Ich bin so in den traurigen Erinnerungen gefangen, dass ich nicht daran denke, wie sich mein Sprechen anhört.
„Mein Bruder Herbert starb an der Grenze“, flüstere ich.
„Das tut mir leid.“
Ich weiß, dass sie versteht, was ich nicht gesagt habe, obwohl sie lediglich mitfühlend nickt.
„Es ist nicht richtig, wenn das Leben so junger Menschen beendet wird, obwohl es noch unendlich viel für sie bereithält“, fügt sie hinzu.
Ich schaue sie verwundert an. Dann nehme ich mein Blatt Papier vom Schoß und lege es auf den Tisch. Karl war so gut und hat es für mich aus dem Drucker des Stationszimmers stibitzt und den Bleistift gleich mit. Mit ihm schreibe ich – unbeholfen und krakelig, weil mit links – das auf, was ich nicht sagen will.
‚Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu trösten, und nicht umgekehrt‘, liest Frau Weiß vor, nachdem ich ihr den Text hingeschoben habe. Dann hebt sie den Kopf und sieht mich an.
Ich lächle verlegen und ergänze: ‚Ich habe von Emily gehört, dass Ihr Mann gestorben ist.‘
„Ja, gestern Abend.“ Ihr Blick geht zu dem zweiten Bild. „Er hatte Krebs, doch er stellte sich immer hinten an. Ich war für ihn das Wichtigste. Er hätte mir jeden Wunsch erfüllt, wäre es ihm möglich gewesen. Doch meinen innigsten, den, dass ich vor ihm sterben darf, konnte er mir nicht erfüllen. Und das hat ihm den Abschied so schwer gemacht.“
‚Er war im Krankenhaus?‘, schreibe ich und betrachte missmutig die kaum entzifferbare Schrift.
Frau Weiß scheint sich nicht dran zu stören. Sie liest und nickt dann. „Es ging nicht mehr zu Hause. Ich litt furchtbar, weil ich ihm nicht helfen konnte, und er litt, weil er es anderen überlassen musste, mich zu versorgen.“
‚Nur vorübergehend geplant, oder?‘
„Nein, wir wussten, dass es ein Abschied für immer wird. Wir beteten vorher zusammen und befahlen einander unserem Vater im Himmel an.“
Gemeinsam beten. Die beiden sind also gläubige Christen gewesen. Nein, Frau Weiß war es sicher auch jetzt noch. Oder ...?
‚Sind Sie zornig auf Gott?‘, will ich wissen. ‚Er hat Ihnen den Mann genommen.‘
Sie schüttelt den Kopf. „Wieso sollte ich? Was er entscheidet, ist gut. Deshalb gibt es für mich keinen Grund, zornig zu sein. Mein Mann ist jetzt bei ihm und es geht ihm besser, als es ihm hier bei mir gegangen ist. Deshalb freue ich mich für ihn und bin dankbar für die gemeinsamen Jahre, die Gott uns geschenkt hat.“
Freuen? Wie kann sie das?
‚Sie haben geweint‘, wage ich einzuwenden und würde es am liebsten sofort wieder durchstreichen. Was hab ich da bloß geschrieben! Will ich sie denn wieder zum Weinen bringen?
Doch es ist zu spät, sie hat es bereits gelesen und nickt. „Da war ich auch erstmal überrumpelt, dass es so schnell gegangen ist. Nur drei Tage. Er musste nicht lange leiden.“ Sie lächelt und in dem Moment kaufe ich es ihr ab, dass sie sich freut. Das ist nicht die trauernde Witwe, die ich bei meinem Besuch zu finden erwartet habe. Gertrud Weiß ist gefasst, ruhig und ... zufrieden.
‚Sie brauchen meinen Trost nicht‘, stelle ich fest.
Jetzt lacht sie. „Aber ich freue mich trotzdem, dass Sie da sind. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.“
Sie erzählt noch ein bisschen aus den gemeinsamen Jahren mit ihrem Erwin und nach einer Viertelstunde klopft es. Karl kommt, um mich abzuholen.
Ich verabschiede mich und bevor er meinen Rollstuhl hinausschiebt, fällt mein Blick auf einen weiteren Gegenstand, der Frau Weiß gehören muss: Es ist ein schlichtes Holzkreuz, das - mit einem runden Fuß versehen – in der Mitte des Fensterbrettes steht. Auf dem Querbalken sind die Worte 'Ja, Vater' eingeschnitzt.