist nicht richtig, wenn das Leben so junger Menschen beendet wird, obwohl es noch unendlich viel für sie bereithält“, fügt sie hinzu.
    Ich schaue sie verwundert an. Dann nehme ich mein Blatt Papier vom Schoß und lege es auf den Tisch. Karl war so gut und hat es für mich aus dem Drucker des Stationszimmers stibitzt und den Bleistift gleich mit. Mit ihm schreibe ich – unbeholfen und krakelig, weil mit links – das auf, was ich nicht sagen will.
    ‚Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu trösten, und nicht umgekehrt‘, liest Frau Weiß vor, nachdem ich ihr den Text hingeschoben habe. Dann hebt sie den Kopf und sieht mich an.
    Ich lächle verlegen und ergänze: ‚Ich habe von Emily gehört, dass Ihr Mann gestorben ist.‘
    „Ja, gestern Abend.“ Ihr Blick geht zu dem zweiten Bild. „Er hatte Krebs, doch er stellte sich immer hinten an. Ich war für ihn das Wichtigste. Er hätte mir jeden Wunsch erfüllt, wäre es ihm möglich gewesen. Doch meinen innigsten, den, dass ich vor ihm sterben darf, konnte er mir nicht erfüllen. Und das hat ihm den Abschied so schwer gemacht.“
    ‚Er war im Krankenhaus?‘, schreibe ich und betrachte missmutig die kaum entzifferbare Schrift.
    Frau Weiß scheint sich nicht dran zu stören. Sie liest und nickt dann. „Es ging nicht mehr zu Hause. Ich litt furchtbar, weil ich ihm nicht helfen konnte, und er litt, weil er es anderen überlassen musste, mich zu versorgen.“
    ‚Nur vorübergehend geplant, oder?‘
    „Nein, wir wussten, dass es ein Abschied für immer wird. Wir beteten vorher zusammen und befahlen einander unserem Vater im Himmel an.“
    Gemeinsam beten. Die beiden sind also gläubige Christen gewesen. Nein, Frau Weiß war es sicher auch jetzt noch. Oder ...?
    ‚Sind Sie zornig auf Gott?‘, will ich wissen. ‚Er hat Ihnen den Mann genommen.‘
    Sie schüttelt den Kopf. „Wieso sollte ich? Was er entscheidet, ist gut. Deshalb gibt es für mich keinen Grund, zornig zu sein. Mein Mann ist jetzt bei ihm und es geht ihm besser, als es ihm hier bei mir gegangen ist. Deshalb freue ich mich für ihn und bin dankbar für die gemeinsamen Jahre, die Gott uns geschenkt hat.“
    Freuen? Wie kann sie das?
    ‚Sie haben geweint‘, wage ich einzuwenden und würde es am liebsten sofort wieder durchstreichen. Was hab ich da bloß geschrieben! Will ich sie denn wieder zum Weinen bringen?
    Doch es ist zu spät, sie hat es bereits gelesen und nickt. „Da war ich auch erstmal überrumpelt, dass es so schnell gegangen ist. Nur drei Tage. Er musste nicht lange leiden.“ Sie lächelt und in dem Moment kaufe ich es ihr ab, dass sie sich freut. Das ist nicht die trauernde Witwe, die ich bei meinem Besuch zu finden erwartet habe. Gertrud Weiß ist gefasst, ruhig und ... zufrieden.
    ‚Sie brauchen meinen Trost nicht‘, stelle ich fest.
    Jetzt lacht sie. „Aber ich freue mich trotzdem, dass Sie da sind. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.“
    Sie erzählt noch ein bisschen aus den gemeinsamen Jahren mit ihrem Erwin und nach einer Viertelstunde klopft es. Karl kommt, um mich abzuholen.

    Ich verabschiede mich und bevor er meinen Rollstuhl hinausschiebt, fällt mein Blick auf einen weiteren Gegenstand, der Frau Weiß gehören muss: Es ist ein schlichtes Holzkreuz, das - mit einem runden Fuß versehen – in der Mitte des Fensterbrettes steht. Auf dem Querbalken sind die Worte 'Ja, Vater' eingeschnitzt.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Religion und DDR

    Oha. Das ist ein beeindruckendes Gespräch. Ich habe auch schon mit einigen gläubigen Menschen gesprochen, die manchmal erstaunliche Einsichten haben. Da ich selbst Atheistin bin, staune ich immer über solche Menschen, manche bewundere ich auch. Ich betrachte das Übersinnliche als spannendes poetisches Material, finde es auch faszinierend, aber wie man es schafft, an all das unlogische Zeug wirklich und wahrhaftig zu glauben, begreife ich einfach nicht.

    Eine schöne Episode!

    Auch deine DDR-Geschichten mag ich. In meiner Familie gibt es auch viele davon, weil wir Verwandtschaft im Osten haben. Ich war mit 19 auf der Hochzeit meiner Großkusine in Leipzig, (mit Visum, Stempel und Zwangsumtausch) unvergesslich. Es war wie eine Zeitreise in eine Welt, die mit unserer irgendwie nichts zu tun hatte. Wir gingen in ein Eiscafé und ich fragte nach der Eiskarte. Die Kellnerin glotzte mich an wie ein kaputtes Auto. "Karte? Haben wir nicht. Es gibt Vanille oder Erdbeer, was wolln Se?"

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Lieben Dank, Kirisha , wie immer fürs Lesen und auch für dein Feedback dazu. Frau Weiß hat eine reale Person als Vorlage, die mich in meiner Jugend sehr beeidruckt hat. :)

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    Seit meinem Besuch bei Frau Weiß am Samstag sind drei Tage vergangen. Heute am Nachmittag wird ihr Mann beerdigt. Ihre Kinder holen sie eine Stunde nach dem Mittagessen ab, das hat sie mir erzählt.
    Wir haben am Sonntagvormittag und am Montagnachmittag zusammen im Wintergarten gesessen und viel miteinander geredet. Naja, ich habe geschrieben und sie hat geredet. Mein Schreiben geht besser, ich habe geübt. Und ich versuche auch öfter zu sprechen. Wegen ihr. Sie ist meine Motivation.
    Noch immer bewundere ich ihre innere Ruhe. Selbst wenn sie von ihrem Mann spricht, kommen keine Tränen. Es ist am Samstagmorgen im Speisesaal wohl doch nur der erste Moment gewesen, in dem die Traurigkeit über ihr zusammenschlug wie eine Woge.
    Gertrud – wir duzen uns inzwischen – hat am Sonntagnachmittag Besuch von den Kindern erhalten. Sie meinte am Vormittag schon zu mir, dass man über ihre Zukunft sprechen würde. Ihr war klar, dass sie nicht allein in ihrer Wohnung bleiben konnte. Dafür benötigte sie zu viel Hilfe. Auch ein Pflegedienst würde keine Lösung bringen. Deshalb hat sie ihren Kindern vorgeschlagen, sie hier im Heim zu lassen und den Vater auf einem Friedhof in der Stadt beizusetzen.
    Ich habe gestaunt, als sie mir das erzählt hat. Meine ersten Tage hier im Heim, an die ich mich noch recht lebhaft erinnere, sind angefüllt gewesen mit Selbstmitleid und Resignation. Eine Woche habe gebraucht, um mich halbwegs wieder zu fangen. Eine Woche, in denen ich mir wie ein Mantra immer wieder vorgebetet habe, dass es keine andere Möglichkeit gibt, dass ich meinen Kindern nicht zur Last fallen darf und dass das Leben auch im Heim noch lebenswert sein kann.
    Gertrud hat diese Woche nicht gebraucht. Sie ist bereit, hier zu bleiben. Freiwillig. Und das, obwohl sie weiß, dass sie das hübsche Einbettzimmer, das sie im Augenblick bewohnt, nicht behalten kann. Es ist für Kurzzeitpflegegäste reserviert. Sie muss – wie ich – mit einem Zweibettzimmer vorliebnehmen.
    Ich sitze mit ihr im Wintergarten, während sie auf ihre Kinder wartet. Sie trägt ein schwarzes Kleid und eine weiße Strickjacke darüber. Das wundert mich, denn unsere Generation ist eigentlich so erzogen worden, dass Trauernde striktes Schwarz tragen, von den Schuhen bis zum Kragen. Eine weiße Strickjacke ...
    Schritte auf dem Gang lassen uns gleichzeitig den Kopf wenden. Ein untersetzter Mann und eine zierliche Frau kommen auf uns zu. Beide mit ernsten Gesichtern, beide um die sechzig, beide in Schwarz. Aber gleich darauf korrigiere ich mich. Die Bluse der Frau ist weiß, genau wie das Hemd des Mannes.
    „Bist du so weit, Mama?“, fragt die Frau. Ihr Gesicht gleicht dem von Gertrud, offensichtlich ist sie die Tochter. Ihr Blick gleitet über die Mutter, während sie bereits die Griffe des Rollstuhls ergreift.
    „Lass mich das machen“, murmelt der Mann und schiebt sie sanft zur Seite. Sie tritt einen Schritt zurück. Beide, Mann und Frau nicken mir zu und gehen dann mit Gertruds Rollstuhl vor sich den Gang entlang in Richtung Ausgang.
    Ich sehe ihnen nach. Beerdigungen habe ich immer gehasst. Es hat einfach zu viele in meinem Leben gegeben. Ich habe nicht nur meinen Mann begraben, sondern auch meine Eltern und vier meiner Geschwister.

