Kapitel 9 - Teil 6
»Bitte, Platz nehmt. Die Verurteilte gleich zu uns stoßen wird«, meinte er zu seinen Gästen.
»Verurteilte?«, fragte Tempestas.
»Die Verurteilte, Yarkiy«, erklärte Mudrost und strich sich über seinen langen weißen Bart. »Euch neben mich setzt, mein Freund!«, forderte er Tempestas auf, welcher seiner Bitte nachkam.
Auch die anderen drei ließen sich auf dem Boden nieder und warteten ab.
Nun wurde Yarkiy von zwei großen männlichen Okhrana in die Halle geführt. Sie trug zwar keine Ketten oder ähnliches und wurde auch nicht mittels Waffen bedroht, doch man konnte anhand ihrer Mimik deutlich erkennen, dass sie nicht freiwillig hier erschien.
Nahe der Feuerstelle in der Mitte wurde sie aufgefordert, sich zu setzten.
»Du hast große Schande über uns gebracht. Unser Volk dermaßen zu hintergehen und zu verraten ist unverzeihlich!«, sprach einer der Okhrana, der die Verhandlung anzuführen schien. Er trug einen mächtigen Kopfschmuck aus Federn und getrockneten Blättern, der ihn wichtig erscheinen ließ.
»Ich habe mein Volk nicht hintergangen! Ich habe euch nie verraten! Sie haben damals alleine herausgefunden, wo sich das Dorf befunden hat!«, rief Yarkiy aufgebracht.
»Du hast unseren Wald verlassen! Du hast uns den Rücken gekehrt – wegen eines gierigen Menschen!«, schrie sie der Mann an.
»Er war kein gieriger Mensch! Er war nicht wie die anderen! Peccato war ganz anders – er hat den Wald geliebt!« Yarkiy hatte Mühe, Tränen zu unterdrücken.
»Um was geht es hier eigentlich genau?!«, fragte Zack doch etwas lauter, als er es vorgehabt hatte und zog somit die Aufmerksamkeit auf sich, was ihm schnell sehr unangenehm wurde.
Das Verhandlungsoberhaupt schritt wütend auf ihn zu.
»Ihr – ihr seid hier?!«, rief Yarkiy schockiert und sprang auf.
»Setz dich wieder hin! Du machst alles nur noch schlimmer!«, befahl ihr Mudrost mit lauter Stimme, doch sie gehorchte nicht.
Das Verhandlungsoberhaupt wandte sich wieder von Zack ab und Yarkiy zu. Er näherte sich ihr und schlug sie ins Gesicht, sodass sie hart zu Boden fiel.
»Aufhören!!«, rief Tempestas und erhob sich.
Alle starrten ihn an.
»Du wagst es, deine Stimme zu erheben?!« Das Oberhaupt kam erneut auf die vier zu und schnaubte wild, als er Tempestas gegenüberstand. Er war mit diesem auf gleicher Augenhöhe, was kaum ein anderer Mann war.
»Ich bitte Euch, übersetzt, was ich zu sagen habe!«, bat Tempestas den Ältesten.
»Einverstanden«, stimmte Mudrost zu und deutete dem aufgebrachten Verhandlungsführer, abzuwarten.
Tempestas wandte sich an die Okhrana rings um ihn. »Ich achte euer Volk sehr und es liegt mir fern, mich in eure Angelegenheiten einzumischen, aber bitte hört mich an. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, und warum eine von euch hier angeklagt wird. Aber eines weiß ich mit Gewissheit – wie wichtig Zusammenhalt für ein Volk ist.
Ihr, die Okhrana, seid ein starkes Volk – ein friedliches Volk. Es bringt nichts, sich mit schlimmen Ereignissen aus der Vergangenheit zu befassen, wenn diese nicht mehr zu ändern sind. Wenn man ewig an seinem Hass festhält, wird er einen verschlingen und zerstören.«
Mudrost übersetzte alles in ihre Sprache und die Okhrana schienen teilweise zuzustimmen, aber auch ein Großteil war aufgebracht und wütend.
»Wegen dieser Frau und ihren unkontrollierten Gefühlen sind wir aus unserem nördlichen Dorf vertrieben worden! Wir haben uns alles neu aufbauen müssen, weil sie nur an sich gedacht hat und nicht an ihr Volk. Wenn dies keine Konsequenzen mit sich bringt, wird sie - oder werden andere erneut gegen unsere Regeln und Gesetze verstoßen! Ihr seid der Beweis! Sie hat sich wieder mit Außenstehenden eingelassen, obwohl es uns strengstens untersagt ist!«, brüllte das Verhandlungsoberhaupt und warf Tempestas einen verachtenden Blick zu, welcher Mudrosts Übersetzung abwartete, bis er sich erneut zu Wort meldete.
