Danke für die Kommentare. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Aussage von Kandrajimo so viele Reaktionen hervorruft. Ich merke, dass ich aufpassen muss, dass hier alles logisch zusammenpasst, ihr würdet es sofort merken.
Heute gibt es mal einen etwas längeren Teil. Ich wollte das hier nicht auseinander reißen.
Märchenstunde
Maja blieb in ihrer Ecke liegen. Sie weigerte sich hinunterzugehen, sprach mit niemandem und aß nichts.
Meister Wolf verlor schon nach wenigen Stunden die Geduld, er kletterte die Leiter hinauf und hielt Maja einen Vortrag darüber, dass sie sich nicht wie ein kleines Kind benehmen solle. Er kannte dieses Verhalten von Feodor, der immer sehr einsichtig war, nicht. Manchmal wurde der Zauberlehrling zwar auch wütend, doch dann diskutierte er eine Weile herum, verzog sich schließlich in den Wald, wenn er sah, dass er damit nichts erreichte, und kam wenig später zurück. Dann bereute er seine Wut und seine Uneinsichtigkeit und verhielt sich wieder wie jeden Tag. Er war nie so bockig und stur wie Maja jetzt. Sie zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie Wolf überhaupt zuhörte. Schließlich gab er es auf und stellte ihr einen Teller mit Essen hin. Sie wartete bis er den Dachboden verlassen hatte und aß dann lustlos ein paar Bissen. Dann drehte sie sich um und starrte wieder die Wand an.
Karim, Jinna und Matthias schauten ab und an vorbei, wagten es aber nicht, sie anzusprechen. Dann machten sie offenbar einen Spaziergang mit Meister Wolf, denn es wurde still im Haus. Maja war immer noch voller Kummer und durch ihre Abkapselung wurde er nur noch größer, das wusste sie selbst. Aber andererseits konnte sie es auch nicht ertragen, die lachenden Gesichter der anderen zu sehen, wenn ihr selbst so wenig zum Lachen zumute war. Und wenn sie jetzt in den Wald ging um die Stille und den Frieden dort zu genießen, würde man denken sie sei wieder weggelaufen und es würde noch mehr Ärger geben. Dann döste sie wieder weg.
Sie wurde wach, als ihr eine raue Zunge über die Nase strich und öffnete die Augen. Vor ihr sah sie zwei große, gelbe Augen unter spitzen, langen Ohren. Es war Fiete. Als er sah, dass sie wach war, blinzelte er, legte den Kopf schief und machte ein gurrendes Geräusch. Dann stupste er ihr mit seinem Kopf vor das Gesicht, sodass sie auf einmal sein graues Fell im Mund hatte. Sie musste lachen und schob ihn ein Stück zur Seite, um ihn dann zu streicheln. Er war sehr weich, aber seine Flügel fühlten sich ledrig an. Fiete schmiegte sich eng an sie und Maja ging es gleich ein wenig besser. Dann hörte sie ein Geräusch hinter sich. Es war Feodor. Er hatte sich leise wie eine Maus angeschlichen und setzte sich nun im Schneidersitz auf den Boden. Maja strich Fiete weiter über das Fell.
Eine ganze Weile saßen sie und Feodor sich gegenüber auf dem Boden und sagten kein Wort. Dann fragte Feodor Maja, ob sie Lust habe, spazieren zu gehen. Maja war sich nicht sicher. Wenn sie jetzt mit ihm nach draußen ging, würde Feodor sicher mit ihr über unangenehme Dinge reden wollen.
„Komm schon, Fiete würde sich freuen“, sagte Feodor.
Wie um das zu bestätigen, sprang Fiete Maja mit einem Flügelschlag auf den Kopf. Sie ächzte auf, denn das kleine Wesen war nicht gerade leicht.
„Na gut, ich komme mit.“
Feodor führte sie den Abhang hinter dem Haus hinauf. Es war ein steiler, anstrengender Weg und als sie oben ankamen war dort nichts Besonderes, nur der Wald.
„Von hier aus hab ich den Schwarzmagier das erste Mal gesehen“, sagte Feodor und blickte zum Haus hinab. „Mir läuft es immer noch jedes Mal kalt den Rücken hinunter, wenn ich hier lang komme.“
Maja schaute ebenfalls den Hang hinunter. Man hatte von hier aus einen schönen Ausblick auf die Hütte.
„Willst du mir damit irgendetwas sagen?“, fragte sie.