    Dreiundsechzig war ein schwarzes Jahr gewesen. Nicht nur Herbert mussten wir hergeben. Im Januar teilte Tante Gundula mit, dass Großmutter gestorben war. Der Husten, der sie über den Winter geplagt hatte, war zu einer Lungenentzündung geworden und die Einweisung ins Krankenhaus zu spät gekommen.
    Ich weiß noch, dass ich wie vor den Kopf geschlagen war. Großmutti, wie wir sie als Kinder liebevoll genannt hatten, sollte nicht mehr sein? Sie war doch erst achtundsiebzig. Ja, wir hatten sie lange nicht gesehen, weil sie bei Tante Gundula in Bamberg wohnte. Und Bamberg war seit dem Mauerbau genauso unerreichbar wie der Mond. Aber sie nie mehr sehen zu können, erschien mir unerträglich. Und das Schlimmste war, dass wir nicht zu ihrer Beerdigung fahren durften. DDR-Bürgern war das Verlassen des Landes nicht erlaubt. Also begleiteten nur Martin, der mit seiner Frau aus Kiel angereist war, Erna, die aus Berlin kam, und Ursel sowie Tante Gundula unsere Großmutti auf ihrem letzten Weg. Herbert, der damals noch lebte, hatte keinen Urlaub bekommen. Und meine Mutter weinte sich zu Hause in Vaters Armen die Augen aus dem Kopf.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Ein dumpfer Schlag reißt mich aus dem Schlaf, gefolgt von einem Schrei. Ich öffne die Augen und mein Herz rast wie verrückt. Inzwischen versuche ich nicht mehr verzweifelt herauszufinden, wo ich mich befinde, wenn ich geweckt werde. Ich weiß, dass ich im Heim bin, in meinem Zimmer. Und dass der Schrei von Frau Herzel gekommen sein muss, denn im Schein des Lichtes, das aus der offenen Badezimmertür dringt, sehe ich, dass ihr Bett leer ist.
    Dem Schrei folgt ein klägliches Jammern und schon tastet meine Linke nach der Klingel. Frau Herzel muss gestürzt sein. Ich presse den Daumen auf den Knopf und will meiner Nachbarin gerade zurufen, dass gleich jemand kommt, da fällt mir ein, dass sie mich nicht hören wird, denn nachts hat sie die Hörgeräte ja nicht drin.
    Auf dem Gang nähern sich Schritte, dann geht die Tür auf. Irene hat Nachtdienst. Sie ist ein wortkarger, fast verschlossener Mensch. Nicht unfreundlich, aber auch nicht herzlich. Fragend schaut sie mich an und als ich auf die offen stehende Tür deute, wirft sie einen Blick hinein. Nur eine Sekunde später steht sie neben Frau Herzel, von der ich nur die nackten Füße sehe, einen davon mit Schuh, einen ohne.
    „Wo tut’s weh, Frau Herzel?“, höre ich Irene fragen und die Lautstärke lässt ihre Stimme in dem kleinen Raum laut schallen. Sie hat sich hingehockt, was bei der Enge im Bad und der am Boden liegenden korpulenten Frau nicht leicht ist, denn Irene ist lang aufgeschossen, aber zum Glück steckendürr.
    Frau Herzel antwortet nicht, jammert nur ununterbrochen weiter. Wahrscheinlich hat sie die Frage gar nicht gehört.
    Irene richtet sich auf und kommt zu mir. „Ich muss den Rettungsdienst rufen“, erklärt sie, „bin gleich wieder da.“
    Ich nicke und ziehe sofort die Decke bis zum Kinn, auch wenn die Sanitäter noch gar nicht da sind.
    Irene verschwindet. Nach ein paar Minuten kommt sie zurück.
    „Sie sind gleich da“, verkündet sie und geht zu Frau Herzels Bett. Dort schnappt sie sich das Kopfkissen, kehrt ins Bad zurück und versucht nun wahrscheinlich, Frau Herzel das Kissen irgendwie unterzuschieben. Scheint nicht zu gelingen, denn das Gejammer steigert sich zu einem ungehaltenen Gezeter.
    Mit verkniffenem Gesicht erscheint Irene wieder in der Badtür. „Ich muss hinunter zum Haupteingang“, meint sie sieht noch einmal kurz zurück zu Frau Herzel. „Bärbel wird gleich kommen.“
    Bärbel ist die zweite Nachtschicht. Sie ist so rund, wie Irene dürr ist, und so kurz, wie Irene lang. Und sie ist eine Seele von Mensch. Die beiden Nachtschwestern haben wirklich gar nichts gemeinsam.
    Insgeheim atme ich auf. Bärbel ist besser geeignet, um Frau Herzel zu trösten. Sie muss nicht einmal laut sprechen dabei, denn ihre Stimme dringt auch so durch Wände.
    Bärbel taucht in dem Moment auf, in dem Irene das Zimmer verlässt. „Na, Frau Herzel, was machen Sie denn für Sachen?“, dröhnt sie besorgt. „Wo tut es weh?“
    Meine Bettnachbarin unterbricht ihr Jammern und murmelt etwas, woraufhin Bärbel ein betroffenes „oh“ herausrutscht. Doch sie schiebt ein „der Krankenwagen ist gleich da“ hinterher und beginnt, ein paar Dinge in Frau Herzels Tasche zu packen. Jeder Bewohner im Heim hat so eine im Schrank, meist ganz oben, und jeder hofft, dass sie nie gebraucht wird. Ein, zwei Nachthemden wandern hinein, gefolgt von Schlüpfern, der Brille, den Hörgeräten und der Waschtasche, in die Bärbel schnell noch die Haarbürste, die Lavendel-Gesichtscreme und die Dose fürs Gebiss samt Haftcreme und Reinigungs-Tabs gepackt hat.
    Auf dem Gang werden Stimmen laut. Männer unterhalten sich, dazwischen die tiefe Stimme von Irene. Das Ganze untermalt von einem Klappern, das Erinnerungen in mir weckt. Das ist die fahrbare Trage. Auf so einem Ding hat man mich hier hereingefahren. Schmal wie ein Bügelbrett und gefühlt hoch wie ein Doppelstockbus. Ich hatte ständig Angst herunterzufallen, obwohl man mich mit Gurten festgeschnallt hatte.
    Die Tür wird aufgerissen und Irene schaltet das grelle Deckenlicht an. Geblendet kneife ich die Augen zu und ziehe meine Decke noch ein Stück höher.
    Der erste Sanitäter, der hereinkommt, ragt in unserem Zimmer auf wie ein Turm. Seine breiten Schultern scheinen fast den Rahmen der Badtür zu sprengen, als er sich hineinschiebt und in die Hocke geht.
    „Na, gute Frau, wo tut’s denn weh?“
    Ich grinse. Kluger Mann, er hat nicht gefragt, was passiert ist. Kann man ja auch deutlich sehen.
    Ich höre Frau Herzel murmeln und dann aufschreien. Es scheint, dass der Sanitäter die schmerzende Stelle gefunden hat. Er erhebt sich wieder und wechselt ein paar Worte mit seinem Kollegen, der draußen auf dem Gang geblieben ist, weil das Zimmer mit Irene und Bärbel darin eh schon eng ist. Lautes Klappern und Scheppern verrät mir, dass die fahrbare Liege abgesenkt wird.
    Der Riese winkt Irene und Bärbel hinaus, dann kommt er wieder herein und bugsiert die Trage hinter sich her. Scheppernd stößt er an den Türrahmen.
    Blechschaden, denke ich belustigt in Erinnerung an Karls Bemerkung.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Neben meinem Bett stellt der Sanitäter die Trage ab und lächelt mir zu, während er die Gurte zur Seite legt. Ein warmes, freundliches Lächeln, das da mitten in dem dunkelblonden Bart auftaucht. „Wir müssen ihre Zimmergenossin mitnehmen“, meint er und es klingt als wollte er sich dafür entschuldigen. „Erstmal röntgen, aber ich denke, sie werden sie im Krankenhaus behalten.“
    Ich nicke beklommen. Krankenhaus. Das will ich so schnell nicht mehr von innen sehen. In meinem Alter kann es sehr schnell passieren, dass man es nicht mehr verlässt. Zumindest nicht lebend. Ich muss sofort an Gertrud Weiß' verstorbenen Ehemann denken und plötzlich tut mir Frau Herzel leid. Ob sie Angst hat? Und ob es jemanden gibt, der sie im Krankenhaus besucht?
    Verlegen bemerke ich, dass mir erst jetzt auffällt, dass Frau Herzel in den drei Wochen, die ich jetzt hier im Heim bin, keinen Besuch bekommen hat.
    Der Riese quetscht sich wieder in das Bad und der zweite kommt hinzu. Er verdeckt mit seinem Rücken alles, was da drinnen passiert. Ich höre nur, wie einer der Männer „und hoch“ sagt und wie sich Frau Herzels Jammern, das gerade etwas nachgelassen hatte, jetzt wieder steigert, bis es in einem infernalischen Schrei endet. Himmel, wahrscheinlich hat sie jetzt das ganze Heim aufgeweckt.
    Der Sanitäter, der in der Tür steht, geht vorsichtig rückwärts, dann folgt – von ihm und dem Riesen getragen – Frau Herzel, die in kurzen Abständen immer wieder ächzt, knurrt oder andere Geräusche von sich gibt, und zum Schluss tritt der Riese selbst heraus. Die Männer legen meine Bettnachbarin auf die Trage, decken sie mit einem vliesartigen Überwurf zu und schnallen sie fest. Durch ein Kopfnicken geben sie einander ein Signal und mit einem kräftigen Ruck wird die Trage hochgehoben. Wieder Scheppern und Klappern, wieder ein Aufjammern von Frau Herzel. Obwohl ich bei diesem Theater faktisch in der ersten Reihe sitze, hat sie mir keinen einzigen Blick zugeworfen. Es ist, als wäre ich nicht da für sie.
    Der Riese greift sich Frau Herzels Tasche, zwinkert mir zu und raunt: „Weiterschlafen!“, dann schiebt er die Trage mit Hilfe des Kollegen aus dem Zimmer. Das Klappern entfernt sich auf dem Gang.
    Bärbel taucht noch einmal auf. Sie geht ins Bad und sammelt Frau Herzels Hausschuhe auf. Dann betätigt sie die Spülung, löscht das Licht und schließt die Badtür.