»Yarkiy hat uns lediglich geholfen. Sie hat uns weder hierhergeführt, noch es jemals vorgehabt. Ohne ihre Hilfe wäre ich nicht mehr am Leben. Sie hat sich uns weder aufgedrängt, noch wollte sie sich uns anschließen«, erklärte Tempestas.
»Ist das wahr? Stimmt das, was er sagt?«, wandte sich Mudrost sofort an Yarkiy, ohne es vorher zu übersetzen.
Das Oberhaupt blickte Yarkiy erwartungsvoll an, da er nicht wusste, was der Älteste meinte.
»Er wurde von einer Nubs-Zmei gebissen und war Stunden danach noch am Leben. Ich hatte das Gefühl, dass er etwas Besonderes ist und dass es das Richtige sei, ihm zu helfen«, erzählte sie.
»Deine Gefühle haben uns bisher nur Unheil gebracht! Ich kann nicht zulassen, dass sich das wiederholt!«, schrie das wütende Oberhaupt. »Ich werde dafür Sorge tragen, dass du unter Kontrolle gebracht wirst! Yarkiy wird für die nächsten fünfzig Jahre unter Arrest gestellt! So lautet mein Urteil!«
Zwei Männer der Okhrana kamen auf Yarkiy zu und packten sie an den Armen.
»Was – was hat er gesagt?«, fragte Tempestas den Ältesten.
»Yarkiy unter Arrest gestellt wird. Sie den Raum der Buße die nächsten fünfzig Jahre nicht verlassen und mit niemandem auch nur ein Wort sprechen wird«, erklärte Mudrost entschlossen.
»Was?!« May stand fassungslos auf. »Zählt es denn überhaupt nicht, dass sie uns geholfen hat – dass sie nur Gutes tun wollte?!« Sie blickte den Ältesten und Pokoy abwechselnd an. »Außerdem haben wir sie förmlich angefleht, dass sie uns helfen soll – sie trifft keine Schuld!«, rief sie protestierend.
»Ruhe!« Mudrost erhob sich langsam und stützte sich auf seinen Stab. »Ich euch doch gesagt habe, ihre Schuld in der Vergangenheit liegt. Das Urteil hier nichts mit euch zu tun hat.«
»Und wenn ich Euch inständig darum bitte – als eine Art Zeichen der Jahrhunderte lang bestehenden Freundschaft unserer Völker?«, wandte sich Tempestas an den Alten. »Dieser Okhrana dort drüben verdanke ich mein Leben! Ohne sie wären wir, die ShinNoTori, nun komplett ausgelöscht. Bitte schenkt ihr Vergebung! Ich stehe tief in ihrer Schuld. Wollt Ihr, dass ich diese Schuld stets bei mir tragen muss? Ich ersuche Euch mit Ehrfurcht und allergrößtem Respekt – vor Euch und Eurem Volk – gewährt mir diese eine Bitte, die ich repräsentativ als letzter Angehöriger des Volkes von Aniveûs an euch, das Volk der Okhrana, richte.« Er kniete sich mit einem Bein vor Mudrost und das Verhandlungsoberhaupt und verneigte sich tief.
»Was hat das zu bedeuten?«, wandte sich das Oberhaupt an Mudrost, der ihm Tempestas’ Anliegen nun übersetzte.
Das Oberhaupt schüttelte den Kopf und deutete Tempestas, er solle wieder aufstehen. Dann erhob er seine Stimme und Mudrost übersetzte.
»Nun gut. Wir Euch diese Bitte nicht völlig ausschlagen wollen. Yarkiy nicht unter Arrest gestellt wird«, sprach er.
May atmete beruhigt auf, als sie das hörte, und auch Jiyuu und Zack konnte man Erleichterung ansehen.
Tempestas blickte abwartend zu Mudrost, welcher fortfuhr.
»Wir Yarkiy nicht ihrer Freiheit berauben werden. Vergebung wir ihr jedoch nicht entgegenbringen können. Sie bis auf weiteres hier nicht willkommen ist. Sie das Dorf noch heute verlassen muss! Dies das endgültige Urteil ist – Verbannung!«, rief er.