„Immer misstrauisch, was?“, lachte er. „Nein, ich denke nur oft über diese Erlebnisse nach. Ich würde sie gerne vergessen, aber so leicht ist das wohl nicht.“
Maja zuckte mit den Schultern. Sie verließen den Abhang und gingen weiter. Der Wald war voll von Vogelgezwitscher und dem Rauschen der Bäume. Maja merkte, wie gut dieser Spaziergang ihr tat und dank Feodor konnte sie sich auch nicht verlaufen.
„Du bist doch gestern Sonja begegnet oder?“, fragte Feodor dann.
Sie antwortete nicht.
„Ich beneide dich“, sagte er, „ich hätte viel für ein kurzes Gespräch mit ihr gegeben.“ Maja fragte nicht warum, aber Feodor störte das nicht weiter, er fing munter an zu erzählen: „Sie ist nämlich kein Mensch, sondern ein halber Waldgeist. Ich finde, schon sie anzusehen ist zauberhaft, und sie hat unglaubliche Fähigkeiten. Obwohl … eigentlich weiß ich fast nichts über sie, dabei wohnt sie nicht weit von hier. Meister Wolf kauft manchmal Kräuter von ihr, aber meistens hält sie sich von den Menschen fern, ganz ähnlich wie ihre Verwandten, die richtigen Waldgeister. Es gibt tausende Waldgeister in diesem Wald, aber ich habe noch nicht einen Einzigen gesehen.“
Feodor sprach wie ein Wasserfall und so langsam weckte er mit seinem Gerede Majas Interesse.
„Was sind denn Waldgeister?“, fragte sie schließlich.
„Geister, die im Wald leben. Sie sehen aus wie Schlieren voller Farben und es ist nicht klar, ob sie Gas oder Flüssigkeit sind. Sie fliegen oder schweben oder fließen durch den Wald, ich weiß nicht, wie man es beschreiben kann. Ich habe es ja selbst noch nicht gesehen. Es gibt zig verschiedene Arten von Waldgeistern: Farngeister, Baumgeister, Moosgeister, Quellgeister, Himbeergeister und so weiter. Außerhalb des Waldes gibt es natürlich auch Geister, zum Beispiel Moor- und Sumpfgeister und Nebelgeister. Es heißt, sie können sich in verschiedene Wesen verwandeln, auch in Menschen, und wenn sie sich in diese verwandeln, nehmen sie gerne die Gestalt von Kindern an. In dieser Gestalt kommen sie auch in vielen Märchen und Geschichten vor.
„Dann habt ihr hier also auch Märchen“, stellte Maja fest.
„Klar, haufenweise.“
„Kannst du mir eines erzählen?“
Feodor überlegte eine Weile, während sie über einen umgestürzten Baum kletterten. Maja verfing sich in einem Zweig und fiel ein paar Schritte zurück.
„Mir fällt jetzt gerade keines mit Waldgeistern ein“, sagte Feodor, als sie wieder zu ihm aufgeschlossen hatte, „aber ich kann dir Meister Wolfs Lieblingsmärchen erzählen. Ich glaube, er glaubt sogar, dass es einen wahren Kern hat. Also, pass auf: Morimo kam als drittes Kind und erster Sohn seiner Eltern zur Welt.“
„Moment mal“, unterbrach ihn Maja, „fangen Märchen nicht immer mit 'es war einmal' an?“
„Warum das?“, fragte Feodor. „Es ist doch gar nicht wirklich passiert, es ist nur eine Geschichte. Also, Morimo stand immer im Schatten seiner älteren Schwestern Nagida und Isarma. Nagida hatte feuerrotes Haar und Isarmas Augen waren blau wie der Fluss. Auch in ihrem Wesen waren sie wie Feuer und Wasser und sie waren verfeindet. Sie legten sich gegenseitig Steine in den Weg und verleumdeten einander. Nur wenn es darum ging, ihren Bruder zu ärgern, waren sie eins.
Als er sechzehn war, wäre Morimo deshalb am liebsten weggelaufen oder ausgezogen, doch er wusste, dass seine Eltern ihn liebten und dass er auf dem Hof gebraucht wurde. Deshalb ging er zu einem alten Mann, der am Fuße eines Vulkans lebte und sagte zu ihm: 'Meine Schwestern ärgern mich immer. Sie sind wie Feuer und Wasser. Isarma ist klug und weiß fast alles. Doch sie lässt mich nicht an ihrem Wissen teilhaben. Nagida ist stark und schnell. Sie könnte im Kampf jeden besiegen. Doch kämpft sie niemals für mich. Was kann ich tun?'