    „Das war sicher ein Schreck, oder?“, meint sie und sieht mich mitfühlend an.

    Ich nicke und zeige ihr ein schiefes Lächeln.

    „Sie kann froh sein, dass sie nicht mit dem Kopf irgendwo aufgeschlagen ist“, murmelt die rundliche Schwester und seufzt. „Aber auch so ist das wahrscheinlich nicht glimpflich abgegangen. Ich vermute, dass sie, den Schmerzen nach zu urteilen, die Hüfte oder den Schenkelhals gebrochen hat. Elender Mist.“ Sie schüttelt resigniert den Kopf, dann löscht sie die Deckenlampe und verlässt das Zimmer. Die Hausschuhe nimmt sie mit.
    Ich bleibe allein zurück und versuche mir vorzustellen, wie es mir jetzt an Frau Herzels Stelle ginge. Wahrscheinlich würde ich Angst haben, dass der Bruch – falls es tatsächlich einer ist – nicht wieder richtig zusammenwächst und ich nicht mehr laufen kann. Vielleicht nicht einmal mehr sitzen. Dass ich nur noch im Bett liegen müsste.
    Ich merke jetzt erst, dass ich noch immer die Bettdecke umklammere und unter dem Kinn festhalte. obwohl die Sanitäter längst weg sind.
    Sie waren nett, alle beide. Besonders der Riese, der zweite hat ja kaum was gesagt.[1]

    Ich war von Anfang an überzeugt, dass es keine gute Idee war, die Martin da hatte. Aber der Drachen hing nun mal an dem krüppeligen Holunderbusch und ein sanftes Ziehen an der Schnur hatte nichts gebracht. Jemand musste hinaufsteigen und ihn herunterheben.
    Leider wuchs dieser Holunderbusch an der Abbruchkante der alten Sandgrube. Ein Ort, den zu betreten man uns Kindern streng verboten hatte, weil er gefährlich war. Die Sandhänge galten als instabil und kamen bei Regen manchmal ins Rutschen. Man konnte verschüttet werden, je nach Menge, die da abwärts sauste.
    Den Drachen deswegen aufzugeben, war jedoch keine Option. Fleischers Maxe, die beiden Lindenwirt-Söhne Richard und Manfred und mein Bruder Martin hatten Stunden damit zugebracht, ihn zu bauen. Und einen Erwachsenen zu holen, kam auch nicht in Frage, denn dann würde ja herauskommen, dass wir in der Sandgrube gewesen waren.
    Es blieb also nur die Möglichkeit, das Kunstwerk selbst zurückzugewinnen. Fleischers Maxe fiel aus. Sein Gewicht hätte Holunder, Drachen und ihn selbst in die Tiefe gerissen. Manfred war zu feige und er drohte, seinen Bruder Richard beim Vater zu verpetzen, sollte der es versuchen. Also fiel Richard auch aus, denn die Furcht vor der strengen und harten Hand des Lindenwirtes war durchaus berechtigt.
    Blieb also nur Martin und als der alle Blicke erwartungsvoll oder – im Falle von mir, Gertrud und Marthchen – angstvoll auf sich gerichtet sah, straffte er den Rücken und marschierte auf die Abbruchkante zu, an der der kleine Holunder sich festkrallte. Ich starrte wie gelähmt vor Angst auf meinen Bruder, der sich mit der Rechten an herabhängenden Birkenzweigen festklammerte und mit dem linken Fuß sicheren Halt suchte. Dann stieg er mit dem rechten in eine Astgabel und streckte die linke Hand aus, um den Drachen zu erhaschen.

    Spoiler anzeigen

    [1] Eine Hommage an meinen wundervollen Sohn. Du machst einen tollen Job!

    Hier geht's weiter

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (19. Januar 2023 um 08:54)

  • Diese Geschichte ist so nah dran und ich begreife gar nicht, wie du es machst, dass du trotz des eigentlich doch eher deprimierenden Themas derartig hoffnungsvolle und mutmachende Stimmung erzeugen kannst. Ich könnte mir vorstellen, dass es viele Leute gibt, die davon betroffen sind und die so eine Geschichte sehr gerne lesen würden, weil diese in allem Schlimmen trotzdem diesen liebevollen und positiv gestimmten Grundton beibehält, und das nicht auf kitschige oder künstliche Weise. Ich glaube, das könnte einem Betroffenen, der vielleicht selbst mit seiner Lage oder der Lage seiner Angehörigen hadert, sehr guttun.

    Diese Szene hast du derartig detailliert und realistisch beschrieben, als hättest du sie selbst beobachtet. Wirklich, richtig gut. Noch dazu gespickt mit den kleinen lieben Kommentaren von Hannche ist das einfach rundum gelungen.

    Die kleinen Erinnerungsparts finde ich besonders schön. Sie eröffnen gleichsam ein Tor zu einer anderen, fernen Welt, die trotzdem allem auch für mich als Leser irgendwie erhellend ist, weil es sich so anfühlt, als ob ich in der Zeit zurückspringen könnte. Ich finde diese Erinnerung mit dem Drachen sehr gelungen. Sie zeigt so deutlich den Unterschied der Kindheit heute und früher. Wer bastelt wohl heute noch selbst einen Drachen (also nicht im Rahmen des Kindergarten- oder Schulprogrammes, sondern mit eigener Fantasie) und wer zieht überhaupt noch mit seinen Spielkameraden draußen durch die Natur? Ich sehe ja so gut wie gar keine Kinder mehr draußen spielen (außer wie gesagt im Rahmen der Kindergarten- oder Schulanimation. Was aber nicht das gleiche ist.)