Die Okhrana erhoben sich alle und riefen wiederholt: „Verbannung, Verbannung!“
»Die Verhandlung ist hiermit beendet!«, rief das Oberhaupt, woraufhin er und die anderen Okhrana bis auf den Ältesten, Yarkiy und Pokoy den Saal verließen.
»Schwester!«, rief Pokoy, lief auf Yarkiy zu und fiel ihr um den Hals.
»Meinst du, wir haben das Richtige getan?«, fragte Jiyuu Tempestas verwirrt.
»Ich weiß nicht, was es für Yarkiy bedeutet, ausgestoßen zu sein. Ich hoffe nur, ich habe es nicht schlimmer gemacht«, meinte dieser verunsichert.
»Das hast du nicht. Ich danke dir.« Yarkiy kam in Begleitung von Pokoy auf sie zu und verneigte sich. »Meine Schwester und ich sind euch sehr dankbar.«
»Schwester?«, fragte Zack überrascht und fing an zu grinsen. »Ja, jetzt seh’ ich die Ähnlichkeit! Bezaubernd – eine hübscher als die andere!«
Die beiden Schwestern sahen Zack erst verwundert an, lächelten aber dann.
»Und was hast du jetzt vor? Wo willst du nun hin?«, fragte Jiyuu.
Yarkiy dachte kurz nach. »Ich werde wieder auf Reisen gehen. Ich wollte eigentlich nur Pokoy besuchen, daher bin ich in diesen Wald zurückgekommen«, erklärte sie.
»Willst du uns vielleicht begleiten?«, fragte May sie einladend.
»Euch begleiten?« Yarkiy schien erfreut, aber gleichzeitig sah man ihr eine gewisse Traurigkeit an. »Nein, vielen Dank. Es gibt noch so viele Dinge, über die ich mir klar werden muss. Bis ich einige Antworten auf meine Fragen gefunden habe, wäre ich lieber gerne alleine. Bitte entschuldigt.«
»Oh, okay«, sagte May etwas enttäuscht aber verständnisvoll.
»Wo führt euch euer Weg hin?«, wollte Yarkiy wissen.
»In spätestens fünf Tagen sollten wir in Memoria sein. Bis dahin hatten wir nur vor, das Gebirge nach den Armreifen abzusuchen«, erklärte Tempestas.
»Ja, einen haben wir dank dir gefunden«, fügte Jiyuu hinzu.
»Gut«, meinte Yarkiy erfreut. »Wenn ihr nicht in Eile seid, würde ich euch zum Dank noch gerne an einen speziellen Ort führen.«
»Ein spezieller Ort?«, fragte May neugierig.
»Ik glaube, ik weiß, welken Ort sie meint!«, sprach Pokoy und lächelte.
»Ihr euch bald auf den Weg machen solltet. Einige von uns sehr aufgebracht und mit dem Urteil nicht einverstanden sind«, riet der alte Mudrost ihnen ernst.
»Ihr habt recht! Ich danke Euch von ganzem Herzen, werter Freund!«, sprach Tempestas zu ihm und verneigte sich noch einmal.
»Ich unserer Völker Freundschaft stets in Ehren halten werde. Ich Euch bitte, mein Freund, immer auf der Hut seid. Jene Macht, die Eurem Volk das Leben hat entrissen, ich in meinen Träumen gesehen habe. Ihre Gestalt mir nicht bekannt ist, doch sehr wohl das Ausmaß ihrer Kräfte. Kein ShinNoTori ihr gewachsen ist. Wenn Ihr Euch seid ihrer Anwesenheit bewusst, bitte nicht zögert und umgehend ihr zu entrinnen versucht – Ihr mir das versprechen müsst!«, drängte ihn Mudrost und legte seine linke Hand abermals auf Tempestas Brust. »Ihr Euch Euer Herz nicht entreißen lassen dürft.«
Tempestas nickte zustimmend, griff nach der Hand des Alten und drückte diese zum Abschied.
Mit Pokoy in ihrer Begleitung machten sie sich zu dem Eingang der gigantischen Höhle auf, durch den sie am Vortag ins Inneren gelangt waren. Einige Okhrana erwarteten sie oben und gaben ihnen ihre Waffen zurück.
Die vier bedankten sich auch noch einmal bei diesen, was Pokoy für sie übersetzte, dann verschwanden sie im Dunkeln des Ganges, der aus der Höhle führte.
---------------------------------------