Doch der Mann war alt und hörte nicht mehr so gut. Außerdem wusste er, dass die Worte Nagida und Isarma in einer sehr alten Sprache Feuer und Wasser bedeuteten. Deshalb dachte er, Morimo wolle an der Weisheit und Stärke der beiden Elemente teilhaben. Er gab ihm einen hell leuchtenden Stein und sagte dazu:
'Das ist ein Lichtstein. Er gehörte einem uralten Königsgeschlecht. Wer ihn besaß hatte die Macht, jedem Menschen zu befehlen, was er wollte. Wirf ihn in den Vulkan und er wird dir helfen auch Isarma und Nagida zu befehligen. Isarma wird alle deine Fragen beantworten. Und Nagida wird für dich kämpfen.'
Morimo war von dem, was er hörte begeistert und er - “
„Warum ist der eigentlich so scharf darauf, seine Schwestern herumzukommandieren?“, unterbrach Maja Feodor. „Selbst wenn sie fies zu ihm sind, er hat kein Recht dazu.“
„Tja, scheint so als sei er ein wenig besessen“, sagte Feodor. „Aber ich habe ja nicht gesagt, dass er ein netter junger Mann ist.“
„Und was ist mit diesen alten Namen? Was hat es damit auf sich?“
„Angeblich gibt es eine alte Sprache, die in der Welt ohne Namen gesprochen wurde, bevor man Paratak sprach. Diese Namen bedeuten darin wohl Feuer und Wasser. Aber jetzt wieder zu Morimo, oder hast du noch weitere Fragen?“
Maja schüttelte den Kopf.
„Also, Morimo war begeistert von dem, was er hörte. Er war so außer sich, dass er dem Mann nicht einmal zu Ende zuhörte. Er rannte so schnell er konnte den Vulkan hinauf und warf den Lichtstein hinein. In dem Moment, da der Stein die Lava berührte, brach der Vulkan aus und es regnete rote Steine. Einige von ihnen fielen in den Fluss und wurden strahlend blau. Einer aber landete direkt neben Morimo. Er war nicht rot und auch nicht blau, sondern weiß und er leuchtete grell. Es war der Lichtstein. Morimo hob den Stein auf und nahm ihn mit nach Hause. Dort befahl er Isarma, ihm eine Frage zu beantworten, aber sie lachte ihn aus. Daraufhin befahl er Nagida, sie zu schlagen. Sie wurde wütend und schlug stattdessen ihn.“
Maja grinste. „Also hat es nicht geklappt.“
„Wart's ab. Morimo war ziemlich ratlos, wie du dir vorstellen kannst, und ziemlich wütend auf den alten Mann, weil er dachte, er habe ihn betrogen. Er wusste nicht, dass ihm zwar nicht Nagida und Isarma, aber zwei viel mächtigere Waffen zur Verfügung standen: Feuer und Wasser. Denn wer immer einen der roten Steine ins Feuer warf, der konnte ihm einen Befehl erteilen, und wer immer einen der blauen Steine ins Wasser warf, der konnte eine Antwort von ihm verlangen. Denn das Wasser ist fast überall und es weiß fast alles.“
„Wassersteine!“, flüsterte Maja. „Wenn man sie ins Wasser wirft, erscheint ein Wassergeist, der einem eine Frage beantwortet. Ich bin sogar schon einem begegnet.“
„Ich weiß; Matthias hat es mir erzählt. Tatsächlich glaube ich, dass man sich diese Geschichte ausgedacht hat, um die Wassersteine zu erklären. Es gibt viele solcher Geschichten, weißt du, mit denen man versucht, Phänomene zu begründen, die man sonst nicht begreifen kann.“
„Könnte es nicht sogar mehr als eine Geschichte sein?“, überlegte Maja. „Isarma … Isarma. Das klingt wie Isomair. Das ist der Name, den der Wassergeist genannt hat, als Matthias ihn nach seinem Namen gefragt hat! Das kann doch kein Zufall sein.“
„Du hast Recht“, sagte Feodor, „vielleicht hat sich der Name durch die vielen Leute, die die Geschichte erzählt haben, mit der Zeit verändert.“
„Vielleicht ist die Geschichte wirklich wahr“, rief Maja aufgeregt.