    Eine kleine Anmerkung:

    Ich nicke beklommen. Krankenhaus. Das will ich so schnell nicht mehr von innen sehen. In meinem Alter kann es sehr schnell passieren, dass man es nicht mehr verlässt. Zumindest nicht lebend.

    Hier würde ich den letzten Satz streichen. Der Sinn geht ja aus dem Satz davor bereits hervor und ich finde, es wirkt unheimlicher, wenn sie es damit nur indirekt sagt.

    Obwohl ich bei diesem Theater faktisch in der ersten Reihe sitze, hat sie mir keinen einzigen Blick zugeworfen.

    Diese Art von Humor mag ich!

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Guten Morgen Tariq :)

    Die Geschichte ist so süß. Die berührt mich jedes Mal aufs neue. Im positiven Sinne natürlich.

    Selbstverständlich entdecke ich Parallelen zu den Geschichten, die meine Mama immer so mitbringt, die ja auch in der Pflege arbeitet xD

    Schön sind auch die kurzen Storys aus der DDR-Zeit, die ich selbst ja nur aus Erzählungen kenne ... Aber eben genauso, wie du sie erzählst, auch schon gehört habe.

    Und das ist so herrlich ... Bei Hannche habe ich deshalb das Gefühl, das es sich da um eine reale Person handelt, die mir von ihrem Leben berichtet und das macht das Ganze einfach wundervoll ... Und obwohl das Thema, welches du behandelst so ernst und bedrückend ist, schaffst du es, dass man immer wieder schmunzeln oder lächeln muss. Da schaffst du eine für mich perfekte Balance.

    Falls du das irgendwann mal veröffentlichen willst ... Ich melde mich schon mal als Kaufinteressentin an :)

    LG ^^

  • Vielen lieben Dank, liebe LadyK und liebe Kirisha , das freut mich zu hören.
    Ich wundere mich manchmal selbst, wie leicht mir bei der Geschichte das Schreiben fällt. Zumal es ja nur ein Spaßprojekt von mir war, mit dem ich eigentlich beim Beginn keinerlei Erwartungen verknüpft hatte, schon gar nicht, es irgendwann zu veröffentlichen. Inzwischen habe ich Leseproben verteilt und ein durchweg gutes Feedback bekommen. Klar muss man ein bischen schauen, wem man die anbietet. Das ist sicher nicht jedermanns Sache, sehe ich ja auch daran, dass hier im Forum nur zwei Leser die Geschichte verfolgen. Aber wenn ich denke, dass es jemandem gefallen könnte, dann kriegt er ein, zwei Seiten zum Lesen. Und deshalb freut es mich total, dass schon andere gesagt haben, dass sie das als Buch gern kaufen würden.

    Jetzt habe ich mich natürlich in Zugzwang gebracht damit und muss das Ganze zu einem glaubwürdigen Ende bringen. Hoffentlich leidet die mehrfach angesprochene Leichtigkeit der Geschichte darunter nicht. :D

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    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • dass hier im Forum nur zwei Leser die Geschichte verfolgen

    Das liegt nur daran, dass wir uns in einem Forum mit Schwerpunkt Fantasy befinden und du demnach hier deine Zielgruppe nicht triffst. Umgeben von anderen Lesern wäre die Resonanz sicherlich ganz anders.

    Jetzt habe ich mich natürlich in Zugzwang gebracht damit und muss das Ganze zu einem glaubwürdigen Ende bringen. Hoffentlich leidet die mehrfach angesprochene Leichtigkeit der Geschichte darunter nicht.

    Hm, ich würde es nicht "Leichtigkeit" nennen. Eher eine Art von Optimismus entsprungen aus innerer Stärke trotz schwerer Situation. Du täuschst ja keine heile Welt vor, sondern zeigst die Tücken des Alters doch ziemlich schonungslos, lediglich abgemildert durch die innere Kraft der Protagonistin, die es schafft, angesichts doch teilweise schockierender Beobachtungen an sich selbst oder an anderen, sich aufrecht zu halten und dem nächsten Tag mit Fassung entgegenzusehen.

    Deine Andeutung lässt mich jetzt etwas um die arme Hannche zittern ... ich hatte tatsächlich angenommen, diese Geschichten würden immer so weiter gehen, doch anscheinend hast du etwas anderes vor.

    Ich bin gespannt! :)

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Das liegt nur daran, dass wir uns in einem Forum mit Schwerpunkt Fantasy befinden und du demnach hier deine Zielgruppe nicht triffst. Umgeben von anderen Lesern wäre die Resonanz sicherlich ganz anders.

    Das war jetzt überhaupt nicht als Gejammer "meeeh, nur zwei lesen bei mir" gemeint. :D

    Mir wr von Anfang an klar, dass meine Non-Fantasy-Geschichte über eine alte Frau in diesem Forum ein Alien sein wird. Ich hätte es auch verstanden, wenn sich gar keiner dafür interessiert hätte, denn - wie du schon sagst - das ist ein Fantasy-Geschichten-Forum und der Schwerpunkt liegt nun mal auf Fantasie. Das ist voll in Ordnung für mich und ich kann damit gut leben. Im Gegenteil, ich freu mich, dass ich trotzdem zwei Stammleser habe. :D

    Und nein, die Geschichten werden nicht immer so weitergehen. Schon im nächsten Part passiert was Neues, das die Situation von Hannche ... naja, ihr werdet ja selber sehen. :pardon:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Zum vorigen Teil

    Was dann geschah, blieb mir jahrelang so lebendig vor Augen, dass ich auch heute noch keine Mühe habe, mir die Bilder ins Gedächtnis zu rufen. Die Birkenzweige hielten Martins Gewicht nicht. Sie rissen einfach ab und mit einem erstickten Schrei rutschte mein Bruder ab. Verzweifelt krallte er die Hände erst an das Holunderstämmchen und dann in das Gras, was am oberen Rand des Hanges wuchs, aber er konnte sich nicht hochziehen. Maxe, Richard und Manfred überbrüllten sich gegenseitig, er solle sich anstrengen, aber keiner der drei trat einen Schritt näher oder packte Martins Hände. Ich stand mit Marthchen und Gertrud drei Schritte hinter den Jungen und sah entsetzt, wie Martins Finger verschwanden. Und ich hörte seinen Schrei, der leiser wurde und schließlich abbrach.
    Jetzt endlich fasste sich Richard ein Herz, kniete sich an den Rand und warf einen Blick in die Tiefe. „Der Sand kommt ins Rutschen!“, stieß er hervor, „er wird verschüttet!“ Mit einem Satz kam er auf die Füße und sprintete los. „Ich hole Hilfe“, schrie er über die Schulter. Binnen Sekunden war er nicht mehr zu sehen.
    Ich begann zu weinen und Marthchen gleich mit. Sagte ich schon, dass Martin mein Lieblingsbruder und Held war? Und dass ich damals erst acht und Marthchen sechs war? Das Wort ‚verschüttet‘ wurde in meinem kindlichen Verstand zu ‚tot‘. Die Mahnungen der Erwachsenen fielen mir wieder ein.
    Einander fest umklammernd sahen wir drei Mädchen schluchzend, wie Maxe und Manfred jetzt auch am Abhang knieten, gefährlich nach vorn gebeugt, und Martins Namen brüllten.
    Irgendwann war Vater plötzlich da und mit ihm kamen der Lindenwirt und Herr Knaur, Gertruds Vater. Unser Vater ließ sich ein dickes Seil um den Bauch schlingen, knotete es am Stamm der Birke mit den unzuverlässigen Zweigen fest und sprang dann Martin hinterher, ohne eine Sekunde zu zögern. Ich konnte nicht sehen, was da unten passierte und ich konnte auch die Rufe der anderen Männer nicht verstehen. Aber ich weiß noch, dass es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, bis ich das Martinshorn der Feuerwehr hörte. Der knallrote Mercedes mit der mehrteiligen Leiter schnaufte und schaukelte über die Wiese heran, quälte sich über kleine Hügel und durch Sandmulden. Noch bevor er stand, sprangen die Männer herunter. Zwei bauten die Leiter zusammen und drei rannten an den Rand der Sandgrube. In Windeseile wurde die Leiter hinabgeschoben und die Feuerwehrleute stiegen hinab.
    Als sie Martin endlich hochholten, regte er sich nicht. Sein Körper war voller Sand, auch seine Haare, und er hing schlaff wie eine Puppe in den Armen der Männer. Mir versiegten die Tränen vor Schreck und das Entsetzen machte mich stumm. Mutter, die inzwischen auch gekommen war, kämpfte sich zwischen den Feuerwehrmännern hindurch. Ich erwartete, ihren Schrei zu hören, laut und klagend. So wie damals den von Großmutti, als sie Großvater nach Hause brachten. Martin war tot. Es musste so sein, denn er kam nicht auf die Beine, klopfte sich den Sand von den Hosen und ließ sein freches Lachen hören. Selbst Maxe und Manfred, die ein Stück abseits standen, waren schneeweiß im Gesicht und wie versteinert.
    Ein Sankra kam. Das Krankenhaus war in Pretzberg, deshalb hatte die Fahrt so lange gedauert. Martin wurde auf die Trage gehoben und diese wieder hinten in den Wagen geschoben. Ich kann mich noch erinnern, dass einer der beiden Sanitäter meine Mutter kurz in den Arm genommen und dann gefragt hat, ob ihr Mann anwesend sei. Dann dirigierte er sie zu Vater hin, raunte ein paar Worte, strich ihr noch einmal über den Arm und sprang dann auf den Fahrersitz des cremefarbenen Autos. Langsam und schwankend wegen des unebenen Bodens fuhr der Sankra weg.

