Auf der Flucht
Sanft fällt Schnee vom Himmel und einzelne Flocken zischen als sie in die Flammen der Kohlebecken und Fackeln fallen. Andere erreichen den Boden und werden rasch von unzähligen Hufen und Füßen zertreten. Das Getümmel ist unbeschreiblich - ein ganzer Wagenzug ist auf einmal angekommen, und die Fuhrknechte sind damit beschäftigt Esel und Maultiere abzuschirren und zu den Stallungen zu bringen, Wagen zu sichern, Zelte für die aufzuschlagen die nicht im nahen Gasthaus nächtigen können und Waren abzuladen die besser nicht die Nacht auf den Wagen verbringen sollten.
Er ist so gut wie unsichtbar in der Menge, niemand achtet auf ihn als er sich durch den Schneematsch arbeitet und an fluchenden Knechten vorbeidrängt.
"Wem gehört dieser Wagen?", fragt er einen der Söldner die etwas abseits stehen und den Zug bewachen.
Der Mann fixiert ihn kurz mißtrauisch, dann antwortet er, vermutlich ist ihm einfach langweilig.
"Dem Kaufmann Jarondes", schnauzt der Söldner barsch.
Das ist alles was er wissen will - er geht durch das Gewühl auf die Taverne zu, in den Schankraum der noch leer ist weil jeder draußen beschäftigt ist, geht zur Theke wie jemand der in wichtigen Angelegenheiten kommt. Sein Herz schlägt wild, aber diesmal muß der Plan funktionieren. Wenn nicht... er möchte diesen Gedanken nicht zu Ende bringen.
"Ich soll für den Kaufmann Jarones einen Krug Rum, ein gutes Stück Brot und ordentlich Braten bringen!", redet er den Mann hinter der Theke an.
Der fixiert ihn einen Moment.
"Geld?", fragte er schließlich gedehnt.
Er zeigt den silbernen Halbpfennig.
"Und Jarondes wird das Wechselgeld zählen soll ich ausrichten!", setzt er hinzu.
Der Wirt nickt, dreht sich stumm um und beginnt Rum in einen Krug zu füllen, verkorkt ihn und stellt ihn auf die Theke, schneidet dann Brot und Braten ab und zählt schließlich einen Haufen Kupfermünzen vor ihn hin.
"Noch was?", fragt der Wirt.
Er schüttelt den Kopf, greift nach den Münzen und schiebt sie in seine Tasche. Der Wirt beachtet ihn gar nicht mehr, sondern dreht sich weg. Jeden Moment erwartet er laute Rufe, aber nichts passiert und er nimmt Essen und den Krug und geht wieder aus der Schankstube hinaus. An der Tür begegnen ihm schon die ersten Fuhrknechte, und er murmelt eine Entschuldigung als er sich an ihnen vorbei in die verschneite Dämmerung bewegt.
Fackeln und Laternen erhellen das Lager das hier plötzlich an der Wegkreuzung entstanden ist. Er hat noch nie so viele Wagen und Fuhrwerke auf einmal gesehen, aber hier ist die große Handelsstraße die von der Küste zu den Bergen führt. Allmählich ist so etwas wie Ordnung aus dem Chaos entstanden, die meisten Tiere sind schon im Stall, die Wagen abgedeckt und die Zelte errichtet. Kochfeuer werden entzündet, Söldner die zum Begleitschutz mitziehen gehen auf Wache, andere deren Schicht erst später beginnt in die Taverne. Aber immer noch beachtet ihn niemand. Seine Schritte knirschen im Schnee, aber das Geräusch geht unter, und niemand wirft einen Blick auf ihn, er ist wie unsichtbar.
Es ist ein seltsames Gefühl.
Der Braten in seiner Hand duftet so lecker, das Wasser läuft ihm im Mund zusammen, aber er traut sich nicht vor allen Leuten hineinzubeißen. Was, wenn er jemandem seltsam vorkommt?
Endlich erreicht er das Versteck das er sich ausgesucht hat - eine Lücke zwischen den Stapeln an Feuerholz das an der Wand eines Stalls lagert. Er wirft einen hastigen Blick nach hinten - aber hier ist es zu dunkel als daß ihn jemand sehen könnte - dann verschwindet er in die Lücke. Hier ist er vor dem Wind und Schnee geschützt. Er kauert sich nieder um mehr Wärme zu haben, dann endlich schlägt er seine Zähne gierig in den saftigen Braten und das frische Brot.
Er ißt alles auf, bis auf den letzten Krümel, und dann leckt er sich noch die fettigen Finger ab. Nachdenklich betrachtet er den Krug und zieht den Korken heraus. Der Rum hat einen aromatischen Geruch. Der erste Schluck aber brennt in seinem Mund, er schafft es ein wenig hinunterzubekommen und das Getränk warmt seinen Bauch, den Rest spuckt er aus. Er verkorkt den Krug wieder - vielleicht kann er ihn später an einen der Söldner verkaufen.
Er tastet seine Tasche ab. Es kommt ihm nicht ganz wirklich vor, aber die Münzen sind alle da. Er zieht sie hervor und betrachtet sie - viel Kupfer, Pfennige und Halbpfennige, ein paar Stücke. Die Art von Münzen die man bei ihm vermuten könnte. Ein Schatz den er jetzt auch verwenden kann.
Einen Moment zögert er.
Wer aber einen Taler durch Lüge und Betrug erwirbt, der betrügt seine Seele und sie bleibt dunkel. So steht es im Buch Ädon, so hat es der Dorfpriester mehr als einmal gesagt. Aber was soll er damit anfangen, daß er verprügelt wird wenn er versucht ehrlich zu sein? Das Silber war ein Geschenk. Und wenn er beginnt darüber zu lügen, sich zum Burschen eines Kaufherren macht - dann wird er dafür belohnt?
Was für ein Gott ist Ädon wenn er das zuläßt? Aber er läßt ja noch ganz andere Dinge zu, die Dörfer die abgebrannt wurden, die Menschen die umgebracht wurden...
Er schnaubt.
Es war sein Silber, und wenn er nun mal lügen muß um es zu verwenden, dann ist es so.