„Vielleicht. Wir werden es wohl nie wissen. Aber die Geschichte ist noch gar nicht ganz zu Ende. Morimo hätte nämlich wirklich ein bisschen mehr Geduld haben sollen und zu Ende hören sollen, was der alte Mann sagen wollte. Denn wie du dir denken kannst, hat in einer solchen Geschichte jede Macht einen Haken und den hatte der Mann Morimo noch verraten wollen: Sobald man den Stein in den Vulkan warf veränderte sich nämlich seine Wirkung und der Werfer sollte für alle Zeiten dem Besitzer des Steines gehorchen müssen.
Zwei Wochen später stahlen die beiden Schwestern Morimo den Stein, weil sie ihn so schön fanden, und von da an musste er für immer tun, was sie ihm befahlen. Und ebenso musste seine Nachfahren immer das tun, was der Besitzer des Steins ihnen auftrug – alle erstgeborenen Kinder in seiner Familie. Und sie müssen es noch heute. Die roten und blauen Steine aber verteilten sich in der Welt und werden noch heute manchmal gefunden.“
„Das war eine schöne Geschichte. Aber kein richtiges Märchen“, sagte Maja, als er geendet hatte. „Gehen Märchen nicht normalerweise gut aus? Und kommen nicht immer Prinzen und Schlösser und so was darin vor?“
Feodor lachte. „Ich kenne Märchen aus deiner Welt. Hast du Hänsel und Gretel vergessen? Wo ist da die Prinzessin?“
Maja musste ihm recht geben. „Woher kennst du Märchen aus meiner Welt?“
„Jimo Kandrajimo hat uns mal ein Märchenbuch mitgebracht. Sie haben welche in der Bibliothek der Kamiraen.“
Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Die Wolkendecke brach auf und ein paar Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch das Blätterdach des Waldes.
„Ich wünschte, ich würde nicht immer so dumme Sachen machen“, sagte Maja plötzlich.
„Was meinst du damit?“, fragte Feodor, irritiert durch den drastischen Themenwechsel.
„Erinnerst du dich nicht an gestern, als ich abgehauen bin?“
„Du warst aufgeregt und wütend, jeder wäre abgehauen.“
Maja schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wahr. Hätte ich nur eine Sekunde nachgedacht, wäre mit klar gewesen, dass ich mich verlaufen würde.“ Sie ärgerte sich wirklich über diese Dummheit. „Und dann habe ich auch noch das Zeichen von Pheris weggeworfen. Ich habe manchmal wirklich das Gefühl, ich drehe durch. Im einen Moment geht es mir so gut und ich bin fröhlich, so wie jetzt. Und dann bin ich wieder so unglaublich traurig und wütend und schäme mich dafür, dass ich fröhlich war, obwohl ich eigentlich nach Hause will. Meine Eltern vermissen mich bestimmt.“
In Feodors Gesichtsausdruck war Mitleid getreten. „Bestimmt“, sagte er leise.
„Und vielleicht denken sie, ich bin tot“, fügte sie hinzu.
Er ließ den Blick nachdenklich durch den Wald schweifen. „Glaubst du, man hat ihnen nicht gesagt, wo du bist?“
Ja, davon war sie überzeugt. „Meinen Großeltern hat man damals auch nicht gesagt, wo ihr Kind steckte“, erklärte sie. „Miro Sonnfeld, mein Onkel. Er war auch ein Kamiraen.“
„Ich weiß, ich kannte ihn“, sagte Feodor leise.
Sie sah ihn ungläubig an. „Du kanntest ihn?“
„Naja. Kennen ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Ich hab ihn mal gesehen, von weitem. Vielleicht mal guten Tag gesagt, mehr nicht.“
„Ich weiß nicht, wie er bei den Kamiraen glücklich sein konnte“, sagte Maja.
„Vielleicht war er genauso unglücklich wie du. Aber dann muss er irgendetwas erlebt haben, was ihn dazu bewogen hat, hier zu bleiben.“
Maja nickte nachdenklich. „Aber was für ihn gilt, muss nicht für mich gelten.“
„Das stimmt“, sagte Feodor. „Hau bitte nicht wieder ab, wenn ich dir das jetzt sage … aber vielleicht solltest du ernsthaft darüber nachdenken, ob du dich nicht vielleicht deinem Schicksal ergeben solltest. Ich glaube, du hast keine andere Wahl.“
„Ich werde mich niemals meinem Schicksal ergeben“, antwortete Maja. „Und es gibt immer eine andere Wahl.“