    Martin ist am nächsten Morgen wieder entlassen worden. Er hat seinen Sturz unverletzt überstanden und konnte sich nur nicht allein aus dem Sand befreien. Aber was mir von diesem Tag außer dem Schrecken noch in Erinnerung geblieben ist, ist dieser Sanitäter. An ihn musste ich denken, als der freundliche Riese mir sein „Weiterschlafen!“ zugeflüstert hat. Diese Menschen haben meinen höchsten Respekt.

    Schon mal weil sie jetzt in diesem Moment Frau Herzel zu ertragen haben.

    Feuerwehr und Krankenwagen 1940er Jahre

      

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (19. Januar 2023 um 08:55)

  • Puh. Da rutscht einem ja das Herz in die Hose Tariq :S

    Ich meine, man wusste ja, dass Martin noch lebt. Immerhin hast du schon über den älteren Martin geschrieben, wenn ich mich Recht erinnere :)

    Aber trotzdem war das ein Schock.

    Naja. Kinder. Wenn man sagt, sie sollen da nicht hin, gehen sie es erst recht :pardon:

    Schöne, kleine Episode :)

    LG

  • Kirisha und LadyK

    Vielen lieben Dank wieder euch beiden. Stimmt, über den erwachsenen Martin hatte ich schon geschrieben, von daher freue ich mich, dass ich es trotzdem so spannend schildern konnte, was da passiert ist.

    Am nächsten Morgen bin ich wie gerädert. Abenteuerliche Träume sind durch meinen Kopf gespukt, ein riesenhafter Feuerwehrmann hat mich mit einem Sankra abgeholt und ist mit mir nach Zinnowitz gefahren, Mutter kam hinterher auf unserem alten Kinderfahrrad und jammerte ununterbrochen „Nicht doch mit dem kurzen Rock, Mädel, nicht mit dem kurzen Rock“...
    Ich stöhne und reibe mir mit der Linken die Augen. Jetzt erst merke ich, dass ich trotz der Träume durchgeschlafen habe, weil Frau Herzels Schnarchen mich nicht in regelmäßigen Abständen geweckt hat. Eigentlich müsste ich perfekt erholt sein.
    Aber es ist auf jeden Fall später als sonst, denn es ist viel heller draußen. Gleich wird das morgendliche Waschgeschwader auf dem Gang lärmen. Mal sehen, wer heute zu mir kommt.
    Es ist Sammy, die wenig später die Tür öffnet. Unsere Pflegeschülerin hat schlechte Laune. Ich merke es sofort, obwohl sie sich müht, freundlich zu sein wie immer.
    Was ist los heute?
    Ich habe die Frage nonverbal gestellt, nur mit meiner Mimik, als sie mich auf den Toilettenstuhl bugsiert hat. Doch Sammy schüttelt nur den Kopf. Im Bad mustere ich ihr Spiegelbild, während sie mir das Wasser ins Becken lässt. Jawohl, ich werde neuerdings im Bad gewaschen, auf einem fahrbaren Toilettenstuhl sitzend. Das hat Karl geschafft, der Gute, die Nervensäge. Und ich helfe mit. Das mach ich mit links! Im wahrsten Sinne des Wortes. Und manchmal, wenn eine zweite Pflegekraft Zeit hat, mich festzuhalten, dann kann ich sogar aufstehen und stehen, wobei ich mich aufs Waschbecken stützen muss und diesem im Geiste deshalb ständig zu murmele: Bitte halt mich aus, bitte halt mich aus!
    „Ich habe erfahren, wer zu meiner Abschlussprüfung dabei sein wird“, knurrt Sammy, während sie meinen Rücken wäscht.
    „Wann?“, brumme ich interessiert, mache dabei den Buckel krumm und möchte am liebsten schnurren wie eine Katze, als sie mich trockenrubbelt.
    „Die sollte schon vor zwei Wochen sein, aber meine Lehrerin ist krank geworden. Und jetzt wurde sie auf übermorgen verschoben und als Prüferin kommt die Schneider.“
    „Ah.“ Leider kenne ich die besagte Dame nicht und kann deshalb nicht einschätzen, ob Sammys Frust gerechtfertigt ist. „Nicht egal, wer?“, forsche ich.
    Sie schnaubt wütend. „Oh nein. Das ist es nicht. Die Schneider bewertet vollkommen unfair. Weil sie keine Ahnung von Pflege hat! Sie hat aber studiert und deshalb weiß sie alles darüber.“
    Der letzte Satz trieft vor Sarkasmus und ich merke, dass da viel mehr dahintersteckt als nur das, was Sammy gesagt hat. Es ist wie eine ... Herabsetzung der Pfegekräfte, die wirklich pflegen. Und auch der, die drei Jahre Ausbildung und viele Praktika hinter sich gebracht haben. Um zu prüfen, ob sie es gut und richtig machen, kommt jemand, der nie selbst gepflegt hat.
    Gut, dass das Frust schafft, verstehe selbst ich als Laie.

    „Was wird geprüft?“, will ich wissen und merke, dass mich das Thema wirklich interessiert. So sehr, dass ich mich überwinde, meine selbst auferlegte Ein-Wort-Regel zu brechen und mehr als zwei Worte zu sprechen. Was wird bei Altenpflege-Azubis geprüft?
    „Jemanden waschen, Medikamente verabreichen, Blutzucker kontrollieren, Augentropfen geben, Thrombosestrümpfe anziehen, eine Wunde verbinden, Umschläge machen, Salben auftragen und solche Sachen eben. Und dann noch eine Beschäftigung anbieten.“ Es klingt genervt und sie tut mir leid.
    „Bei mir?“, frage ich, gespielt verwundert, während sich mein linker Zeigefinger auf mein Brustbein presst. Im Spiegel sehe ich, wie sie lächelt.
    „Nein, beim Heinz“, erklärt sie. „Den nimmt jeder Azubi. Weil er alles mit sich machen lässt.“
    Heinz also, der ewig schlafende Tischgenosse von Manni und Eberhard. Ich betrachte Sammy und komme zu dem Schluss, dass das keine schlechte Wahl ist, denn das Mädchen kann den schmächtigen Weißhaarigen mit einer Hand versorgen.
    Nachdem sie mich fertig angezogen aus dem Bad geschoben und vom Toilettenstuhl in den Rollstuhl verfrachtet hat, hole ich Stift und Zettel aus dem Nachtschrank, während Sammy mein Bett macht.
    Dann wünsche ich gutes Gelingen, schreibe ich. Und ich möchte erfahren, wie es gelaufen ist!
    Sie lächelt. „Wenn ich dran denke, komme ich danach vorbei. Wenn ich nicht auftauche, bin ich wahrscheinlich durchgefallen und heule mir in irgendeiner Ecke die Augen aus dem Kopf.“
    Wir lachen beide. Ich weiß, ich muss nicht sagen, dass ich ein Durchfallen nicht für möglich halte. Sammy ist sehr gewissenhaft, einfühlsam und die Ruhe in Person. Was soll da schiefgehen?
    Eine Minute später sind wir auf dem Weg in den Speisesaal. Heute etwas früher, aber Sammy muss noch mehr Leute waschen und mir macht es nichts aus, ein wenig zu warten.
    Auf meine Bitte hin stellt sie meinen Rollstuhl ans Fenster. Wenn das Frühstück beginnt, wird mich schon irgendjemand an meinen Tisch bugsieren.
    Von hier aus sehe ich in einen kleinen Park hinab. Längst habe ich in Erfahrung gebracht, dass das Pflegeheim wirklich nicht das in Pretzberg ist, an dem ich so oft vorbeigelaufen bin. Wir sind in Hamburg und wenn ich den Kopf ein bisschen nach rechts schieben und dieser blöde, weiße Wohnklotz nicht dort stehen würde, könnte ich direkt auf die Außenalster sehen. Hat Karl zumindest gesagt. Aber so ...
    Eine Hand schiebt sich an meiner Schulter vorbei und stellt eine Tasse dampfenden Kaffee zwischen die Orchideen auf das Fensterbrett.
    „Mit Milch und einem Stück Zucker“, sagt eine Männerstimme hinter mir.
    Überrascht starre ich die Tasse an. Das ist nicht Karl gewesen, der hat heute keinen Dienst. Aber wer weiß sonst noch, dass ich ...

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hey Tariq :)

    Das mach ich mit links! Im wahrsten Sinne des Wortes.

    HAHAHAHA :rofl:

    Ich liebe Hannche! So geil ihr bissig, trockener Humor!

    Das ist nicht Karl gewesen, der hat heute keinen Dienst. Aber wer weiß sonst noch, dass ich ...

    Uhhhhhh - hat Hannche etwa einen Verehrer? Ich würde es ihr so sehr wünschen, wieder jemanden zu finden :blush:

    Ach ... Das ist einfach alles goldig. Auch, wie Hannche sich über Sammy und die anstehende Prüfung Gedanken macht. Hannche hat das Herz am rechten Fleck!

    Btw. das Bild für sein Cover habe ich auch gesehen und ich finde es super schön :love:

    Ich denke, das macht sich gut bei einem gebundenen Buch!

    LG :)

  • Lieben Dank dir, LadyK :D

    Ja, wir segeln jetzt in Gewässer, auf die ich mich schon eine Weile freue und man merkt vielleicht sogar an meiner Schreibe, dass mir das Kommende Spaß macht. Ich danke dir und Kirisha herzlich fürs Dranbleiben und werde euch gern über die Fortschritte betreffs der Veröffentlichung auf dem Laufenden halten.

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    Ich wende den Kopf und sehe den Mann, der mir bei meinem ersten Frühstück im Speisesaal zugelächelt hat. Es ist schon über eine Woche her und er hat es seitdem jedem Morgen getan, kaum dass ich an meinen Tisch gebracht wurde. Seine Hand hält ebenfalls eine Tasse Kaffee.
    „Ich denke, es wird Zeit, dass ich mich vorstelle. Darf ich mich setzen?“ Er deutet fragend auf den Sessel neben meinem Rollstuhl.
    Ich lächle und erteile ihm meine Erlaubnis mit einer huldvollen Geste. „Danke“, krächze ich und es klingt unleidlich, weil ich mich so anstrenge, die Lautstärke gering zu halten. Aber schließlich möchte ich nicht den ganzen Speisesaal beschallen. Es dudelt leise Musik aus dem Radio und die wenigen Leute, die wie ich schon eher hergebracht wurden, sitzen dösend auf ihrem Stuhl.
    Er winkt ab. „Ich hab ihn Emily abgeluchst“, erklärt er und hebt seine Tasse zur Erklärung. „In der Teeküche duftete es herrlich danach und da dachte ich, ich frage einfach mal. Emily hat mich auch an den Würfel Zucker erinnert.“ Er lacht. „Mein Name ist Johannes Fischer. Sie sind Frau Benedikt?“
    Ich nicke. Aus Verlegenheit greife ich nach meiner Tasse und nippe daran. Eigentlich müsste ich jetzt etwas sagen, aber ich will nicht sprechen. Das könnte ihn abschrecken. Vielleicht steht er auf und geht, wenn ich anfange zu reden? Ein, zwei Worte von mir kann er vielleicht ertragen, aber ganze Sätze?
    „Ich muss mich zuerst entschuldigen“, erklärt er und ich sehe ihn verwundert an. Wegen des Kaffees? Kein Grund, Johannes, dafür verdienst du eher einen ...
    Hier stocke ich fast erschrocken in meiner gedanklichen Antwort, denn erstens habe ich den Mann darin mit Vornamen angesprochen und zweitens ...
    „Ich habe Karl ein wenig ausgefragt“, unterbricht er meine Gedanken, bevor ich rot werden kann. Wieder einmal. Und wieder einmal seinetwegen. „Er hat mir erzählt, dass Sie nicht sprechen wollen.“
    Karl, du alte Plaudertasche, denke ich entrüstet.
    „Also dass Sie es eigentlich können und nur denken, dass man das niemandem zumuten darf.“ Sein forschender Blick ruht auf meinem Gesicht.
    Ich muss nicht nicken. Er braucht keine Bestätigung, das spüre ich.
    „Und er hat mir auch erzählt, dass er unermüdlich versucht, Sie aus der Reserve zu locken.“
    Mir Karl mal vorknöpfen, notiere ich auf meiner Liste der Dinge, die ich nicht vergessen darf.
    Und wie stellst du dir das vor?, kontert eine boshafte Stimme in meinem Kopf höhnisch. Willst du ihm einen Brief schreiben?
    Ein halbherziges Stirnrunzeln soll Herrn Fischer zeigen, was ich davon halte, dass er mit dem Pfleger über mich getratscht hat. Doch sein offenes Lächeln lässt es so schnell verschwinden, wie es aufgetaucht ist.
    „Sie haben allen Grund, ungehalten zu sein“, fährt er fort, „und deshalb wollte ich mich ja entschuldigen. Aber ich sage auch ehrlich, dass es mir nicht leidtut, was ich getan habe.“ Das Lächeln verwandelt sich in ein leicht spitzbübisches Grinsen, dann nimmt er einen Schluck.
    „Schon gut“, brumme ich und ärgere mich, dass es so mürrisch klingt. Wenn ich mir nicht endlich ein bisschen Mühe gebe, werde ich ihn noch vergraulen, denke ich besorgt und bemerke gleichzeitig, wie sich auch meine Lippen zu einem Lächeln verziehen.
    „Wie lange sind Sie jetzt hier?“
    Dieser Herr Fischer ist wirklich hartnäckig. Er lässt nicht locker. Ich muss erst einmal nachrechnen. Mein Blick sucht den großen Wandkalender neben der Tür zur Teeküche, von dem Schwester Monika jeden Morgen das Blatt des Vortages abreißt und die auf der Rückseite stehende Kurzgeschichte vorliest. Da das Frühstück noch nicht begonnen hat, hängt das alte Blatt noch. Gestern war der zwölfte Mai.
    „Drei Wochen.“ Ich staune selbst, dass es schon so lange her ist.
    „Also haben Sie die ersten vierzehn Tage im Zimmer verbracht?“ Er neigt den Kopf leicht, als er mich fragend ansieht.
    Ich nicke. Dann klopfe ich mit der Linken auf die Armlehne des Rollstuhles. „Der fehlte noch.“
    „Ja, die Krankenkasse lässt sich da manchmal ganz schön Zeit. Apropos Zeit, ich glaube, es gibt gleich Frühstück.“
    Sein Blick gleitet suchend durch den Speisesaal, der sich inzwischen merklich gefüllt hat. Ich sehe, dass Herr Fischer – wohl aufgrund der vorherrschenden Lautstärke – mit Schwester Monika eine Art Zeichensprache beginnt und dabei auf mich deutet. Sie nickt.
    „Darf ich Sie an Ihren Platz bringen?“ Er steht auf und wartet geduldig, bis ich meine Kaffeetasse an mich genommen und ebenfalls genickt habe. Zum Glück ist sie bereits halb leer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann es schafft, den Rollstuhl so zwischen den Tischen durch zu manövrieren, dass er nirgends anstößt. Bei Karl, Sammy und den anderen setze ich das voraus, die haben jahrelanges Training.
    Aber ich irre mich. Herr Fischer fasst die Griffe, zieht den Stuhl ein Stück zurück und biegt dann elegant in den Zwischenraum zwischen den beiden großen Tischen am Fenster ein. Die nächsten beiden werden ebenso sicher umkurvt und ehe ich es mich versehe, sitze ich neben Marianne am Tisch. Herr Fischer stellt die Bremsen fest und kommt nach vorn, damit ich ihn sehen kann.
    „Ich danke für den angenehmen Morgen“, meint er und lacht. „Und falls Sie sich fragen, warum ich so gut mit dem Rollstuhl klarkomme – ich war Gärtner und irgendwie unterscheidet sich der Stuhl nicht viel von einer hoch beladenen Schubkarre.“
    „Na danke!“, stoße ich hervor und ziehe ein gekränktes Gesicht.

    Marianne kichert.

    Herr Fischer, der offensichtlich den Fauxpas erst jetzt bemerkt, stutzt und sein Lächeln verwandelt sich in eine betroffene Miene.

    „Entschuldigung, so war es nicht gemeint“, beteuert er.
    Ich winke ab und lache. Er soll nicht denken, dass ich beleidigt bin wegen so einer Kleinigkeit. Im Gegenteil, der Vergleich amüsiert mich ungemein.
    Während meine Hand kurz über seinen Arm streicht, schaue ich ihn an und sehe, wie er erleichtert aufatmet. Er nickt noch einmal, dann geht er zu seinem Tisch. Als er dem vermeintlichen Manni gegenüber Platz nimmt, sieht er noch einmal herüber und lächelt.
    „Der Johannes ist schon einer“, höre ich Marianne neben mir, „den Rollstuhl mit einer Schubkarre zu vergleichen. Was bist du denn dann? Ein Haufen Mist? Oder eine Ladung Muttererde?“
    „Lieber Letzteres“, brumme ich und wir lachen beide.
    Karl, der eben Herthas Rollstuhl an den Tisch bringt, mustert uns interessiert. „Was gibt’s hier zu lachen?“, will er wissen und zwinkert mir zu. Doch er wendet sich schon wieder ab und geht. Wahrscheinlich muss er Wally noch holen.
    Schubkarre ...
    Während Marianne Hertha auf den neuesten Stand bringt und dabei ein paar Vermutungen darüber einstreut, was Herr Fischer und ich künftig noch zu besprechen haben, driften meine Gedanken ab.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (1. Februar 2023 um 15:44)

  • Wir hatten einen großen Garten. Großvater setzte Kartoffeln und Großmutti säte Radieschen, Möhren, Bohnen, Rettich, Zuckererbsen und Gurken. Auf dem Komposthaufen wuchsen die Kürbisse und am kleinen Gewächshaus war das Kräuterbeet. In ihrem von uns Kindern gemiedenen Glashaus hatte Großmutti ihre Tomatenpflanzen, den Kopfsalat und die Kohlrabi.
    Es gab immer zu tun. Auch wir mussten mithelfen. Natürlich hielt sich die Begeisterung in Grenzen, besonders bei den beiden Brüdern. Martin war sehr geschickt im Erfinden von Ausreden, aber Erna konnte keiner schlagen. Ich habe keine Ahnung, wie sie es geschafft hat, sich die Gartenarbeit vom Hals zu halten, doch ich kann mich nicht erinnern, sie jemals beim Unkrautzupfen oder Bohnenernten gesehen zu haben.
    Ich mochte die Gartenarbeit. Es war ein großartiges Gefühl, in den schnurgeraden Reihen die jungen Pflanzen aus der Erde hervorsprießen zu sehen, die man selbst gesät hatte, und das manchmal schon wenige Tage danach. Getrud half mir oft mit.
    Einmal, es muss kurz vor Großvaters Tod gewesen sein und wir waren vielleicht sechs, da durften wir mit in den Wald. Großvater holte dort Muttererde für die Beete. Er ging jedes Jahr mit der Schubkarre hin und es war immer dieselbe Stelle. Den Platz, von dem er sie nahm, hatte er sehr sorgfältig ausgewählt, denn er sollte keine Tannennadeln enthalten.
    Diesmal durften wir mit. Nur Getrud und ich. „Weil ihr beide immer so fleißig seid“, begründete Großvater seine Entscheidung.
    Großmutter packte uns eine Brotzeit ein für den weiten Weg, wie sie augenzwinkernd erklärte, und gab jedem von uns eine ihrer selbstgenähten Stofftaschen. Wir hatten nämlich die Aufgabe bekommen, Bärlauch und Brombeerblätter zu sammeln. In unserer Kinderfantasie wurde der Tag damit zu einem einzigen Abenteuer, von dem wir erst am Abend bei sinkender Sonne zurückkehren würden.
    Die Krönung der Vorfreude war, dass Großvater versprochen hatte, auf dem Hinweg immer eine von uns beiden in der leeren Schubkarre sitzen zu lassen. Auf dem Heimweg, wenn die Karre voller schwarzer Walderde war, ging das natürlich nicht. Also ließ sich immer eine von uns freudestrahlend kutschieren und sang dabei ein Wanderlied nach dem anderen. Die andere lief nebenher und hielt nach den von Großmutter gewünschten Pflanzen Ausschau. Dann wurde gewechselt. Großvater hat nie einen Unterschied zwischen mir und Getrud gemacht.
    Diese Fahrt hat es nur ein einziges Mal gegeben. Noch im selben Jahr ist Großvater von dem Baum erschlagen worden. Und Vater hat niemals Walderde mit der Schubkarre geholt.

    Mein Blick huscht schon wieder zu Herrn Fischer hinüber. Verflixt, was tue ich denn da? Ich benehme mich unmöglich!
    Energisch zwinge ich meine Aufmerksamkeit auf das, worüber sich Marianne und Hertha unterhalten. Eben habe ich das Wort Prüfung aufgeschnappt. Sprechen sie über Sammy? Ich spitze die Ohren, während ich zusehe, wie Emily mein Brötchen schmiert.
    „Sie hat fast geweint, als ich sie gefragt habe“, flüstert Hertha in dem Moment und ich ziehe missbilligend die Stirn in Falten. Herthas Flüstern kann jede andere Unterhaltung im Speisesaal mühelos übertönen.
    „Bei mir hatte sie sich dann wohl etwas beruhigt, da war nämlich schon eine gehörige Portion gesunder Ärger dabei, als sie es mir erzählt hat“, erklärt Marianne.
    Ich bin mir fast sicher, wen sie meinen. Trotzdem, das „Sammy?“ ist heraus, bevor ich zögern kann.
    Hertha nickt eifrig. „Du weißt es also auch schon? Man ist übel mit ihr umgesprungen. Sowas ist unmöglich!“
    Entrüstet schüttelt sie den Kopf und rührt in ihrer Kaffeetasse, dass es klirrt.
    „Naja, beim Heinz kann sie nicht viel falschmachen“, beschwichtigt Marianne und nickt bekräftigend. „Der lacht immer.“
    Ich weiß nicht, ob ein Prüfer auf Heinz‘ Gesicht schaut oder ob der nicht viel mehr seine Augen auf Sammys Händen hat, überlege ich, während ich zusehe, wie eine blonde Schwester Waltrauds Rollstuhl an unserem Tisch einparkt. Aber das werde ich erfahren, wenn sie mir erzählt, wie es gelaufen ist.

    Meine eigene Abschlussprüfung war eine Katastrophe. Wir standen zu sechst vor unserer Abteilungschefin Angelika Bittner und sechs Prüferinnen. Die Bittner erklärte uns unsere Aufgaben und wem wir zugewiesen worden waren. Im Grunde genommen unterschied sich das nicht vom Beginn sonstiger Arbeitstage, in denen wir morgens auf die einzelnen Bereichen verteilt wurden. Nicht immer waren wir dort auch willkommen. Einen Azubi den ganzen Tag zu beschäftigen konnte manchmal ganz schön belastend sein für die alteingesessenen Kollegen und das haben sie denjenigen dann auch spüren lassen.
    Ich wurde Elisabeth zugeteilt. Sie war eine warmherzige Frau in Mutters Alter und ich habe immer gern mit ihr gearbeitet. Sie mochte mich und ich zahlte es ihr zurück, indem ich akribisch befolgte, was sie mir auftrug, und genau zuhörte, was sie mir erklärte.
    An diesem Morgen allerdings ging alles schief. Elisabeth hatte Fadensalat. So nannte man es, wenn gleich mehrere Fäden einer Maschine gerissen waren und diese von Hand verknüpft werden mussten. Das war aufwändig und die Zeit saß einem dabei im Nacken. Entsprechend gestresst war die ältere Kollegin und sie hatte für die Prüferin und den bibbernden Azubi daneben nur ein knappes Nicken übrig. Eigentlich hätte die Maschine längst für mich frei sein sollen, doch Elisabeths Missgeschick brachte den Zeitplan durcheinander.
    Ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte. Elisabeth zu helfen, gehörte nicht zu meinen Aufgaben und trotzdem juckte es mir in den Fingern, einen Teil der Fäden für sie zu verknüpfen. Ich beherrschte es und es wäre kein Problem gewesen. Aber so stand ich stumm da und schaute meiner schwitzenden Kollegin zu, neben mir mit ausdruckslosem Gesicht die Prüferin.
    Nachdem ich mit meinen Aufgaben beginnen konnte, lief es ausgezeichnet. Kein Faden riss, keine Menge war falsch berechnet, keine Maschine streikte. Ich war glücklich und hatte doch ein ungutes Gefühl wegen des missglückten Beginns.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Das ist wieder ein sehr schöner Abschnitt. Die sich anbahnende Rollstuhl-Romanze ist absolut süß, ich bin schon ganz gespannt, wie du das weiterführst. Aber ich mag auch sehr die Episoden aus der "Vorzeit" und auch den Tratsch wegen der Prüfung von Sammy. Es ist einfach rundum gelungen. :)

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Das ist wieder herrlich Tariq

    Man stellt sich den Tag in einem Pflegeheim genauso vor xD

    Auch die Rückblenden sind wieder sehr schön zu lesen :)

    Kann weiter gehen! :love:

  • Vielen Dank wie immer zuerst euch beiden für's Dranbleiben. Ich freu mich, dass es euch nach wie vor gefällt und ihr auf die Fortsetzung wartet. ^^ Heute erfahrt ihr, wie die Prüfung ausgegangen ist. :pupillen:

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    Die Quittung dafür bekam ich bei der Auswertung. Mit der Benotung konnte ich zufrieden sein. Doch während des Schlussgesprächs kam die Bittner dazu und blieb hinter der Prüferin stehen wie ein finsterer Racheengel, der nur darauf wartete, das Strafgericht hereinbrechen zu lassen. Ich konnte gar nicht mehr aufmerksam zuhören, immer wieder schielt ich zu ihr hinüber.
    Als die Auswertung beendet war, räusperte sich die Bittner.
    „Frau Gehrsch“, begann sie, „Ich bin eben bei Frau Holzer gewesen und habe sie gefragt, wie sie Ihre Prüfung erlebt hat.“
    Mir rutschte das Herz in die Schürzentasche. Erstens, weil sie mich anstatt mit dem vertrauten ‚Hannah‘ mit dem förmlichen ‚Frau Gehrsch‘ angesprochen hatte, und zweitens, weil sie mit Elisabeth geredet hatte. Was würde die Kollegin ihr erzählt haben?
    „Sie meinte, dass sie sehr enttäuscht von Ihnen ist, weil Sie ihr trotz der anstehenden Prüfung nicht geholfen haben. Und ich“, ihre Miene wurde noch strenger, „kann ihr da nur beipflichten. Eine Kollegin derart im Stich zu lassen, ist nicht fair. Sie hätten sich von Ihrer Prüferin die Erlaubnis holen können, ihr zu helfen. Stattdessen haben Sie dagestanden und nichts getan. Das ist Gift für das Miteinander in einem Betrieb. Ich ermahne Sie hiermit, künftig besser auf die Begleitumstände Ihres Tuns zu achten und Ihr Urteilsvermögen in Bezug auf das, was im Moment das Wichtigste ist, zu schärfen.“
    Nach diesem langen Satz musste sie eine Pause einlegen, um Luft zu holen. Ich nutzte die Unterbrechung, um zu ergründen, was sie mir sagen wollte. Doch mir blieb nicht genügend Zeit.
    „Ich habe deshalb mit dem Produktionschef gesprochen“, fuhr sie fort. „Da Sie bereits die Zusage haben, nach bestandener Prüfung hier in der Firma zu bleiben, erhalten Sie unabhängig vom Ergebnis Ihrer Prüfung eine mündliche Ermahnung wegen Störung des Betriebsfriedens. Diese wird in ihrer Personalakte als Auszubildende vermerkt und nach Ende der Ausbildung in ihre Personalakte als Beschäftigte übertragen. Ich möchte Ihnen nahelegen, dass Sie künftig besser einschätzen, was wann dran ist, und ein derartiges Verhalten nicht noch einmal Anlass zur Beanstandung geben muss. In diesem Fall würde eine schriftliche Abmahnung erfolgen.“ Sie musterte mich streng. „Haben Sie das verstanden?“, fragte sie nach einer Weile, vermutlich weil ich sie so verdattert anstarrte, als ob sie Spanisch gesprochen hätte.
    Ich weiß noch, dass ich nickte. Automatisch, wie eine Maschine. Zu sprechen war mir in dem Moment unmöglich.
    Die Glückwünsche der Prüferin und der Abteilungschefin zur bestandenen Prüfung rauschten an mir vorbei, während ich mir von ihnen die Hand schütteln ließ. Sich miteinander unterhaltend verließen die beiden Frauen das Zimmer und ich blieb allein zurück.
    Bestanden ...
    Jetzt erst kamen die Tränen. Ich konnte mich nicht freuen. Viel zu schwer wog die Last des unkollegialen Verhaltens auf meinen Schultern. Ausgerechnet bei Elisabeth ...
    Irgendwann bin ich aufgestanden und zurück zu ihr gegangen. Sie sah mir schon von weitem entgegen. Ihre Miene war verriet nicht, was sie dachte.
    „Und?“, fragte sie. „Geschafft?“
    Wieder nickte ich. Eigentlich wollte ich etwas sagen, aber ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Also blieb ich mit hängenden Armen vor ihr stehen, während sie sich wieder der Maschine zuwandte.
    „Es tut mir leid, Elisabeth“, stieß ich schließlich hervor. „Ich hatte zu viel Angst, dass ich mir die Prüfung versaue, wenn ich dir helfe.“
    Sie schwieg und arbeitete weiter, ohne innezuhalten.
    „Ja, ich hätte fragen können, ob ich es darf“, fügte ich unsicher an, „aber ich hab mich nicht getraut.“
    Jetzt nickte sie. „Versteh ich“, erklärte sie leise, immer noch, ohne mich anzusehen. „Aber die Bittner wollte wissen, wie die Prüfung lief. Ich war noch immer wütend über meinen verpatzten Schichtbeginn und da hab ich es ihr erzählt. Hinterher tat es mir leid, denn es konnte ja sein, dass es sich auf deine Benotung auswirkt. Hat es das?“
    Sie wandte mir den Blick zu und ich erkannte Sorge darin. Hastig schüttelte ich den Kopf. „Ich habe einen Aktenvermerk wegen unkollegialem Verhalten bekommen, der in meine Personalakte übernommen wird, wenn die Ausbildung beendet ist und ich hier anfange zu arbeiten. Und die Bittner hat mir eine Abmahnung angedroht, wenn sowas nochmal passiert.“
    Elisabeth, eben noch über den Fadenbaum gebeugt, richtete sich auf.
    „Das ist natürlich nicht schön“, bestätigte sie, „aber auch nicht das Ende der Welt. Keiner wird mehr danach fragen, solange du keinen Anlass dazu gibst. Und ich glaube, das wird dir nicht noch einmal passieren.“
    Ihr ernster Blick ließ mich zerknirscht nicken.
    „Und weil ich am Bestehen deiner Prüfung keinerlei Zweifel hatte, hab ich was für dich.“ Sie ergriff mich am Arm und zog mich zu unserem Pauseneckchen hinüber. Eigentlich eine Todsünde, denn damit war die Maschine ohne Aufsicht. Aber das schien Elisabeth im Moment nicht zu kümmern.
    Auf dem Tisch in der Mitte des winzig kleinen Raumes standen ein großer Blumenstrauß und ein kleines Päckchen, das sich nach dem Auswickeln als Parfüm entpuppte.
    Stumm starrte ich darauf nieder und merkte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. „Danke“, flüsterte ich.
    Elisabeth drehte mich zu sich um und nahm mich in die Arme.
    „Herzlichen Glückwunsch“, sagte sie und ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. „Gut gemacht!“
    Jetzt war es vorbei mit meiner Beherrschung und ich heulte ihr die bunte Baumwollschürze voll, während ihr Arm mir besänftigend über den Rücken strich.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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